Auf der militärischen Hochschule

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Fritz Klien
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Auf der militärischen Hochschule
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 4, S. 61–62
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1889
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[61]

Auf der militärischen Hochschule.

Eine Plauderei von Fritz Klien. Mit Originalzeichnungen von O. Gerlach.

Auch im Leben des flottesten leichtlebigsten Lieutenants kommen Augenblicke, wo es ihm schwer auf die Seele fällt, daß das Avancement langsam ist und daß er noch so gar nichts für seine Unsterblichkeit gethan hat. Dazu die Aussicht, in der Tretmühle des Einerlei des Frontdienstes noch viele Jahre ausharren zu müssen, Winter für Winter dieselben Vergnügungen zu genießen, dieselben Erzählungen im Kasino, dieselben Witze in der Kneipe anzuhören – ihn schaudert’s! Ein kurzer Ueberschlag über das, was er bisher in den Wissenschaften geleistet, ein kräftiger Entschluß – man greift von neuem zu den Büchern, und ehe ein Vierteljahr vergangen, geht man frisch und unverzagt in das Examen zur Kriegsakademie.

Im Frühjahr, wenn es in der Natur drängt und treibt, da herrscht auch in den betreffenden Offizierskreisen ein besonders reges Leben, eine ungewöhnliche Aufregung. Bald muß es sich ja zeigen, ob die Saat, die man dem Schoß der Examinationskommission anvertraut hat, auch aufgegangen ist. Wem das Glück nicht hold gewesen, der geht die nächste Zeit betrübt umher. Besonders schlimm, wenn er verheirathet ist; wie hat sich die Frau schon auf Berlin gefreut und sich im zukünftigen Ruhmesglanz des Gatten gesonnt! Noch schlimmer, wenn er einen schulpflichtigen Buben hat, der überall jubelnd verkündet: „Papa ist durch das Examen gefallen“, und infolge dieses Vorfalls mit größerer Ruhe der demnächst zu erwartenden Censur entgegensieht.

Auf dem Wege zur Kriegsakademie.

Wem aber das Glück gelächelt hat, dessen Herz schwillt vor Stolz und Freude. „Kommandirt zur Kriegsakademie“, wie hübsch das klingt, wie prächtig sich das auf den Visitenkarten und in der Rangliste ausnehmen wird! Und dann drei Jahre in Berlin, keine Rekruten, keine Instruktionsstunden, kein Kompagnieexerzieren! Man geräth unwillkürlich in Träumereien. – Der Blick gleitet am Beinkleid herab. Hm! So ein breiter karmoisinrother Streifen würde gar nicht so übel stehen. Mein Gott! man ist ja noch jung genug für Illusionen.

Noch kein Manöver ist dem zur Akademie Einberufenen so entsetzlich lang vorgekommen, aber in noch keinem ist er so seelenvergnügt gewesen. Schlechte Quartiere, kleine Verdrießlichkeiten im Dienst, alles gleitet wirkungslos an ihm ab. Bald kehrt er ja diesen untergeordneten Dingen den Rücken und sieht sie nur noch von höherem Standpunkt an.

Endlich ist der 1. Oktober da. In vollem Gefühl seiner neuen Würde betritt der vom Glück Begünstigte die prächtigen Räume der Kriegsakademie. Welch buntes Gewirr der verschiedensten Uniformen! Von allen Seiten sind sie herbeigekommen, die Neueinberufenen sowohl wie auch diejenigen, die in den hehren Räumen der Wissenschaft schon heimisch sind und während der vierteljährigen Pause bei einer anderen Waffengattung Dienste gethan haben. Welch stolzes Gefühl, so ganz unter seinesgleichen, ein Mitglied dieser geistigen Gemeinschaft zu sein, in der es weder gestrenge Hauptleute noch dickleibige Dienstbücher giebt, die einem so häufig die Nachmittagsfreude verdarben! Die gehobene Stimmung macht mittheilsam, man wendet sich an seinen Nachbar, man plaudert von der herrlichen Aula, in welcher man sich mittlerweile befindet, von der schönen Zeit, die nun bevorsteht, von seinen Erwartungen und Hoffnungen. Aber der Nachbar bleibt kühl, er schaut gelangweilt um sich und schließlich trifft den Redseligen ein Blick, in dem so deutlich steht, als hätte er es ihm aufgeschrieben: „Mein lieber Freund, Sie verstehen vorläufig noch gar nichts, absolut gar nichts.“ In sein Nichts zurückgeschleudert, fällt dem Aermsten ein, daß er ja noch ein Neuling ist, daß er noch zu den „Ungebildeten“ gehört. Der Eintritt des Direktoriums unterbricht seine Betrachtungen über diesen Punkt. Eine kurze kräftige Ansprache des Herrn Generals, die Mittheilung, daß der Unterricht am nächsten Morgen um 1/410 Uhr seinen Anfang nimmt, und man verläßt die Aula mit dem Bewußtsein, nunmehr ein wirkliches, vollberechtigtes Mitglied der alma mater militaris zu sein. Daß dieses in jeder Beziehung ein Vorzug ist, lernt man bald schätzen.

Man befindet sich ja allerdings nicht ganz in derselben Lage wie der Bruder Studio, der das Gymnasium und das elterliche Haus verläßt, um sich auf der Universität einschreiben zu lassen, denn der Offizier, der zur Kriegsakademie einberufen wird, ist meist über die erste Jugendzeit hinaus. Er hat schon einen Theil Ernst des Lebens kennen gelernt, schon manche Illusion begraben, und wer seinen Platz auf einer der hintersten Bänke erhält, der kann bemerken, daß schon bei manchem seiner Studiengenossen des Haupthaars Lockenfülle bedenklich zu schwinden beginnt. Aber wenn man so früh am Morgen nach der Akademie wandert, frei und unbehindert, dann stellt man unwillkürlich Vergleiche an zwischen demjenigen, was man jetzt genießt, und dem, was man verlassen hat. Dann schwillt das Herz von jenem Hochgefühl, das der Student empfindet, wenn ihm das Leben zum ersten Mal in seiner Ungebundenheit und Zwanglosigkeit winkt. Nicht daß die Pünktlichkeit, die Ordnung, die militärische Straffheit fehlen dürfte, nein, ohne diese fühlt sich kein Soldat recht wohl; aber daß er im übrigen so ganz sein eigener Herr geworden, für sein Thun und Wirken in erster Linie nur sich selbst verantwortlich, frei von allen Reibungen nach oben und unten, die im Frontdienst unvermeidlich sind, das erzeugt in ihm ein wahrhaft akademisches Hochgefühl, das macht ihn von neuem jung und frisch, schärft seine Geistes- und Willenskraft. Ja, man wird wieder jung auf der Kriegsakademie und deswegen erinnert man sich auch in späteren Jahren dieses Lebensabschnittes mit derselben Freude, man möchte fast sagen Zärtlichkeit, mit welcher man der ersten Lieutenantszeit gedenkt.

Wenn die Uhren der Hauptstadt die neunte Stunde verkünden, dann entwickelt sich vor dem Gebäude der Kriegsakademie und in den angrenzenden Straßen ein reges Leben. Von allen Seiten kommen sie herbeigeströmt, die wißbegierigen Jünger des Mars. Um 1/410 Uhr beginnen die Vorträge. Man sieht, das akademische Viertel [62] wird auch von den militärischen Vorgesetzten respektirt. Was wäre auch eine Akademie ohne akademisches Viertel! In dieser Viertelstunde wird dem aufmerksamen Beobachter vor der Akademie eine ganze Skala der menschlichen Bewegungsfähigkeit vorgeführt, von dem bequem schlendernden Gang mit der Cigarre im Munde um 9 Uhr, dem sausenden Schritt 5 Minuten vor ein Viertel bis zur fliegenden Hast mit der Uhr in der Hand, wenn nur noch zwei Minuten bleiben. Den Schluß des Treibens macht wohl auch zuweilen eine Droschke, der ein aufgeregter Lieutenant entspringt und, ohne zu bezahlen, die Stufen hinaufeilt. Nach einer Weile erscheint würdevoll der Portier, um den Rosselenker abzulohnen. Dann nimmt die Straße wieder das Gepräge anderer Straßen an.

Die Vortragsgegenstände in der Kriegsakademie sind im ersten Jahre nicht gerade neu. Taktik, Waffenlehre, Befestigungslehre, Kriegsgeschichte, Geschichte, Geographie, alles Dinge, mit denen man die Bekanntschaft nur zu erneuern braucht; aber für denjenigen, welcher zu seinem Specialstudium Sprachen gewählt hat, tritt eine Disciplin hinzu, in der er im wahrsten Sinne des Wortes wieder zum Schuljungen wird – das Russische. Wenn man im Anfang einen Blick auf die mystischen Zeichen der russischen Lettern wirft, dann kraut man sich wohl bedenklich hinter den Ohren und denkt im Stillen: „wie wird das werden?“ Man kämpft alle Schmerzen und kleinen Leiden wieder durch, die von der lateinischen Grammatik her noch in Erinnerung sind, ja man kann häufig ein gewisses unangenehmes Gefühl nicht unterdrücken, gerade jetzt von einer Frage des Lehrers betroffen zu werden, da man doch über die Bildung des gerundium praesentis oder der dritten Person pluralis vollkommen im Unklaren ist. Aber ehe ein Vierteljahr vergeht, ist man schon etwas in den Geist der Sprache eingedrungen. Man übersetzt kleine Aufsätze schon ganz fließend, und da mit dem Erfolg der Eifer steigt, wagt man sich auch bald an größere oder hat sogar die Kühnheit, in der Zwischenpause im Lesezimmer über einer „Nowaja Wremja“ zu grübeln.

Eine vielgeplagte Persönlichkeit ist der Herr Coetus- (Abtheilungs-) Aelteste. Er ist sozusagen der Sprecher des hohen Hauses. Er übermittelt die Befehle des hohen Direktoriums, die Erlasse des Gouvernements, bringt etwaige Wünsche des Hörsaales zu Ohren der Vorgesetzten, vertheilt die Theaterbilletts und verwaltet die Coetuskasse, aus welcher die gemeinsamen kleinen Bedürfnisse wie Handtücher, Seife bestritten werden. Wenn er, die Zeit kurz vor Eintritt des Lehrers benutzend, die Stufen des Katheders zu irgend einer Mittheilung besteigt, so ist er des Beifalls des Auditoriums sicher. „Hört, hört! Sehr wahr!“ oder „Oho!“ ruft das lustige zweifarbige Tuch dazwischen, kurzum, es improvisirt sich zum allgemeinen Gaudium ein kleines Parlament. Auf jeden Fall aber schließt er seine Rede unter tosendem Beifall, so daß der eintretende Lehrer oft ganz verwundert um sich schaut.

Ein Hauptreiz des Lebens auf der Kriegsakademie liegt in der steten Abwechslung. Die Zeit, wo man in den Hörsälen gespannt den Vorträgen folgt, sie wohl auch nach dem bekannten Satz im „Faust“:

„Denn was man schwarz auf weiß besitzt,
Kann man getrost nach Hause tragen,“

in seinen Heften durch eifriges Nachschreiben zu bannen sucht, wird in wirksamster Weise durch Besichtigung der militärtechnischen Institute in Spandau, der Schießplätze in Tegel und Cunersdorf oder durch kleine taktische Uebungsreisen unterbrochen. Neben dem belehrenden haben diese Ausflüge auch einen hohen kameradschaftlichen Werth. Mehr als im Hörsal, wo doch jeder mehr oder weniger an seinen Platz gebunden ist, treten sich hierbei die Offiziere aus allen Theilen des deutschen Vaterlandes, der verschiedensten Truppentheile und des verschiedensten Lebensalters auf der Fahrt und während des gemeinsamen Frühstücks menschlich und kameradschaftlich näher. Hier giebt es keine Unterschiede; alle fühlen sich vereint in dem Streben nach einem gemeinsamen hohen Ziel, nach militärischer und wissenschaftlicher Vervollkommnung zum Heil und Segen des Vaterlandes.

Die Herzlichkeit des kameradschaftlichen Verhältnisses auf der Kriegsakademie findet ihren beredtesten Ausdruck in dem Hauptfest der Akademie, dem sogenannten Kulminationsfest. An dem Tage, an welchem die Mitglieder eines Coetus auf dem Höhepunkt der Zeit angelangt sind, die ihnen vergönnt ist, auf der Akademie zuzubringen, vereinigen sie sich in den Räumen des Kasinos zu fröhlichem Thun. In kleinen Aufführungen in gebundener Rede und in Prosa, voll Witz und Humor, wird die gemeinsam verlebte Zeit dargestellt. Ein großer Festkladderadatsch entreißt all die kleinen spaßhaften Vorfälle, an denen ja, wo so viel jüngere Leute vereinigt sind, kein Mangel sein kann, dem Vergessenwerden, und wenn hie und da ein kleiner Seitenhieb auf einen oder den andern der Kameraden, oder gar ein Scherz über die Eigenthümlichkeiten der Herren Lehrer mit unterläuft, so thut dies der allgemeinen Heiterkeit gerade keinen Abbruch.

Die Bezeichnung „Kulminationsfest“ birgt aber noch einen tieferen Sinn in sich. Dieser Tag ist nicht nur im zeitlichen Sinne der Höhepunkt, nein, er ist auch in jeder andern Beziehung ein Wendepunkt der kriegsakademischen Zeit. Es ist keine Uebertreibung, wenn man behauptet, daß das Kulminationsfest eine Art von Karneval ist, auf welchen die Fastenzeit folgt. Man faßt von diesem Tage an das Ende der schönen Berliner Zeit mehr ins Auge, man richtet seine Aufmerksamkeit auf den Zeitpunkt, wo es sich entscheiden muß, ob das Streben und Schaffen auf der Akademie auch Früchte tragen wird, mit einem Wort, man fängt an, den Freuden der Großstadt, zu deren Genuß gottlob bisher noch hie und da ein freies Stündchen blieb, mehr und mehr den Rücken zu kehren und sich bedingungslos den Wissenschaften in die Arme zu werfen, damit die Hoffnungen, die man einstens an die Einberufung knüpfte, in der einen oder andern Weise in Erfüllung gehen. Hat man den Höhepunkt hinter sich, so steht das dritte Jahr mit seinem Ernst und seiner Arbeit vor der Thür. Da gilt es, seinen Verstand und seine Schaffenskraft zusammenzunehmen, denn jetzt wird man geprüft auf Herz und Nieren, jetzt wird man „erkannt“, mag man sich drehen und wenden wie man will. Die Herren des dritten Coetus nehmen denn auch, je mehr sich das Ende naht, ein ganz eigenartiges Gepräge an.

Während die Mitglieder des ersten Coetus noch die Harmlosigkeit, das vorschnelle Urtheil haben, das als eine Folge ihrer völligen „Ungebildetheit“ anzusehen ist, zeigt sich bei den Herren des zweiten Coetus auch bei Behandlung der einfachsten Dinge eine Genauigkeit und Gewissenhaftigkeit, die bei der Neigung dieser Herren, allem, was sie sagen, die Form eines kleinen freien Vortrages zu geben, in prächtigster Weise zur Geltung kommt. Im dritten Jahre dagegen wird man wieder still. Man fühlt sich, je länger man fortschreitet, wieder ganz als Mensch, voll Schwächen und Irrthümer. Für die falschen Ansichten eines noch gänzlich „Ungebildeten“ aus dem ersten Coetus hat man nur noch ein mildes versöhnliches Lächeln. Zu einer Widerlegung fehlt die Zeit, man muß das Gespräch möglichst bald wieder auf die eigenen Angelegenheiten bringen und dem stummen Zuhörer aus Coetus I wird dabei ganz bang zu Muthe. Da werden ganze Armeen mobil gemacht, auf der Eisenbahn verladen, wichtige militärisch-sanitäre Angelegenheiten erörtert, ja sogar ganz verzwickte juristische Fragen zur Sprache gebracht. Nein – da fühlt man sich in seinem ersten Coetus doch wohler, bei seinen Sperrforts und seinen Magazingewehren.

Die Zeit schwindet in der Residenz mit Blitzesschnelle dahin. Ehe man noch so recht zur Besinnung gekommen, hat man seine akademische Laufbahn mit Generalstabsübungsreise abgeschlossen und sitzt wieder in seiner Garnison. Man übt Felddienst, instruirt und geht zum Schießen, als wäre gar nichts vorgefallen. Das Herz voll Hoffnung, den Kopf voll hochfliegender Pläne, schaut man geringschätzig auf das kleine Häuflein der Untergebenen, da man vor kurzem noch über Armeecorps und Divisionen gebot. Die Erfolge der kriegsakademischen Arbeit stellen sich allmählich ein, bei dem einen früh, bei dem andern spät, bei dem größten Theil – es ist der Lauf der Welt – gar nicht. Es ist schwer, auf den Gedanken verzichten zu müssen, zu etwas Besonderem erkoren zu sein, es dauert oft lange, ehe sich die Ueberzeugung durchringt, daß trotz des Fehlens des äußeren Erfolges das Mühen und Schaffen nicht umsonst gewesen ist für das militärische Vorwärtskommen. Ist aber die Wunde erst vernarbt, dann wendet man sich wieder mit der alten Lust und Freudigkeit dem Getriebe des Dienstes zu und für jeden sind alsdann die schönste, ungetrübteste Erinnerung seines Lebens, die drei Jahre, welche er auf Kriegsakademie zugebracht hat, der fruchtbaren Pflanzstätte militärischen Wissens und militärischen Geistes, aus welcher jene großen Heerführer hervorgegangen sind, die Deutschlands Ruhmesschlachten geschlagen haben und heute noch sein friedengebietendes Heer auf bewährten Bahnen vorwärts leiten.