Aus alten Zeiten/Lauter Scheiden

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Johannchen und Binchen Aus alten Zeiten
von Paul Seeberg
Traute Heimat
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4. Lauter Scheiden




Über diese schöne, sonnige Kindheitszeit zog ein dunkler, thränenreicher Tag herauf. Es war des Vaters letzte Krank­heit, des Vaters Tod. War auch Johannchen noch nicht alt genug, um die ganze Größe des Verlustes und die weit­greifenden Folgen desselben vollständig zu übersehen, sein weiches Kinderherz fühlte ihn gleichwohl tief genug, und das stille, verödete Haus, die weinende Mutter gaben ihm eine Ahnung davon, wie vieles anders geworden war, seit­dem der Vater die Augen geschlossen hatte. Aber das war noch nicht das Ende der Kümmernisse, die ihn treffen soll­ten. Die Stunde kam, wo er das Elternhaus verlassen mußte. Sein Unterricht durfte nicht unterbrochen werden, anderseits war es der verwitweten Propstin unter den völlig veränderten Verhältnissen ganz unmöglich, den Sohn weiter im Hause unterrichten zu lassen, ja überhaupt nur ihre Kleinen alle bei sich zu behalten. Unter solchen Umständen war das Anerbieten des Barons Schr. in U., ihren Sohn mit dem seinen von einem „Hofmeister“ erziehen zu lassen, zu vorteilhaft, als daß sie es hätte von der Hand weisen dürfen. Und doch war der Tag so schwer, so schwer, wo sie mit ihrem Sohn nach U. fuhr, um ihn seinen neuen Pflegern anzuvertrauen! Wer mochte es ihr verargen, wenn sie ihr Kind beim Abschied so inbrünstig umarmte, als ob das Herz ihr bräche, wenn ihre Thränen unaufhaltsam [69] flossen! Es ist ein großer Abschnitt im Leben einer Mutter, der Tag der ersten Trennung, ein schwerer Schritt, wenn man zum erstenmal sein Kind in fremde Hände giebt. Viel Herzensgespräch mit Gott geht der Stunde voran, viel folgt ihr nach. Und nun ist’s noch etwas anderes, wenn man mit gleicher Zuversicht, wie einst Hanna, da sie ihren Sa­muel in das Haus des Herrn brachte, sprechen kann: „Ich gebe ihn dem Herrn, weil er von dem Herrn erbeten ist,“ – eine Zuversicht, die nur da statthaben kann, wo man den Geist des Herrn spürt, der das Haus erfüllt; – oder wenn man wenigstens als Gleichberechtigte hin­tritt, da man sein Herzenskleinod fremder Obhut übergiebt, – und wieder etwas anderes, ach! so viel Schwereres, wenn man als Wohlthat empfangen muß, was man nie gesucht hätte, so alles geblieben wäre, wie es vorhin war. Dazu kam, daß es nicht einmal völlig frei gebotene Wohlthat war, was sie für ihr Kind entgegenzunehmen hatte, sondern daß das Anerbieten unverkennbar auch deswegen gemacht worden war, weil man für den eigenen Sohn, dessen Lerntrieb viel zu wünschen ließ, in dem muntern fleißigen Kameraden eine fördernde Anregung, ja Nachhilfe zu gewinnen hoffte. Wie leicht konnte es geschehen, daß das eigene Kind dabei mehr einbüßte, als das andere gewann.

Daß auch Binchens Augen nicht trocken blieben, als Johannchen Abschied nahm, kann man sich denken, und er selbst, so sehr er sich in dem fremden Hause zusammennahm, stand noch oft an dem Fenster, das auf die Straße hinausblickte, auf welcher er die Mutter hatte zurückfahren und ihm den letzten Abschiedsgruß zuwinken sehen.

Nicht gar zu lange währte es, so mußte auch Binchen denselben schweren Weg antreten. Die Präsidentin v. F. war so gütig, sie in ihr Haus aufzunehmen und für ihre Erziehung Sorge zu tragen. Es war eine wohlwollende [70] und geistreiche Frau, und die Vorteile einer höheren Bil­dung und freier entwickelter Gesellschaftsformen kamen Binchen vollauf zu gute, und waren ihr auch in ihrem spätern Leben von bleibendem Nutzen, wie sie das stets mit Dankbarkeit anerkannte. Gleichwohl fehlte es nicht an Gelegen­heiten, wo dem lieben Kinde seine Aschenbrödelstellung recht fühlbar ward. Wenn in dem überaus geselligen Hause Besuch erschien, der das Kind früher dort nicht gesehen hatte, und sich erkundigte, wer denn die Kleine da mit dem blonden lockigen Haar sei, und die Präsidentin herab­lassend antwortete: „Ein armes Priesterkind!“ – so schnitt’s tief genug in des Kindes Herz, um noch in den Tagen des Alters eine schmerzliche Erinnerung zu bilden.

Auch der Bruder mußte manches kennen lernen, was ihm zu Hause fern geblieben war. Zunächst von seiten der alten dicken Magd, die das Zimmer der Knaben in Ord­nung zu halten hatte. Wer kennt sie nicht, diese alten treuen Kindermägde, die durch jahrzehntelangen Dienst gerade an den Erben des Hauses eine gänzlich veränderte, ja in ihrem Gebiet fast eine dominierende Stellung erlangt haben! Nicht alle aber sind dabei von so unerschöpflicher Herzensgüte und Aufopferungsfähigkeit, wie die dicke Peggoty in Dickens’ David Copperfield, der bei ihrem gutmütigen, herzlichen Lachen jedesmal die Knöpfe vom Mieder springen, eine Person, an die man nicht ohne Sympathie zurück­denken kann. Jene in U. war wenigstens nicht von dieser Art. Ihre Verdienste mochten sonst groß sein, aber den neuen Ankömmling empfing sie keineswegs freundlich; auch zögerte sie nicht, ihre Unzufriedenheit über den Zuwachs an Mühen auszusprechen, den ihr dieser Eintritt bereitet hatte. Gleich am Abend eines der ersten Tage seines Dort­seins äußerte sie mürrisch während ihrer Arbeit: „Und für diesen kleinen Frosch muß man auch noch das Bett machen!“ [71] Diese Bemerkung war um so kränkender, als sie in Gegen­wart des jungen Schr. gemacht wurde, gegen welchen der neu eingetretene Knabe damit absichtlich zurückgestellt ward. Das war für Johannchen zuviel. Sofort trat er auf die alte Annliese zu und sagte zu ihr: „Du brauchst mein Bett nicht zu machen; ich werd es selbst thun,“ – eine Änderung, durch welche er eine unangenehme Abhängigkeit ab­streifte, und die der schwerfälligen Alten keineswegs mißfiel. –

Schwieriger ward es dem armen Jungen in einer andern Beziehung von ihr unabhängig zu bleiben. Das Lernen ging unter dem strengen Regiment des Hofmeisters seinen präzisen und erfolgreichen Weg, freilich mehr auf seiten Johannchens, als des jungen Barons. Dieser ließ sich allerdings die Nachhilfe ganz wohl gefallen, die ihm der neue Kamerad zu bieten hatte, aber daß er darum die alte Abneigung gegen geistige Anstrengung aufgegeben hätte, – so weit reichte der Einfluß der neuen Freundschaft nicht. Zu dem damaligen Lernen gehörte namentlich auch ein ge­waltiges Vokabelnlernen, von dem wir, seitdem die päda­gogischen Umwälzungen am Schlusse des vorigen Jahr­hunderts zu bleibender Geltung gekommen sind, keine Ahnung haben. Das ganze lateinische Lexikon wurde auswendig gelernt, und das Tagespensum stieg bisweilen auf 300 Vo­kabeln. Die dadurch erzielte Gedächtnisstärkung behauptete sich freilich bei unserem Großvater bis in sein hohes Alter hinein in staunenerregender Weise, und der Vorteil, daß man sein Leben lang sich kaum eines Lexikons bedürftig fühlte, war immerhin angenehm genug; aber die Anstreng­ung war selbst für einen gut begabten Knaben nicht gering, zumal es mit dem Lernen streng genommen wurde und das Frühstück auf dem Spiele stand. Um jedem Ungemach zu begegnen, pflegte unser kleiner Student, da am Morgen die Vokabeln stets zuerst an die Reihe kamen, noch abends, [72] wenn das Licht schon ausgelöscht war, sich im Bett seine Lektion aufzusagen; fand er nun, daß es noch hie oder da haperte, so ließ es ihm keine Ruhe, bis er wieder Licht hatte, um sein Buch zu Hilfe nehmen zu können. Aber Licht zu erhalten, war schwer, ja fast unmöglich ohne die dicke Annliese; denn sie hatte Stahl, Stein und Zunder in ihrem Verwahr. Wer denkt an all diese Qualen, — jetzt, im Zeitalter der Zündhölzchen! Die Alte hatte zu allem Leidwesen die gute Gewohnheit, präzis mit den Hühnern schlafen zu gehen und aufzustehen. Kam nun Johannchen spät abends an ihr Bett, um Feuer zu holen, so fand er sie keineswegs geneigt, ihren ersten, süßesten Schlaf zu unterbrechen, um Stahl und Zunder für ihn hervorzulangen, oder, wenn letzterer versagte (was auch vorkam), – gar aufzustehen und in der kalten Küche aus dem riesigen Back­ofen die zurückgeschobenen Kohlen hervorzuholen. Ohne Streit, ohne böse Worte von seiten der mürrischen Alten ging es nie ab. Manchmal aber wollte sie partout nicht, und dann blieb dem armen Jungen nichts übrig, als in den Ofen zu kriechen, um einige Kohlen hervorzusuchen, wobei er sich leider auch ab und zu sein Bäuchlein ver­brannte; – denn wer mochte es immer richtig taxieren, wie viel Tücke der böse Ofen noch nachbehalten hatte.

Es geschah noch bei einer andern Gelegenheit, daß die dicke Annliese die Wichtigkeit ihrer Person recht augenfällig ans Licht stellte, freilich diesmal zum entschiedenen Nutzen der Knaben. Die Freundschaft zwischen den letztern war, wie gesagt, nicht übermäßig heiß. Es kam nicht selten zu kleinen Fehden. Nicht bloß Potentaten, – auch Knaben spielen manchmal Krieg, und wär’s auch nur mit Papierfiguren. Bei einem solchen Spiel war ein heftiger Streit über die beiderseitigen Landesgrenzen ausgebrochen, in wel­chem der kleine Reimer seine Rechte besonders lebhaft ver­treten [73] hatte. Da herrscht ihn der andere übermütig an: „Halt’s Maul, Johann! Was hast du hier zu sagen? Es ist mein Grund und Boden, auf dem du stehst!“ – Das war zuviel. Die Ehre war beleidigt, und um das Sprichwort wahr zu machen: ,Wie die Alten sungen, so zwitscher­ten die Jungen,’ folgte eine Herausforderung zum Duell, eine „zänkische Beschickung,“ wie die Sache, prächtig bezeich­nend, in den alten kurischen Kirchenvisitationsprotokollen aus dem 17. Jahrhundert genannt wird, freilich ohne daß die wiederholten Rügen in jener Zeit viel gegen die herr­schende Unsitte ausgerichtet hätten. Kein Wunder, daß die Knaben auf eine Thorheit verfielen, die sie nur zu oft in der Tageskonversation besprechen und billigen hörten.

Johannchen hielt sich im Besitz einer schönen Armbrust, die ihm noch der selige Vater angefertigt hatte, für aus­reichend bewaffnet, hätte auch wohl schwerlich zu einer an­dern Waffe gelangen können, der kleine Schr. aber wußte aus dem wohlversehenen Zimmer seines Vaters eine ge­waltige Pistole zu erbeuten, und hinaus ging es zur Wiese, um den Ehrenstreit blutig auszumachen. Wenn nur nicht die Annliese gewesen wäre! Trotz ihrer kleinen, thranigen Augen und ihres überflüssigen Fettes hatte sie wohl be­merkt, was die Knaben unter einander vorhatten, vielleicht auch etwas von ihrem Streit überhört, und sah leicht an den Mienen derselben, daß Feuer im Dache sei; als sie nun gar, ihnen beim Weggehen nachblickend, in ihres „Jung­herrn“ Hand die lange Reiterpistole bemerkte, stand sie keinen Augenblick an, ihnen den langen Jahn, einen riesigen Diener, nachzusenden. Derselbe traf sie denn auch richtig auf der Wiese, mit den Vorbereitungen zu ihrer Narrheit eifrigst beschäftigt. Ob sie wollten, oder nicht, – das erste, was er that, war, daß er ihnen die Waffen wegnahm und die beiden Kavaliere nach Hause brachte, wo der ganze [74] Handel vor den Herrn Hofmeister kam, und sie nach seinem oder des Herrn Vaters Urteilspruch einer Strafe unter­zogen wurden, die am allerwenigsten in ihrem Ehrenkodex vorgesehen war.

Doch war es gut, daß in der weitern Erziehung Johannchens nach einiger Zeit eine Änderung eintrat. Die verwitwete Propstin Reimer, die noch in mittleren Jahren stand, – sie war die zweite Frau des Propstes gewesen, und die Kinder desselben aus erster Ehe bereits sämtlich versorgt, – hatte sich entschlossen, dem Magister Hänselin, früher Pastor in Durben, Primarius und Vorgänger ihres seligen Mannes an der dortigen Kirche, zu der Zeit aber Pastor an der deutschen Gemeinde in Goldingen, die Hand zu reichen. Es war dies ein Mann schon in vorgerückten Jahren, der um seiner Eigenheiten willen viel besprochen ward, aber ein gelehrter, frommer und, wie seine Frau und die Stiefkinder stets mit großer Dankbarkeit aussprachen, ein guter, liebevoller Mann, ihnen ein treuer, väterlicher Versorger. Freilich mit seinen Eigenheiten hatte es seine Richtigkeit, aber eine rechtschaffene, christliche Ehefrau weiß dergleichen zu übersehen und zu tragen, auch wenn sie noch zehnmal auffallender und absonderlicher wären, als bei dem alten Herrn Magister. Allerdings hielt er streng an seiner Hausordnung und wollte sein Studier­zimmer als Heiligtum betrachtet wissen, in welchem alles „Aufräumen“ streng untersagt war; aber das wird ihm niemand zu hoch anrechnen, der die Leidenschaft unsrer lieben Hausfrauen alter Zeit für Dielenscheuern oder „doch wenig­stens etwas aufwaschen“ kennen gelernt hat und sich ent­sinnt, wie die grimme Scheuermagd unter diesem unschul­digen Namen eine Sintflut anrichtet, daß man Raben und Tauben aussenden könnte, und den ganzen Tag über nicht aus dem Seifenklima herauskommt, – oder der es erfahren [75] hat, wie eine unschlachtige Magd, frisch aus dem „Gesinde“ (Bauerhof) gekommen, – „Trampeltier“ nannte sie meine Großmutter im Zorn, – wenn sie ins „Aufräumen“ und Staubwischen kommt, kein Papier auf dem andern und kein Buch neben dem andern läßt, gleichsam als wollte sie die Zerstörung Jerusalems aufführen, daß man hernach schier glauben könnte, es seien die Römer oder gar die Vandalen ins Land gebrochen. Darum keinen Tadel über den alten Magister! Ohnehin weiß eine gute Pastorin den Staub im Heiligtum ihres Mannes im stillen selbst abzuwischen, ohne daß er es merkt, oder ihm eins seiner Papiere ver­schoben oder verlegt wird. – Und daß der gute Mann, – der in diesem Punkte noch die allerstrengsten Quäker übertraf, – absolut keine Knöpfe an seinen Kleidern dulden wollte, sondern dies verhaßte Geschlecht überall durch Bän­der ersetzte, das war doch noch lange kein moralisches Gebrechen, sondern nur ein Verstoß gegen die Mode und im Grunde nur eine Unbequemlichkeit, die er sich selbst auf­erlegte. – Und vollends seine Zerstreutheiten! Man erzählte freilich unter anderem von ihm, er sei, als er gerade bei sei­nem „Vesperbrot“ (fünf Uhr nachmittags) war, (– „Jause“ nennen’s die Wiener), – wo bekanntlich in Kurland zur Sommerszeit alles saure Milch ißt, – da unerwartet an­gekommener Besuch angemeldet wurde, zum Empfang hinaus­geeilt und habe, statt mit einem chapeau bas, wie damals Sitte war, mit einem Milchspanndeckel oder einem großen Laib Schwarzbrot unter dem Arm, vor den Herrschaften seine Bücklinge gemacht. Aber was will das sagen, oder welches Hindernis für eine glückliche Ehe sollte das wohl abgeben? Hab ich doch selbst einen würdigen, alten Mann gekannt, von dem die böse Welt erzählte, er habe an einem fremden Ort, wo er zur Nacht blieb, in seiner Zerstreut­heit seine Kleider schön lang ins Bett gelegt, sich selbst [76] aber über die Stuhllehne gehängt, und sei erst durch die Unannehmlichkeiten seiner harten Lage aus dem Irrtum erwacht. Oder, was die Leute sonst noch von ihm berichte­n, und was leider nur zu wahrscheinlich war: er habe, als er aus dem Oberlande mit seiner Familie zu Johannis nach Mitau fuhr, in einem Kruge Halt gemacht und sei­ner Equipage vorausgehen wollen, statt dessen aber den Weg zurück nach Friedrichsstadt eingeschlagen und sich schmerzlich geärgert, daß der Wagen noch immer nicht komme, bis zufällig ein Mann aus der Friedrichsstadtschen Gegend, der gleichfalls nach Mitau fuhr, den rückwärts spazierenden Pastor erkannte und ihn anredete: „Wie? Herr Pastor? Zu Fuß? Und schon zurück aus Mitau?“ wo sich dann schließlich der fatale Irrtum aufklärte, der Pastor auf des Mannes Gefährt stieg, und endlich mit einiger Anstrengung seine in Ängsten schwebende Familie allmählich einholte. – Dergleichen rechnet man einem sonst braven und tüchtigen Manne nicht an, zumal wenn er noch dazu ein frommer und treuer Hirt ist, der seines heiligen Amtes mit Gewissen­haftigkeit wartet. Und das war hier der Fall. Wenn der Apostel ermahnt (Hebr. 13, 7): ,Gedenket an eure Lehrer, die euch das Wort Gottes gesagt haben, welcher Ende schauet an und folget ihrem Glauben nach’ – so hatte der alte Hänselin ein Recht, mit vollen Ehren unter diesen Vorbildern zu stehen. „Ja, wie schön verstanden unsere Alten zu singen und zu sterben!“ – möchte ich in Erinnerung an ihn und andere, die mir vor­schweben, ausrufen. Hier hätten wir noch viel zu lernen. Es sei bei dieser Gelegenheit z. B. nur des Thorner Bürger­meisters Joh. Gottfr. Rösner gedacht, der (1724) mit elf Mit­bürgern um seines evangelischen Glaubens willen das Blut­gerüste besteigen mußte, und mit dem Verse 13 aus „Herz­liebster Jesu, was hast du verbrochen“ aus dem Leben schied:

[77]

Ich werde dir zu Ehren alles wagen,
Kein Kreuz nicht achten,
Keine Schmach noch Plagen,
Nichts von Verfolgung, nichts von Todesschmerzen
Nehmen zu Herzen.

„Dies muß ich nun praktizieren,“ war sein letztes Wort; darauf fiel der Todesstreich.

So schwer war freilich nicht des alten Magisters letzter Gang, aber ein Marterbette war sein Krankenlager doch. War’s, daß er nur aufgerichtet noch Luft zu schöpfen und zu sprechen vermochte, oder was es sonst war, das ihn dazu bewog, kurz, – nachdem er sich wie ein rechtschaffe­ner Jünger Jesu zum Tode gerüstet hatte und den letzten Augenblick nahen fühlte, verlangte er aus dem Bette her­aus und auf die Füße gestellt zu werden. „Stehend,“ sagte er, „habe ich oft genug meinen Heiland im Leben bekannt; stehend will ich auch sterben.“ Wer konnte dem Sterbenden den letzten Wunsch versagen, so undurchführbar er auch schien! Zwei Amtsbrüder, die an seinem Bette standen, nahmen ihn unter die Arme und hielten ihn auf­recht. Da stimmte der Sterbende noch mit der letzten An­strengung an:

Valet will ich dir geben,
Du arge, falsche Welt,
Dein sündlich böses Leben
Durchaus mir nicht gefällt.
Im Himmel ist gut wohnen,
Hinauf steht mein Begier,
Da wird Gott ewig lohnen
Dem, der ihm dient allhier.
               u. s. w.

Aber er brachte das Lied nicht zu Ende. Seine Stimme versagte, sein Auge brach. Die Anwesenden sangen das Lied bis zum Schluß; die Amtsbrüder legten ihn ins Bett [78] zurück. Ein paar Atemzüge noch, und seine Seele war bei ihrem Herrn.

Daß der Mann, der so aus dem Leben ging, in den elf bis zwölf Jahren, da er ihnen angehörte, seinen Stief­kindern ein rechtschaffener Vater und Berater war, wird man uns glauben. Das zeigte sich auch dahin, daß er seinen Stiefsohn aus dem freiherrlichen Hause nach Königs­berg auf das Collegium Fridericianum brachte, wo er eine sorgfältige Vorbereitung auf das Universitätsstudium finden sollte. Manches in den damaligen Einrichtungen dieser Anstalt will uns freilich nicht mehr zusagen, wie z. B. die Faulbank, auf welcher die nachlässigen Schüler ein ab­schreckendes Beispiel für die übrigen bildeten, der hölzerne Esel,[1] auf welchen diejenigen gesetzt wurden, welche sich ein Buch ohne vorherige Zensur des Lehrers gekauft hatten, oder die, welche sich des verbotenen Tabakrauchens schuldig gemacht hatten. Das corpus delicti, die Pfeife und den Tabaksbeutel an der Seite, hatten sie dort trübselige Augen­blicke zu verbringen. War man auch gegen die Schüler der obersten Klasse, die schon zur Universität abgehen sollten, nachsichtiger, so war doch die Warnung, die der alte Lehrer unserm Großvater angedeihen ließ: „Verdampf Er nicht sein Geld!“ – wohl am Platz und ein so treffliches Wort, daß ich’s noch jetzt in all unsere Schulen und Klassen, bis in die Prima, hineinrufen möchte.

Als nun unser Großvater sein Universitätsstudium be­gann, sah’s freilich in der Theologie recht traurig aus. Der vulgärste Rationalismus war an der Tagesordnung, die Aufklärungssucht, so verdienstlich ihr Streben nach Be­seitigung des noch weitverbreiteten Aberglaubens genannt werden muß, war leider gänzlich blind über den „Zopf, [79] der ihr noch hinten hing,“ und hatte keine Ahnung davon, wie viel alten, pharisäischen Sauerteig und Aberglauben sie selbst mit ihren Schwärmereien über „Tugend und Glück­seligkeit“ unter die Leute brachte. Unter solchen Umständen war es noch eine Wohlthat, daß Kant, der damals alles beherrschte, dem Geschlecht, das in der größten Gefahr geisti­ger Verweichlichung stand, im Namen der Vernunft ein tüchtiges moralisches Sturzbad über den Kopf goß. Daß unter solchen Einflüssen unseres jungen Studiosen theolo­gische Ansichten auf dem Standpunkt Gellerts, für den er zeitlebens eine große Verehrung hegte, stehen blieben, war noch das glücklichste Resultat, das erwartet werden konnte. Später waren Herder und Lavater nicht ohne Einfluß auf ihn.

Doch – es gab noch eine andere Schule, in die er kam, eine Schule, die unserm inwendigen Menschen oft mehr giebt, als alle Professoren und Bücher. Er erkrankte schwer am Typhus, oder wie dieser damals genannt wurde, „am Faulfieber.“ Nun ist’s allezeit ein übel Ding, am fremden Ort, fern von seiner Heimat, seinen Lieben, krank darnieder­ liegen, viel mehr aber noch zu jener Zeit. Oft bewußtlos, zuletzt so schwach, daß er kaum ein Wort mehr vorbringen konnte, lag er in seinem Stüblein krank, notdürftig von seiner Wirtin gepflegt. Sein Zustand schien hoffnungslos, ohne daß er selbst darum wußte, und es war nur zufällig, daß er erfuhr, wie es eigentlich um ihn stand. Eine Nach­barin war zu seiner Wirtin gekommen. Nach einigem Hin und Her hatte die letztere wohl von dem kranken Studenten gesprochen, der ihr auf dem Halse liege, und die andere wahrscheinlich ihn sehen wollen, um, wie sich von selbst ver­steht, mit ihrer nachbarlichen Weisheit zu Hilfe zu kommen. So traten denn die beiden Frauen in sein Zimmer. Da er regungslos, ohne Zeichen irgend einer Teilnahme auf dem Bette lag, waren sie der Meinung, er sei auch bewußtlos, [80] was er allerdings oft gewesen, aber gerade in jenem Augen­blick nicht war.

„Na, hören Sie,“ sagt die Nachbarin; „das wird hier wohl auch bald zu Ende sein.“

„Ja,“ erwiderte die andere, „und zu haben ist da just och nichts: die paar Kodderkens (auf die Kleider deutend) werden och man langen, um die Miete zu bezahlen. Das Essen und Trinken wird er mir wohl schuldig bleiben.“ –

Damit gingen die beiden Frauen aus dem Zimmer voll Bedauerns, daß sie, die Wirtin, mit diesem Studentchen solche schlechte Geschäfte gemacht hatte. – Dieser aber wußte wenigstens, wie schlimm es um ihn bestellt war. In solchen Augenblicken pflegt der Trost, den Tugend und Un­sterblichkeit uns gewähren, etwas dünn zu sein und die arme Seele sich des zu erinnern, der aller Sünder und aller Kranken Trost und Hoffnung ist und uns die Ver­heißung gegeben hat: „Wer an mich glaubt, der wird den Tod nicht sehen ewiglich,“ und die andere: „Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe.“ Das hatte der Herr denn auch wohl diesmal im Auge gehabt, als er den armen Studenten tagelang zwischen Leben und Sterben schweben ließ, und was er an dieser Seele ausrichten wollte, das hat er, wie wir zu seiner Gnade hoffen, auch erreicht. Aber er that noch mehr. So mangelhaft es mit der ärzt­lichen Behandlung gerade dieser Krankheit bestellt war, und so viel in der Pflege hätte anders sein können oder sollen, – der Herr erwies sich hier aufs neue als der, „welcher tot und lebendig macht, in die Hölle führt und wieder heraus.“ Allmählich erholte sich der Kranke, kam wieder zum vollen Besitz seiner Gesundheit und Kraft und konnte sein Studium, von seinem Stiefvater ausreichend versorgt, glücklich beenden.

Aber nun, wohin? Je schwieriger die Entscheidung [81] dieser Frage in solchen Augenblicken ist, wenn nichts Zwingen­des nach der einen oder der andern Seite vorliegt, – desto angenehmer ist es, wenn von außen her ein Gewicht in die Wagschale geworfen wird, das uns weiteren Suchens und Zweifelns überhebt. Das geschah hier durch ein Aner­bieten, als Erzieher in das Haus eines Freiherrn von Gaudy einzutreten. Dies war ein Mann aus der Schule Fried­richs des Großen, ein Mann, der viel von sich selbst for­derte und sich darum auch berechtigt hielt, viel von denen zu erwarten, die in seine Dienste traten. Welche Stellung er inne hatte, ob die eines Landrats oder etwas Ähnliches, ist mir nicht mehr erinnerlich; genug, er war in seinem Beruf unermüdlich thätig, gewissenhaft und streng. Für seinen Charakter ist bezeichnend, daß er jeden in undeut­licher Handschrift geschriebenen Brief, die damals freilich noch viel häufiger waren, als jetzt, – ungelesen beiseite legte, „denn,“ pflegte er zu sagen, „der König hat mich nicht dazu angestellt, meine Zeit mit dem Entziffern schlechter Handschriften zu verlieren, und wer mir nicht die Höflich­keit erweist, gut leserlich zu schreiben, kann von mir nicht die andere erwarten, daß ich seine Zeilen beachte.“ Klar und bestimmt war auch das, was er von dem Erzieher seines Sohnes verlangte. Die Art und Weise, in der er seine Forderungen aussprach, raubte freilich dem jungen Kandidaten fast den Mut, eine so große Aufgabe zu über­nehmen. Aber der gute redliche Wille, dessen er sich be­wußt war, die großen Hoffnungen, die jene für die Päda­gogik vielfach Bahn brechende und für Erziehung geradezu schwärmende zweite Hälfte des vorigen Jahrhunderts erweckte, vielleicht auch angeborne Anlage und Neigung, die sich später noch entschiedener kundgab, ließen ihn im Vertrauen auf Gottes Hilfe das nicht allzu leichte Amt antreten. Und er hatte dies nicht zu bereuen. Es war eine glückliche Zeit, [82] die er im von Gaudyschen Hause verbrachte, und seiner Erfolge hatte er sich nicht zu schämen. Ja, er wäre in der ursprünglichen Heimat seiner Voreltern vielleicht für immer geblieben, wenn ihn nicht der Tod seines Stief­vaters und die hilflose Lage der zum zweitenmale verwit­weten Mutter nach Kurland zurückgerufen hätten.

Daß aber die Saat, die er als Lehrer ausgestreut, nicht verloren war, daß sich im Gegenteil ein geistiges Band zwischen ihm und seinem Zögling auf Jahre hin erhielt, dafür sollte noch das Jahr 1813 einen Beweis geben. In der mörderischen Völkerschlacht vor Leipzig, – oder war’s in einer andern blutigen Schlacht jener Zeit, – ward auch sein Zögling an der Spitze seiner Soldaten zum Tode ver­wundet. Infolge der an den Tag gelegten Bravour war er von seinem König avanciert und mit einem Orden, wenn ich nicht irre, mit dem eisernen Kreuz dekoriert worden. Vor seinem Sterben hatte er den Wunsch geäußert, daß auch sein alter Lehrer, Pastor Reimer in Wahnen in Kur­land, davon benachrichtigt werde. Das war geschehen. Eine weiße Pyramide, die auf dem großen Bücherschrank im Studierzimmer meines Großvaters stand, trug den Namen „von Gaudy“ und barg das Schreiben, worin ihm der Heldentod dieses braven Offiziers mitgeteilt wurde, – etwas Ungewöhnliches allerdings, ein Grabdenkmal, das der Lehrer in seinem Studierzimmer zu Ehren seines im Kampf für König und Vaterland gefallenen Zöglings errichtet, – aber ein Denkmal, – dürfen wir wohl sagen, – das beide ehrt.

Doch – wir haben damit vorgegriffen. Es erübrigt uns noch, des näheren zu berichten, was sich vor und nach des Großvaters Heimkehr im Kreise der Seinen begeben hatte.



  1. aus einem auf die Kante gestellten Brett gezimmert, dem man die rohe Gestalt eines Esels gegeben hatte.