Aus dem Lande der Freiheit/Vierter Brief
In dem soeben erschienenen Buche von D. F. Strauß, „Der alte und der neue Glaube“, welches vollständig mit der bisherigen religiösen Weltanschauung bricht und sich beinahe ganz auf materialistische Standpunkte stellt, sagt der berühmte Theologe, indem er gegen das Ende seiner Schrift auch die Politik in den Kreis seiner Besprechung zieht, von Amerika Folgendes: „Unter den Schäden, an denen das Volk der Vereinigten Staaten Nordamerikas krankt, ist einer der tiefsten der Mangel des nationalen Charakters. Auch unsere europäischen Nationen sind Mischvölker: in Deutschland, Frankreich, England haben sich celtische, germanische, romanische, slavische Bestandtheile vielfach übereinandergeschoben und bunt durch einander gemengt. Aber schließlich haben sie sich doch durchdrungen, sich im Hauptkörper der Nationen (gewisse Grenzstriche abgerechnet) zu einem neuen Producte, eben der jetzigen Nationalität jener Völker, neutralistirt. In den Vereinigten Staaten hingegen brodelt und gährt der Kessel, in Folge unaufhörlichen Zuschüttens neuer Ingredienzien, immerfort; die Mischung bleibt ein Gemisch und wird kein lebendiges Ganze. Das Interesse an dem gemeinsamen Staate kann das nationale nicht ersetzen; es hat, wie thatsächlich vorliegt, nicht die Kraft, die Einzelnen aus der Enge ihrer Selbstsucht, ihrer Geldjagd zu idealen Bestrebungen zu erheben; wo kein Nationalgefühl ist, da ist auch kein Gemüth.“
Sind auch in obigen Sätzen die Farben etwas stark aufgetragen, so hat doch der scharfsinnige Denker, obgleich er Amerika nicht aus eigener Anschauung kennt, im Ganzen richtig gesehen. Die Amerikaner selbst gestehen zu, daß sie in Folge der ununterbrochenen Zufuhr fremder Bestandtheile in ihrem Leben als Nation wesentlich behindert sind. Engländer, Irländer, Skandinavier, Deutsche, Niederländer, Slaven, Italiener, Franzosen, Spanier, Afrikaner etc., – allerdings unvereinbare Elemente zum Brodeln und Gähren genug! und genug, um das Zustandekommen eines einzigen nationalen Gusses unmöglich zu machen. Und dennoch sind diese Elemente wieder unentbehrlich zum Bestehen der Union und zum Zustandekommen ihrer riesigen Entwickelung. Wer sollte die zahllosen Eisenbahnen bauen, wenn es nicht die Irländer thäten? Wer sollte die große Classe der Dienstboten bilden, der Kutscher, Bedienten, Aufwärter, Kellner, Köche und Köchinnen, der Mägde etc., wenn nicht Irländer, Neger, und zum Theil auch Deutsche sich dazu hergeben würden? Kein Amerikaner würde als Herrschaftskutscher eine Peitsche in die Hand nehmen oder einem anderen Menschen die Stiefel putzen. Für alle derartige Geschäfte macht ihn sein persönlicher Stolz, sein Freiheitgefühl untauglich; und es würde in der That schwer sein, sich den Zustand der amerikanischen Gesellschaft ohne die einwandernden Elemente vorzustellen. Bekanntlich ist die irische Einwanderung die stärkste; und so große Nachtheile dieses auch auf der einen Seite in den großen Städten durch den Einfluß der Irischen auf die Stadt- und Staatswahlen, sowie durch ihre katholischen Neigungen haben mag, so bereitet doch andererseits gerade das irische Element als solches die wenigsten Schwierigkeiten, weil sich der Irländer am raschesten und leichtesten amerikanisirt. Am nächsten kommt ihm hierin der Deutsche, welcher ebenfalls, wenn unter Amerikanern lebend, leicht und bald zum Amerikaner wird. In fast allen deutschen Familien, in denen ich zu verkehren Gelegenheit hatte, fand ich, daß die Kinder, wenn sie nicht schon in einem gewissen Alter aus Deutschland gekommen waren, lieber und leichter englisch als deutsch redeten; und dies erklärt sich mit Leichtigkeit aus dem Einflusse der Schule. Auch sind Ehen zwischen Amerikanern und Deutschen sehr häufig, in welchem Falle das ganze Hauswesen rasch den amerikanischen Charakter anzunehmen pflegt.
Das ungünstigste Mischungselement als solches bildet ohne Zweifel der Neger, dessen körperlicher Einfluß bei der Mischung fast noch den des Weißen zu übertreffen scheint. Wenigstens sieht man oft genug Menschen mit fast weißer Hautfärbung, welche dennoch den charakteristischen Typus der Neger-Physiognomie im vollsten Maße besitzen. Die Eigenschaften der Mischlinge werden im Allgemeinen nicht gerühmt; doch werde ich darüber im Süden, wo die Mischlinge häufiger sind, genauere Informationen einzuziehen suchen. Uebrigens ist auch ihre Fortpflanzungsfähigkeit keine unbegrenzte.
[66] Verschwindend ist bezüglich der Racen- oder Völkermischung der eingeborene Indianer, dessen gänzliches Aussterben im Gebiete der Union nur noch eine Frage der Zeit ist, obgleich sich gerade in der letzten Zeit die Indianergrenzen wieder sehr unruhig gezeigt haben. Aber das Indianerwesen und der Indianercharakter wird darum nicht verloren gehen, weil dieses Wesen, wie es scheint, ein nothwendiges Product des Landes, des Klimas, des Bodens ist und sich bei den Eingewanderten nach Verlauf einiger Zeit geradeso geltend macht, wie bei den Eingeborenen. Es ist hier eine allgemein anerkannte und zugestandene Thatsache, daß, wie überhaupt der Angelsachse in Amerika bekanntlich ein anderes Wesen geworden ist, als in der alten Heimath, sich seinem ganzen Charakter etwas Indianerhaftes aufgeprägt hat. Ich glaubte dies sogar zu bemerken, als ich vor einiger Zeit einem amerikanischen Damenkränzchen beiwohnte und die Bewegungen der tanzenden Damen beobachtete. Abgesehen von der Toilette, welche von der unserer europäischen Damen bei ähnlichen Gelegenheiten sehr differirt und eine gewisse phantastische, mehr durch Farbenzusammenstellung, als durch die Farben selbst getragene Düsterheit repräsentirte, war die Art des Tanzens eine von der unsrigen ganz verschiedene und mehr gleitende als hüpfende. Mit der eigenthümlichen, an den Amerikanerinnen so viel gerühmten Grazie ließen sie nicht blos die Füße, sondern den ganzen Körper an dem Tanze theilnehmen und bogen denselben rasch, aber leise und schlangenartig und unter fortwährendem Auf- und Niedergleiten zwischen ihren Tänzern hindurch, so als ob ein Indianer unhörbar das Lager seiner Feinde zu beschleichen im Begriffe sei. Daher auch Contretänze mit vielen Variationen, wobei jenes Biegen, Schmiegen und Schleichen möglich ist, hier viel beliebter sind als unsere Rundtänze, welche übrigens ebenfalls von den Amerikanerinnen zum Theil in jener eigenthümlichen Manier getanzt werden. Mit Sinnlichkeit hat diese Manier, wie man vielleicht denken könnte, nichts zu thun, da die Hinneigung der Frauen zu den Männern in Amerika, wenigstens in den zuerst von den Puritanern besiedelten sogenannten Neu-England-Staaten (zu denen man Connecticut, New-Hampshire, Rhode-Island, Massachusetts, Maine, Vermont rechnet) oder in der eigentlichen Heimath der sogenannten Yankees, bedeutend geringer sein soll, als in den meisten anderen Ländern, und da hier sehr über Unfruchtbarkeit der Ehen, wenigstens in den Städten, geklagt wird. Rechnet man dazu die in großen Städten leider immer mehr in Aufnahme kommende und von der Gerechtigkeitspflege nicht hinlänglich verfolgte Sitte künstlicher Unfruchtbarkeit, so kann man der angelsächsischen Race bei dem riesigen Wachsthume des Landes keine allzu glänzende Zukunft versprechen, und es wäre möglich, daß dieser eine Umstand hinreichen würde, um dieselbe mit der Zeit und im Laufe der Jahre dem fruchtbaren und obendrein durch fortwährende Einwanderung sich recrutirenden deutschen Elemente gegenüber in Nachtheil zu bringen. Doch ist dies eine Sache der Zukunft und schwer vorherzusagen.
Nebenbei gesagt, war die amerikanische Gesellschaft, in der obige Beobachtungen gemacht wurden, die einer religiösen Gemeinschaft, welche den radicalsten oder vorgeschrittensten Kirchen-Standpunkt repräsentirt, den es in New-York giebt. Die sonntägliche Andacht ist mehr eine philosophische, als eine religiöse und wird von Herren Frothingham geleitet, welcher sehr freisinnigen Ideen huldigt und nach dem berühmten Beecher für den besten Kirchenredner New-Yorks gilt. Die feingebildetsten Elemente der Stadt sollen zum Theil der Gemeinschaft angehören.
In der zweiten Hälfte des December las ich in Boston, welche Stadt durch ihr großartiges Brandunglück in den letzten Wochen die Aufmerksamkeit der halben Welt auf sich gezogen hat. Uebrigens verschwindet der ungefähr eine englische Quadratmeile große Brandplatz, welcher ein trostloses Bild der Verwüstung und Verwirrung darbietet, im Vergleich mit der Größe der sehr ausgedehnten Stadt, welche durch ihre unvergleichlich schöne Lage zwischen dem Meer und einer dasselbe in gewisser Entfernung begrenzenden sanften Hügelkette sich vor den meisten amerikanischen Städten auszeichnet. Dazu kommt, daß Boston als die älteste der amerikanischen Städte auch durch ihre Bauart einigermaßen an europäische Städte erinnert und sogar (eine in Amerika fast unerhörte Eigenthümlichkeit) einige krumme und enge Straßen aufzuweisen hat. Auch in geistiger Beziehung scheint Boston an der Spitze der amerikanischen Städte zu stehen und hat den Ehrennamen des amerikanischen Athen erhalten. Hier wirkt und lebt in der Vorstadt Cambridge der berühmte Agassiz, der Humboldt Amerika’s, welchen die Amerikaner wie eine Art wissenschaftlichen Herrgotts verehren, und dem sie ungeheure Summen für Reisen, wissenschaftliche Arbeiten, Anlegen von Sammlungen etc. zur Verfügung gestellt haben. Freilich hat er zum Danke dafür seine Wissenschaft dem amerikanischen Puritanismus anbequemt und geberdet sich als heftiger Gegner Darwin’s, Huxley’s etc. Daß es übrigens auch unter den hiesigen Amerikanern nicht an Widersachern des Puritanismus fehlt, beweist das Erscheinen eines sehr verbreiteten atheistischen Wochenblattes, des „Investigator“ (Untersucher), welches einen erfolgreichen Kampf gegen die kirchliche Richtung unterhält. Ueberhaupt scheint es, daß Boston unter allen amerikanischen Städten das Vorrecht habe, große Reform-Ideen zuerst zum Ausdruck zu bringen. Denn von hier ging zuerst die Revolution und der Befreiungskampf gegen England aus. Von hier wurde auch zuerst die große und später so erfolgreiche Abolitionistenbewegung oder die Bewegung zur Abschaffung der Sclaverei in Scene gesetzt. Die Männer, welche Boston und der Staat Massachusetts überhaupt in den Congreß nach Washington schicken, gehören in der Regel zu den intelligentesten und fortgeschrittensten Mitgliedern jener Körperschaft. So ist z. B. der berühmte Senator Sumner ein Bostoner Kind. Auch die für Amerika so wichtige Frauen- oder Frauen-Rechts-Bewegung hat ihren Hauptsitz in Boston, wo, wie überhaupt in den Neu-England-Staaten, eine große Menge unverheiratheter Damen leben, welche in allen möglichen Beschäftigungen Ersatz für das ihnen zweifelhaft erscheinende Glück der Ehe suchen und finden. So giebt es z. B. nicht weniger als zwanzig weibliche Aerzte in Boston, welchen es nicht an reichlicher Beschäftigung fehlt. Das von Fräulein Dr. Zakrzewska aus Berlin gegründete Hospital für Frauen und Kinder kann als eine wahre Musteranstalt dieser Art betrachtet werden und ist, abgesehen von seiner vortrefflichen Lage auf einer nach allen Seiten freien Bodenerhöhung, mit allen Einrichtungen modernster Art für Heizung, Lüftung, Abhaltung von Miasmen und dergleichen reichlich versehen. Diesem Hospital, sowie allen Anstalten ähnlicher Art kommt der in Amerika überhaupt, namentlich aber in Boston, in reichstem Maße vorhandene Wohlthätigkeitssinn sehr zu statten, und auch hierin stehen die Frauen überall in erster Linie. Es ist unglaublich, wie vieles hier für öffentliche Zwecke durch Privatthätigkeit geleistet wird, und dieses mag nicht wenig dazu beitragen, daß die Bostoner unendlich stolz auf ihre Stadt sind und dieselbe für die erste Stadt der Union erklären, während andere Städte, z. B. New-York, diese Rangstufe für sich in Anspruch nehmen.
Bei der Abneigung der New-Yorker gegen Boston spielen, neben politischen Gründen, vielleicht die im Staate Massachusetts besonders strengen Temperanz- oder Mäßigkeitsgesetze eine Rolle, obgleich in der Stadt Boston selbst, wie in den meisten größeren Städten, die Temperanzler bis jetzt nicht im Stande gewesen sind, ihre Grundsätze in gleicher Weise durchzusetzen, wie auf dem Lande und in kleineren Städten. Hier ist, wie fast in allen Neu-England-Staaten, jeder Genuß geistiger Getränke streng verboten, und können sogar solche Getränke, welche nur für das Haus bestimmt sind, auf öffentlicher Straße weggenommen werden. Dies schließt nun freilich eine arge Beschränkung der sonst in Amerika so außerordentlich hochgehaltenen und viel gepriesenen persönlichen Freiheit ein, verliert aber doch Vieles von seiner Auffälligkeit, wenn man die Sache in der Nähe betrachtet. So wenig man z. B. Temperanzgesetze in Deutschland nöthig hat oder dulden würde, so unentbehrlich scheinen dieselben für Amerika zu sein, da der Amerikaner eben ein ganz anderer Mensch ist, als der Deutsche, und im Genuß geistiger Getränke, wenn er denselben einmal angefangen hat, durchaus kein Maß zu alten versteht. Wie er im Leben und im Geschäft Alles mit Hast, Energie und Leidenschaft betreibt, so verfährt er auch im Trinken, und weiß, wenn einmal übermannt, seiner Natur keinen Zügel mehr anzulegen. Jener ruhige, behagliche und zugleich heitere Lebensgenuß, den man in Deutschland so hochschätzt und der nicht mit Unmäßigkeit verbunden zu sein braucht, ist in Amerika, wie es scheint, ein unbekanntes Ding, wenn auch das amerikanische Familienleben selbst sehr gelobt wird. Der amerikanische Charakter hat in seiner stark hervortretenden Eigenthümlichkeit ebenso starke [67] Licht- wie Schattenseiten, könnte aber zur Bewältigung der kolossalen Schwierigkeiten dieses ungeheuren Landes kaum anders gedacht werden, als so, wie er wirklich ist, und als das Gegentheil von deutscher Aengstlichkeit und Engherzigkeit. Daß dieses andererseits auch wieder mancherlei Ausschreitungen im Gefolge hat, kann darnach nicht allzusehr auffallen.
Die Zahl der Deutschen ist in Boston im Verhältniß zu andern Städten eine sehr geringe und wird auf nur acht- bis zwölftausend geschätzt. Dennoch zeigte der starke und, wie mir gesagt wurde, bei gleicher Gelegenheit so noch nicht dagewesene Besuch meiner Vorlesungen für das hier auch unter den Deutschen verhältnißmäßig mehr, als an andern Orten, entwickelte geistige Leben. Leider kann sich dieses Leben bis jetzt immer nur auf eine mehr oder weniger gebildete Minderzahl beschränken, da die weitaus größte Mehrzahl der Deutschen in den amerikanischen Städten lediglich aus Arbeitern besteht, für welche Amerika in Wahrheit ein ebensolches Eldorado ist, wie für alle Arten von Dienstboten. Nirgendwo in der ganzen Welt wird die Arbeit so gut bezahlt, wie hier, nirgendwo leben daher die arbeitenden Classen in gleicher Weise gut und comfortabel; nirgendwo fühlt sich der Arbeiter, eben dieses materiellen Wohllebens wegen, in gleicher Weise behaglich. In geistiger Beziehung macht er freilich in der Regel keine Ansprüche, wenigstens keine höheren, als er sie in der alten Heimath auch gemacht hat, und kann daher meistens auf ihn nicht als auf eine Stütze für vom alten Vaterlande her eingeführte geistige Bestrebungen gerechnet werden. Dies wird sich jedoch von Jahr zu Jahr bessern, namentlich im s. g. Westen, in welchem das deutsche Element bedeutend stärker durch Zahl, Bildung und Einfluß sein soll, als im Osten. Dort wird es möglicherweise auch in nicht allzu ferner Zeit an einzelnen Plätzen das vorherrschende Element werden, während im Großen und Ganzen an ein Verdrängen des Amerikanerthums durch das Deutschthum, wie es einzelne Enthusiasten träumen, vorerst noch nicht zu denken ist. Dagegen haben wiederum die Amerikaner in geselliger Beziehung Manches von den Deutschen angenommen, z. B. die früher ganz ungebräuchliche und jetzt fast allgemein eingeführte Feier des Weihnachtsfestes. Man könnte sich fast in Deutschland glauben, wenn man jetzt in der Weihnachtszeit die geschmückten Läden im Glanze der Lichter strahlen oder die Christbäume durch die Straßen tragen sieht. Auch das Bier ist eine deutsche Importation und wird gegenwärtig von den Amerikanern kaum weniger gern als von den Deutschen getrunken, obgleich das, was man hier als „deutsches Lagerbier“ zu genießen pflegt, von seinem edlen Vorbilde kaum mehr als den Namen und die Farbe hat. Nur im Westen wird gutes deutsches Bier gebraut.
Von dem materiellen „Stoff“, bei dessen Betrachtung es demnach zweifelhaft bleibt, ob die nothwendige Verbindung mit dem entsprechenden Quantum von „Kraft“ vorhanden ist oder nicht, muß ich noch einmal auf den geistigen Stoff zurückkommen und erwähnen, daß auch Boston, wie New-York, sich einer Institution erfreut, welche man in europäischen Städten in ähnlicher Weise wohl vergeblich suchen würde, nämlich einer öffentlichen, unentgeltlichen und Jedem jederzeit zugänglichen „Volks-Bibliothek und Lese-Anstalt“. Ihre Einrichtung bietet viele Aehnlichkeit mit der New-Yorker „Mercantile Library“ oder Kaufmanns-Bibliothek, welche man gewissermaßen als „die größte der Welt“ bezeichnen könnte, und welche sich von der Bostoner Anstalt dadurch unterscheidet, daß in der Regel nur Abonnenten dieselbe besuchen und benutzen können. Sie ist aus einem ganz kleinen im Jahre 1821 von einer Gesellschaft junger Kaufleute gemachten Anfang entstanden und besitzt gegenwärtig ungefähr einhundertfünzigtausend Bände und zehn- bis zwölftausend Mitglieder. Sie hat ein prachtvolles Gebäude (die sogenannte Clinton-Hall) zu ihrer Verfügung und erhebt, da sie von reichen Kaufleuten unterstützt wird, nur einen sehr geringen Beitrag von ihren Mitgliedern. Das riesige Lesezimmer enthält mehrere hundert Zeitungen und Zeitschriften, und die jährliche Bücher-Circulation beträgt etwa zweihundertsechzigtausend Bände. Eine besondere deutsche Abteilung mit einem deutschen Bibliothekare besitzt zehntausend Bände. Die Freundlichkeit und Zuvorkommenheit, mit der man den Verfasser dieser Briefe bei seinem Besuche der Anstalt empfing und ihm die ausgedehnteste Benutzung derselben frei stellte, kann derselbe nicht genug rühmen.
Eine erwähnenswerthe Merkwürdigkeit von Boston ist die chromolithographische Anstalt von Prang, einem Deutschen, der durch unermüdliche Ausdauer und Geduld nach und nach dahin gekommen ist, eine bewunderungswürdige Fertigkeit in Nachbildung und Vervielfältigung bedeutender Kunstwerke oder sonstiger Malereien (namentlich für häusliche und für Schulzwecke) auf dem Wege des Oeldrucks zu erlangen. Seine wirklich ausgezeichneten Leistungen dürften kaum von irgend welchen europäischen Anstalten übertroffen werden. Ueberhaupt darf man als Deutscher stolz darauf sein, wenn man hier so oft Deutsche als Begründer und Leiter von industriellen oder sonstigen Unternehmungen findet, zu denen ein besonderer Grad von Intelligenz, Geschicklichkeit oder Ausdauer erforderlich ist.
Die berühmteste Pianofortefabrik der Welt ist wohl diejenige von Steinway in New-York, dessen Name vermuthlich die etwas englisirte Lesart für den guten deutschen Namen Steinweg ist. Die Familie Steinweg stammt aus Braunschweig und besteht gegenwärtig noch aus drei in New-York wohnenden Brüdern, welche die Geschäfte ihrer nach und nach aus den winzigsten Anfängen emporgewachsenen großartigen Anstalt, welche ein ganzes Häusergeviert bildet, untereinander verteilt haben. Der Ruf der Steinway’schen Instrumente, von denen die Fabrik durchschnittlich in jeder Stunde eins liefert, ist allzu bekannt, als daß ich etwas darüber zu sagen nötig hätte. Allerdings haben die amerikanischen Clavierbauer einen Vortheil vor den europäischen voraus, der jede Concurrenz der letzteren auf dem hiesigen Markte ausschließt; derselbe liegt zum Ersten in den vortrefflichen amerikanischen Hölzern und zum Zweiten in der großen Trockenheit der Luft, welche das Holz, namentlich bei längerer Aufstapelung im Freien, bis zu einem in Europa unerreichbaren Grade austrocknen läßt. Daher auch europäische Claviere in Amerika in der Regel durch Springen zu Grunde gehen. Uebrigens ist der Pianoforteverbrauch in Amerika ein kolossaler, und es bestehen neben der Steinway’schen noch eine große Menge anderer, kaum weniger berühmter Firmen.
Der Weg zwischen Boston und New-York, ein Weg, der ungefähr so weit ist wie der zwischen Hamburg und Berlin, der aber für nichts gerechnet wird, zieht sich zum Theil an dem Meeresufer hin und entschädigt den Reisenden durch gelegentliche Ausblicke auf die See für die sonstige Oede der Gegend, welche Oede übrigens durch die zahlreichen, lauter Wohlhabenheit athmenden hellen amerikanischen Farmhäuser mit ihren hölzernen Veranden unterbrochen wird. Bisweilen zeigt auch die Gegend landschaftliche Abwechslung und Scenerie, namentlich zwischen New-York und New-Haven, einer am Long-Island-Sund sehr schön gelegenen Stadt von circa fünfzigtausend Einwohnern, in welcher die deutschen Turner eine für meinen Rückweg von Boston bestimmte Vorlesung arrangirt hatten. Trotz ihrer verhältnißmäßig geringen Anzahl waren die Deutschen sehr zahlreich aus New-Haven und der Umgegend erschienen und zeigten sich dankbar genug für die empfangene Anregung. Für den 31. December ist hier eine Vorlesung unseres berühmten Landsmannes Schurz in englischer Sprache über „Frankreich und Deutschland“ angekündigt. Er wird zu den ersten Rednern des Landes gezählt.
Seit ich Ihnen das letzte Mal schrieb, ist der durchgefallene Präsidentschaftskandidat Greeley gestorben. Sein Mißerfolg scheint seinen Verstand verwirrt und sein Herz gebrochen zu haben, wozu noch der rasche Tod seiner Frau mitgewirkt haben mag. Offenbar war Greeley aus einem andern Teige gebacken als die meisten seiner Landsleute und besaß eine mehr innerliche, empfindsame Natur, welche die Aufregung der Wahlcampagne und die daraus gefolgte Enttäuschung nicht zu ertragen vermochte. Auch mag er wohl den größten Theil seines Vermögens der Wahlagitation geopfert haben und sah sich nach dem Fehlschlagen seiner Pläne nicht mehr im Besitze der gewohnten Mittel. Mit bekannter Großmuth und Freigebigkeit offerirten die Amerikaner sofort den zurückgebliebenen Töchtern eine Summe von hunderttausend Dollars, welches Anerbieten jedoch von ihnen ausgeschlagen wurde. Auch das großartige Leichenbegängniß Greeley’s, bei welchem sogar Präsident Grant aus Washington erschienen war, zeigte, wie rasch hier der Tod oder irgend eine Entscheidung überhaupt allem politischen Hasse ein Ende macht – gewiß eine der wohlthuendsten Erfahrungen politischer Freiheit!