Aus dem Leben des Kaisers Wilhelm I.
Aus dem Leben des Kaisers Wilhelm I.[1]
Die Hohenzollern, denen es vergönnt war, den jahrhundertalten Traum eines einigen, starken deutschen Reiches über kühnstes Hoffen hinaus so ruhmvoll und glänzend zu erfüllen, erscheinen hierzu schon durch die Entwickelungsgeschichte ihres Geschlechts als besonders auserwählt. Süden und Norden haben gleichen Theil an ihm. Dem ersteren entsprossen, im letzteren zur Fülle seiner Kraftentfaltung gelangt, ist es wie berufen, die alten Stammesgegensätze in unserem Volke unter seiner Führung auszugleichen und zu versöhnen.
Welchem Deutschen schwebte nicht in großen Zügen die aus sagenhafter Dämmerung der Vergangenheit zum Sonnenlichte der Gegenwart emporwachsende Geschichte unseres Kaiserhauses vor?
Ritterliche und weitblickende Herrscher, bemühen sich die Markgrafen von Brandenburg nicht ohne Erfolg, in des deutschen Reiches „Streusandbüchse“ einen ebenso blühenden wie starken Wall des Deutschthums gegen slavische und skandinavische Eroberungslust zu errichten, bis die Schrecken des dreißigjährigen Krieges nicht nur alle diese Früchte, sondern unser ganzes Volksthum zu vernichten drohen.
Da aber treibt der Hohenzollernstamm ein Reis, „so kräftig wie noch keins zuvor“ – und mit dem Großen Kurfürsten tritt der erste Zollernfürst von welthistorischer Bedeutung und eigentliche Begründer der brandenburgisch-preußischen Anwartschaft auf die Schirmherrschaft Deutschlands in die Erscheinung.
„Auf muth’gem Schlachtroß sah’ ich die Gestalt,
Des Herrscherauges blitzende Gewalt,
Und von des Vaterlandes heil’gen Borden
Zornmüthig fegt sein Schwert die fremden Horden.
Sein kühner Geist und seine scharfe Wehr
erobert deutscher Flagge selbst das Meer.
Den ‚Großen‛ nennt ihn seines Volkes Dank. –
Und andre sah ich folgen des Geschlechts,
Nicht minder groß als er, gerecht und weise –
Bis Einer kommt, der Glücklichste von allen,
Dem es, ein zweiter Siegfried, vorbehalten,
Den lang versunknen Nibelungenhort,
Des Deutschen Reichs verlorne Herrlichkeit
Zu heben aus dem Bann der finstern Mächte
Und mitten im besiegten Feindeslager,
Beschirmt von rath- und thatgewalt’gen Helden,
Neidlos umjauchzt von all’ den andern Fürsten
Und Stämmen des geeinten Vaterlandes,
Die Kaiserkrone auf das greise Haupt
In frommer Demuth sich zu setzen – der
Geliebt wie keiner je von seinem Volke,
Und dessen Stirn der Eichenkranz des Friedens
Und schlichter Bürgertugend schöner noch
Als selbst des Siegers Lorbeer schmücken mag!“
Das nun abgeschlossene Leben dieses „Glücklichsten von allen“ den mit dem gesammten deutschen Volke ihm innig nachtrauernden Lesern der „Gartenlaube“ in großen Umrissen nochmals vor Augen zu führen, ist der Zweck der folgenden Darstellung. Wir müssen uns dabei des gegebenen Rahmens wegen darauf beschränken, nur die besonders bezeichnenden Züge dieser überreichen Laufbahn, deren Geschichte fast gleichbedeutend mit der Geschichte des letzten Jahrhunderts ist, hervorzuheben.
[178] Möchte es unserer von deutscher Liebe und deutscher Dankbarkeit. geführten Feder gelingen, ein treffendes Bild des in seinem innersten Kerne so schlichten und in seiner welthistorischen Gestalt doch so erhabenen Herrschers zu zeichnen; eines Herrschers, der die gewaltige Höhe, welche er erstiegen, weniger einer genialen Begabung als dem ernsten und unablässigen Bestreben verdankt, seinen Charakter in sonnigen und stürmischen Tagen zu festigen und zu stählen, um dadurch befähigt zu werden, in immer gleichbleibender Pflichttreue als ganzer Mann bis zum letzten Hauche auf dem Posten auszuharren, auf welchen sein Geschick ihn einmal gestellt hatte.
Kein köstlicheres Gut kann einem Menschen mit aus seinem späteren Lebensweg gegeben werden, als die Erinnerung an eine sonnige Jugendzeit. Bis zu seinem zehnten Jahre ist unserem dahingeschiedenen Kaiser Wilhelm eine solche in vollem Maße zu Theil geworden.
Im elterlichen Palast war das reine Glück eines beinahe bürgerlich schlichten Ehelebens zu Hause. Der damalige Kronprinz Friedrich Wilhelm, in der fast scheuen Einfachheit seines Charakters so anders geartet als sein prunkliebender, gutgesinnter, aber innerlich schwächlicher Vater König Friedrich Wilhelm II., hatte „seine Frau“ – wie er sie auch noch als Königin mit Vorliebe nannte – die mit allem weiblichen Liebreiz und den edelsten Gaben des Herzens und Geistes geschmückte Prinzessin Luise von Mecklenburg-Strelitz, zum ersten Male im März 1793 in Frankfurt a. M. gesehen, wo zur Zeit das königliche Heerlager in dem wenig Erfolg bringenden Feldzuge gegen die erste französische Republik aufgeschlagen war.
Der Macht dieser nach Goethe’s zeitgenössischem Urtheil „himmlischen Erscheinung“ der siebzehnjährigen Prinzessin konnte sich der dreiundzwanzigjährige Kronprinz nicht entziehen. An dem der Braut verwandten landgräflichen Hofe zu Darmstadt wurde bereits am 21. April desselben Jahres die Verlobung des liebenden Paares gefeiert.
An prophetischen Worten hat es in den Tagen der Vermählung der Eltern unseres Kaisers Wilhelm nicht gefehlt. Bei ihrem Einzuge in Berlin wurde die Braut am 22. Dezember 1793 von einem lieblichen jungen Mädchen mit einem Gedicht begrüßt, dessen Schlußworte lauteten:
„Heil Dir! Der künft’gen Welt wirst Du Monarchen geben,
beglückter Enkel Mutter sein!“
Und bei der Trauung im weißen Saale des königlichen Schlosses am Weihnachtsheiligenabend betete Hofprediger Sack für das Brautpaar: „Laß durch dasselbe den Glanz des preußischen Hauses vermehrt und auch für die künftigen Geschlechter eine Quelle neuer Segnungen eröffnet werden!“
Wie köstlich sind diese Wünsche und Bitten in Friedrich Wilhelms und Luisens zweitem Sohne in Erfüllung gegangen!
Der erste, nachmals König Friedrich Wilhelm IV., war dem Paare am 15. Oktober 1795 geboren worden. Die Wiege Kaiser Wilhelms stand ebenso die die seines Bruders im kronprinzlichen Palais zu Berlin, demselben, welches auch dem ersten Kronprinzen des Deutschen Reiches und seiner Gemahlin zur Wohnung gedient hat.
Das früheste Urtheil über den am Nachmittage des 22. März 1797 zwischen 1 und 2 Uhr geborenen zweiten Prinzen empfangen wir aus den Aufzeichnungen der Oberhofmeisterin des kronprinzlichen Paares, der würdigen Gräfin von Voß. „Es ist ein prächtiger kleiner Prinz“, schreibt sie in ihrem Tagebuche, und fügt hinzu. „Ueberall war große, große Freude.“
Am 3. April wurde im Audienzsaale des kronprinzlichen Palais durch den Hofprediger Sack die Taufe vollzogen. Die Oberhofmeisterin brachte den Täufling dem König Friedrich Wilhelm II., welcher seinen Enkel während der Taufhandlung hielt. Der Prinz empfing die Namen Friedrich Wilhelm Ludwig mit der Bestimmung, daß sein Rufname „Wilhelm“ sein solle. Zu den achtzehn Fürsten und Fürstinnen, welche als Taufzeugen geladen waren, gehörten auch der durch den russischen Gesandten vertretene Kaiser Paul von Rußland und seine Gemahlin.
Diese Taufe des zweiten Enkels war der letzte historische bedeutsame Familienakt, welchem Friedrich Wilhelm II. beiwohnte. Am 16. November starb bereits der König, und so bestieg schon im ersten Lebensjahre des Prinzen Wilhelm sein Vater als Friedrich Wilhelm III. den preußischen Königsthron.
Mit ihm zog ein neuer, gesunder Geist in die Regierung des durch Verschwendung, Sittenlosigkeit und Heuchelei arg zerrütteten Staates Friedrichs des Großen wieder ein. Die Grundsätze bürgerlicher Einfachheit, Schmucklosigkeit und Sparsamkeit herrschten fortan im königlichen Hause, als welches das bescheidene bisher kronprinzliche Palais auch während der ganzen Regierungszeit Friedrich Wilhelms III. beibehalten wurde. Die Eindrücke, welche Prinz Wilhelm nach dieser Richtung früh im Vaterhause empfangen, die veredelnde Wirkung, welche die Vorbilder der in inniger Liebe unter sich und mit ihren Kindern verbundenen Eltern auf das offene Knabengemüth ausübte, sind [179] unverkennbar von größtem Einfluß auf die vortreffliche Herzens- und Charakterbildung des dereinstigen Kaisers gewesen.
In die Obhut solcher Eltern gegeben, mußte die zarte Lebenspflanze des Prinzen Wilhelm sich zu einem glücklichen Frühlingsdasein entfalten. Von welcher sorgenden Zärtlichkeit die ersten Kindertage desselben umhegt waren, ist schon aus dem uns überlieferten Zuge zu erfahren, daß die königlichen Eltern auch nach dem rauschendsten Hoffeste, zu welchem die Etikette sie zwang, niemals zur Ruhe gingen, ohne noch einmal in die Kinderstube zu treten und einen leisen Kuß auf die Stirn der schlummernden Lieblinge zu drücken.
Die thatsächlichen Schilderungen aus den Kinderjahren des Prinzen Wilhelm sind nicht zahlreich. In einem traulichen Erinnerungsbilde, auf welchem der etwa dreijährige Prinz zwischen seinen Eltern auf dem Sofa stehend einen Säbel schwingt, während der Kronprinz sich an das Knie seines Vaters lehnt und die 1798 geborene Prinzessin Charlotte, die nachmalige Kaiserin von Rußland, auf dem Schoße der Mutter sitzt – könnten wir versucht sein, ein Symbol früher Hinneigung des späteren kaiserlichen Helden zum kriegerischen Beruf zu entdecken, wenn wir uns nicht genügen ließen, darin den Ausdruck ungetrübten häuslichen Glücks der königlichen Familie zu erkennen. – Wir wissen, daß die kleinen Prinzen in Begleitung ihrer Mutter wiederholt an Bewirthungen und Weihnachtsbescherungen der Kinder des Berliner Friedrichs-Waisenhauses theilnahmen und daß sie am sechsten Geburtstage des Kronprinzen im Prüfungssaal der Potsdamer Gewerbeschule den fleißigsten Schülern Geschenke reichen und dann mit ihnen festlich essen und spielen durften.
Schon als fünfjähriger Knabe wohnte Prinz Wilhelm seiner ersten Fahnenweihe bei. Königin Luise ließ am 5. April 1802 den Bürgern der Köllnischen Vorstadt, seitdem Luisenstadt genannt, eine neue Fahne überreichen, bei deren Befestigung an der Fahnenstange der Kronprinz den ersten, Prinz Wilhelm den zweiten Nagel einschlug. Nachher nahmen beide Prinzen an dem Festmahl der Bürger Theil.
Den Ueberlieferungen des preußischen Königshauses entsprechend, empfingen die beiden Prinzen mit ihrem Vetter Friedrich, dem Sohne des verdorbenen Prinzen Ludwig, früh Unterricht im Exerciren, und zwar in Potsdam durch den Unteroffizier Bennstein vom damaligen Bataillon Garde und in Berlin durch den Feldwebel Klary vom Regiment Möllendorf. Prinz Wilhelm, obschon in den ersten Kinderjahren vielfach kränkelnd und der schwächste unter den drei Prinzen, scheint gleichwohl der eifrigste bei diesem Studium gewesen und sich allen militärischen Uebungen mit der ihm schon damals eigenen vollen Hingebung an die einmal ergriffene Sache unterzogen zu haben.
Am Weihnachtsabend des Jahres 1803 begrüßte Prinz Wilhelm unter seinen Geschenken mit hellem Jubel eine kleine Uniform nach dem Muster des damaligen Rudorff’schen, früher Ziethen’schen Husarenregiments. Auch der Kronprinz und Prinz Friedrich hatten Uniformen erhaltest; der erstere eine solche der Garde du Corps, der andere eine des Dragonerregiments Kurfürst von Pfalzbayern Nr. 1. Es war eine köstliche Scene, als der König nach geschehener Einkleidung der kleinen Soldaten diese militärisch stramm antreten ließ und sie der freudig erstaunten Königin als „die drei jüngsten Rekruten der preußischen Armee“ vorstellte.
Wie der König früh für die den Körper kräftigende militärische Disciplin der Prinzen sorgte, so war die Königin nicht minder auf die rechtzeitige Ausbildung der geistigen Fähigkeiten derselben bedacht.
„Allerdings ist es mein heißester Wunsch“ – so hatte sie an Professor Heidenreich in Leipzig auf die Zusendung seines Buches „Grundsätze für Geist und Herz“ geschrieben – meine Kinder zu wohlwollenden Menschenfreunden zu bilden; auch nähre ich die frohe Hoffnung, diesen Zweck nicht zu verfehlen.“
In diesem Sinne hatte sie durch ihr Beispiel von jeher auf die Gemüther ihrer Kinder zu wirken gesucht; in diesem Sinne auch war auf Empfehlung des damaligen ersten deutschen Pädagogen, des Professors Niemeyer, Direktors der Franke’schen Stiftungen in Halle, ihre Wohl des Erziehers der Prinzen auf den bisherigen Rektor der Klosterschule zu Magdeburg, Friedrich Delbrück, gefallen Im Juli 1800 trat dieser sein Amt zunächst bei dem Kronprinzen, später auch beim Prinzen Wilhelm an.
Die erste Censur über die Fortschritte des letzteren im Lesen ist uns in einem im Hohenzollern-Museum aufbewahrten Lesebuche des Prinzen mit dem Titel „Kleine Plaudereien für Kinder, [180] welche sich im Lesen üben wollen“ von Löhr (Frankfurt a. M. 1802) aufbewahrt. Auf dem Vorderblatte liest man nämlich mit Bezug auf das darin befindliche Lesestück „Frau Mildheim“ folgende Notiz: „Seite 43–45, Frau Mildheim, las Prinz Wilhelm den 10. Oktober 1803 zum ersten Mal ohne vorhergegangene Anleitung recht gut.“
Es scheint, daß Delbrücks Einfluß auf den jüngeren Prinzen Wilhelm tiefer war als auf den geistreich beweglichen Kronprinzen. Ein dem Hofe nahestehender Gelehrter – wahrscheinlich Joh. G. Woltmann, welcher selbst zu den Lehrern des Prinzen Wilhelm gehörte – giebt hierüber in seinen nur mit einem „W“ und drei Sternchen gezeichneten „Erinnerungen“ folgendes Urtheil: „Die ganze, mehr dem praktisch Religiosen zugewendete Richtung des etwa zweiunddreißigjährigen Erziehers, welcher das volle Vertrauen des königlichen Vaters besaß, schien in dem Prinzen Wilhelm einer ursprünglichen, natürlichen Anlage zu begegnen; indeß bei dem von Scherz und kindlicher Rede nicht eben überfließenden Knaben alle geistigen Motive in die Tiefe des Gemüths still zurückzutreten pflegten, ging sein Handeln schon in den frühesten Lebensjahren auf das gegebene Ziel ehrlich und bestimmt hin. Wer Gelegenheit hatte, die beiden königlichen Prinzen in der Mitte der ihnen durch Delbrück und den tüchtigen Lehrer Reimann mit prüfender Sorgsamkeit auch aus den bürgerlichen Ständen erwählten Spielgenossen zu sehen, konnte leicht beobachten, wie gern der nachmalige König Friedrich Wilhelm IV. sich in dem Gefühle seiner geistigen Ueberlegenheit abzusondern und neckisch in die Spiele der andern einzugreifen pflegte, indeß sein jüngerer Bruder nicht selten mit den Freunden Partei gegen diese Störungen und den mannigfachen geistreichen Unfug des Kronprinzen bilden mußte. Sonst fand sein tiefes Gefühl in bewegten Momenten nicht bequem und leicht den angemessenen Ausdruck, so daß er bisweilen dem wenig erfahrenen Beobachter geradezu als gemüthlos gelten konnte.“
Diese in die Knabenzeit des späteren Kaisers Wilhelm helles Licht bringende Schilderung charakterisirt die Anlage der beiden von einander so verschiedenen königlichen Brüder überaus zutreffend. Diese Schilderung stimmt auch vollständig mit dem Urtheil überein, welches die Königin Luise über ihre Söhne in dem berühmten Briefe an ihren Vater im Jahre 1809 fällte:
„Der Kronprinz ist voller Leben und Geist. Er hat vorzügliche Talente, die glücklich entwickelt und gebildet werden. Unser Sohn Wilhelm wird, wenn nicht alles trügt, wie sein Vater, einfach, bieder und verständig.“
[188]
Frühe Leidensjahre.
„Wer nie sein Brot mit Thränen aß,
Wer nie die kummervollen Nächte
Auf seinem Bette weinend saß,
Der kennt euch nicht, ihr himmlischen Mächte!“
Die erschütternde Wahrheit dieser Goetheschen Verse, welche die unglückliche Königin Luise nach ihrer Flucht aus der Hauptstadt in den trostlosen Dezembertagen des Jahres 1806 zu Ortelsburg in ihr Tagebuch schrieb, hat auch Kaiser Wilhelm bereits in seiner frühesten Jugend in ihrer ganzen Wucht erfahren. Diese Zeit plötzlicher, tiefster Erniedrigung Preußens und des königlichen Hauses ist von unauslöschlichem Eindruck auf das Gemüth des heranreifenden Knaben gewesen. Die „himmlischen Mächte“ – in jenen Jahren des Leidens und der Entbehrung hat er sie kennen gelernt. Von allen noch so schweren Schicksalsschlägen, welche die Jugend des Prinzen Wilhelm verdüsterten, war aber der schwerste Schlag der Tod der über alles geliebten Mutter, der unvergeßlichen Königin Luise.
Luisens Kraft, sagt Ernst Scherenberg in seinem von uns in voriger Nummer genannten Buche, war unter der furchtbaren Last jahrelangen Kummers, unaufhörlicher Aufregung und der Erniedrigungen, welche die napoleonische Brutalität dem Vaterlande und dem Königshause immer von neuem auferlegte, trotz aller Willensstärke der herrlichen Dulderin langsam zusammengebrochen.
Schon als sie im Februar 1809 von einem sechswöchigen Besuche mit dem Könige in Petersburg nach Königsberg zurückkehrte, trotz aller glänzenden Festlichkeiten, welche Kaiser Alexander ihr zu Ehren veranstaltete, in ihren patriotischen Hoffnungen wiederum tief getäuscht, grammüde und angegriffen vom rauhen nordischen Klima – trug sie den Todespfeil im Herzen. Und daß sie selbst das Bewußtsein hiervon hatte, dafür zeugen die tief traurigen Worte, welche sie an ihre Freundin, Frau von Berg, richtete: „Ich bin gekommen, wie ich gegangen. Nichts blendet mich mehr, und ich sage Ihnen noch einmal: mein Reich ist nicht von dieser Welt!“ Nach dem Falle Wiens im Mai desselben Jahres aber schrieb sie: „Ach Gott, es ist zu viel über mich ergangen. Du hilfst allein – ich glaube an keine Zukunft auf Erden mehr. Gott weiß, wo ich begraben werde, schwerlich auf preußischer Erde!“ In dieser letzteren Befürchtung täuschte sie sich freilich. Sie sollte sogar, woran sie damals offenbar verzweifelte, ihre Hauptstadt und ihre väterliche Heimath noch einmal wiedersehen – wenn auch nur, um sich dort im Schimmer eines versöhnenden Abendroths zur ewigen Ruhe zu betten.
Stürmische Wolken trübten dasselbe allerdings noch an ihrem letzten Geburtstage, dem 10. März 1810. Die beständigen Aufforderungen von Paris wegen rückständiger Zahlungen einer unerschwinglichen Kontribution und Androhungen einer französischen Exekutionsarmee, welche das Land besetzen sollte, ließen sie einen neuen Gewaltstreich Napoleons, eine neue Verbannung fürchten. Und so äußerte sie bei der Feier des Tages: „Ich denke, es wird wohl das letzte Mal sein, daß ich meinen Geburtstag hier feiere.“ Schon war der damalige Minister von Altenstein geneigt, dem Könige zur Befriedigung der französischen Forderungen die Abtretung einer Provinz anzurathen, als durch die unter thätiger Mitwirkung der Königin erfolgte Wiederberufung des seit dem Tilsiter Frieden entlassenen Ministers Hardenberg und Ernennung desselben zum Staatskanzler eine festere und patriotischere Leitung der politischen Angelegenheiten und damit auch im Herzen der Königin eine größere Beruhigung über die Zukunft des preußischen Staates Platz griff. Und so konnte die edle Fürstin doch mit der Hoffnung auf bessere Zeiten für ihr Vaterland aus dem Leben scheiden. Nach einer Aufzeichnung des Bischofs Eylert soll sie ihrer Zuversicht auf den Sturz der napoleonischen Herrschaft in Europa noch am letzten Pfingsttage des Jahres 1810 in folgenden Worten Ausdruck gegeben haben:
„Der gegenwärtige Zustand der Dinge ist ein gewaltsamer, durchaus nicht aus dem Willen und Wünschen der Völker hervorgegangen: denn diese sind besiegt und unterjocht; sie sind damit unzufrieden, und alle Welt ist es. Napoleons Herrschaft ist Zwang, alles ist unnatürlich, zusammengepreßt. Darum kann es nicht von Dauer sein. Man fühlt es heraus, wir sind noch nicht fertig; es kommt noch etwas anderes. Aber ach, darüber können wir sterben!“
Und so geschah es nur zu bald der armen Königin. Wenige Wochen nach diesen Aeußerungen, bei Gelegenheit eines Besuches am väterlichen Hofe zu Neu-Strelitz, erkrankte sie in dem nahen Lustschlosse Hohen-Zieritz gegen Ende Juni an einem heftigen Brustfieber, dem sie am 19. Juli erlag. Der König, welcher selbst in Charlottenburg am kalten Fieber litt, wurde am 18. durch Stafette nach Hohen-Zieritz gerufen. Noch Abends reiste er mit fliegender Hast nebst seinen beiden ältesten Söhnen nach dort ab. Die Schilderung der Augenzeugen über dies Wiedersehen und die letzten Stunden der Königin sind herzbrechend.
So berichtet die einundachtzigjährige treue Oberhofmeisterin Gräfin Voß in ihrem Tagebuch: „Endlich gegen 5 Uhr (Morgens) kam der König; aber die Königin hatte bereits den Tod auf der Stirn geschrieben! Und doch, wie empfing sie ihn, mit [189] welcher Freude umarmte und küßte sie ihn, und er weinte bitterlich. Der Kronprinz und Prinz Wilhelm waren mit ihm gekommen; so viel die arme Königin es nur vermochte, versuchte sie noch immer zu sprechen; sie wollte so gern immer noch zum König reden, ach, und sie konnte es nicht mehr! – So ging es fort und sie wurde immer schwächer. Der König saß auf dem Rand des Bettes und ich kniete davor; er suchte die erkalteten Hände der Königin zu erwärmen; dann hielt er die eine und legte die andere in meine Hände, um daß ich sie warm reiben sollte. Es war etwa neun Uhr; die Königin hatte ihren Kopf sanft auf die Seite geneigt und die Augen fest gen Himmel gerichtet. Ihre großen Augen weit geöffnet und aufwärts blickend, sagte sie: ‚Ich sterbe, o Jesu, mach’ es leicht!‛ – Ach, das war ein Augenblick, wie niemand ihn je vergißt! Ich bat den König, ihr die Augen zuzudrücken, denn der letzte Athem war entflohen! – Ach, das Schluchzen und Weinen des unglücklichen Königs, der Kinder und aller, die umherknieten, war schrecklich. Die Wege Gottes sind unerforschlich und heilig, aber sie sind furchtbar zu gehen! – Der König, die Kinder, der Staat, der Hof, alle, ja alle haben alles auf der Welt mit ihr verloren!“
Wie hoch Luise auch von ihrem unerbittlichsten Feinde geschätzt wurde, ergiebt sich aus der Aeußerung Napoleons bei der Kunde ihres Hinscheidens: „Der König von Preußen hat seinen besten Minister verloren!“
Dem deutschen Volke aber wurde die vom Schimmer der Poesie Umwobene und Verklärte eine Märtyrerin, eine Heilige, von der Theodor Körner sang:
Kommt dann der Tag der
Freiheit und der Rache,
Dann ruft dein Volk, dann,
deutsche Frau, erwache,
Ein guter Engel für die
gute Sache!
Ein „guter Engel“ blieb sie auch ihrem Sohne Wilhelm Zeit seines Lebens. So war sie es auch, zu deren Grabe es ihn als König an jenem entscheidungsvollen 19. Juli 1870 – dem Tage der französischen Kriegserklärung –, genau sechzig Jahre nach dem schmerzlichen Erlebniß seiner Jugend, ins Mausoleum zu Charlottenburg zog, um sich innerlich zu sammeln und zu stählen zu jenem gewaltigen Rachezuge wider den Neffen des Mannes, der seiner königlichen Mutter das Herz gebrochen.
Und hatte der dreizehnjährige Knabe in seiner sinnig stillen Weise einen Kranz aus Eichenlaub und Rosen gewunden, um unter Thränen das Todtenbett seiner Mutter damit zu schmücken, so legte der vierundsiebzigjährige Greis nach seiner Rückkehr aus dem Vergeltungskriege als deutscher Kaiser wiederum einen selbstgeflochtenen, aber unverwelklichen Kranz aus Siegeslorbeern und Friedenspalmen auf das Grab der Unvergeßlichen.
„Das Land ist aufgestanden –
Ein herrlich Osterfest! –
Ist frei von Sklavenbanden,
Die hielten nicht mehr fest.“
Als der Sänger so das Osterfest der deutschen Erhebung feiern konnte, trat Prinz Wilhelm in Breslau in sein siebzehntes Lebensjahr, und die Befreiungskriege boten ihm die erste Gelegenheit zur Bethätigung persönlichen Muthes und zur Erwerbung der ersten militärischen Ehren. Freilich nicht gleich am Anfang; zunächst mußte er seiner schwächlichen Gesundheit halber eine Geduldsprobe bestehen, und seine brennende Begierde, den Vater in den Kampf begleiten zu dürfen, ging erst in Erfüllung, als die gewaltige Völkerschlacht bei Leipzig bereits geschlagen war. Dann aber bewährte er sich frühzeitig um so glänzender, und namentlich seine Betheiligung an der Schlacht bei Bar sur Aube war eine ruhmvolle, wenn er auch, wie nur natürlich, damals eine leitende Stellung in der Armee noch keineswegs einnahm.
Als der König am 30. Oktober auf wenige Tage nach Breslau kam und einwilligte, daß auch sein zweiter Sohn ihn zur Armee begleite, ernannte er ihn gleichzeitig zum Kapitän. Anfänglich sollte der Prinz, der seinem Vater immer noch als „zu schwächlich“ zum wirklichen Kriegsdienste erschien, nur auf sechs Wochen gleichsam zur Probe mitgenommen werden. Er mußte sich aber wohl in der schlesischen Luft sehr gekräftigt haben; denn als er am 5. November mit dem Könige in Berlin eingetroffen war, schrieb die Gräfin Voß in ihr Tagebuch: „Am meisten freute mich der Prinz Wilhelm, der unglaublich gewachsen ist, sehr gut aussieht und sehr nett ist.“
Am 8. November reiste er mit dem Vater über das noch deutlich die Spuren des großen Völkerringens zeigende Schlachtfeld bei Leipzig ins große Hauptquartier der verbündeten Monarchen noch Frankfurt am Main, wo er bis Ende des Jahres verweilte. Als der König am 1. Dezember mit seinen beiden Söhnen und dem Feldmarschall Blücher südwestlich von Wiesbaden im Angesicht des Rheins über das Yorksche Korps Heerschau abhielt, hörte Prinz Wilhelm von den Vorwerken der nahen Festung Mainz und der Rheininsel Petersau her zum ersten Male den Donner der französischen Geschütze.
Am ersten Tage des Jahres 1814 überschritten die verbündeten Armeen, in drei große Heeressäulen getheilt, an verschiedenen Punkten den Rhein. Das Korps des russischen Generals von Osten-Sacken, bei welchem sich Prinz Wilhelm mit seinem Vater und Bruder befand, bewirkte den Uebergang bei Mannheim. Da die Franzosen, durch eine große Schanze unterstützt, heftigen Widerstand leisteten, sah der Prinz hier zum ersten Male den Ernst blutigen Kampfes.
Im Verlaufe des Krieges war er sodann Augenzeuge des entscheidenden Sieges, den Blücher über Napoleon bei La Rochière am 1. Februar errang. Tags darauf gerieth er bei Rosny im Gefolge seines Vaters und des Kaisers Alexander mehrmals in den Strich der feindlichen Kugeln. Seine eigentliche Feuertaufe aber empfing der Prinz am 27. desselben Monats. Die Hauptarmee unter dem österreichischen Oberfeldherrn Schwarzenberg hatte auf Andrängen Friedrich Wilhelms III. endlich den durch einige glückliche Vorstöße Napoleon’s Mitte Februar veranlaßten und durch diplomatische Rücksichten verlängerten Rückzug eingestellt und wiederum die Offensive ergriffen, welche inzwischen Blücher mit Zustimmung seines Königs unter schweren Opfern allein fortgesetzt. So kam es an dem genannten Tage bei Bar sur Aube zur Schlacht.
[190] Schon am Morgen hatte der König seinen Söhnen angekündigt: „Heute werden wir Bataille haben. Reitet voraus, ich komme nach. Aber exponirt Euch nicht unnütz! Verstanden?“
Bei dem Korps des russischen Generals Wittgenstein trafen sie später mit dem Vater wieder zusammen und befanden sich oft mit ihm im heftigsten Gewehrfeuer. Plötzlich zeigt der König nach einer Stelle hin, wo der Kampf an den zu nehmenden Weinbergen besonders mörderisch entbrannt ist, und befiehlt dem Prinzen Wilhelm:
„Reite einmal dahin und erkundige Dich, welches Regiment dort im Feuer ist. Die Blessirten mehren sich ja in jedem Augenblick.“ Der Prinz salutirt und reitet, als sei er Adjutant des Königs, ohne Verzug geradeaus zu dem schwerbedrängten russischen Regiment Kaluga, unter dessen Soldaten er, zur freudigen Verwunderung und Ermuthigung derselben, auf einmal erscheint. In voller Ruhe erkundigt er sich nach dem Namen des Regiments, überzählt dann noch die bisherigen Opfer desselben, nimmt den Stand des Gefechts in Augenschein und reitet endlich durch den Kugelregen ebenso kaltblütig zurück, wie er gekommen. In kurzer militärischer Art erstattet er dem Könige Meldung. Schweigend, ohne irgend ein äußeres Zeichen seiner Bewegung oder ein anerkennendes Wort, hört der Vater den Rapport an. Ebenso verhält sich auf einen Wink des Königs die Umgebung desselben. Nur Oberst von Luck, des Kronprinzen früherer Gouverneur, welcher den Vorgang mit Spannung verfolgt hat, reitet an den ritterlich bescheidenen Jüngling heran und drückt ihm stumm die Hand. Und an demselben Nachmittage wohnt der Prinz noch dem Sturmangriff eines Bataillons desselben Regiments Kaluga bei, durch welchen der Sieg für die Verbündeten entschieden wird.
Diese rühmlich bestandene Feuerprobe, welche Prinz Wilhelm in seinem soldatischen Pflichtgefühl gar nicht als etwas Besonderes betrachtet hatte , trug ihm seitens des Kaisers Alexander am 5. März die erste Auszeichnung für Tapferkeit auf dem Schlachtfelde, das Kreuz des St. Georgsordens vierter Klasse, ein. Sein Vater aber kannte des Sohnes Herz und wählte den Geburtstag der unvergeßlichen, nunmehr durch die Thaten der Ihrigen und ihres Volkes an ihrem korsischen Peiniger gerächten Mutter, den 10. März, um dem jungen Kapitän das Eiserne Kreuz anzuheften. Nun erst, da ihn der König nebst seinem gleichfalls dekorirten Bruder den glückwünschenden hohen Offizieren des Gefolges als Ritter des Eisernen Kreuzes vorstellte, wurde dem Prinzen die ganze Bedeutung des Vorganges von Bar sur Aube klar.
Am 30. März war Prinz Wilhelm vor Paris nochmals Zeuge der todesverachtenden Tapferkeit, welche die preußischen Garden unter Oberst von Alvensleben bei dem Dorfe Pantin bewiesen. Tags darauf ritt er mit seinem Bruder und Vetter Friedrich, „auf dem Tschako einen Buchsbaumzweig und um den linken Arm eine weiße Binde“ (das Zeichen der verbündeten Truppen), hinter den Monarchen Alexander und Friedrich Wilhelm in die besiegte Hauptstadt ein, von den wetterwendischen Parisern mit Jubel und Tücherwehen als Befreier empfangen. Der besiegte Napoleon wurde nach französischer Art im Jahre 1814 ebenso rasch vom Volke verlassen und verdammt, wie sechsundfünfzig Jahre später sein Neffe. Aber der siebzehnjährige Bewohner des Hôtels der Ehrenlegion (dort war Prinz Wilhelm in Paris abgestiegen) konnte damals nicht ahnen, daß ihm vorbehalten blieb, das Gottesgericht an einem andern Napoleoniden nach länger als einem halben Jahrhundert nochmals zu erleben und dabei selbst die gewaltigste Sendung seines Lebens zu erfüllen!
Der Tag des ersten Pariser Friedens (30. Mai) brachte dem Prinzen Wilhelm seine Ernennung zum Major. In diesem neuen militärischen Range begleitete er seinen Vater im Juni bei dem Besuche in London. So konnte der Prinz unmittelbar hinter einander die großartigen Eindrücke der beiden ersten Weltstädte Europas in sich aufnehmen und an diese reihten sich, als er dann dem Könige auch im Juli auf der Reise nach dem wieder in Besitz genommenen Neuchatel zur Seite bleiben und mit ihm zusammen einen Ausflug in das Berner Oberland machen durfte, sofort die ergreifenden Wunder der Alpenwelt.
Als der Prinz nach zehnmonatiger Abwesenheit von der Heimath am 7. August durch das Brandenburger Thor unter dem von Frankreich wiedereroberten Viergespann dort mit dem königlichen Vater und den siegreichen Feldherren seinen Einzug hielt, konnte er im Rückblick auf diese hinter ihm liegenden bewegten Tage wohl sagen, daß sie die bedeutungsvollsten seines bisherigen Lebens gewesen waren.
Im zweiten Feldzuge gegen den aus seinem Exil entflohenen und in Südfrankreich gelandeten Korsen sollte Prinz Wilhelm nicht vor den Feind kommen. Als er mit seinem Vater am 22. Juni Berlin verließ, hatten zu aller Ueberraschung Blücher und Wellington die Hauptarbeit bei Belle-Alliance oder Waterloo am 18. Juni bereits gethan; und als die Monarchen am 10. Juli, diesmal in aller Stille, in Paris einfuhren, fanden sie die Hauptstadt, zum Aerger des Kaisers Alexander, durch Blücher, der sich bei der Verfolgung der geschlagenen Heere wiederum so recht als „Marschall Vorwärts“ bewährt hatte, bereits seit vier Tagen besetzt. Prinz Wilhelm, der mit den verbündeten Truppen marschirt war, traf erst am 13. Juli in Paris ein, wo er diesmal das Hôtel d’Avray bezog. Hier befiel den Prinzen eine Brustfellentzündung, von welcher er aber zur Freude des Vaters bald wieder genas, um sich nach diesem letzten Tribut an die Körperschwäche seiner frühen Jugendzeit fortan doppelt gefeit gegen alle Krankheitsstürme zu männlicher Kraft und echter Ritterlichkeit zu entwickeln.
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Ehe wir den Lebensgang des Prinzen Wilhelm weiter verfolgen, müssen wir den Gelöbnissen, welche er bei seiner Konfirmation ablegte, besondere Beachtung schenken. Der Prinz stand damals bereits in seinem 19. Lebensjahre; bei solcher Reife des Alters und dem Ernst seines Wesens darf man annehmen, daß die „Lebensgrundsätze“, welche der Hofprediger Ehrenberg mit Erlaubniß des Konfirmanden als Druckschrift erscheinen ließ, von dem Prinzen selbst verfaßt wurden und der ungeschminkte Ausdruck seiner Anschauungen sind. Für die richtige Beurtheilung seines Charakters und das Verständniß vieler Handlungen des späteren Fürsten ist daher die Kenntniß wenigstens der wesentlichsten dieser Lebensgrundsätze unerläßlich. Es sind dies namentlich die folgenden:
„Ich freue mich dieses (meines hohen) Standes nicht um der Auszeichnung willen, die er mir unter den Menschen verleiht, auch nicht um der Genüsse willen, die sich mir in demselben darbieten, sondern um deswillen, daß ich in demselben mehr wirken und leisten kann. Mein fürstlicher Stand soll mich immer an die größeren Verpflichtungen, die er mir auferlegt, an die größeren Anstrengungen, die er von mir fordert, und an die größeren Versuchungen, mit denen ich zu kämpfen habe, erinnern.
Ich will nie vergessen, daß der Fürst doch auch Mensch – vor Gott nur Mensch ist und mit dem Geringsten im Volke die Abkunft, die Schwachheit der menschlichen Natur und alle Bedürfnisse derselben gemein hat, daß die Gesetze, welche für andere gelten, auch ihm vorgeschrieben sind und daß er, wie die Anderen, einst über sein Verhalten wird gerichtet werden.
Mir soll alles heilig sein, was dem Menschen heilig sein muß.
Auf Gott will ich unerschütterlich vertrauen, ihm alles anheimstellen und mir im Glauben an seine Vorsehung einen getrosten Muth zu erhalten suchen.
Ich will an meiner Geistes- und Herzensbildung unablässig arbeiten, damit ich als Mensch und als Fürst einen immer höheren Werth erlange.
Ich weiß, was ich als Mensch und als Fürst der wahren Ehre schuldig bin. Nie will ich in Dingen meine Ehre suchen, in denen nur der Wahn sie finden kann.
Die Vergnügungen des Lebens will ich in Unschuld genießen und mich durch den Genuß derselben stärken zu des Lebens Pflichten, nie aber diesen Genuß mir zu einer wichtigen Angelegenheit machen oder als ein fürstliches Vorrecht ansehen.
Meine Kräfte gehören der Welt, dem Vaterlande. Ich will daher unablässig in dem mir angewiesenen Kreise thätig sein, meine Zeit auf das beste anwenden und so viel Gutes stiften, als in meinem Vermögen steht.
Ich will ein aufrichtiges und herzliches Wohlwollen gegen alle Menschen, auch gegen die Geringsten – denn sie sind alle meine Brüder – bei mir erhalten und beleben.
Ich achte viel höher, geliebt zu sein, als gefürchtet zu werden oder bloß ein fürstliches Ansehen zu haben.
Ich will das Verdienst aufmuntern und belohnen – und besonders das bescheidene und verborgene ans Licht ziehen.
Den Unglücklichen, die meinen Beistand suchen, oder von denen ich sonst erfahre, vornehmlich Wittwen, Waisen, Bejahrten, Männern, die dem Staate treu gedient, und ihren in Armuth Zurückgelassenen will ich Helfer und Fürsprecher sein, wie ich es vermag.
Für den König, meinen Vater, hege ich eine ehrfurchtsvolle und zärtliche Liebe. Ihm zur Freude zu leben, will ich mich auf das angelegentlichste bemühen. Seinen Befehlen leiste ich den pünktlichsten Gehorsam. Den Gesetzen und der Verfassung des Staates unterwerfe ich mich in allen Stücken.
Die Tugenden der Königin, meiner vollendeten Mutter, sollen mir unvergeßlich sein, und das Andenken der Verklärten soll bei mir stets in einem gerührten und dankbaren Herzen wohnen.
Meinen Geschwistern gelobe ich zärtliche Liebe und allen Mitgliedern der Familie, welcher ich angehöre, eine treue Ergebenheit.
Den Pflichten des Dienstes will ich mit großer Pünktlichkeit nachkommen und meine Untergebenen zwar mit Ernst zu ihrer Schuldigkeit anhalten, aber ihnen auch mit freundlicher Güte begegnen.
Verderbte Menschen und Schmeichler will ich entschlossen von mir werfen. Die Besten, die Geradesten, die Aufrichtigsten sollen mir die Liebsten sein. Die will ich für meine wahren Freunde halten, die mir die Wahrheit sagen, wo sie mir mißfallen könnte.“
Dies die bezeichnendsten Stellen aus den Lebensgrundsätzen. „Die Welt wird sehen, mit welchem Ernst und mit welcher
[205][206] Theilnahme Sie die höchsten Angelegenheiten des Menschen in Erwägung gezogen haben“ – schrieb Ehrenberg in den Widmungsworten der Druckschrift an den Prinzen. Die Welt hat mehr als dies gesehen; sie hat seitdem durch sieben Jahrzehnte die Thaten des Prinzen, nachmaligen Regenten, Königs und Kaisers mit den Worten dieses Gelöbnisses vergleichen können und erkannt, daß dieselben sich vollständig mit einander decken. Die eiserne Pflichttreue, die Geradheit und Einfachheit seines Wesens, das Gottvertrauen und die Demuth, die Pietät und Dankbarkeit gegen alle, welche ihm im Leben nahe gestanden, die Menschenfreundlichkeit, die Unbestechlichkeit und Gerechtigkeit seines Urtheils; alle diese trefflichen Charaktereigenschaften, die Freund und Feind an unserem dahingeschiedenen Kaiser bewunderten, finden wir schon in den Lebensgrundsätzen aufs deutlichste ausgeprägt, viele seiner späteren Regierungshandlungen klar vorgezeichnet.
Ehe er jedoch dazu kam, obige Grundsätze auf dem Throne zur Geltung zu bringen, galt es zunächst, während eines langen Zeitraums den Pflichten des militärischen Dienstes nachzukommen.
Bei seiner großen Veranlagung für diese Laufbahn, welche sich nicht nur auf dem Execirplatze und Manöverfelde, sondern für die eingeweihten Kreise auch in vielfacher schriftstellerischer Thätigkeit äußerte, konnte es dem ganzen an einem raschen militärischen Aufrücken in der dem Kriege folgenden Periode nicht fehlen.
So wurde er am 30. März 1817 zum Oberst, am 6. Juni zum Chef des Infanterie-, jetzt Königs-Grenadierregiments, am 28. Februar 1818 zum Kommandeur der ersten Garde-Infanteriebrigade und schon am 30. März desselben Jahres zum Generalmajor ernannt.
Welches Vertrauen König Friedrich Wilhelm III. in die militärischen Fähigkeiten seines Sohnes damals bereits setzte, geht daraus hervor, daß er während seiner Reise nach Petersburg dem kaum einundzwanzigjährigen Prinzen am 21. Mai 1818 die obere Leitung aller Militärangelegenheiten übertrug.
Am 22. März 1825, dem achtundzwanzigsten Geburtstage des Prinzen, wurde dieser durch seine Ernennung zum kommandirenden General des dritten Armeekorps ausgezeichnet, und endlich am 18. Juni, dem zehnten Jahrestage des Sieges bei Belle-Alliance, zum Generallieutenant befördert.
Besonders innig gestalteten sich in diesem Lebensabschnitte die Beziehungen des Prinzen Wilhelm zum russischen Kaiserhofe. Die Ahnung der Königin Luise, daß ihrer Tochter Charlotte noch einmal „eine glänzende Zukunft beschieden“ sei, hatte sich durch die Vermählung derselben mit dem Großfürsten Nikolaus von Rußland am 13. Juli 1817 erfüllt. Damals war dem Prinzen Wilhelm die Aufgabe zugefallen, seine geliebte Schwester dem künftigen Gatten in St. Petersburg zuzuführen. Seine bald darauf, 15. Februar 1818, erfolgte Ernennung zum Chef des Regiments Kaluga, in dessen Reihen er einst seine Feuertaufe empfangen, zeigte, wie hoch Kaiser Alexander den Prinzen schätzte. Galt diese erste für die Vermehrung der Welt- und Menschenkenntniß des Prinzen bedeutsame russische Reise, welche sich bis Moskau ausdehnte, einem frohen Ereigniß, so war der Zweck der zweiten Fahrt an den Zarenhof ein um so ernsterer. Diesmal, nämlich im Januar 1826, wohnte er als Vertreter seines Vaters dem Leichenbegängniß Kaiser Alexanders I., des treuen Alliirten Preußens, bei. Obschon der Schwager des Prinzen als Nikolaus I. nunmehr den Thron bestieg und seine Schwester Charlotte unter dem Namen Alexandra Feodorowna Kaiserin von Russland wurde, war sein Schmerz um den Verstorbenen gleichwohl ein gewaltiger. Er bezeichnete den Todesfall als ein entsetzliches Unglück, das Europa getroffen habe. „Ich gestehe,“ schrieb er am 16. Dezember 1825, „mein Innerstes ist wie umgekehrt; ich kann es noch immer nicht fassen, daß dieser herrliche Mann, diese großartige Seele, dieser Herrscher im wahren Sinn des Wortes nicht mehr ist! Und was verliere ich persönlich nicht im Kaiser!“
Im übrigen wäre über diesen wesentlich der immer höheren Vervollkommnung in seinem militärischen und künftigen Feldherrnberufe gewidmeten und auch durch keine großen historischen Ereignisse bezeichneten Lebensabschnitt des Prinzen Wilhelm für den Biographen nicht viel zu berichten, wenn nicht neuere Veröffentlichungen uns einen dankenswerthen Einblick sowohl in die Gemüthsstimmungen wie ist die politischen Auffassungen des Prinzen gerade in jenen Tagen gewährten. Es geschieht dies namentlich durch die Briefe, welche in den Denkwürdigkeiten aus dem Leben des schon wiederholt genannten Generals Oldwig von Natzmer (von einem Neffen des Verstorbenen im Jahre 1887 herausgegeben) mit Erlaubniß des Kaisers Wilhelm abgedruckt worden sind.
Natzmer, in welchem König Wilhelm nach seinem eigenhändigen Vermerk auf den ihm 1861 zur Durchsicht gegebenen Briefen „einen treuen bewährten Freund beweinte, an welchen ihn die dankbarsten Erinnerungen knüpfen,“ ist nicht nur ein hervorragender militärischer Lehrmeister und Berather des jungen Prinzen, sondern auch sein Vertrauter in der zarten Herzensangelegenheit gewesen, welche ihn während der zwanziger Jahre in Freud und Leid bewegte. Es handelt sich um die Neigung des Prinzen zu seiner Kousine und Jugendgespielin, der lieblichen Prinzeß Elise Radziwill, Tochter des Fürsten Anton Radziwill, Statthalters des Großherzogthums Posen, und der Prinzessin Luise von Preußen, einer Schwester des bei Saalfeld gefallenen Prinzen Louis Ferdinand.
General von Natzmer war ins April 1820 als Divisionskommandeur von Berlin nach Breslau versetzt worden. Darauf schreibt Prinz Wilhelm am 30. Mai desselben Jahres:
„Von unserer Trennung mag ich nicht mehr reden. Sie wissen, was Sie mir durch die lange Reihe von Jahren, die wir beisammen verlebten, geworden sind, und wie verbindlich ich Ihnen stets bleiben muß für die Zeit, wo wir in näherer Verbindung zu einander standen. Freunde vergessen sich nicht in der Entfernung: dies soll, denke ich, unser Fall sein.“ Ein schönes, den fürstlichen Schreiber als Menschen ehrendes Wort.
Aus demselben Briefe ersehen wir, daß die Aerzte dem Prinzen damals eine Badereise anempfohlen hatten.
„Genehmigt hat sie der König, doch sich vorläufig für Teplitz erklärt; sämmtliche Fakultät findet es aber für das erste Mal zu angreifend für mich,“ schreibt der Prinz, „und dringt auf Warmbrunn, weil die thüringischen Bäder zu entfernt. Wie gerne ich nach Schlesien käme, wissen Sie, einmal Sie zu sehen, zweitens weil ich im Lande bleibe; morgen soll es sich entscheiden. Karl (sein jüngerer Bruder) und ich gehen nach Stargard, von dort nach Stralsund und Rügen.“
Es war aber offenbar noch ein dritter Magnet, welcher den Prinzen gerade in die schlesischen Bäder zog. Wiederholt werden im weiteren Verlauf des Briefes Festlichkeiten bei der Prinzessin Luise Radziwill erwähnt, vom Abend vorher eine musikalische Soireé, bei welcher der nach Berlin berufene Spontini eingeführt; wurden dann fährt der Prinz fort:
„Wie mir Prinzeß Luise (Radziwill) mitgetheilt hat, denkt sie Anfang Juli nach Salzbrunn zu gehen und dann nach Landeck. Auch aus dieser Rücksicht ginge ich gern nach Warmbrunn.“
Auch die Prinzessin Luise Radziwill wandte sich um Rath wegen ihrer Badereise an Natzmer. Dieser entschied sich dafür, der Familie Radziwill als Wohnung das nahe bei Warmbrunn gelegene Fürstenstein zu empfehlen. Die Prinzessin war dankbar für die getroffene Wahl und schreibt an Natzmer unter dem 22. Juli 1820:
„Die Reise des Prinzen Wilhelm ist nun auch entschieden, er geht nach Schlesien … Prinz Wilhelm will über Fürstenstein reisen. Ich hoffe, Sie erwarten ihn bei uns. “
An dem gleichen Tage berichtet Prinz Wilhelm seinem älterem Freunde mit sichtbarer Genugthuung ebenfalls , daß der König auf den wiederholten Rath der Aerzte Bad Landeck für ihn bestimmt habe, und fügt hinzu:
„Ich gedenke, den 6. August bis Glogau zu gehen, das erste Bataillon meines Regiments und die Festung, den 9. Liegnitz, 10. Schweidnitz, das zweite und Füsilierbataillon zu sehen, Mittags nach Fürstenstein und den 12. über Peterswaldau nach Landeck zu gehen. Ich freue mich außerordentlich der Reise!“
Der Herausgeber der Denkwürdigkeiten, Gneomar Ernst von Natzmer, bemerkt an dieser Stelle: „Der Prinz interessirte sich für die junge Prinzeß Elise Radziwill. Als ihr Zusammentreffen in Schlesien viele in der Meinung bestärkte, daß an eine Verbindung zu denken sei, beunruhigte dieser Gedanke den Prinzen, sobald er davon hörte. Er schüttete darüber sein Herz zu Natzmer aus, der sein Vertrauter war.“
[207] Welchen Inhalt diese Briefe gehabt, geht aus der in der Vorrede der Denkwürdigkeiten mitgeteilten Eingabe des Herausgebers an Kaiser Wilhelm vom 11. November 1878 hervor, worin die Entscheidung desselben darüber eingeholt wurde, ob das ihm eingereichte Schriftstück über die Beziehungen des Kaisers zur Familie Radziwill dereinst veröffentlicht werden dürfe, wenn der Kaiser nicht mehr hienieden sein werde.
„Was Ew. Majestät aber auch beschließen werden,“ heißt es in der Anfrage, „ich bin stolz, daß ich vor so vielen in das Herz meines Königs diesen Blick thun durfte! Möchte ich nur Ew. Majestät mit der Erinnerung eine, wenn auch vielleicht wehmütige Freude bereitet haben.“
Die aufmerksame Durchsicht des vom Kaiser sofort und ganz mit großem Interesse gelesenen Manuskripts rief nach der durch Hofrath Schneider erteilten Antwort das Bedenken des Kaisers wach, ob die Veröffentlichung der Briefe desselben, welche die intimsten und zartesten Verhältnisse einer dem königlichen Hause so nahe stehenden und befreundeten fürstlichen Familie berührten, auch wohl nur als Zugabe zu dem Lebensbilde eines Anderen geraten sei.
Von der Veröffentlichung dieser Briefe mußte hiernach abgesehen werden. In den Denkwürdigkeiten wird daher die Bemerkung über das Verhältniß des Prinzen Wilhelm zur Prinzessin Elise Radziwill mit den Worten geschlossen:
„Wir müssen uns leider darauf beschränken, auszusprechen, daß der noch so jugendliche Prinz auch hierin den Weg der Pflicht zu gehen wußte.“ –
Prinz Wilhelm mußte den Traum seiner Jugendliebe den höheren Rücksichten der Hof- und Staatspolitik opfern. Daß dies nicht ohne lange und schwere innere Kämpfe geschah und ihm der Aufenthalt in Berlin in jenen Jahren häufig peinlich und drückend war, geht aus zahlreichen Aeußerungen an Natzmer hervor. Diesen hatte der aus Anlaß der Revolution im Königreich Neapel am 20. Oktober1820 in Troppau zusammenberufene europäische Kongreß als Begleiter des Kronprinzen nach dort geführt; später machte er als preußischer Militärbevollmächtigter bei den gegen Neapel operirenden österreichischen Truppen den Feldzug mit. Damals, am 19. Dezember 1820 schrieb ihm Prinz Wilhelm:
„Ich wollte, ich wäre an Ihrer Stelle und könnte fort nach Italien.“ Und am 3. Februar 1821: „Wenn Sie Roma superba passiren und in dem herrlichen Italien Luft und Landschaft in vollen Zügen genießen, so denken Sie zuweilen desjenigen, der gern jetzt weit von Berlin wäre.“ Ferner am 26. Mai 1821: „Wenngleich in kriegerischer Hinsicht bei dem Feldzuge nicht viel zu profitiren war, so haben Sie doch ein herrliches Land kennen gelernt und das kriegerische Leben und Treiben wieder gekostet, was beneidenswerth genug, besonders für jemand, dem Kopf und Herz zerspringen möchte!“
Es gab indeß ein Vergessen des Jugendtraumes, und in einem neuen dauernden Glücke fand der Prinz den lange schmerzlich entbehrten Seelenfrieden wieder.
Nachdem der Kronprinz seit dem 29. November 1823 mit der Prinzessin Elisabeth von Bayern in kinderloser Ehe vermählt war und im Winter von 1826 zu 1827 die Verlobung des jüngeren Bruders, des Prinzen Karl, mit der Prinzessin Maria von Sachsen-Weimar erfolgte, drängte man seitens des Hofes immer stärker darauf, daß auch Prinz Wilhelm endlich seine Wahl unter den Töchtern eines regierenden Hauses treffe. Fiel ihm aus den angedeuteten Gründen der Entschluß hierzu auch anfänglich recht schwer, so unterwarf er sich doch dem Wunsche des Königs, der wohl in diesem Winter bereits die Möglichkeit einer Doppelverbindung seines Hauses mit dem von Weimar in Rechnung zog.
Der Prinz hatte deshalb dem befreundeten Hofe damals bereits einen Besuch abgestattet, über welchen er seinem oft genannten Vertrauten unter dem 21. Dezember 1826 berichtet: „In Weimar habe ich eine sehr angenehme Zeit verlebt, obgleich [208] es Momente gab, die mir sehr schmerzlich sein mußten. Der Befehl zu dieser Reise ist ein Beweis, daß mir das Leben nicht leicht gemacht wird. Abgesehen hiervon war der Aufenthalt charmant.“
Ueber den Eindruck, den unser Prinz am weimarschen Hofe machte, urtheilt Freiherr v. Gagern. „Prinz Wilhelm ist die edelste Gestalt, die man sehen kann, der Imposanteste von allen; dabei schlicht und ritterlich, munter und galant, doch immer mit Würde. Unsere Prinzessin Augusta schien ihn sehr anzuziehen.“ Eine gleichzeitige Schilderung dieser auch von Goethe „so bedeutend wie liebenswürdig“ genannten Prinzessin in einem Briefe Wilhelm v. Humboldts an Stein lautet. „Ihr lebendiger und durchdringender Geist spricht aus ihrem Blick; ihre Züge sind im höchsten Grade bedeutungsvoll und ihre ganze Gestalt wird sich in einigen Jahren gewiß noch schöner, als sie jetzt schon erscheint, entwickeln.“
Erst bei einem zwei Jahre späteren Besuche des Prinzen in Weimar erfolgte am 19. Oktober 1828 sein Eheversprechen mit der am 30. September 1811 gebornen Prinzessin Augusta, woran sich am 11. Februar 1829 die feierliche Verlobung anschloß.
Am 11. Juni desselben Jahres wurde im königlichen Schlosse zu Berlin mit aller Pracht die Vermählung des ritterlichen, charakterstarken Sohnes der Königin Luise mit der anmuthigen, hochgesinnten Enkelin Karl Augusts, des Freundes unserer Dichterheroen, gefeiert und damit eine Verbindung geknüpft, welche sich im Laufe der .Zeit immer inniger gestaltete und beiden fürstlichen Gatten wie dem Lande zu hohem Segen gereichte.
Rosenmond – wie lag die Welt
Licht- und glanzumflossen,
Als das junge Fürstenpaar
Ew’gen Bund geschlossen!
Tief im Herzen blühte auf
Rothe Himmelsrose:
Liebe, die kein Frost versehrt
Und kein Sturmgetose.“
Kaiser Nikolaus und seine Gemahlin, die Schwester des Bräutigams, hatten durch ihre unerwartete Ankunft die Freude des Hofes noch vermehrt. So konnte vor der Trauung die Krone auf dem Haupte der zukünftigen Königin von Preußen und Kaiserin von Deutschland unter Hilfeleistung dreier ihr verwandter hochfürstlichen Frauen, der Kronprinzessin Elisabeth, der Kaiserin von Rußland und der Großherzogin von Sachsen-Weimar, befestigt werden.
Die kirchliche Weihe vollzog der evangelische Bischof Eylert. General v. Natzmer, welcher der Hochzeit seines prinzlichen Freundes beiwohnte, berichtet darüber. „Die Vermählung ist glücklich vollzogen. Die Prinzeß sah sehr hübsch aus, war während der Trauung gerührt und nachher ungemein heiter und vergnügt. Die Gratulationskour (am folgenden Tage) hat die Prinzeß meisterhaft abgehalten; sie dauerte über zwei Stunden; aber die Prinzeß hat jedem so Hübsches und Passendes gesagt, daß alles enchantirt war.“ Ueber das Benehmen des Prinzen während der Reise von Weimar nach Berlin berichtet derselbe Beobachter: „Der Prinz war voller Attentionen für die Braut, auch Frau v. Hopfgarten (die Begleiterin der Prinzessin) entzückt über sein Benehmen.“
Am Tage nach der Vermählung bezog das junge Paar das Tauentziensche Haus Unter den Linden Nr. 37, welches dem Prinzen ursprünglich als Dienstwohnung überwiesen war. Später kaufte er dasselbe und ließ es in dem einfach würdigen Stil ausbauen, in welchem wir es alle als königliches, später kaiserliches Palais kennen. Den Gatten erblühte in dieser ihrer Häuslichkeit ein reines Glück.
„Prinz Wilhelm ist glücklich und zufrieden,“ schreibt General v. Brause im folgenden Winter. „Die Prinzessin ist heiter und gefällt allen, die sie näher kennen lernen.“
Noch höher wuchs die häusliche Zufriedenheit, als dem Paare am 18. Oktober 1831, dem Jahrestage der Völkerschlacht bei Leipzig, ein Erbe geboren wurde, welcher in der Taufe am 13. November die Namen Friedrich Wilhelm Nikolaus Karl empfing. Ihm folgte als zweites und letztes Kind erst am 3. Dezember 1838 eine Tochter, Luise, nach ihrer königlichen Großmutter genannt.
Auch während der dreißiger Jahre blieb die Thätigkeit des Prinzen fast ausschließlich militärischen Angelegenheiten gewidmet.
Das Jahr 1838 brachte ihm am 30. März die Ernennung zum kommandirenden General des Gardekorps und zum Generalinspekteur der vierten Armeeabtheilung. Seinen hierdurch wiederum erweiterten militärischen Aufgaben wurde er jedoch 1839 durch eine schwere Erkrankung an einer Brustfellentzündung mit nachfolgendem Kuraufenthalt in Ems, Baden, der Schweiz und Oberitalien für längere Zeit entzogen.
Der letzte Befehl des Königs Friedrich Wilhelm III., welchen Prinz Wilhelm auszuführen hatte, war die Leitung der militärischen Anordnungen bei der Grundsteinlegung zum Denkmal Friedrichs des Großen am 1. Juni 1840. Doch der Tod stand schon auf der Stirn des Vaters geschrieben, als dieser mit fast erlöschenden Blicken der Feierlichkeit von dem Fenster seines Palais aus zuschaute. Der 7. Juni erlöste den König von seinen Leiden, nachdem Prinz Wilhelm vorher noch die traurige Aufgabe gehabt, seiner Schwester Charlotte, der Kaiserin von Rußland, nach Küstrin entgegenzureisen, um sie auf den Anblick des sterbenden Vaters vorzubereiten. Ein Tagesbefehl des Prinzen vom 10. Juni verkündete, daß es der Wunsch des verklärten Monarchen gewesen, durch die Reihen des Gardekorps seiner letzten Ruhestätte zugeführt zu werden. Diese fand Friedrich Wilhelm III. am 11. Juni an der Seite der Königin Luise im Mausoleum zu Charlottenburg: von da an für den pietätvollen Sohn eine doppelt geheiligte Stätte ernster Erinnerung und andachtsvoller Erhebung.
[229]
Vor die schwierige Aufgabe gestellt, in der „Gartenlaube“ nur einige Abschnitte aus dem Leben Kaiser Wilhelms I., das beinahe die weite Spanne eines Jahrhunderts umfaßt, unsern Lesern vorzuführen, glauben wir das Richtige zu treffen, wenn wir auf die Erinnerungen an die Mannesjahre das große Jahr der glorreichen Siege des Gründers der deutschen Einheit folgen lassen, jenes Jahr, in welchem der deutsche Bundesfeldherr in heißen Schlachten sich die Kaiserkrone, uns das Reich errang.
Mit den friedlichsten Aussichten, schreibt Ernst Scherenberg in seinem Werke, war Deutschland in das Jahr 1870 eingetreten. In seiner Thronrede am 13. Februar noch hatte König Wilhelm verkündet. „Unter den Regierungen wie unter den Völkern der heutigen Welt ist die Ueberzeugung in siegreichem Fortschritte begriffen, daß einem jeden politischen Gemeinwesen die unabhängige Pflege der Wohlfahrt, der Freiheit und der Gerechtigkeit im eigenen Hause zustehe und obliege und daß die Wehrkraft eines jeden Landes nur zum Schutze eigener, nicht zur Beeinträchtigung fremder Unabhängigkeit berufen sei.“
Aber anders dachten die leitenden Kreise Frankreichs. Während König Wilhelm im tiefsten Frieden zu Ems Kräftigung und Erholung suchte, wurde plötzlich in den ersten Julitagen im gesetzgebenden Körper in Paris die Alarmtrommel gerührt. Dann schickte man den französischen Gesandten Benedetti nach Ems, um den König wegen seines persönlichen Einschreitens gegen die spanische Thronkandidatur des Prinzen Leopold von Hohenzollern in einer Weise zu bestürmen, die in den Annalen des diplomatischen Herkommens ohne Beispiel war. Prinz Leopold entschloß sich schon am 10. Juli, der Kandidatur in patriotischer Selbstlosigkeit zu entsagen, um nicht die Ursache eines Krieges zwischen Preußen und Frankreich zu werden, der den Schein erwecken konnte, als werde er um Familieninteressen geführt. Aber in Paris durfte man sich bei dem geheimen Zweck, den man verfolgte, mit dieser bloßen Verzichtleistung des Prinzen nicht begnügen; man suchte um jeden Preis die Person des preußischen Monarchen in die Angelegenheit zu verwickeln, um denselben zu dem Kriege, den man wollte, zu reizen oder ihn zu einer offenkundigen, sein und Preußens Ansehen in Deutschland wie im Auslande schädigenden Demüthigung zu nöthigen.
Das Verhalten des Königs Wilhelm in jenen Tagen zu Ems kann nicht genug anerkannt werden. Ohne jeden diplomatischen Beirath hielt er den immer dringenderen, ihm zuletzt auf offener Brunnenpromenade von Benedetti gestellten unerhört dreisten Zumuthungen eine wahrhaft staatsmännische Ruhe und bei aller Milde der Form unerschütterliche Festigkeit entgegen. Er ermächtigte den französischen Botschafter als Zeichen seiner Friedensliebe wiederholt, seinem Kabinett zu melden, daß er den Verzicht des Prinzen von Hohenzollern „vollständig und rückhaltlos“ billige. Mit unbeugsamer Entschiedenheit aber lehnte er es ab, dem Prinzen die Kandidatur zu „verbieten“, eine Forderung, welche nach Eingang der Verzichtleistung des Prinzen, gemäß der telegrafischen Korrespondenz zwischen Gramont und Benedetti, am 13. Juli sogar dahin erweitert wurde, daß der König sich dieser Verzichtleistung „anschließe“ und den Botschafter [230] ermächtige, seiner Regierung mitzutheilen, daß, „wenn der Prinz von Hohenzollern auf sein Vorhaben zurückkäme, Se. Majestät seine Autorität gebrauchen würde, um es zu hindern.“ Der König verweigerte dies nach Benedettis Bericht unbedingt und brach die Unterredung mit der Erklärung ab, „daß er eine solche Verbindlichkeit nicht übernehmen könne, noch wolle und daß er für einen solchen Fall, wie für jeden anderen, sich die Erwägung der Umstände vorbehalten müsse.“ Als trotzdem Benedetti an diesem Tage zum dritten Male eine Audienz verlangte, ließ der König ihm durch seinen Flügeladjutanten Fürsten Radziwill sagen, er müsse es entschieden ablehnen, in betreff der gewünschten Bürgschaften für die Zukunft sich in weitere Erörterungen einzulassen, was er am Morgen gesagt, sei in dieser Sache sein letztes Wort. Nichtsdestoweniger versuchte Benedetti den König bei dessen Abfahrt nach Koblenz am 14. Juli Nachmittags auf dem Bahnhofe nochmals zu sprechen. König Wilhelm beschränkte sich jedoch darauf, dem französischen Botschafter zu sagen, „daß er ihm nichts mehr mitzutheilen habe und daß die etwa weiter erforderlichen Verhandlungen durch seine Regierung geführt werden würden.“
Dies waren die Vorgänge, welche Frankreich zur Kriegserklärung veranlaßten, bezeichnender Weise dem einzigen offiziellen Aktenstück, welches der preußischen Regierung im Verlaufe dieser ganzen Angelegenheit zugestellt worden.
Als eine amtliche telegraphische Meldung die dem greisen Oberhaupt des Norddeutschen Bundes in Ems widerfahrene Behandlung in Deutschland bekannt machte, lähmte im ersten Augenblick ein Gefühl des Staunens über diese unerhörte französische Herausforderung aller Herzen:
„Unser Königsaar
Mit dem schneeigen Haar
Sollt’ vor gallischen Krähen sich neigen?!
Zum Verkünder der Schmach
keinen Laut er sprach –
Doch es wirkte wie Donner sein Schweigen.“
Dann aber löste sich der Bann, und es brauste von den Alpen bis zum Nordmeer ein Sturm patriotischer Entrüstung durch das gesammte Volk, von einer solchen Plötzlichkeit, elementaren Gewalt und hinreißenden Wirkung, wie er niemals vorher – selbst in den Befreiungskriegen nicht – deutsche Gemüther durchzittert hat und in dieser Weise vielleicht in Jahrhunderten sich nicht wiederholen dürfte.
„Nun so züngelt hervor!
Nun so lodert empor
Ohne Fesseln gen Himmel, ihr Flammen!
Unser Volk, das entzweit,
Wird durch Leiden gefeit,
Schmilzt in heiliger Lohe zusammen.“
In begeisterten Huldigungen machte sich bei der Rückreise des geliebten Monarchen von Ems nach Berlin am 15. Juli die fieberhafte Spannung des Volkes an allen Orten Luft, welche der königliche Zug durcheilte. In die Hauptstadt fuhr der ehrwürdige Fürst, den man hatte demüthigen wollen, Abends wie ein Sieger ein. In derselben Nacht noch waren der Kronprinz und des Königs Paladine, Bismarck, Moltke, Roon zum Kriegsrath im kaiserlichen Palais versammelt. Die Mobilmachung der gesammten Armee wurde angeordnet und der Reichstag auf den 19. Juli einberufen.
Ein bedeutsames Zusammentreffen in dem an wunderbaren Schicksalsfügungen so reichen Leben des Königs ist es, daß dieser Tag, an welchem auch die französische Kriegserklärung übergeben wurde, zugleich der sechzigste Todestag der Königin Luise war, für deren einstiges Leid nunmehr der greise Sohn in dem bevorstehenden Kriege die letzte vollständigste Sühne fordern und ganz im Sinne der deutschdenkenden Fürstin nicht nur durch Niederwerfung des Erben jenes ersten Napoleon, sondern durch Erneuerung des deutschen Reichs finden sollte!
In Andacht weilte König Wilhelm Morgens am Grabe seiner Eltern, ließ durch Erlaß vom gleichen Tage, „in dankbarer Erinnerung an die Heldenthaten unserer Vorfahren“, das „von seinem in Gott ruhenden Vater gestiftete Ordenszeichen des Eisernen Kreuzes in seiner ganzen Bedeutung wieder aufleben“ und eröffnete sodann den Reichstag. Die vom Gefühl der gerechten Sache getragene Thronrede wurde Satz für Satz mit so stürmischer Begeisterung aufgenommen, daß der Herrscher dieselbe nur mit tiefer Bewegung zu Ende lesen konnte. Welch ein Inhalt aber auch und in welcher Stunde!
„Hat Deutschland derartige Vergewaltigungen seines Rechts und seiner Ehre in früheren Jahrhunderten schweigend ertragen, so ertrug es sie nur, weil es in seiner Zerrissenheit nicht wußte, wie stark es war. Heute, wo das Band geistiger und rechtlicher Einigung, welches die Befreiungskriege zu knüpfen begonnen, die deutschen Stämme je länger, desto inniger verbindet, heute, wo Deutschlands Rüstung dem Feinde keine Oeffnung mehr bietet, trägt Deutschland in sich selbst den Willen und die Kraft der Abwehr erneueter französischer Gewaltthat.“
Welch ein erhebender Vergleich der Zeit von 1870 gegen die Tage der Jugend des Königs, wo der Kampf gegen Frankreich nur mit ausländischer Hilfe möglich war, liegt in diesen kernhaften Worten! Und zum Schluß der vertrauende Blick in die Zukunft:
„Wir werden nach dem Beispiel unserer Väter für unsere Freiheit und für unser Recht gegen die Gewaltthat fremder Eroberer kämpfen und in diesem Kampfe, in dem wir kein anderes Ziel verfolgen als den Frieden Europas zu sichern, wird Gott mit uns sein, wie er mit unsern Vätern war.“
Die thörichte Rechnung Napoleons und seiner gewissenlosen Berather auf die süddeutschen Höfe und die unzufriedenen partikularistischen Elemente im Volke wurde schon in den ersten Tagen durch die opfermuthigen und begeisterten Kundgebungen aus München, Stuttgart, Karlsruhe, aus allen Staaten, Stämmen und Parteien Deutschlands zu Schanden:
„Sie wähnten, es schliefen die Hüter dein,
und wollten mit Lug dich umnachten,
Aber Norden und Süden hielt Wacht am Rhein
Und stürmte ins Wetter der Schlachten.“
[231] Es kann weder unsere Aufgabe, noch Absicht sein, hier eine Geschichte des Kriegs von 1870 und 1871 zu geben. Der größte Theil des lebenden Geschlechts hat ja die unvergeßlichen Erfolge jenes Feldzuges miterstritten oder die Kunde davon in ihrem unmittelbaren Eindruck bebend und jubelnd in sich aufgenommen. Am 31. Juli verließ König Wilhelm, von den begeisterten Wünschen des ganzen deutschen Volkes begleitet, Berlin; am 2. August übernahm er in Mainz als oberster Bundesherr den Befehl über die ganze Armee. Schon am 4. und 6. waren zu Weißenburg und Wörth die ersten Siege und zwar durch die Armee des Kronprinzen Friedrich Wilhelm, bei welcher auch die süddeutschen Truppen standen, erfochten. Gleichzeitig wurde die französische Armee bei Spichern vom rechten Flügel der deutschen Heeresaufstellung energisch zurückgeworfen.
Lawinenartig ergossen sich nunmehr die deutschen Armeen über Frankreich, nöthigten die sich auf Metz zurückziehenden französischen Korps durch kühne Vorstöße zuerst bei Courcelles, dann in opfermuthigem, heißem Ringen bei Vionville Stand zu halten, und ermöglichte dadurch die gewaltige und durch die Einschließung der noch 140 000 Mann starken Bazaineschen Armee in Metz so folgenreiche Schlacht bei Gravelotte am 18. August unter persönlicher Führung des Königs.
Gegen Abend, als das pommersche Armeekorps mit klingendem Spiele vorging, um die heiß umstrittenen Stellungen mit dem Bajonnet zu nehmen, trieb es auch den König nach der Höhe von Gravelotte.
„Bei jenem letzten Vorstoß,“ so berichtet er selbst vom Schlachtfelde an die Königin, „fehlten die historischen Granaten von Königgrätz nicht, aus denen mich diesmal Minister von Roon entfernte.“
Rittmeister von Buddenbrock im Gefolge wurde durch einen Granatsplitter an der Hand verwundet, welcher sodann noch das Pferd des Hofmarschalls Grafen Perponcher tödtete. Das Hauptquartier ritt daher etwas zurück, und der König nahm neben einer Gartenmauer auf der Leiter eines Bauernwagens Platz, deren eines Ende auf eine Dezimalwage, deren anderes auf einen todten französischen Gaul gelegt wurde. Unmittelbar zur Seite brannte eine große Wollspinnerei, die nächste Umgebung mit unheimlichem Lichte erhellend. Man war in Erwartung der Entscheidung, welche die nächsten Minuten bringen mußten, sehr schweigsam. Da eilte Moltke, welcher soeben die Pommern zum Sturme geführt hatte, mit erhitztem Gesicht auf den ihm entgegentretenden König zu. „Majestät, wir haben gesiegt; der Feind ist aus allen Stellungen geworfen!“
Im dankbaren Herzen des Königs ist dieser Augenblick unauslöschlich haften geblieben. Ein Vorgang aus der am 13. September 1887 abgehaltenen Kaiserparade bei Stettin bestätigte dies in ergreifender Weise. Als nämlich Feldmarschall Moltke an diesem Tage sein Kolbergsches Grenadierregiment Nr. 9, welches er am Abend des 18. August 1870 mit gezogenem Degen gegen den Feind geführt hatte, nun mit demselben Degen salutirend vor seinem Kriegsherrn vorbeigeleitete, da winkte ihn dieser dicht an den Wagenschlag heran, drückte ihm wiederholt die Hand und hielt dieselbe schließlich gerührt so lange in seiner Rechten fest, bis der letzte Mann vom Kolbergschen Regiment vorbeimarschirt war. Die Tausende aber, welche diesem erhebenden Schauspiele zusahen, jubelten dem großen Kaiser und seinem großen Heerführer begeistert zu.
Auf Gravelotte folgte schon am 1. und 2. September Sedan, die Gefangennahme der 100 000 Mann starken Armee Mac Mahons und Kaiser Napoleons selbst.
„Tag des Sieges ohnegleichen,
Tag des höchsten Jubels voll!
Steigt empor, ihr Flammenzeichen,
Eines Volkes Opferzoll!“
Die Größe dieses weltgeschichtlichen Ereignisses, welches den Höhepunkt in König Wilhelms Siegeslaufbahn bildet, können wir nur mit seinen eigenen, in ihrer Schlichtheit um so eindrucksvolleren Worten schildern.
„Welch ein ergreifender Augenblick, der der Begegnung mit Napoleon!“ – heißt es in dem Telegramm an die Königin. „Er war gebeugt, aber würdig in seiner Haltung und ergeben. Ich habe ihm Wilhelmshöhe bei Kassel zum Aufenthalt gegeben. Unsere Begegnung fand in einem kleinen Schlößchen vor dem [232] östlichen Glacis von Sedan statt. Von dort beritt ich die Armee um Sedan. Den Empfang durch die Truppen kannst Du Dir denken! Unbeschreiblich!“ Und brieflich berichtet der König noch: „Ich stieg vor dem Schlößchen ab, wo der Kaiser mir entgegenkam. Der Besuch währte eine Viertelstunde, wir waren beide sehr bewegt über dieses Wiedersehen. Was ich alles empfand, nachdem ich vor Jahren Napoleon auf dem Gipfel seiner Macht (in Paris) gesehen hatte, kann ich nicht beschreiben.“ Und dann sei noch jene den Charakter des Königs so wahr zum Ausdruck bringende Stelle desselben Briefes mitgetheilt: „Es ist wie ein Traum, selbst wenn man Stunde für Stunde hat abrollen sehen. Wenn ich mir denke, daß nach einem großen glücklichen Kriege ich während meiner Regierung nichts Ruhmreicheres mehr erwarten konnte, und ich nun diesen weltgeschichtlichen Akt erfolgt sehe, so beuge ich mich vor Gott, der allem mich, mein Heer und meine Mitverbündeten ausersehen hat, das Geschehene zu vollbringen, und uns zu Werkzeugen seines Willens bestellt hat. Nur in diesem Sinne vermag ich das Werk aufzufassen und in Demuth Gottes Führung und seine Gnade zu preisen.“
Aber der Siegeslauf sollte auch mit diesem gewaltigen Ergebniß noch nicht beendigt sein. Das Kaiserreich war am 4. September gestürzt, jedoch die Republik trat das Erbe des Krieges an. So galt es denn, unaufhaltsam vorwärts zu dringen und die Hauptstadt selbst zu unterwerfen. Am 19. September schon war die vollständige Einschließung von Paris bewirkt. Das Hauptquartier des Königs wurde fortan Versailles. Im prunkvollen Schlosse Ludwigs XIV. hielt nun der König während der nächsten Monate mit seinen Feldherren und Staatsmännern den Kriegsrath, indessen die Belagerung von Paris stetige Fortschritte machte und die deutschen Heere sich nach allen Himmelsrichtungen siegreich immer weiter über das feindliche Laud ergossen. Hier liefen die frohen Botschaften vom Falle der Festen Straßburg und Metz, vom heldenmütigen Widerstande Werders und immer neuen Erfolgen ein. Hier aber widmete der König sich in seiner liebreichen Menschenfreundlichkeit auch den Werken der Barmherzigkeit und ließ es keine seiner geringsten Sorgen sein, die Pflege der Verwundeten in den Lazarethen durch persönliche Besuche zu überwachen. Die Todeswunde manches Braven brannte weniger heiß und schmerzhaft, wenn er in das milde, gerührte Auge seines Königs blickte.
Hier im Schlosse zu Versailles endlich sollte König Wilhelm auch den Dank aller deutschen Fürsten und Stämme für die unsterblichen Verdienste ernten, welche er sich um das Vaterland erworben. Hier sollte die Sehnsucht des deutschen Volkes ihre fast märchenhafte Erfüllung finden. Jeder deutsche Krieger, weß Landes immer er sei, wußte, daß nicht die Niederwerfung Frankreichs und die Sicherung des heimischen Bodens allein der Lohn dieses Feldzugs sein durfte. Nein, ein köstlicheres, unverlierbares Gut hatten er und seine Kameraden für ihr Vaterland erstritten, denn freudig durften sie jauchzen:
„Hurra! in dem klirrenden Waffentanz
Ward erbeutet der blutige Hochzeitskranz!
Auf dem Felde der Ehre, da sind mir getraut –
Hoch Deutschland, herrliche Siegesbraut!“
Nicht verloren war das Blut der Tausende deutscher Männer, welches die starren Schollen der winterlichen Erde Frankreichs röthete –
„Denn unter den warmen Tropfen schmolz
Des Ackers frostige Krume:
Aufschoß – o Wunder – stark und stolz
Die deutsche Kaiserblume!“
[249]
„Ein Jahrzehnt erst trägst du die Königskrone der Väter,
Jubelnd bietet man dir, Kaiser, die Krone des Reichs!
Heil uns, daß du sie nahmst! Wen könnte sie würdiger schmücken?
Frage die Fürsten im Kreis, alle sie huldigen dir,
Der ein Held du zugleich und erster Bürger des Staates,
Pflichtstreng gegen dich selbst, anderen gütig und mild.
Mäßig im Siege dereinst, nun schirmst du den Frieden der Erde,
Nimmer ermüdend daheim, rüstig zu krönen den Bau.
Die jeden Einzelnen über das gewöhnliche Alltagsgefühl so hoch hinaustragenden mächtigen Erschütterungen und hinreißenden Erfolge der großen Zeit von 1870 übten nach allen Seiten ihren läuternden Einfluß. Wie Schneeflocken in der Frühlingssonne schmolzen jahrhundertalte Vorurtheile im strahlenden und erwärmenden Lichte der Gegenwart. Die Waffenbrüderschaft dieses gewaltigen Krieges tilgte die letzten Reste veralteter Stammesgegensätze.
„Bei Wörth und an der Seine Bord
Ward heil’ger Bund geschlossen:
Da ist das Blut von Süd und Nord
In einen Strom geflossen.“
Und hinter den Bevölkerungen blieben die Fürsten und Regierungen Deutschlands nicht zurück. So konnte denn schon am 18. Januar 1871 Mittags 12 Uhr im Spiegelsaale des Versailler Schlosses König Wilhelm unter dem Jubel der versammelten preußischen Prinzen, Fürsten, Feldherren, Minister und der durch 56 Fahnendeputationen vertretenen Angehörigen aller Gattungen des deutschen Volkes in Waffen zum deutschen Kaiser ausgerufen werden:
„Laßt flammen die Feuer, die Fahnen laßt wehn:
Du, Traum unsrer Väter, nun sollst du erstehn!
Unter Donnerhall, unter Glockenlaut
Gab heute sich Deutschland dem Kaiser zur Braut!“
Dem Bundeskanzler Grafen Bismarck, dessen staatsmännisches Genie, nationaler Sinn und eiserner Wille so Großes zur Vorbereitung dieser höchsten Ehrenstunde für seinen königlichen Herrn beigetragen, war die schöne Aufgabe zugefallen, die Proklamation „An das deutsche Volk“ zu verlesen. Dieselbe schloß mit den Worten: „Uns aber und unseren Nachfolgern an der Kaiserkrone wolle Gott verleihen, allzeit Mehrer des Deutschen Reiches zu sein, nicht an kriegerischen Eroberungen, sondern an den Gütern und Gaben des Friedens, auf dem Gebiete nationaler Wohlfahrt, Freiheit und Gesittung.“
Wie alle seine Gelöbnisse hat Kaiser Wilhelm auch das vorstehende bis zum letzten Athemzuge vor Augen gehabt und in jedem Worte treu gehalten! –
Der Jubel Berlins, der jetzt zur Reichshauptstadt erhobenen preußischen Residenz, bei der Heimkehr des Kaisers aus Frankreich am 17. März 1871 spottet jeder Beschreibung.
Nach Abschluß des Friedens mit Frankreich ging es alsbald wieder an die kurze Zeit unterbrochene innere Arbeit, gemäß dem am 21. März bei Eröffnung des ersten Deutschen Reichstages vom Kaiser selbst gesteckten Ziele, wonach „die Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein möge, sich in dem Wettkampfe um die Güter des Friedens als Sieger zu erweisen“. So reich an Thätigkeit und Erfolgen auf dem Gebiete des inneren Ausbaus wie der äußeren Politik ist dieser letzte Abschnitt im Leben des Kaisers, daß wir darauf verzichten müssen, hier auch nur eine Aufzählung, geschweige denn eine ins Einzelne gehende Darstellung derselben zu versuchen.
Der Lebensabend unseres entschlafenen Kaisers wurde namentlich von zwei Aufgaben, welche er als die wichtigsten zur Festigung [250] des Reiches betrachtete, ausgefüllt: möglichste Entwicklung und Ausbildung der deutschen Wehrkraft zum Schutze des Vaterlandes gegen Angriffe von außen und möglichste Verbesserung der Lage der arbeitenden Klassen auf gesetzlichem Wege. Die so eigenartig gestaltete deutsche Sozialpolitik ist seiner persönlichsten Inangriffnahme zu verdanken. Den äußeren Anstoß hierzu gaben die das ganze Volk mit höchster Entrüstung und Abscheu, den Kaiser aber mit tiefschmerzlichsten Empfindungen erfüllenden Verbrechen eines Hödel und Nobiling am 11. Mai und 2. Juni 1878. Nach dem zweiten Attentate erschien der Zustand des von den Geschossen Nobilings schmachvoll verwundeten greisen Herrschers wegen des erlittenen starken Blutverlustes immerhin bedenklich. Durch Verordnung vom 4. Juni wurde daher dem damaligen Kronprinzen die Stellvertretung des Kaisers und Königs in der oberen Leitung der Regierungsgeschäfte übertragen. Die kernhafte Natur, die aufopfernde Pflege der Kaiserin und der Großherzogin von Baden ließen den Monarchen, wenn auch langsam, die Folgen der Verwundungen überstehen. Heldenhaft und selbstlos, nur von der Sorge für das Staatswohl und die Seinigen geleitet, erwies sich auch in dieser schweren Prüfungszeit der Kaiser wieder. Im Juli war die Genesung bereits soweit vorgeschritten, daß er nach Babelsberg übersiedeln konnte, wo er in den stillen schattigen Gängen des von ihm selbst angelegten Parks, wie so oft, auch diesmal wieder für Gemüth und Körper Erquickung und Stärkung fand. Schon am 29. Juli durfte er zur Kur nach Teplitz abreisen, wo er den Besuch des Kaisers von Oesterreich empfing. Nach weiterer Kur in Gastein, Baden-Baden und Wiesbaden kehrte er endlich nach fünfmonatiger Abwesenheit, neu für seinen Herrscherberuf gekräftigt, nach Berlin zurück.
So viel glänzende und begeisterte Einzüge in seine Hauptstadt Kaiser Wilhelm auch erlebt hatte – wärmer, inniger und jubelnder ist der Empfang, sinniger waren die Beweise der Liebe, die Art der Ausschmückung, strahlender und allgemeiner ist abends die Erleuchtung der Häuser bis in die entlegensten Straßen noch nie gewesen wie am 5. Dezember 1878! Durch seinen Sinn aber zog in diesen bewegten Stunden nur der eine Gedanke, wie dies Volk, welches ihn so liebte, auch in sozialer Hinsicht gehoben werden könnte.
Von dieser Zeit an reiften in der Reichsregierung die Pläne für den Ausbau jener organischen Gesetzgebung zum Schutze und zur Verbesserung der Lage der Arbeiter, mit welcher das Deutsche Reich allen anderen Staaten zu leuchtendem Beispiel voranschreitet und für welche Kaiser Wilhelm in seinen berühmten Botschaften vom 17. November 1880 und 14. April 1883 mit größter Energie und Herzenswärme eintrat.
Welcher Förderung Handel und Gewerbe – seit 1884 auch die junge Kolonialpolitik des Reiches – sich unter der Friedensregierung des Kaisers bis zuletzt zu erfreuen hatten, ist allbekannt. Einem zugleich dem deutschen und internationalen Schifffahrtsverkehr wie der Verstärkung unserer Wehrkraft zur See dienenden Zwecke entsprang der Plan des zum Theil aus Reichsmitteln zu bauenden Nord-Ostseekanals, dessen Grundsteinlegung zu Holtenau bei Kiel am 3. Juni 1887 unter einer der nationalen Bedeutung entsprechenden Feierlichkeit in Gegenwart des Kaisers vor sich ging. Damit war endlich ein großes Werk begonnen, dessen Ausführung bis zur Einigung des Vaterlandes als ein in unerreichbarer Ferne schwebendes Ziel patriotischer Wünsche erschien. – Es sei hier die Erwähnung der Fertigstellung und Einweihung eines Denkmals angeschlossen, welches ebenfalls lange Zeit als unvollendetes Wahrzeichen der vergeblichen deutschen Einheitsbestrebungen betrachtet wurde. Wir meinen den Kölner Dom.
Die Schlußsteinlegung in der Kreuzblume des südlichen Domthurms war vom Kaiser aus Pietät gegen seinen Bruder Friedrich Wilhelm IV., der das Dombauwerk so mächtig gefördert hatte, auf den 15. Oktober, den Geburtstag des verstorbenen Königs, im Jahre 1880 angesetzt worden. Von dem auf dem Domplatz errichteten Kaiserzelte aus sah Wilhelm I., umringt von vielen deutschen Fürsten, umwogt von einer zahllosen festlichen Menge, erwartungsvoll dem feierlichen Augenblick entgegen, wo die im Südthurm hängende Kaiserglocke, als Zeichen, daß das Riesenwerk vollendet, zum ersten Mal ihre gewaltige eherne Stimme ertönen lassen würde, verkündend:
„Des Reiches erzener Herold nun
Die Wacht am Rhein verseh’ ich;
Daß am heimischen Herde die Völker ruhn,
Auf heil’ger Warte steh’ ich!
Niemals im Hader der Partei’n
Soll meine Stimm’ erschallen;
Ich ruf im Fest- und Friedensschein
All-Deutschland in die Hallen.
Vom hochaufstrebenden Glockenthurm;
Weit über die Lande seh’ ich;
Ich übertöne Kampf und Sturm;
Dem Deutschen Reich erfleh’ ich:
Daß Fried’ und Wehr
Ihm Gott bescher’!“
„Fried’ und Wehr!“ Für beides war Kaiser Wilhelm bis zu seinem Ende unermüdlich thätig. In letzterer Hinsicht begnügte er sich nicht nur, auf gesetzlichem Wege die Heer- und Wehrordnung immer mehr zu verbessern, sondern ohne jede Schonung seines alternden Körpers pflegte er auch den praktischen Militärdienst durch alljährliche Abhaltung von Besichtigungen, Paraden und Manövern wechselnd in den verschiedenen Provinzen und deutschen Ländern. Bei diesen Veranlassungen besuchte der Kaiser auch wiederholt die Reichslande Elsaß-Lothringen, so 1877, 1886, und es gelang ihm auch hier, sich die allgemeinen Sympathien für seine hoheitsvolle und herzgewinnende Persönlichkeit zu erringen. Die Rüstigkeit des Kaisers und sein nach wie vor scharfer militärischer Blick strafte die Aeußerung Lügen, welche er im Bedauern darüber, daß er nicht mehr reiten könne, 1886 zu einem höheren Offizier scherzend gethan haben soll: „Wenn ich ein gewöhnlicher General wäre, so hätte ich schon längst den Abschied!“
Kaiser Wilhelm bediente sich, wie hier erwähnt sein möge, während der letzten Lebensjahre, um den Mangel der Reitfähigkeit auszugleichen, eines eigens für ihn gebauten Manöverwagens, dessen sinnreiche Einrichtungen ihm ermöglichten, lange Zeit, ohne zu ermüden, stehend die Paraden und großen Truppenübungen mit seinem nimmermüden Feldherrnauge zu verfolgen und zu überwachen.
Unter den sich während der letzten beiden Jahrzehnte im Leben des Kaisers drängenden militärischen Gedenktagen war der 1. Januar 1887, welcher sein achtzigjähriges Militärdienstjubiläum brachte, der bedeutungsvollste. Der Kronprinz entbot zu diesem Tage an der Spitze der Generale seinem königlichen Vater und Kriegsherrn den Gruß des ganzen Heeres. Hiernach schloß der Kaiser den Sohn bewegt in seine Arme. Dann ging er auf den Feldmarschall Moltke zu, umarmte auch diesen in herzlichster Weise und dankte ihm für seine unvergleichlichen Dienste. Beim Festmahle trank er zum Abschiede auf die Armee, indem er die Hoffnung ausdrückte, daß sie immer das bleiben werde, was sie bisher gewesen und bis jetzt sei, wenn sie auch weiter festhalte an den drei Grundsäulen ihrer Tüchtigkeit. „am Ehrgefühl, an der Tapferkeit, am Gehorsam!“ –
„Fried’ und Wehr!“ Sehen wir nun in zusammenfassendem Ueberblick auch, wie Kaiser Wilhelm für das erste köstliche Gut sorgte, wie er nach einer durch kriegerische Erfolge zu Gunsten Deutschlands bewirkten gewaltigen Machtverschiebung doch kein anderes Streben im Auge hatte, als dem Deutschen Reiche eine ungestörte Entwickelung und Europa den allgemeinen Frieden zu bewahren.
Schon sofort im Sommer des Jahres 1871 begann die Friedensarbeit des Kaisers, in welcher er vom Fürsten Bismarck in so genialer Weise unterstützt wurde. Der gleichzeitige Aufenthalt beider in Gastein wurde zur Wiederherstellung intimerer [251] Beziehungen mit dem österreichischen Kaiserstaate benutzt, wozu schon die maßvollen Bedingungen des Prager Friedens den Weg erleichtert hatten. Zwischen den Bevölkerungen Deutschlands und Oesterreichs ist ja die Stammessympathie stets lebendig geblieben. Die Trennung war schmerzlich, aber nach der ganzen Gestaltung der vielsprachigen habsburgischen Monarchie politisch notwendig und die blutige Auseinandersetzung von 1866 nur gegen die frühere Wiener Kabinettspolitik gerichtet gewesen.
„Euch Brüdern nimmer galt der Krieg,
Nur jetzt vergeßnen Tücken! –
Habt Dank, daß ihr uns dann zum Sieg
So treu gedeckt den Rücken!
Und ob getrennt durch äußre Macht –
Laßt Brust an Brust uns stehen!
Und streitet in der Geistesschlacht,
Wo Deutschlands Banner wehen!“
Gleiche Sorgfalt wurde auf die Erhaltung der guten nachbarlichen Beziehungen zu Rußland gelegt.
In der Zeit vom 5. bis 11. September 1872 zog die Dreikaiserzusammenkunft – welche von einer Zusammenkunft der drei Kanzler, Bismarcks, Gortschakows und des an die Stelle Beusts getretenen Andrassy, begleitet war – die Augen der ganzen Welt nach Berlin. Die hierdurch bekräftigte Friedensliga der drei Reiche übte auch auf andere Staaten, so Italien, große Anziehungskraft aus, wie der Besuch Viktor Emanuels in Berlin im September des folgenden Jahres bezeugte.
Bis zu Ende des russisch-türkischen Krieges blieb das Dreikaiserverhältniß ungetrübt bestehen, und auch nach dem Vertrag von St. Stephano übernahm Fürst Bismarck mit Zustimmung des Kaisers auf dringenden Wunsch Rußlands die Geschäfte eines ehrlichen „Maklers“. Vom 13. Juni bis 15. Juli 1878 tagte der europäische Kongreß zur Lösung der orientalischen Wirren unter Vorsitz des deutschen Reichskanzlers in Berlin. Die Rolle Deutschlands als führende politische Macht, die Stellung Kaiser Wilhelms als Hort des europäischen Friedens war damit allseitig anerkannt.
Aber die Niederlage, welche die Diplomatie Gortschakows durch ihre eigene Unfähigkeit auf dem Kongreß erlitt, und welche dieser – obschon es aktenmäßig festgestellt ist, daß Bismarck alle russischen Anträge unterstützte – der Hinterhaltigkeit des deutschen Reichskanzlers in die Schuhe schob, ward in der Folge die Veranlassung zum langsamen Erkalten der bisherigen Herzlichkeit zwischen den beiden Nachbarn. Es kam so weit, daß Gortschakow geheime Unterhandlungen über ein russisch-französisches Bündniß anknüpfte. Da entschloß Bismarck sich in klarer Erkenntnis der Lage, an die Stelle des seinen Dienst versagenden Dreibunds das Zweikaiserbündniß treten zu lassen.
Sein pflichttreuer Herrscher aber, so schwer ihm die theilweise Abwendung von seinem früheren besten Alliierten und theuren Verwandten auch wurde, fügte sich wie stets auch hier der Forderung, welche die in erster Linie stehende Sicherheit des Reiches an ihn stellte.
Wie scharf die Leiter der auswärtigen deutschen Politik damals in die Zukunft geschaut hatten, bewiesen am deutlichsten die Enthüllungen der jüngst verflossenen Zeit.
Jenes Vertheidigungsbündniß des Deutschen Reiches mit Oesterreich-Ungarn bildete fortan den festen Kern, um den sich nach und nach die neue große Friedensliga krystallisierte. Wenn die friedliche Entwickelung der europäischen Kulturvölker durch viele Jahre von kriegerischen Unternehmungen verschont wurde, und wenn trotz der gespannten Weltlage auch heute der Friede für lange Zeit gesichert erscheint, so verdankt dies Europa in erster Linie der weisen Politik Kaiser Wilhelms I. und seines treuesten Rathgebers. Italien war die erste Macht, welche den Anschluß an die Friedensliga wünschte und erhielt; Rumänien, Serbien, Spanien und andere Staaten suchten ebenfalls Fühlung mit dem Bande der beiden mitteleuropäischen Kaiserreiche zu bekommen. Die Besuche der fremden Fürstlichkeiten am Hoflager des Deutschen Kaisers zu Homburg v. d. H. im September 1883 legten beredtes Zeugniß hierfür ab. Inmitten einer glänzenden Versammlung auswärtiger gekrönter Häupter und Prinzen, wie der Könige von Spanien und Serbien, der Thronfolger von Portugal und England, der Herzöge von Cambridge und Connaught – deutscher Fürsten, wie des Königs von Sachsen, der Großherzoge von Hessen und Sachsen-Weimar, und der Vertreter fast aller Armeen der Welt nahm Kaiser Wilhelm in Begleitung des Kronprinzen und seiner Enkel, des Prinzen Wilhelm und des Erbgroßherzogs von Baden, die Paraden und Manöver des XI. Armeekorps ab. Er stand auf der Höhe seiner Macht und seines Einflusses in Europa – ein Friedensfürst im vollsten Sinne des Wortes.
Und während der König Alfons von Spanien auf seiner Rückreise über Paris von denn Pöbel Frankreichs ausgepfiffen und als „Ulanenkönig“ beschimpft wurde, ging Kaiser Wilhelm von Homburg auf den Niederwald und enthüllte, umgeben von zahlreichen deutschen Fürstlichkeiten, Vertretern der gesammten Armeen und der Nation unter denn Jubelrufe der Tausende und aber Tausende, welche auf den sonnigen Höhen des Rheingaues, auf den beflaggten Schiffen des grünleuchtenden Stromes dem erhebenden Schauspiel beiwohnten – das Nationaldenkmal zum Gedächtniß der in Frankreich Gefallenen, zur bleibenden Erinnerung an die Heldenthaten der deutschen Heere und an die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches.
Wahrlich, eine würdigere Antwort auf diese damalige und seitdem, wie oft schon, immer wieder erneute Herausforderung unserer unversöhnlichen Nachbarn jenseit der Vogesen konnte es nicht geben. Auf den Wink des Kaisers fiel die Hülle. Kanonen donnerten, Trompeten schmetterten und tausendstimmig stieg aus dem weiten Rheinthal das Schutz- und Trutzlied der Deutschen, „die Wacht am Rhein“, zur Höhe empor. Droben aber, die in herrlichem Erzbilde enthüllte Germania,
– – sie steht in erhabener Schau,
Als wolle sie Künftiges lesen –
Zu Füßen des Rheines leuchtender Gau,
Fern dämmernd die ernsten Vogesen.
So hält sie im Frieden die heilige Wacht –
Doch ruft man sie frevelnd zum Kriege,
Dann steigt sie gerüstet hernieder zur Schlacht
Und führt uns von neuem zum Siege.
[266] Die durch Deutschlands weise Friedenspolitik herbeigeführte Isolierung Frankreichs zwang dasselbe, die Erfüllung seiner Revanchehoffnungen immer wieder zu verschieben. Als der Zar Alexander III., der nach seines Vaters schmählicher Ermordung durch Nihilistenhände am 13. Mai 1881 den Thron Rußlands bestiegen hatte, das Bedürfniß empfand, sich ebenfalls dem Zweibunde wieder zu nähern, wurde die Vereinsamung der französischen Republik eine vollständige. Die Zusammenkunft von Skierniewice vom 15. bis 17. September 1884 stellte das Dreikaiserverhältniß bis zu einem gewissen Grade wieder her, wenn auch im übrigen die engere Allianz zwischen Oesterreich-Ungarn und Deutschland in Kraft blieb. Das etwas künstliche Gebäude der Verständigung von Skierniewice hielt jedoch nicht allzulange stand. Der Wirbelsturm der bulgarischen Frage warf das Dreikaiserverhältniß abermals über den Haufen. Das besonnene, streng vertragsmäßige und selbst gegen die Sympathien des deutschen Volkes den im orientalischen Kriege erworbenen Ansprüchen Rußlands gerecht werdende Verhalten des deutschen Reichskanzlers während der ganzen Krisis konnte nicht verhindern, daß der Panslawismus den Fürsten Bismarck und das Deutsche Reich gemäß den Traditionen Gortschakows und Katkows für die Mißerfolge Rußlands verantwortlich machte und der Gegensatz der Ostmächte im Orient sich immer schärfer zuspitzte. Vielfache Fäden zwischen Moskau, Petersburg und Paris wurden abermals angesponnen, um einer russisch-französischen Allianz die Wege zu bahnen.
Den wegen seiner naturgemäßen Abneigung gegen die Republik vor solchem Bündniß noch zurückschreckenden Zaren veranlaßte man sogar – wie sich bei der späteren Durchreise desselben durch Berlin und bei der berühmten Auseinandersetzung zwischen ihm und dem deutschen Reichskanzler am 18. November 1887 herausstellte – durch gefälschte diplomatische Schriftstücke, sich von einer Begegnung mit seinem kaiserlichen Großoheim in Stettin fernzuhalten.
Alle diese Vorgänge bestimmten die Regierung Kaiser Wilhelms, das Bündniß mit Oesterreich-Ungarn unter erneutem Zutritt des Königreichs Italien, dessen rückhaltloser Anschluß aller Welt durch des Ministerpräsidenten Crispi Besuch beim Fürsten Bismarck in Friedrichsruh bekundet wurde, im Jahre 1887 auf eine längere Zeit hinaus so fest zu knüpfen, daß diese drei starken Mächte sich dadurch verpflichtet haben, beim Angriff auf eine von ihnen den Kriegsfall für alle drei als gegeben zu erachten. Wie fern der hierdurch im Herzen Europas geschaffenen gewaltigen Friedensliga die ihr von russisch-französischer Seite verleumderisch zugeschriebenen Angriffsgelüste liegen, bewies die am 3. Februar 1888 gleichzeitig in Berlin, Wien und Pest erfolgte und in ganz Europa, namentlich aber in Rußland großes Aufsehen erregende amtliche Veröffentlichung des das Datum des 7. Oktober 1879 tragenden, grundlegenden Bündnißvertrages zwischen Deutschland und Oesterreich-Ungarn. Im Eingange desselben versprechen die beiden Monarchen „einander feierlich, daß sie ihrem rein defensiven Abkommen eine aggressive Tendenz nach keiner Richtung jemals beilegen wollen.“
Das aus diesem „Bunde des Friedens und der gegenseitigen Vertheidigung“ entspringende Gefühl der Sicherheit, aber auch der festen Entschlossenheit angesichts der drohenden Weltlage spiegelte sich in der Sprache wieder, mit welcher der Deutsche Reichstag am 24. November 1887 im Auftrage des Kaisers eröffnet wurde: „Das Deutsche Reich hat keine aggressiven Tendenzen und keine Bedürfnisse, die durch siegreiche Kriege befriedigt werden könnten. Die unchristliche Neigung zu Ueberfällen benachbarter Völker ist dem deutschen Charakter fremd, und die Verfassung sowohl wie die Heereseinrichtungen sind nicht darauf berechnet, den Frieden unserer Nachbarn durch willkürliche Angriffe zu stören. Aber in der Abwehr solcher und in der Vertheidigung unserer Unabhängigkeit sind wir stark und wollen wir mit Gottes Hilfe so stark werden, daß wir jeder Gefahr entgegensehen können.“
Von demselben Willen wie die Regierung des Kaisers zeigte sich in der Folge auch der Deutsche Reichstag beseelt, als er nach der großartigen Rede des Fürsten Bismarck in der denkwürdigen Sitzung vom 6. Februar 1888 einmüthig und ohne jede weitere Verhandlung die neue Wehrvorlage genehmigte. Durch diesen von größtem Patriotismus zeugenden Beschluß der deutschen Volksvertretung wurden gleichzeitig die durch Ausführung dieses Gesetzes erwachsenden Kosten in Höhe von 280 Millionen bewilligt, ohne mit der Wimper zu zucken. Die Wehrhaftigkeit der deutschen Nation wurde durch diesen historisch unvergeßlichen Akt auf die denkbar höchste Stufe erhoben.
Den Propheten von der Seine und Newa, welche in Hoffnung einer französisch-russischen Allianz den Zusammenbruch des Deutschen Reiches für nicht gar zu ferne Zeit weissagen, kann daher das deutsche Volk ohne Ueberhebung, aber im Bewußtsein seines guten Gewissens, seines Rechts und seiner durch treue Bundesgenossen verdoppelten Stärke zurufen:
Und schürt ihr fort in Ost und West,
Und züngeln auf des Hasses Flammen:
Schließt sich vom Rhein zur Donau fest
Des Deutschthums Riesenwall zusammen.
Wir zagen nicht vor eurer Wuth –
Stürmt an, ihr wilden Völkerwogen!
Machtlos am Fels zerschellt die Fluth –
Und der Prophet, er hat gelogen!
Es erübrigt noch, aus den letzten beiden Jahrzehnten die mehr persönlichen Erlebnisse des Kaisers Wilhelm, sofern sie nicht schon im Zusammenhang mit der vorstehenden Darstellung erwähnt wurden, kurz vor unserem Auge vorüberziehen zu lassen.
Der 10. März 1876 brachte den hundertjährigen Geburtstag der deutschen Frau und Königin, welche die ersten Keime nationalen Fühlens und Denkens in das Kindesherz ihres Sohnes, des späteren Kaisers pflanzte. Vier Jahre darauf, am 10. März 1880, trug der im Sinne der Mutter zur höchsten Vollendung in seinem Herrscherberuf gestiegene Sohn durch Errichtung des schönen Marmordenkmals der Königin Luise im Thiergarten, nahe dem entsprechenden Denkmal Friedrich Wilhelms III., seine Dankesschuld erneuert ab.
Am 9. Februar 1877 hatte er die Genugthuung, seinen ältesten Enkel im Mannesstamm, den Prinzen Wilhelm, der am 27. Januar, seinem achtzehnten Geburtstage, großjährig geworden war, persönlich in das 1. Garderegiment zur Dienstausbildung einführen zu können. Mit den schlichten Worten: „Nun gehe und thue Deine Schuldigkeit, wie sie Dir gelehrt werden wird. Gott sei mit dir!“ - entließ der Monarch seinen Enkel.
Bei Gelegenheit seines achtzigsten Geburtstages, 22. März 1877, wurde Kaiser Wilhelm seitens der deutschen Fürsten in sinnigster Weise durch Überreichung der von Anton von Werner gemalten Darstellung der Kaiserproklamation in Versailles überrascht. Ende April 1877 wohnte er der Feier des fünfundzwanzigjährigen Regierungsjubiläums seines Schwiegersohnes, des Großherzogs von Baden, bei.
Wie mit seiner Tochter, der Großherzogin Luise, so verbanden den Kaiser stets die innigsten Beziehungen auch mit dem kronprinzlichen Hause. Kein schöneres Bild herzlichsten Familienlebens konnte es geben, als wenn die kronprinzlichen Eltern mit der Enkelschar im Palais erschienen, dem kaiserlichen Vater und Großvater zum Geburtstage oder einem der zahlreichen Jubelfeste, welche dem Kaiser beschieden waren, Glück zu wünschen und seinen Tisch mit Blumen und Geschenken zu schmücken. Andererseits ließ es sich der Kaiser nie nehmen, den Seinigen, wie auch den Personen des Hofstaates, am Weihnachtsheiligenabend unter dem Christbaum, der im königlichen Palast so wenig wie im deutschen Bürgerhause fehlen durfte, die eingekauften Geschenke persönlich zu bescheren. Wie großer Schmerz ihn daher erfüllte, als aus der Schar seiner Enkel am 27. März 1879 ein hoffnungsvoller Sproß, der dritte Sohn des kronprinzlichen Paares, Prinz Waldemar, durch den Tod geraubt wurde, läßt sich ermessen.
Ein für viele herbe Stunden entschädigendes seltenes Familienfest sollte dem Kaiserpaare noch im Frühling desselben Jahres zu Theil werden: die Feier der goldenen Hochzeit am 11. Juni 1879.
[267] Fürwahr, höchste Gunst war dem Kaiser und seiner Gemahlin in fünfzigjähriger Ehe zu Theil geworden, auf dem Thron wie in der Familie. In der letzteren stieg dieselbe aber noch höher, als des Kaisers ältester Enkel, Prinz Wilhelm von Preußen, sich am 27. Februar 1881 mit Prinzessin Auguste Viktoria, der anmuthigen und liebenswürdigen Tochter des verstorbenen Herzogs Friedrich zu Schleswig-Holstein, des einstigen Thronprätendenten dieser Herzogtümer, vermählte und diesem Bunde im Verlauf der folgenden Jahre eine Schar blühender Kinder entsproß, so daß Wilhelm I. schon am 6. Mai 1882 den ältesten Urenkel des direkten Mannesstammes, den nach seinem Urgroßvater genannten jüngsten Prinzen Wilhelm, in die Arme schließen konnte.
In die Reihe schöner Familienfeste schob sich am 2. oder vielmehr, da der Kaiser aus Pietät für seinen verstorbenen Bruder diesen Tag nicht feiern wollte, am 3. Januar 1886 das fünfundzwanzigjährige Regierungsjubiläum Wilhelms I. als König von Preußen, welches jedoch schon deshalb gerade hier von uns mit genannt wird, weil es sich im Grunde auch als ein „Familienfest“ erwies, nur daß an die Stelle der engeren Familie diesmal das ganze Volk trat, welches den ehrwürdigen Herrscher wie einen Vater liebte und verehrte.
Zahlreiche deutsche Fürstlichkeiten waren wiederum zur Theilnahme an der Feier erschienen, welche wesentlich einen kirchlichen Charakter trug. Nach dem Tedeum fand große Kour im Weißen Saale des königlichen Schlosses statt. Ergreifend und erhebend war der Augenblick, als an der Spitze des diplomatischen Korps Fürst Bismarck herantrat, um gleich den übrigen Würdenträgern seinem kaiserlichen Herrn die ehrfurchtsvollsten Glückwünsche darzubringen.
Im Jahre vorher, am 1. April 1885, war die Reihe des Glückwünschens am Kaiser gewesen. Zum siebzigsten Geburtstage seines Kanzlers war er persönlich an der Spitze sämmtlicher Glieder des Kaiserhause erschienen und hatte als gemeinsames Geschenk des letzteren dem Fürsten eine Wiederholung der bildlichen Darstellung der Kaiserproklamation von Anton v. Werners Hand in köstlicher Umrahmung gewidmet. Es galt ja, den Minister zu ehren, welchem der Kaiser auf ein wiederholtes Abschiedsgesuch einst erklärt hatte, sich „niemals“ von ihm trennen zu wollen.
Als nun heute dieser Mann an den Thron herantrat, streckte der Kaiser dem Fürsten die Hand entgegen; letzterer beugte sich nieder, um die Hand des greisen Monarchen zu küssen. Da aber breitete Kaiser Wilhelm bewegt die Arme aus, zog den Reichkanzler an seine Brust und küßte ihn auf die Wange.
Keiner von allen Treuen hatte den Dank seines Kaisers und Königs aber auch mehr verdient als Bismarck. Seit einem Vierteljahrhundert ungefähr hatte er sich schon dem Dienste des Königs und Staates geweiht, die nicht zum geringsten Theil seinem genialen Rath und seiner staatsmännischen Leitung die Höhe verdankten, aus welcher beide zur Zeit standen.
Niemand wußte das besser als Wilhelm I. selbst. Viele sprechende Belege sind uns hierfür aufbewahrt; als sprechendster unserer Ansicht nach aber folgender. Bei der Enthüllung des herrlichen Denkmals der neu errungenen Größe des Reiches auf dem Niederwalde hatte Fürst Bismarck gefehlt. Ob er auch diesmal seines Gesundheitszustandes wegen fern blieb? Ob er seinem kaiserlichen Herrn allein die Ehren des Tages überlassen wollte? Wir wissen es nicht. Das aber wissen wir, daß der Kaiser dem Reichskanzler zum nächsten Weihnachtsfeste nach der Enthüllung einen vortrefflichen Bronzeabguß des Niederwalddenkmals schenkte, welches nachmals im Rauchzimmer zu Friedrichsruh Ausstellung fand, und diese Gabe mit folgenden eigenhändig niedergeschriebenen Worten begleitete:
„Zu Weihnacht 1883. Der Schlußstein Ihrer Politik; eine Feier die hauptsächlich Ihnen galt und der Sie leider nicht beiwohnen konnten.“
Wenn es noch eines Zeugnisses für die edle Charaktergröße Kaiser Wilhelms, noch eines Beweises für die Natur des in der Geschichte nicht wiederkehrenden Verhältnisses zwischen Herrscher und Minister bedurfte, so ist derselbe in diesen einfach rührenden, das Verdienst für alle Errungenschaften bescheiden dem anderen Theile zuweisenden Worten gegeben!
Allgemach, mit den immer höher vorschreitenden Jahren wurde es einsam um den Monarchen. Dahingegangen waren die meisten der berühmten Feldherren und Männer, die ihm bei den großen Ereignissen während seiner Regierungszeit helfend zur Seite gestanden. Und nun sollte nach Anzeichen, welche schon während des Winters zu 1887 mahnend auftraten und im Laufe des Jahres immer ernstere Gestalt annahmen, selbst das Leben des einzigen herrlichen Sohnes, des damaligen Kronprinzen, des Siegers von Königgrätz und Wörth, der als zweiter Kaiser des neuen Reichs das Werk des Vaters schützen und bewahren und immer vollkommener ausgestalten sollte – durch ein schleichendes Leiden bedroht sein!
Dieser Kummer bedrückte das Herz des Kaisers, der gleich seinem heldenmüthigen Sohne seine Hoffnung in erster Linie auf die rettende Hand einer höheren Macht setzte, deren Eingreifen von ihnen schon so oft im Leben des Kaisers erkannt worden war. Kein Wunder, wenn das Befinden des greisen Herrschers unter den Einwirkungen der Gemüthserregung den kleinen Leiden des Alters, welche schon in den letzten Jahren immer häufiger auftraten, zugänglicher als sonst wurde. Dazu kam, daß der Kaiser in seiner unentwegten Pflichttreue, trotz aller Einsprache seiner Umgebung, noch während seines letzten Lebensjahres stets darauf bestand, bei großen Staatsakten thunlichst auch die ganzen Lasten der ihm als Staatsoberhaupt obliegenden Repräsentation auf sich zu nehmen.
So setzte er sich z. B. noch bei der mit der Einweihung des Nord-Ostseekanals verbundenen Flottenschau in Kiel am 3. Juni 1887 [268] den Einflüssen einer stürmischen Seefahrt aus. Eine Erkältung und Erkrankung waren Folge davon, welche jedoch, dank der glücklichen Natur unseres Kaisers, noch einmal durch die alljährlich üblichen Badereisen nach Ems und Gastein beseitigt wurde, an welchem letzteren Orte auch diesmal, wie gewöhnlich, und zwar am 6. August, eine Zusammenkunft – die letzte! – mit seinem Freunde und Bundesgenossen, dem Kaiser Franz Joseph, stattfand.
Als Kaiser Wilhelm vor seiner Abreise nach Ems zum ersten Male nach der Erkrankung mittags beim Aufziehen der Schloßwache wieder an dem Eckfenster seines Arbeitszimmers erschien, wurde ihm von der täglich des Anblickes harrenden Menge eine jener stürmischen Huldigungen der Volksliebe zu theil, die trotz regelmäßiger Wiederkehr bei ähnlichen Anlässen auf jeden, der einmal Zeuge derselben gewesen, einen unauslöschlichen Eindruck machte.
Vor dieser Erkrankung hatte der neunzigste Geburtstag des Kaisers am 22. März 1887 – der letzte, welchen zu begehen ihm beschieden war! – den Höhepunkt des unmittelbaren Ausbruchs der allgemeinsten Volkssympathien gesehen. Die Vorgänge dieses unvergeßlichen, von der ganzen civilisierten Welt mitgefeierten Tages, an welchem nicht weniger als fünfundachtzig Mitglieder souveräner Häuser Wilhelm I. umgaben und er auch noch die Freude hatte, die Verlobung des Prinzen Heinrich mit der Prinzessin Irene von Hessen zu verkündigen, leben noch im Gedächtniß aller Leser.
Und was das Tröstlichste und Erhebendste bei dem Volksdanke war, welcher dem Kaiser an seinem 90. Geburtstage zu theil wurde: alle Stämme, Stände und Parteien wetteiferten – ohne Rücksicht aus die heftigen politischen Kämpfe, welche sie noch soeben wegen der Militärvorlage und des wieder zu bewilligenden Septennats in zwei Lager getheilt hatten – unter einander in der Wärme, mit welcher sie dem geliebten Kaiser ihre Gefühle kundgaben. Hier, am Kaiserthron war die Einigkeit der Nation wieder voll und ganz hergestellt – eine Einigkeit, in welcher auch dem feindlichen Auslande gegenüber stets die sicherste Bürgschaft für die Zukunft des Deutschen Reiches gegeben sein wird!
Kaiser Wilhelm aber sprach seinem Volke, „tief ergriffen von solcher durch alle Schichten der Bevölkerung gehenden Bewegung“, in einem Erlaß vom 23. März seine „innigste Dankbarkeit für alle diese patriotischen Kundgebungen“ in den ergreifenden Worten aus: „Es giebt wahrlich für mich kein größeres Glück, kein erhebenderes Bewußtsein, als zu wissen, daß in solcher Weise die Herzen meines Volkes mir entgegenschlagen. Möge mir diese Treue und Anhänglichkeit als ein theures Gut, welches die letzten Jahre meines Lebens hell erleuchtet, erhalten bleiben! Mein Sinnen und Denken aber soll wie bisher, so auch ferner für die Zeit, welche mir zu wirken noch beschieden sein wird, darauf gerichtet sein, die Wohlfahrt und Sicherheit meines Volkes zu heben und zu fördern.“
Eine der letzten öffentlichen Kundgebungen Kaiser Wilhelms über seine hohe Auffassung des ihm zugefallenen Herrscherberufs und über die innigen Beziehungen, welche zwischen ihm und seinem Volke bestanden, ist die schöne, uns heute doppelt ergreifende Erwiderung, welche er unter dem 4. Januar 1888 dem Glückwunschschreiben des Berliner Magistrats zu theil werden ließ. Es heißt darin:
„Nicht oft genug aber kann ich Gottes Gnade dankend rühmen, welche Mir in der Erhaltung Meiner Kräfte zugleich den Willen der Vorsehung kundgiebt, auch noch in Meinem hohen Alter Meines fürstlichen Amts zu walten. In der Erfüllung dieser Mir obliegenden Pflicht liegt die höchste Befriedigung Meines Lebens. Gestützt auf festes Gottvertrauen, gehört Mein ganzes Streben, Meine unablässige Sorge allein dem Wohle Meines geliebten Volkes. Ich gebe Mich vertrauensvoll der Hoffnung hin, daß unter dem Schutze dauernden Friedens, welchen Gott unserem Vaterlande erhalten wolle, infolge der auf wirthschaftlichem und sozialem Gebiete getroffenen gesetzlichen Maßnahmen die Wohlfahrt der Nation sich ferner kräftig entwickeln und daß durch eine billig angemessene Vermittelung der in den gesellschaftlichen Klassen bestehenden Verschiedenheiten eine ausgleichende Zufriedenheit gefördert werde.“
Lesen sich diese Sätze nicht wie ein wehmüthiger und doch von vollem Vertrauen für die Zukunft seines Reiches und von harmonischer innerer Befriedigung getragener Scheidegruß des Kaisers an sein Volk?
Welcher Herrscher aber auch hätte mehr Ursache gehabt, als Kaiser Wilhelm, am Ende seiner Regentenlaufbahn mit beglückender Befriedigung auf die Summe des von ihm erreichten zurückzuschauen und mit beruhigtem Ausblick auf das nach ihm Kommende sein Haupt zur letzten Ruhe zu legen!
Der rasche Verlauf der letzten Krankheit des geliebten Kaisers, die bange Sorge um sein Leben, welche ganz Deutschland ergriff, als man erfuhr, daß dasselbe in Gefahr schwebe, und die tiefe Erschütterung, als die Nachricht von seinem Tode durch die Welt flog, sind in der frischen schmerzlichen Erinnerung aller [269] Dieser Schmerz wird noch lange nachzittern im Herzen des deutschen Volkes.
Aber auch der Segen, welchen Kaiser Wilhelm seinem Volke hinterlassen, wird auf ihm ruhen bleiben, und im Geiste des Hingeschiedenen wird es unverzagt und in ruhiger Pflichterfüllung weiter arbeiten an seiner Entwicklung. Ein würdiger Nachfolger, Kaiser Friedrich, zu welchem das deutsche Volk mit Liebe aufblickt, hat den deutschen Kaiserthron bestiegen und wird das Werk seines großen Vaters mit dem Aufgebot aller seiner Kräfte fortsetzen.
Vertrauensvoll darf das deutsche Volk der Zukunft entgegensehen: der Friede mit seinen unschätzbaren Gütern erscheint auf lange Zeit hinaus gesichert durch den in Europa maßgebenden Einfluß der weisen auswärtigen deutschen Staatskunst und eine Entwickelung der deutschen Wehrkraft, die ohnegleichen dasteht, so daß die Machtstellung unserer Nation zur Zeit des Hinscheidens Kaiser Wilhelms nicht besser gekennzeichnet werden kann als durch das markige Wort des Reichskanzlers in seiner gewaltigen Rede vom 6. Februar 1888: „Wir Deutsche fürchten Gott, sonst niemand auf dieser Welt!“
- ↑ Wir entnehmen die nachstehenden Schilderungen der demnächst im Verlage von Ernst Keil’s Nachfolger erscheinenden ausführlichen Lebensbeschreibung „Kaiser Wilhelm I. Ein Gedenkbuch für das deutsche Volk. Von Ernst Scherenberg“ und empfehlen dieses vorzügliche und wahre Volksbuch, welches durch seinen billigen Preis von einer Mark, geschmackvoll gebunden, jedermann zugänglich ist, unseren Lesern aufs wärmste. Die Redaktion.