Zum Inhalt springen

Aus den letzten Tagen einer Vielgenannten

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Emma Laddey
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Aus den letzten Tagen einer Vielgenannten
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 8, S. 126–128
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1872
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite
[126]
Aus den letzten Tagen einer Vielgenannten.


Nach den persönlichen Mittheilungen Hermann Hendrichs’ erzählt von E. Laddey.


In der Bockenheimer Gasse der schönen Stadt Frankfurt am Main stand in den dreißiger Jahren ein kleines, altes Haus; wenn man die winklige Treppe desselben hinaufstieg, gelangte man zu einer kleinen seltsamen Wohnung, in welcher eine noch seltsamere Frau ihre letzten Lebenstage verlebte; von ihr wollen wir hier erzählen.

Es gab eine Zeit, da waren die eisgrauen Locken dieser Frau glänzend schwarz, da blitzten diese matten, kranken Augen in Feuer und Lebenslust und da entströmte den rothen lebensfrischen Lippen das übermüthige originelle „Lied eines Schwabenmädchens“, das unsern volksthümlichsten Dichter zum dritten, zum unglücklichsten Ehebunde lockte. Wer konnte es jetzt wohl noch dieser alten Frau mit dem phantastischen Kopfputz und dem Schlafrock von türkischem Kattun ansehen, daß sie die Macht besessen, das Bild einer Molly, wenn auch nur für kurze Zeit, aus dem Herzen ihres Dichters zu verbannen und seiner Leier neue Töne zu entlocken? Und doch war es so, die alte Dame in dem winkligen Erkerstübchen war Niemand anders, als die einst hochgefeierte und dann oft lieblos und ungerecht geschmähte Elise Hahn, Bürger’s letzte Gattin.

Jahre, lange Jahre waren über den wonnigen Traum von Glück und Liebe, über die Schmerzen und Enttäuschungen der kurzen, unseligen Ehe dahingerauscht, Bürger’s Feuergeist hatte längst Ruhe unter der kühlen Rasendecke gefunden, jetzt war er mit seiner Molly vereint; denn ewig verbunden tönen die Namen Bürger und Molly durch die Welt, während Dora und Elise nur die dürren Zweige an dem stolzen Liebesbaume sind. – Arme Dora! dich beklagt man und bewundert dich, dein langes Martyrium hat dein Andenken geweiht! – Aermere Elise! dir kann es die Welt nicht vergeben, daß Molly’s Dichter ihrem Grabe um deinetwillen untreu werden konnte! Geschmäht, verlästert und verdächtigt floß dein unruhvolles Leben dahin und weder die Poesie, noch die leichtverrauschenden Triumphe, die du als Bühnenkünstlerin und Declamatrice einerntetest, konnten dir Ersatz gewähren für ein zerstörtes Dasein, für ein unwiederbringlich verlorenes Ideal!

Derartige Gedanken mochten wohl in der Seele der alten Frau in der Bockenheimer Gasse wogen, denn wie verloren von der Gegenwart saß sie auf dem alten Kanapee, den Kopf tief auf die Hand gesenkt. Schmerzlich zuckte es manchmal in den faltigen Zügen auf, höhnisch und bitter zog sich der Mund zusammen und mancher Seufzer entwand sich der erinnerungsschweren Brust. Plötzlich stand sie auf und schritt hastig und erregt im kleinen Stübchen umher, grollend betrachtete sie ihre ärmliche Umgebung; da hingen Bilder bekannter Dichter und Schauspieler in blind gewordenen Goldleisten, geschmückt mit verdorrten Lorbeerkränzen, mit verblaßten Schleifen. Wohin war die Zeit, da man sie ihr huldigend geweiht? –

„Lorbeer und Elend,“ flüsterte Elise bitter lächelnd, „ihr gehört zueinander! Verdorrt, wie die Kränze da, sind Ruhm und Ehre, Glück und Liebe! Die alte Komödiantin ist von der Weltbühne abgethan! – Alte Leute aber wollen auch leben, sie können nicht lernen, ihren Hunger zu bezwingen, sie brauchen Holz, ihre armen Glieder zu erwärmen! – Ich bin wieder einmal am Ende, ganz am Ende!“ sagte sie nach einer langen Pause ruhiger. „Habe ich nichts, gar nichts mehr, dessen ich mich entäußern könnte?“ Ihr Auge überflog ihre Habseligkeiten – werthloser Flitter, theatralischer Aufputz war Alles, was ihr geblieben war.

Da trafen ihre Augen ein altes Buch in Albumform, unwillkürlich blieben sie länger darauf haften. „Wenn ich mich entschließen [127] könnte!“ flüsterte sie und nahm die alten Blätter zur Hand. Sie mußte das Buch dicht vor die Augen halten, um die Schriftzüge darin entziffern zu können, aber diese schienen eine magische Gewalt auf die alte Frau auszuüben; die sorgenvolle Stirn glättete sich immer mehr, je weiter sie las, das finstere Antlitz ward friedlich und ruhig.

Schiller, Goethe, Jean Paul!“ sprach sie begeistert und drückte einen Kuß auf die gelben Blätter, „nein, nein, von solchen Schätzen trenne ich mich nicht! – Sind doch die Grüße dieser Edlen das Einzige, was mir aus einer schönen Zeit, aus einer reichen Vergangenheit, aus einem Leben, das wirklich ein Leben war, geblieben ist!“

Nun lag es wieder da, jenes Gedenkbuch, in das so manche Dichtergröße jener Zeit der originellen Declamatrice einen Gedenkspruch, ein kleines Lied geschrieben hatte, ein kostbarer Schatz für einen Handschriftensammler. Keine Noth, keine Entbehrung hatte die alte Frau vermocht, sich dieses Schatzes zu entäußern. Und war es nicht, als wollte der Himmel solches Thun belohnen? Im selben Augenblick öffnete eine alte Dienerin die Thür und rief: „Na, Frau Professorin, da bring’ ich endlich einmal wieder einen fünffach gesiegelten Brief, nun können wir Vorrath für den Winter einkaufen!“

Mit zitternden Händen öffnete Elise das Schreiben und rief stolz und froh: „Die Götter verlassen mich nicht! Da, Dörthe, da ist Gold, Gold von der Kaiserin von Oesterreich!“

Die erstaunte Dienerin schlug die Hände vor Verwunderung zusammen; ihre Herrin wuchs urplötzlich vor ihren Augen, da sogar eine Kaiserin ihrer gedachte. „Wie kann nur so eine Majestät wissen, daß wir g’rad’ jetzt so nöthig Geld brauchen?“ fragte Dörthe.

Elise lachte. „Es ist die Antwort auf mein Glückwunschgedicht, das ich ihr zuschickte,“ sagte sie. „Da sieh’, zehn blanke, herrliche Ducaten!“

„Für ein Gedicht! Ach, du meine Güte, Frau Professorin, wenn uns das doch öfter passirte! – Ja, was ich sagen wollte, da ist mir eingefallen, die Majorin von Breitbach hat Zwillinge bekommen, das wär’ so ein Ereigniß, wenn Sie da –“

„Schweig’,“ rief Elise, „an einem Tage, wo eine Kaiserin meiner gedenkt, mache ich nicht die Bänkelsängerin!“ –

Das kaiserliche Geld war bald genug wieder in Nichts zerronnen. Kein Wunder, die Frau Professorin hatte gar Manches damit zu bezahlen und anzuschaffen, und dann gab’s im Nebenhause eine kranke Nachbarin, die so lange schon keinen warmen Ofen, kein ordentliches Stück Fleisch gehabt hatte – der mußte nothwendig beigestanden werden. Wie auch Dörthe brummen und murren wollte: wo Elisens gutes Herz sprach, war jede Einrede nutzlos.

Ganz und gar ärgerlich ward die alte, treue Person, als die Herrin, die doch um Gotteswillen froh sein sollte, endlich einmal ein paar Groschen in der Hand zu haben, nun auch noch Geld in einen Brief schloß und Dörthe den Auftrag gab, ihn auf die Post zu bringen.

„An wen ist denn das Schreiben da?“ sagte die alte Dienerin fast weinend.

„An ihn!“ entgegnete Elise, „an Bürger’s Sohn! Schüttle nicht den Kopf, Dörthe, starre mich nicht so an, gönne mir das süße Gefühl solcher Rache; sie haben ihn mich verachten gelehrt, diese Verachtung soll ihn bitter reuen. Zu beklagen war ich, zu verachten nie! Geh’, Dörthe, geh’, der arme Mensch braucht’s, es geht ihm elend, wie mir; nun, wir wollen desto sparsamer sein!“

Derartige kleine Scenen spielten sich oft zwischen Herrin und Dienerin ab, denn bis an ihren Tod lernte Elise nicht, der nüchternen Vernunft gehorsam auf ihr höchstes Glück, wohlzuthun und mitzutheilen, zu verzichten.

Die alternde Dichterin suchte und fand nun auch allerlei Hülfsquellen; da bestellte man bei ihr Polterabendscherze und Gelegenheitsgedichte aller Gattung, die sie mit Geschick und wunderbarer Geläufigkeit zu verfertigen wußte. Ja, Elise verstand es, manchmal diesen Versen ein hohes Pathos, eine echt klingende Begeisterung zu verleihen, so daß sich der geachtete Geheimrath B. nicht entblödete, ihre Gedichte bei festlichen Gelegenheiten für die seinigen auszugeben und das Lob dafür einzuernten. Für die vergessene Frau in der Bockenheimer Gasse konnte das ja nur eine Ehre sein, und bezahlt wurde sie doch auch immer.

Außer der Einnahme von solchen Dichtungen war es hauptsächlich dramatischer Unterricht, durch den sich Elise erhielt. Zu jener Zeit gab es weder Theaterschulen, noch Künstler, die aus solchem Unterricht einen förmlichen Erwerb machten. Der einzige dramatische Lehrer Frankfurts, der tüchtige Schauspieler Rottmeyer, ließ sich seinen Unterricht mit einem Kronenthaler bezahlen, und wie viele von Thaliens Jüngern konnten so viel wohl erschwingen!

Die Frau Professorin war bescheidener; für fünfzig Kreuzer die Stunde übte sie den angehenden Posas und Ferdinands, den Ebolis und Louisen gewissenhaft ihre Rollen ein.

Es ist bekannt, daß Elise sich mit wenig Glück der Bühnencarrière gewidmet hatte. Sie trat bald von dieser zurück, zog als Declamatrice in Deutschland umher und errang hauptsächlich in den durch die Händel-Schütz aufgebrachten mimisch-plastischen Darstellungen große Erfolge. Aber wie die meisten Künstlernaturen dachte sie in den Zeiten der Ernte nicht an des Lebens Wintertage, und auf solche Weise sah sie sich zuletzt mit kleinlichen Sorgen beladen, die jedoch nie im Stande waren, ihren elastischen Geist zu Boden zu drücken. Bei dem geringsten freudigen Anlaß wallte ihr leichtes Blut, ihre alte Lebhaftigkeit wieder auf, und wenn auch der Körper dem Zahne der Zeit nicht Widerstand leisten konnte, der Geist erhielt sich in frischer Jugendkraft. Selbst von ihren Eigenthümlichkeiten konnte die alte Frau nicht lassen; wie sie es stets geliebt hatte, sich mit phantastischem Schmucke zu beladen, so zog sie noch jetzt die verblaßtesten, altmodischsten Kleider, wenn sie von Seide waren, einem schlichten Gewande vor; das Theatralische behielt eben immer die Oberhand bei ihr.

So wurde ihr einstmals Herr von W., ein alter Bekannter aus ihrer Hamburger Zeit, gemeldet. Schnell schlüpfte sie erst in ihr kleines Schlafkämmerlein, um sich mit dem schönsten Staatskleide und großen silbernen Haarnadeln zu schmücken. Dann erst trat sie dem Freunde mit jugendlicher Lebhaftigkeit entgegen; leider vermochte sie die einst so theuren Züge nicht mehr ganz zu erkennen, denn das Licht des Auges ward von Tag zu Tag matter bei der armen Einsamen.

Nachdem die Beiden einige Zeit miteinander geplaudert und sich vergangener Tage so gern erinnert, rief Elise ganz plötzlich: „Ich glaube gar, Sie tragen eine Perrücke!“

„Seit lange schon, liebe Professorin,“ seufzte Herr v. W.

Elise lachte, ließ stolz ihre grauen Locken durch ihre Finger gleiten und sagte: „Hergeschaut! ich habe noch echtes Haar; sehen Sie, man hält sich besser!“

„Kein Wunder, bei Ihrem Temperament conservirt man sich. Elise, Sie müssen sehr schön gewesen sein!“

„Nein, lieber Freund, es wäre unrecht, wenn ich mit Gretchen declamiren wollte: ‚Schön war ich auch, und das war mein Verderben!‘ Schönheit hat mich nie beschwert; aber ich hatte einen guten Wuchs, eine schlanke Taille, blitzende Augen und schwarzes Leonoren-Rabenhaar. Im Uebrigen hat sich mein Aussehen nicht über das Niveau des Mittelmäßigen erhoben.“

„Verzeihen Sie! diese Worte muß ich Ihrer Bescheidenheit zuschreiben. Ein Weib, das Molly vergessen machen konnte, muß ein ideales Weib gewesen sein!“

„Ach, schweigen Sie mir davon, ich bitte! Bürger hat seine Molly meinetwegen nie vergessen: Eitelkeit, Caprice, Langeweile waren es, die ihn durch jenes unselige Gedicht zu mir zogen und mich aus einem glücklich angelegten Geschöpf ein verzweifelndes, nach Betäubung suchendes Wesen werden ließen!“

„Ja, man bietet sich auch nicht ungestraft einem berühmten Dichter in verlockenden Versen zum Ehebunde an,“ versuchte Herr v. W. zu scherzen.

„Die Welt lügt, es ist nicht wahr, ich habe mich ihm nicht zur Ehe angetragen!“ rief Elise empört und leidenschaftlich. „Das Gedicht war der Ausfluß einer tollen Laune, nichts weiter. Wir saßen froh beieinander, junge Mädchen und Männer, in Stuttgart war’s, wir spielten Pfänderspiele; da gab man mir die Aufgabe, mein Pfand mit einer Antwort an Bürger, der gerade durch einen scherzhaften Aufruf die Mädchen gebeten hatte, sich seiner Wittwerschaft zu erbarmen, auszulösen. Man kannte meine Schwärmerei für den Dichter und sein tragisches Geschick. Ich war ein überspanntes Ding, außerdem übermüthig über die Maßen. Durch jene Zeilen stachelte ich zugleich die Eifersucht meiner jungen Verehrer an; stolz gab ich ihnen das schnell entstandene Gedicht, lachend mein Pfand zurücknehmend. Ohne mein [128] Wissen sind dann die Verse gedruckt erschienen; sie wurden für mich eine Quelle des Verdrusses mit meiner Familie. Bürger nahm Interesse an der Verfasserin, meine Eitelkeit jubelte, meine Einbildung erhitzte sich, die sogenannten guten Freunde kamen dazu, und ich ward in ein Verhältniß zu dem unbekannten Manne förmlich hineingesteigert und brannte danach, ihn kennen zu lernen! – Ach, schon beim ersten Anblick war meine Liebesgluth gestillt; ich kann es nicht beschreiben, wie seltsam, wie eiskalt mich sein Wesen berührte. Wie hatte ich ihn mir so anders, so ganz anders gedacht! Wie falsch hatte meine Phantasie gemalt! O, hätte ich den Muth gehabt, ihm und der Welt meine Täuschung zu gestehen!“

„Und war diese Ehe niemals glücklich?“ fragte Herr v. W. theilnahmvoll.

„Doch, doch, im Anfange, so lange mein Mitgebrachtes vorhielt, war der Herr Professor leidlich mit mir. Aber er und ich verstanden nicht hauszuhalten, und als sich nun zu der Kälte, die wir Beide gegeneinander hegten, noch Sorgen zugesellten, da waren wir elend, o wie elend! – Nun, es währte nicht lange, Sie wissen es, wir waren vernünftig genug, solch unseliges Band zu trennen! – Das lammfromme Gemüth einer Dora war mir vom Schicksal versagt; sie konnte sogar der Lebenden vergeben, ich haßte die Todte noch in ihrem Grabe! Wäre ich geliebt, heiß und innig, wie Molly, ich wäre nie geworden, was ich bin; auch ich hätte leben, athmen und vergehen können in einer einzigen großen Liebe! Aber unverstanden und ungeliebt irrte ich flatternd durch’s Leben, fried- und ruhelos! – Doch wohin sind wir gerathen!? – Fort mit so ernsten Gesprächen, vorbei ist vorbei! Noch leben wir, noch lassen Sie uns fröhlich sein! – Plaudern wir von Hamburg, mein Freund, von lustigen Geschichten. Erzählen Sie mir, wie’s dort beim Theater ist; plaudern wir von Allem, nur nicht davon, daß wir die Thorheit begehen – vergangene Dinge zu bereuen!“ –

Wie sehr sich aber auch Elisens kraftvoller Geist gegen das Unglück bäumte, endlich ward es doch größer, als sie selbst zu ertragen vermochte, und eines Tages blickte die Sonne auf eine Trostlose, die ihre Strahlen nicht mehr sehen konnte!

Was war alles Leid, alle Qual des verflossenen Lebens gegen diesen furchtbaren Schlag, dessen Wucht das Schicksal der armen sechzigjährigen Frau zur Grabesnacht machte!

„Doctor, Doctor! ist keine Rettung mehr, soll ich die Welt, die falsche, schöne Welt niemals mehr sehen?“ jammerte Elise verzweifelt.

Dr. Schott, ihr alter treuer Arzt, untersuchte die glanzlosen Augen; dann sprach er zögernd: „Die Möglichkeit einer Operation ist wohl noch vorhanden, aber es bedürfte dazu eines Aufenthalts in der Augenklinik zu C., und wo sollen wir die Mittel zu einem solchen auftreiben?“

„Nach C. soll ich? – Doctor, das hat Ihnen Gott eingegeben. – In C. ist ja meine liebe Amalie N…, es geht ihr dort brillant, sie wird gefeiert und vom Publicum auf den Händen getragen. Mir, mir ganz allein, meinen unausgesetzten Bemühungen, meinen glänzenden Kritiken hat sie den Ruf einer großen Künstlerin zu verdanken; o, sie wird glücklich sein, mich bei sich aufnehmen zu können! Doctor, lieber Doctor, ich bin so gut wie gerettet!“

„Gebe der Himmel, daß diese Hoffnung nicht trüge,“ murmelte kopfschüttelnd Doctor Schott, aber die freudig Erregte überhörte den zweifelnden Ton.

„Geh’ hinüber zu meinem Schüler,“ gebot Elise ihrer Dienerin, „bitte ihn zu mir zu kommen, ihm will ich den Brief an Amalie dictiren.“

Jener Schüler aber, der Einzige, welcher der armen, blinden Lehrerin Liebe und Verehrung zollte, war Hermann Hendrichs, der damals am Frankfurter Stadttheater seine künstlerische Laufbahn, die so glänzend werden sollte, begann.

Er kam, schrieb den Brief, den die Blinde als Nothschrei an die Freundin sandte. O, wie bat Elise so beredt um Aufnahme in Amaliens Haus, wie versuchte sie ihr Herz zu rühren, war dieser Brief doch die letzte Karte, auf welche sie ihre Hoffnung setzte! Sie begann auszurechnen, bis wann die Antwort der Freundin eintreffen könne, die Frist bis dahin verbrachte sie in fieberhafter Erregung.

Sie mußte lange warten, die arme, alte Frau! Die Aufregung drohte sie zu verzehren und machte sie so schwach und kraftlos, daß sie am Ende laut- und klaglos in dem großen Armsessel verblieb und nur zum Leben zu erwachen schien, wenn ein Tritt auf der Treppe erschallte – ach, der ersehnte Brief mußte doch endlich, endlich kommen!

Und er kam! – Nun lag es in den zitternden Händen, das zierliche Schreiben mit den lieben Schriftzügen, die Elise nicht mehr sehen konnte, bebend drückten es die Finger an das klopfende Herz. Wieder sollte Hendrichs der Uebermittler dieser Nachricht sein, denn die alte Dienerin verstand nichts von der edeln Lesekunst und in martervoller Unruhe harrte Elise des Jünglings.

Endlich saß der Ersehnte ihr gegenüber, das blühend schöne Leben dem erlöschenden Abend, und mit der Lebhaftigkeit der Jugend löste Hendrichs schnell das Siegel und wollte zu lesen beginnen.

Da aber überfiel mit einem Male die arme, alte Frau eine zitternde Angst, wie eine böse Ahnung mahnte sie’s, den Inhalt des Schreibens lieber noch nicht zu vernehmen, und abwehrend streckte sie ihre Hände aus. „Noch nicht, noch nicht!“ rief sie angstvoll. „Wenn Amalie nein sagte, wenn der letzte Strohhalm zerreißen würde, nach dem der Ertrinkende hascht! – O Gott, mein Gott, wie elend bin ich!“ – Eine heiße Thränenfluth brach aus den blinden Augen; es war der letzte Ausbruch eines viel gemarterten Herzens!

„Jetzt lesen Sie,“ sprach sie nach einer Weile mit ruhiger Stimme, „ich glaube, jetzt kann ich Alles ertragen!“

Der Brief begann: „Mit unendlichem Bedauern, meine theure Freundin –“ – Nun, was sollen wir hier jene herzlosen Zeilen wiedergeben, in denen ein undankbares Gemüth „untröstlich war“, gerade jetzt zu einem Gastspiel reisen zu müssen, gerade jetzt der alten Freundin auch für die kürzeste Zeit kein Asyl bieten zu können, gerade jetzt auch nicht die Mittel zu einer Cur in der Klinik selbst anbieten zu können.

Genug von dieser Herzlosen! ihr Gewissen wird sie gerichtet haben! – Beim Anhören des Briefes ward Elise todtenbleich, auf die milden Trostworte Hendrichs’ hatte sie keine Erwiderung; in dem alten Sessel saß sie da, zurückgelehnt, stumm und lautlos, sichtbar nach Luft ringend.

„Mein Himmel, wie soll, wie kann ich hier helfen?“ rief der Jüngling verzweifelt.

„Gehen Sie – eilen Sie – der Arzt – o – ich sterbe, das letzte Lebensband ist zerrissen!“

In fliegender Hast stürzte Hendrichs fort; als er mit dem Doctor zurückkehrte – bedurften Elisens Augen keines irdischen Lichtstrahls mehr, hatte das unruhig gehende Herz endlich Ruhe gefunden! –

Elise Bürger ward still und prunklos an einem sonnigen Herbsttage des Jahres 1832 begraben, wenige Getreue gaben ihr das letzte Geleit.

Ihren einzigen Schatz, jenes herrliche Album, hatte sie Hermann Hendrichs versprochen; er hat es nie erhalten und sprach noch kurz vor seinem plötzlichen Tode bedauernd darüber. Es ist unbekannt, in wessen Besitz das kostbare Buch gekommen ist.

Des einsamen Grabes auf dem Frankfurter Friedhof wird selten wohl gedacht. Möchte es dieser kleinen Skizze gelingen, das Andenken Elise Bürger’s von den Schlacken zu befreien, die Engherzigkeit und Vorurtheil ihm angeheftet haben – dann ist ihr Zweck erfüllt.