Aus der schwäbischen Türkei

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Autor: Karl Braun-Wiesbaden
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Titel: Aus der schwäbischen Türkei
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aus: Die Gartenlaube, Heft 41-42, S. 668-672, 690-692
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[668] [670] Du doch nicht aussprechen können, oder wenigstens nicht ganz richtig; und der Ungar hat ein hoch entwickeltes Sprachgefühl; wenn ich in der Aussprache des Ungarischen einen Fehler mache, dann lacht mich der gemeine Mann aus, und der Vornehme unterläßt es niemals, mich in höflicher und schonender Weise zu belehren, indem er die betreffenden Worte mit einigem Nachdruck wiederholt, und zwar richtig.

Um also alle diese Schwierigkeiten zu vermeiden, übersetze ich das Wort gleich in das Deutsche. Es heißt Linden-Grund oder Linden-Bette, und zwar mit gutem Grund. Einer der früheren Besitzer, die einem glorreichen Grafengeschlecht angehörten, hat überall in der ganzen Herrschaft, in den Waldungen, in den Gründen und in den Schluchten, längs der Wege und Triften, einen Lieblingsbaum angepflanzt. Es ist eine edele, hohe, weitästige Linde mit eigenthümlichen großen Blättern, die auf der einen Seite eine dunkelgrüne und auf der andern eine silberne Farbe zeigen und, je nachdem die Blätter stehen oder hängen, und je nachdem der Wind sie bewegt, entweder diese oder jene Farbe zeigen, oder beide gleichzeitig in kaleidoskopischer Abwechselung uns vor die Augen führen. Es ist ein wahrer Hochgenuß für einen Unglücklichen, der das ganze Jahr durch verurtheilt ist, in dem Ruß und dem Schmutz einer großen Stadt zu leben, hier in dieser schönen Einsamkeit und in dieser frischen gleichmäßigen, windbewegten Luft unter dem wechselnden grünen und silbernen Glanze dieser Riesenbäume zu bummeln, mit nichts beschäftigt, als mit dem Studium einer Natur, welche allen Reiz der Wildniß und alle Wohlthaten der Kultur mit einander vereinigt.

Sogar der wandernde Zigeuner schien dies zu empfinden. Er ist in Ungarn zahlreicher als in andern europäischen Ländern. Denn der Ungar ist gutmüthig und weit entfernt, stets bei der ersten kleinen Unbequemlichkeit die Polizei zu Hilfe zu rufen. Er behandelt den Zigeuner besser, als wir, oder sagen wir lieber, um nicht zu viel zu sagen: weniger schlecht. Und auch beim Zigeuner finden wir dieselbe Erscheinung, wie bei den Thieren, welche in Gesellschaft der Menschen zu leben pflegen. Behandelt man sie gut, dann sind sie gut und vernünftig; behandelt man sie schlecht, dann sind sie dumm und boshaft. In Deutschland, wo der Zigeuner gehetzt und von einem Lande in das andere gejagt wird, pflegt er zu betrügen, zu stehlen und andere kulturfeindliche Künste zu treiben. In Ungarn macht er sich nützlich, – nach Kräften. Er ist das subsidiäre Geschöpf, das heißt: er übernimmt diejenigen Verrichtungen, welche die in besserer Lage befindlichen Menschen verschmähen. Er flickt die Hosen und Stiefel, welche die Andern, die deutschen oder die ungarischen Meister, gemacht haben. Er begleitet zu Fuß den Reiter, um das Pferd zu besorgen, und leistet alle möglichen untergeordneten Dienste. Den Kegeljungen spielt er mit Vergnügen, selbst wenn er längst über die Zeit der Jugend hinaus ist. Er macht, ohne jemals eine Note kennen gelernt zu haben, jene berauschende Musik, die seit einigen Jahren die Aufmerksamkeit von ganz Europa auf sich gelenkt, deren größte Virtuosen Rácz Pál und Berkes János waren, und deren Verständniß Franz Liszt auch dem verwöhnten und verbildeten westeuropäischen Ohre eröffnet.

Der Zigeuner führt aber nicht nur die Geige, sondern auch das Schnitzmesser. Er geht mit Löffeln und anderen nützlichen Instrumenten, die er aus Holz schnitzt, hausiren.

Hierher, nach der Herrschaft „Linden-Grund“, wälzte sich eines Tages eine Zigeuner-Karavane. Ihr Häuptling, den man mit dem polnischen Namen „Woiwode“ bezeichnet, begab sich direkt nach dem Herrschaftshaus, welches man auf Oesterreichisch das „G’schloß“ (Schloß) und auf Ungarisch das „Kastell“ zu nennen pflegt. Was wollen diese Stiefkinder des Glücks in dem vornehmen Landsitz der Herrschaft? Dies Mal nichts Schlimmes. Weder betteln noch stehlen, sondern nur für gutes ehrliches Geld ein paar dieser schönen großen Silberlinden erwerben. Man giebt ihnen einige ab. Nicht aus den prachtvollen Alleen, welche unversehrt bleiben müssen; denn sie bilden den Stolz und die Zierde der Herrschaft. Aber da unten in dem einsamen Grunde, welcher sich zwischen zwei jener wellenförmigen Hügelzüge, die der Gegend ihren Charakter geben, hinzieht, tritt man ihnen die Silberlinden ab. Da gründen die Zigeuner ihre Kolonien. Sie graben Löcher in die Erde und schlagen über jedem Loche ein Zelt auf. Das ist das Haus des Zigeuners. Er befindet sich so wohl darin, wie der Graf in seinem Kastell. Dann geht er an die Arbeit. Er fällt die prachtvollen Bäume, die er ehrlich bezahlt hat. Und dann schnitzt er alles Mögliche aus denselben. Am liebsten große Mulden für Bäcker und Fleischer. Aus dem kleinen Abgefälle werden dann große dreizackige hölzerne Heugabeln, welche leichter sind und besser packen als die schweren aus Eisen, oder Schaufeln, oder Rechen, oder Löffel und anderes Küchengeräth. Sind die erkauften Baumriesen in solche kleine Menschengeräthe verwandelt, dann zieht der Zigeunertrupp weiter, nachdem er seine Zelte abgebrochen und die Löcher, worüber er dieselben errichtet, wieder zugeworfen hat. Zuerst verschwinden die Bäume, und dann der Zigeuner. Wir wünschen dem Zigeuner alles Gute auf die Reise. Aber wir sind froh, wenn er nicht wieder kommt und wenn ihm die Herrschaft keine Silberlinden mehr opfert. Es ist ein schöner Weg von Szigetvár nach dem Kastell von Lindengrund, den wir in einem leichten Wagen, gezogen von raschen Pferden, in einer guten Stunde zurücklegen. Notabene: im Sommer, wo der Weg hart ist. Im Winter oder zur Regenzeit ist der Weg grundlos. Da braucht man vier Stunden statt eine. Der Weg führt vorüber an endlosen Feldern. Die Getreidefelder sind schon leer, nur hin und wieder ist man mit dem Einbringen des letzten Hafers beschäftigt. (In Ungarn habe ich die Beobachtung gemacht, daß der Magyar und der Deutsche mit der Sense mähen, der Slave und der Walache dagegen mit der Sichel arbeitet, indem er mit der linken Hand hält und mit der Rechten, die Sichel führend, schneidet.) Auf der andern Seite des Weges stehen endlose Mais- oder wie man hier sagt: „Kukurutz“-Felder. Sie sind üppig in die Höhe geschossen; der Stock zeigt den Ansatz zu zwei, drei oder gar noch mehr Kolben; aber damit die Kolben sich runden und füllen, bedarf es noch Regen, nach welchem alle Welt schreit. Ungarn ist das Land der unvermittelten Extreme, der seltsamen Gegensätze. Entweder hat es zu viel oder zu wenig. Das gilt auch vom Wetter und von dem Regen. Man kann diesem Wetter nicht trauen, wie unserem gemüthlichen, langsamen, soliden, deutschen Wetter. Hier kommt alles plötzlich, stoßweise, explosiv. Hier kann man die Ernte nicht behaglich und in aller Ruhe nach und nach einheimsen. In vierzehn Tagen muß alles fertig sein. Après ça le déluge. Und hier ist die Sündfluth keine Redensart, sondern eine Wahrheit. Entweder ist des Wassers zu viel oder zu wenig. Hier ist Dürre, dort ist Überschwemmung. Man wendet alle Kraft und alle Mittel an, um diese Sprünge der Natur durch Menschenwerk und Menschenkünste auszugleichen oder zu mildern. Aber oft ist diese ungestüme, vollkräftige, unerschöpfliche, ich möchte fast sagen: vulkanische Natur mächtiger als die Menschen.

Hier in dem Barányer, dem Tolnaer und dem Samogy-Komitat, worin wir uns befinden, ist zwar das Alles viel besser als da unten, wo eine furchtbare Dürre oder eine Wassersnoth mit einander abwechseln. Ich habe im Banat große klafterlange Spalten oder Klüfte in dem von der Hitze zerrissenen Boden gesehen, und an der Theiß, von der man – allerdings mit einiger Uebertreibung – sagt, daß sie mehr Fische habe als Wasser, habe ich erlebt, daß unabsehbar weit ringsum Alles überschwemmt war. Wir Deutsche sagten: „Die Theiß ist groß.“ Unser Ungar aber sagte schmerzlich lächelnd: „O nein, sie ist zu klein, sie kann das viele Wasser nicht alles fassen.“

Die drei genannten Komitate – unser „Kastell Linden-Grund“ liegt im Komitat Samogy – bilden ein an Abwechselung reiches Bergland, das sich nach der Drau und Donau zu allmählich absenkt und nur kleinere Flüsse und Bäche aufweist. Es hat vielleicht einmal zu wenig Wasser, aber nie zu viel, und seine zahlreichen Wälder und Berge und Hügel schützen es vor jenem verheerenden Sonnenbrand, der das Land in Staub auflöst, oder zu einer Masse verhärtet, welche selbst dem schärfsten Pfluge Widerstand leistet. Nur zuweilen rauscht ein Wolkenbruch hernieder, der die muldenförmigen Terrainfalten in Seen verwandelt.

Auf dem Wege von Szigetvár nach unserem Kastelle, in welchem wir jenen ungarische Gastfreundschaft genießen, die man in keinem Lande Europas in gleicher taktvoller Herzlichkeit wieder findet, haben wir Gelegenheit, uns über die Kulturverhältnisse des Landes zu unterrichten und zugleich die verschiedenen Rassen zu studiren. Hier in diesem Lande, das man vormals die „schwäbische Türkei“ nannte – ein Ausdruck, der jedoch den gegenwärtigen Bewohnern ganz unbekannt zu sein scheint und der [671] sich nur noch in Büchern wiederfindet, z. B. in dem, einem jeden das Ungarland bereisenden Deutschen auf das Wärmste zu empfehlenden Buche „Die Deutschen in Ungarn und Siebenbürgen“ von Professor Dr. J. H. Schwicker in Budapest – finden wir drei Völker vertreten: Magyaren, Deutsche und Bosniaken oder Serben. Die Bosniaken sind ein Niederschlag jener Türkenherrschaft, welche sich von der unglücklichen Schlacht bei Mohács – am 28. August 1526 – bis zur glücklichen bei dem nämlichen Mohács – den 12. August 1687, also länger als anderthalb Jahrhunderte über den größeren Theil von Ungarn erstreckt hat.

In allen Ländern, in welchen der Türke vormals geherrscht und dann, als er seine expansive Eroberungs- und Beherrschungskraft verloren, das Regiment an eine christliche Dynastie und an die eingeborene Bevölkerung hat abgeben müssen – in Griechenland, in Serbien, in Rumänien etc. – finden wir dieselbe Erscheinung. (Nur Bosnien-Herzegowina, wo Oesterreich das türkische Element der Bevölkerung mit kluger Rücksicht behandelt, macht eine Ansnahme.) Sonst geht der Türke, sobald er aufhört zu herrschen. Auf Negroponte z. B. wohnten viele Türken. Sie hatten dort großen Grundbesitz. Aber als das Land griechisch wurde, schnürte Einer nach dem Andern das Bündel und ging nach dem Lande seiner Väter, obgleich ihm die Gleichheit vor dem Gesetze garantirt war. Er konnte es nicht vertragen, daß ihm, der bisher hoch über Allen gestanden hatte, die Uebrigen gleichgestellt wurden – jene Uebrigen, welche er bis dahin die „Rajah“ (das ist die Menge oder das Gesindel) oder „die christlichen Hunde“ genannt hatte. So sind denn auch aus diesem Lande, als es wieder christlich und ungarisch wurde, die Türken, und namentlich die vornehmen Türken, abgezogen; man findet hin und wieder noch die Ueberreste einer Dschamiah (so heißt die Moschee auf Türkisch) oder einer Türbeh (das ist eines runden Grabmals) oder eines Minareh (die Schreibart „Minaret“ ist grundfalsch!); hin und wieder sieht man auch bei der jetzt lebenden Generation noch ein kühn geschwungenes türkisches Profil; auch giebt es noch Leute, welche den Namen Török (Türke) führen. Sonst sind alle Spuren der anderthalbhundertjährigen Türkenherrschaft in der „schwäbischen“ Türkei gänzlich verschwunden. Nur die Bosniaken, die Hintersassen, die erbunterthänigen kleinen Besitzer, welche mit den Türken gekommen, haben es vorgezogen, ihren Herren nicht zu folgen, sondern zu bleiben. Sie sprechen heute noch eine mit türkischen Worten versetzte slavische Sprache unter einander. Aber daneben sprechen sie Alle auch ungarisch. Kein Deutscher und kein Ungar hat es bis jetzt der Mühe werth erachtet, diese bosnische Sprache zu erlernen. Auch finden Heirathen zwischen Bosniaken auf der einen und Deutschen oder Ungarn auf der andern Seite nicht statt. Die Religion würde kein Hinderniß bilden. Denn sie sind heutzutage alle katholisch; die Bosniaken so gut als die Deutschen und die Ungarn; nur einige bosnische Familien sind dem griechischen Glauben, der in dem vormals byzantinischen Reiche herrschte, treu geblieben.

Was nun die Deutschen und die Ungarn in hiesiger Gegend anlangt, so sind dieselben auch äußerlich auf den ersten Blick zu unterscheiden, und zwar die Männer an der Form der Beinkleider. Nicht an dem Stoffe und nicht an der Farbe. Denn beide Nationen tragen weiß Leinen. Die „Gathjen“ genannten Beinkleider der Ungarn aber sind außerordentlich weit und kurz, so daß der Unkundige die Zweitheilung übersieht und meint, es sei ein weiblicher Unterrock oder eine griechisch-albanesische Fustanella, wie sie weiland König Otto von Griechenland auch noch in Bayern bis an sein Ende getragen. Der Deutsche aber trägt lange und enge Beinkleider wie wir im deutschen Reiche oder überhaupt im mittleren oder westlichen Europa. Deutsche wie Ungarn tragen kurze Jacken oder Kamisole, besetzt mit zahlreichen runden Knöpfen.

Auch die deutschen Frauen kommen in Schnitt und Farbe der Kleider den unsrigen näher. Die ungarischen Bäuerinnen dagegen lieben die lebhaften Farben. Namentlich Sonntags ist das Roth in allen möglichen Schattirungen vorherrschend. Auch sind sie so patriotisch, daß sie es lieben, die Landesfarben selbst in ihrer Kleidung in Anwendung und Ausdruck zu bringen, z. B. Grün das Kopftuch, Weiß die Jacke (oder das Hemd) und Roth den Rock. Oder umgekehrt. Die deutschen Frauen tragen meist schwarze oder dunkelblaue Kleider.

Die Deutschen sind von Körperbau breit und kräftig, die Ungarn schlank und zierlich. Auch die Bäuerinnen haben bei den Ungarn eine schöne, lebhafte und elastische Gangart. Freilich tragen sie auch keine dolchartigen Absätze auf der Mitte ihrer Schuhsohlen, wodurch der Gang erschwert und die ganze Figur aus ihrem natürlichen Gleichgewichte gebracht wird.

Auf dem Wege von Szigetvár nach dem Kastell Lindengrund passirten wir verschiedene deutsche und ungarische Dörfer, welche hier mit einander abzuwechseln pflegen und deren Bewohner sich vortrefflich mit einander vertragen. Nur in einem Falle gab es zuweilen Streit. Nämlich bei den Tanzlustbarkeiten. Da befehlen die deutschen Bursche den Zigeunern, einen Walzer zu spielen, und die jungen Ungarn verlangen den „Csárdas“ (sprich Tschardasch), jenen ungarischen Nationaltanz, den man schon so oft beschrieben – aber immer vergeblich; denn keine Beschreibung vermag einen Begriff von der Kraft und der Grazie dieses Tanzes zu geben, namentlich wenn er von den Damen in der Nationaltracht getanzt wird. Und doch ist es von Haus aus ein bloßer Bauerntanz. Er hat seinen Namen von der Csárda, der Straßen- oder Dorfschenke, in der er getanzt wird. Ja, wenn ich meine Wahrnehmungen über das Tanzen bei den verschiedenen Nationen Europas vergleiche, dann möchte ich sagen: Ueberall tanzt das Volk schöner, als die Vornehmen; überall ist der Tanz in der Schenke schöner, als der im Salon. Aber ich fürchte, man wird das für eine Schrulle oder gar für eine Unhöflichkeit halten. Und deßhalb will ich meine Bemerkung unterdrücken und nur so viel sagen:

Wenn hier zu Lande die jungen Bursche deutscher und österreichischer Nation auf dem Tanzboden über die große Frage: „Ob Walzer, ob Csárdas?“ mit einander raufen, dann wird der Besiegte depossedirt, das ist: an die Luft gesetzt. In der neueren Zeit aber kommt es nicht mehr zu Thätlichkeiten. Man pflegt sich im Guten zu vertragen und mit ungarischen und deutschen Tänzen abzuwechseln. Ein alter deutscher Bauer aber meinte, im Tanzen seien die Ungarn und im Raufen die Deutschen dem Gegner überlegen gewesen.

Auch die ungarischen und die deutschen Dörfer lassen sich auf den ersten Blick von einander unterscheiden, ebenso leicht wie die Form der Beinkleider ihrer Bewohner. Die ungarischen Dörfer sind unregelmäßig, die deutschen sehr regelmäßig gestaltet, und zwar in Gestalt der vielgliedrigen fränkisch-bajuvarischen Hufe. Ich muß dies für Diejenigen, welche die Geschichte der deutschen Agrarverfassung nicht studirt haben, näher erläutern und damit zugleich ein anschauliches Bild von den Dörfern der hiesigen Deutschen zu geben versuchen.

Sämmtliche Bauernhöfe reihen sich in den deutschen Ortschaften gleich einer Schnur an beiden Seiten der unmenschlich breiten Ortsstraße auf. Jedes Haus steht mit dem Giebel nach der Straße und erstreckt sich mit dem andern Ende in die Tiefe des Hofraums. Der Hofraum ist von den Oekonomiegebäuden umgeben und bildet ein Quadrat. Das Ganze ist eingeschlossen von Palissaden oder von einer lebendigen Hecke. Die Wohnhäuser sind alle ebenerdig. Sie haben eine Küche und zwei Wohnräume. Daneben zuweilen noch eine Altentheils- oder Aushaltstube für die Alten, die sich zur Ruhe gesetzt haben. Neben dem „trockenen Aushalt“ bedingt sich aber hier der alte Bauer, in dieser mit Wein gesegneten Gegend, auch noch einen nassen, nämlich jährlich 20 bis 30 Eimer Rebensaft (der Eimer hält 56 Liter). Es ist eine wahre Wohlthat, diese schönen alten „weingrünen“ (richtiger rosenfarbenen) Bauerngesichter zu sehen mit ihren lebhaft blitzenden großen Augen. So was vermag der heilige Gambrinus doch nicht zu leisten!

Zwischen und in den einzelnen Hofraithen stehen mächtige volllaubige Bäume: Maulbeeren, Akazien, Nuß und Zwetschen. Die Bäume schützen gegen den Wind, der hier oft mit solcher Heftigkeit auftritt, daß er die Dächer abdeckt, und gegen das Feuer, welches dadurch verhindert wird, auf den Nachbarhof überzuspringen.

Zum Häuserbau verwendet man keine Steine, welche hier rar sind, sondern Lehm, nichts als Lehm. Man stampft denselben zwischen zwei Brettern so lange, bis die Wand zu Stockwerkshöhe hinaufgestiegen. So wird das Haus in acht Tagen fertig, und erst nach der Fertigstellung der Wände schneidet man in dieselben die Löcher für Thüren und Fenster. Oben drauf kommt ein mächtiges, mit Lehm versetztes Strohdach, das im Sommer gegen die Hitze schützt und im Winter gegen die Kälte.

[672] Jeder Bauernhof bildet mit dem dazu gehörigen Areal einen mächtigen langen Streifen – ich möchte sagen: in Gestalt eines Handtuchs – welcher sich erstreckt von der Dorfstraße, auf welche er mit dem einen schmaleren Ende aufstößt, bis nach dem Wald hinauf oder bis an die Wiesen oder die Viehweide hinunter, auf welche er mit dem andern Ende aufstößt. Von der Straße an gerechnet, kommt also zuerst der Zaun, dann das Haus, dann der Hofraum mit den Wirthschaftsgebäuden, dann der Hausgarten, dann das Baumstück, endlich der Acker und dann der Wald oder die Hutfläche. Wald und Hut sind gemeinsam. Das Uebrige ist persönliches privates, frei vererbliches und frei theilbares Eigenthum. Jeder für sich und Gott für uns Alle. Die „Haus- oder Familienkommunionen“ der Kroaten und Serben sind unbekannt in diesem freien Lande.

Die Gemarkung ist getheilt in drei Gewannen, welche zugleich die Grundlage der hier herrschenden Dreifelderwirthschaft bilden. In jeder dieser drei Gewannen, an dem Winterfeld, an dem Sommerfeld und an dem Brachfeld, hat jeder Bauer seine ihm eigenthümliche Fläche. Als vierter Komplex kommt dazu noch der Weinberg, und ein jeder Bauer trinkt einen Theil seiner „Fechsung“ selbst und mit seinen Freunden. Davon will ich im nächsten Kapitel erzählen.


[690]
II.

Zunächst muß ich bemerken, daß die Deutschen im Samogyer Komitat, nördlich von Szigetvár, durchaus nicht, wie in so vielen Büchern geschrieben steht, „Schwaben“ genannt werden, sich auch selber nicht so nennen und auch durchaus nicht so genannt werden wollen. Und sie haben Recht. Sie sind keine Schwaben, sondern, wenn nicht alle Anzeichen trügen, bayerischer Herkunft. Ihre deutschen Namen, die sie mit Sorgfalt konserviren, nur daß sie nach ungarischer Landessitte den Familiennamen an die erste und den Tauf- oder Vornamen an die zweite Stelle setzen – heißen z. B. Seydl, Speidl, Pranckl, Huber, Mayr, Kaiser, Gerstner etc. Ich habe bei Herrn Pfarrer Nemes in Nágy-Harságy, der uns mit großer Freundlichkeit aufnahm, die Register der Kopulationen, Taufen und Todesfälle nachgesehen bis weit in das achtzehnte Jahrhundert zurück. Die pfarramtlichen Funktionen wurden damals von den Franziskanern in Szigetvár verrichtet. Die Register sind mit großer kalligraphischer Hand geschrieben. Namentlich glänzt der Pater Fulgentius durch die Schönheit seiner Handschrift. Erst im Jahre 1809 wurde ein Kuratgeistlicher hier eingesetzt. Er kam von Káposvár, der jetzigen Komitats-Hauptstadt, und hat uns eine Schilderung seiner damaligen (1809) Fahrt von Káposvár nach Szigetvár hinterlassen. Er kann nicht genug klagen über die Unwegsamkeit dieses Landes. „Nichts als Himmel und Wald,“ schreibt er, „nur hin und wieder ein gräfliches Jagdhaus“; die Bauern, die in diesen Urwäldern hausten, waren arm und unwissend über alle Maßen – Alle, ungarische wie deutsche.

Jetzt ist das eine blühende, frohmüthige und sonnenhafte Landschaft, in welcher die Herrschaft und die nunmehr von den Feudallasten befreiten Bauern mit einander wetteifern in Kultur und Wirthschaftlichkeit.

Ich habe bei den ältesten deutschen Bauern dieser Gegend Erkundigungen darüber eingezogen, wie und woher ihre Vorfahren in dieses Land gekommen. Alle stimmen darin überein, daß ihre Urgroßväter vor mehr als hundert Jahren von den Grafen Festetits in das Land gerufen worden. Sie seien aus dem katholischen Deutschland gekommen – aus welcher Gegend, aus welchem Land, aus der Nähe welcher Stadt, darüber wissen sie nichts zu sagen. Einige behaupten mit Bestimmtheit, sie seien aus Bayern gekommen, so hätten sie es von ihren Vorfahren vernommen. Und in der That nicht nur, wie ich bereits erwähnt, ihre Familiennamen, sondern auch ihre Mundart spricht für bayerischen Ursprung. Allein bestimmte Ueberlieferungen oder gar Urkunden besitzen sie nicht. Auch in den Archiven der Grafen von Festetits hat sich trotz der großen Mühe und Sorgfalt, womit ein früherer Pfarrer von Nagy-Harsagy darnach geforscht hat, nichts über diese Kolonisationen vorgefunden. Daß die Bauern selber darüber wenig Auskunft zu geben im Stande sind, ist sehr begreiflich. Auch die deutschen Bauern, welche vor ein- oder zweihundert Jahren nach Amerika gegangen, wissen selbst wenig oder gar nichts von dem Leben ihrer cisatlantischen Vorfahren.

„Unsere Voreltern hier in diesem ungarischen Lande,“ erzählte mir ein siebzigjähriger deutscher Bauer, „haben es früher recht schlecht gehabt; aber wahrscheinlich hatten sie es in Deutschland noch schlechter, sonst hätten sie doch ihre Heimath nicht verlassen und sie gänzlich vergessen. Der hochgeborene Graf hat sie in das Land gerufen und ihnen Grundeigenthum versprochen, und er hat sein Versprechen gehalten. Mein Großvater hat mir das oft erzählt, und mein Urgroßvater ist unter den ersten Ansiedlern gewesen. Jeder hat seine Session erhalten (Session nennt man hier die bäuerliche Vollhufe, wahrscheinlich ist es eine Abkürzung von Possessio [Besitz], und man darf nicht vergessen, daß Latein die Gerichtssprache war, auch für Grundbuchangelegenheiten). Eine ganze Session, das war viel Land. Jetzt haben in Folge des Anwachsens der Bevölkerung und der freien Erbtheilung unter sämmtlichen Kindern viele nur eine Viertelsession. Aber jetzt ist ein Viertel mehr werth als damals das Ganze. Damals war es wildes rauhes, schweres Land, in welchem der Pflug zerbrach. Jetzt ist es altbebauter, mürber und fruchtbarer Boden. Wir stehn uns besser bei der Freiheit der Menschen und des Bodens, als die Kroaten und Serben bei ihrer Hauskommunion und sonstigem Zwang der Gemeinschaft. Unsere Voreltern, die ersten Ansiedler, hatten es schlimmer. Die Herrschaft gab ihnen zwar das Land und das Holz aus ihren Waldungen, um Haus, Stall und Scheune zu bauen. Aber dagegen hatten die Väter auch schwere Lasten zu tragen. Sie mußten doppelten Zehnten geben, [691] einmal an die Herrschaft und einmal an den Propst oder Abt der Benediktiner. So wurde aus dem Zehnten ein Fünftel. Da aber die geistliche und weltliche Herrschaft sehr stark und der Bauer sehr schwach war, und doppelt schwach, weil er ein Fremdling in diesem Lande, und da es auch noch keine Regierung in Pest gab und keine Gerichte, bei welchen Recht zu haben war auch für den Bauer, und überhaupt für den Schwachen, so wuchsen unsere Lasten mit jeglichem Tage; und wenn wir der Herrschaft freiwillig etwas zu Gefallen thaten, so dauerte es gar nicht lange, dann wurde ein Recht daraus, und man zwang uns die Leistungen ab, die wir ursprünglich aus gutem Willen verrichtet; und so wurden unsere Rechte immer einer und unsere Lasten immer größer. Von dem Wein mußten wir bis zur Grundentlastung der Herrschaft gar den fünften Theil liefern, und zwar das beste Faß unserer Fechsung.

Bei der Zehnterhebung hatten die Zehntherren allein alle Macht und Gewalt, und nachdem aus dem Zehntel ein Fünftel geworden, wurde zuweilen aus dem Fünftel die Hälfte, die man uns abnahm. Daneben mußten die Bauern der Herrschaft an 52 Tagen alljährlich – oder an einem Tag in der Woche – Robot oder Frohnden verrichten. Wenn es dem Herrn Grafen zu jagen beliebte, dann mußten wir treiben, oft auch im härtesten Winter, so daß wir uns Nasen und Ohren verfroren. Aber die Herrschaft schützte uns nicht vor dem übermäßigen Wildstand. Zuweilen kamen die Wölfe aus dem Lande der Kroaten über die Drau herüber und fraßen uns nicht nur die Schafe, sondern zuweilen auch den Hirten. Für die hochgräfliche Herrschaft mußten die Bauern zu aller Zeit zur Verfügung stehen. Sie mußten z. B. Botengänge thun, weit über Land und oft mehrere Tage; und dabei mußten sie noch aus eigener Schnur zehren.

Das Schlimmste aber waren die unbarmherzigen Prügel. Wer bei der Treibjagd geklappert hatte, wo er stille sein sollte, bekam Prügel. Wer stille war, wo er hätte klappern sollen, bekam Prügel. Die Prügelbank wurde nicht leer, und Mancher wurde zum Krüppel geschlagen. Denn der alte Herr Graf war ein grausamer Herr. Gott hab’ ihn selig in der Ewigkeit! Vielleicht wußt’ er’s nicht besser und glaubte, die Bauern fühlten keine Schmerzen. Seitdem wir aber in Buda-Pest ein eigenes ungarisches Regiment haben, sind die Grafen nicht mehr allmächtig im Lande. Die Grundentlastung hat viel gekostet und kostet noch immer. Auch hat die Herrschaft noch allerlei Regalien und Propinationen. Aber den Robot und die Prügel und die anderen Lasten sind wir los und ledig geworden. Unser Boden ist frei, und wir Bauern sind Menschen und Bürger wie die Anderen. Und deßhalb sind wir gute Ungarn geworden, und obgleich wir unser Deutsch lieben und ehren und festhalten wollen bis an unser seliges Ende, so haben wir Alle auch Ungarisch gelernt und sagen: Gott segne Kossuth Lajos (Ludwig Kossuth), der die Bauern befreit hat.“ So sprach der alte Bauer. Ich füge hinzu:

In der Schule wird Deutsch gelehrt und auch Ungarisch. Beide Sprachen werden hier als gleichberechtigt behandelt. Ungarisch aber ist die Sprache der Gerichte und der Behörden.

In den hiesigen katholischen Kirchen wird abwechselnd den einen Sonntag Deutsch gepredigt und den anderen Magyarisch. Ein jovialer Pfarrer aber meinte: Der Geschmack der Bauern ist: „Kurze Predigten und lange Bratwürste“. Hier sind die Pfarrer nicht kopfhängerisch, sondern lustig, was ihrer Frömmigkeit gar nicht schadet. Im Gegentheil, sie haben bei ihren Gemeinden viel Ansehen und Einfluß; und das ist doch die Grundlage für eine gesegnete Wirksamkeit. In Ungarn sitzt die hohe Geistlichkeit als solche im Oberhaus, wie in England, und die neue Parlamentsreform wird hieran nichts ändern, sondern nur den bloßen Titularbischöfen die Standschaft entziehen. In dem Oberhaus des Reichstags zu Budapest stehen rechts von dem Präsidium drei mächtige rothsammtene Sessel. Darauf sitzen die drei ungarischen „Eminenzen“, das ist Kardinäle. Einer derselben, der Erzbischof Haynald von Kalosza, ist zugleich eine Zierde der Wissenschaft. Dahinter sitzen die übrigen Bischöfe. Alle diese Prälaten schicken zwar ihren Peters-Pfennig nach Rom, sind aber streng nationalgesinnte Ungarn und getreue Unterthanen der Krone des heiligen Stephan.

Doch man entschuldige diesen Abstecher. Kehren wir zurück zu unseren deutschen Bauern in der Umgegend von Harságy.

Treten wir ein in das Haus eines Bauern in Klein-Harságy. Er gehört zu den mittleren Besitzern. Das Haus ist so, wie ich es oben beschrieben. Ein jedes hat an der südlichen langen Wand eine Vorhalle oder Veranda. Sie wird von einer Säulenreihe getragen. Die Säulen sind blendend weiß angestrichen und man glaubt anfangs einen marmornen Portikus zu erblicken. Am meisten in die Augen sticht uns die Küche. Ein Backofen und ein Herd, beide von glänzend weißen Kacheln, sowie blank gescheuertes Haus- und Küchengeräth machen einen außerordentlich behäbigen Eindruck. Auf dem Herde prasselt ein lustiges Feuer. Auch riecht es etwas nach Papprika, nach jenem schönen rothen ungarischen Pfeffer – einer gesunden und kräftigen Würze der Speisen. Zugeben muß man, dieser Papprika macht Durst. Allein was schadet das in einem Lande, wo überall in reichlichstem Maße ein guter und billiger Wein wächst und daneben noch eine Unzahl von Quellen eines erfrischenden Mineralwassers fließen? Siehe, da kommen der alte Gerstner und der alte Kaiser – zwei rüstige Greise, die Beide im Altentheil sitzen. Aber zum bäuerlichen Altentheil gehört hier auch Wein, aus kräftigen rothen oder weißen Kadarka-Trauben bereitet. Die beiden alten bäuerlichen Herren erinnerten sich, nachdem des Tages Hitze vorüber, an die schönen Verse von Schartenmaier (Fr. Vischer):

Doch dem Guten ist’s zu gonnen,
Wenn am Abend sinkt die Sonnen,
Daß er in sich geht und denkt,
Wo man einen Guten schenkt.“


So sind sie selband in ihren Weinberg und den darin befindlichen Keller gegangen, eingedenk des weisheitsvollen Spruches: „Was den Kindern die Milch, das ist der Wein für die Greise.“ So kommen sie nun soeben wieder Arm in Arm nach Hause gehumpelt. Du meinst, sie seien angetrunken? Gott bewahre! Diese würdigen Männer verstehen mit dem Rebenblut richtig umzuspringen. Sie sind vergnügt. Das ist Alles. Ein Schuft, wer Schlechtes dabei denkt. Hony soit qui mal y pense! Inzwischen haben zu Hause der junge Bauer und die Bäuerin, auf welche das Gut oder die „Session“ übergegangen, zum Rechten gesehen, des Hauses und Hofes, des Rindviehs und der Schafe gewaltet. Sie führen uns in die Wohn- und in die Aushaltsstube, wo Alles reinlich und reichlich vorhanden und uns namentlich die hohen Betten und das gute Bettzeug imponiren. Im Hofe ist ein langes niedriges Gebäude, dem ehemaligen Eisbocke in der Potsdamer Straße in Berlin zu vergleichen. Unter dessen Dach geht der Kellerhals abwärts, und wenn wir da in den Keller hinunter steigen, dann finden wir bei diesen Bauern auch Wein, und nicht etwa bloß Kartoffeln. Das Merkwürdigste aber ist der Keller selber. Er ist lang, schmal und mannshoch, und zwar ganz in den schweren lehmigen Boden geschnitten, der oben an der Wölbung und an den beiden Seitenwänden und unten so fest steht, wie eine Mauer, ohne daß es eines Stückes Holzes bedurfte, um ihn zu versprießen, oder der Ziegelsteine, um ihn zu wölben. Er ist allein mit dem Grabscheit gebaut, wie das Haus mit der Stampfe. Der Lehm an beiden wird jeden Tag fester und härter. Er ist gleichsam versteinert.

So hat die gütige Mutter Natur dem reichen, aber steinarmen Lande einen Ersatz für die fehlenden Steine gegeben. Hier bedarf es zum Baue nicht der Kelle des Maurers und nicht des Beiles des Zimmerers. Hier wird das Haus nicht gerichtet, und kein Maurer- und kein Zimmermannsspruch bei demselben gehalten. Lehm ausgraben und stampfen das ist Alles. In acht Tagen ist das Haus fertig und in weiteren acht Tagen der Keller. Das ganze Holzwerk an dem Haus besteht aus der in langen Balken gezogenen und mit Querbalken bedeckten Decke. Solche Decken unterscheiden sich von den unsrigen dadurch, daß sie niemals einstürzen. Auch der Fußboden besteht nicht aus Parkett noch aus sonstigem Holze. Auch er ist nur gestampfter Lehm, und je mehr man ihn betritt, desto fester, ebener und glatter wird er. Man geht gut darauf, am besten barfuß. Außen aber ist das Haus glänzend weiß angestrichen. Die grünen Akazien, das weiße Haus und die rothen Blumen am Fenster bilden zusammen die Farben des ungarischen Landes, des Magyar-Ország.

Auf dem Rückwege von Groß-Harságy nach unserem Kastell nahmen wir den Weg über den Berg, um die Aussicht zu genießen. Links von unserem Wege, auf dem südwestlichen Abhange des Berges, erstreckten sich Weinberge bergabwärts bis nach der Thalmulde. Die Weinstöcke waren gezeilt und gesezt so wie in Deutschland, nur etwas dichter als in unseren deutschen Weinbergen. [692] Auch zieht man nicht Bogreben, sondern man bedient sich des sogenannten Bockschnitts, wie solcher schon laut Zeugniß der „Anthologia Graeca“ bei den alten Hellenen im Gebrauche war und es bei den heutigen Griechen noch ist. Man rasirt jedes Jahr den Stock ab bis auf den Stamm oder Strunk, welcher dadurch immer stärker und kräftiger wird und einen mächtigen, gewundenen schwarzen Knorz (truncus) bildet. Man überläßt es ihm, alljährlich neue Schößlinge, Bogen und Reben zu treiben, wovon er reichlichen Gebrauch macht. Am Rande des Weinberges stehen zierliche Pfirsichbäume, deren Früchte sehr gut zu dem Wein schmecken. Der Weinberg des deutschen Bauern in Harságy hat einen Vorzug vor unseren. An seinem oberen Ende steht ein Häuschen. Es bildet zugleich den Eingang zu dem in den Lehmboden gegrabenen Keller, worin der Wein lagert. Außer dem Kellerhals befindet sich in dem Hause ein größerer Raum für die zur Weinbereitung erforderlichen Gegenstände und dahinter ein trauliches Stübchen zum Trinken. Mit dem letzteren sollten wir unsere Bekanntschaft machen. Während wir an den Weinbergen und den Weinhäuschen entlang fuhren, lud uns der Besitzer eines der letzteren, einer der wohlhabendsten Bauerngutsbesitzer von Nágy-Harságy, der Alt-Richter Michael Meyer, oder wie man hier sagt: Herr „Meyer Michel“ ein, abzusteigen. Wir folgten seiner gütigen Einladung und kehrten, nachdem wir den wohlgepflegten und mit rothen Kadarka-Trauben bepflanzten Weinberg mit gebührender sachkundiger Sorgfalt inspicirt hatten, in dem Hinterstübchen des Weinbergshäuschens ein, wo wir eine Anzahl kluger alter Zecher vereinigt fanden. Es waren der Gemeindenotar von Nágy-Harságy und mehrere dortige Bauerngutsbesizer, welche in vergnüglicher Tafelrunde ihren Sonntag Abend zubrachten bei Wurst, Schinken und heurigem (das ist 1884er) Rothwein. Herr Meyer stieg fleißig in den Keller und füllte den Heber. Dieser Heber war nicht ein gläsernes Instrument wie bei uns, sondern die Frucht eines kurbisartigen Schlinggewächses. Diese Frucht hängt an einem langen und hohlen Stiel, der in einem Kolben endet, abwärts. Wenn man sie von ihrem Inhalt reinigt und aushöhlt und trocknet, dann aber am Ende des Kolbens ein kleines Loch macht, gegenüber dem großen Loch an dem anderen Ende der Röhre, dann hat man einen vortrefflichen „Hebér“, wie der Ungar das deutsche Wort ausspricht. Auch Flaschen oder Kalebassen, ähnlich der korsischen „Zucca“, macht man aus dieser Frucht. Man nennt diese kleinen Weinbehälter „Kabák“.

Wir hielten einen frischen und kühlen, fröhlichen Trunk mit den deutschen Landsleuten, in dem so nahe an der südlichen Drau gelegenen Komitat von Samogy, und wenn wir mit unseren mit rothem Kadarka-Wein von 1884 gefüllten Gläsern anstießen, dann brachten wir dem „Magyar-Ország“ ein Eljen; aber neben der Patria hungarica gedachten wir auch der Germania Mater und brachten ihr ein gebührendes Vivat, und wir gedachten endlich auch des edlen Grafen Andrassy, der im Jahre 1870 Oesterreich-Ungarn zurückhielt, als es der Graf Beust zum Verbündeten Napoleon’s machen wollte im Kriege wider Deutschland.