Autonome Körperschaften

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Autor: Wilhelm von Blume
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Titel: Autonome Körperschaften
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Drittes Hauptstück: Herrschaft und Verwaltung, Abschnitt 15, S. 220−225
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
Entstehungsdatum: {{{ENTSTEHUNGSJAHR}}}
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
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Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
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[220]
b) Autonome Körperschaften.
Von
Dr. W. von Blume,
Professor der Rechte an der Universität Tübingen.


Literatur:[Bearbeiten]

Gierke, Das deutsche Genossenschaftsrecht, 4 Bde., 1868–1913.
Rosin, Souveränetät, Staat, Gemeinde, Selbstverwaltung, in „Annalen des deutschen Reichs“, 1883,
Rosin, Das Recht der öffentlichen Genossenschaft, 1886.
Hatschek, Die Selbstverwaltung in politischer und juristischer Beziehung, 1898.
Redlich, Englische Lokalverwaltung, 1901.
Preuss, Die Entwicklung des deutschen Städtewesens 1906.
Preuss, Selbstverwaltung, Gemeinde, Staat, Souveränetät, in der Festgabe f. Paul Laband, 1908.
Redlich, Das Wesen der österreichischen Kommunalverfassung, 1910.
Slawitschek, Selbstverwaltung und Autonomie 1910.


Zwischen den Staat und den Einzelnen schieben sich Verbände von mancherlei Art, die den Verbandsgenossen in ähnlicher Weise für sich in Anspruch nehmen wie der Staat den Staatsbürger: Gesellschaften, Vereine, Körperschaften. Indem sie den Einzelnen als Mitglied aufnehmen, unterwerfen sie ihn ihren Bestimmungen. Und sie erlangen eine Macht über ihn dadurch, dass sie sein Wohl mit dem Gemeinwohl der Verbandsmitglieder verknüpfen. Jeder rechtliche Verband bedeutet eine Herrschaft der Verbandsleiter über die Mitglieder. Eine Konkurrenz zwischen dem Staate und den anderen Körperschaften ist unausbleiblich.

Ist der Staat „souverän“ in dem Sinne, dass er die höchste Gewalt über die Staatsbürger für sich in Anspruch nimmt, so bedeutet jede von ihm anerkannte Herrschaft eines anderen Staatsangehörigen eine Beschränkung seiner eigenen Gewalt. Wie das Völkerrecht sich zwischen den Staat und Angehörige fremder Staaten stellt, so schiebt sich das Recht der innerstaatlichen Körperschaften zwischen den Staat und seine eigenen Angehörigen. Diesen Verbänden gegenüber die richtige Stellung für den Staat zu suchen, ist daher eine der wichtigsten Aufgaben der Politik.

Jede Herrschaft erzeugt das Streben nach Ausschliesslichkeit. Soll der Staat nicht durch andere Verbände seiner Herrschaft beraubt werden, so bedarf es einer Grenzziehung durch Rechtsetzung und einer Behauptung der Grenze durch die staatlichen Machtmittel.

Diese Grenzziehung kann in verschiedener Weise stattfinden. Am nächsten liegt der Gedanke einer Machtverteilung. Der Staat bestimmt eine staatsfreie Sphäre, innerhalb deren die anderen Körperschaften sich frei bewegen können. So lässt er den Kirchen ihre rechtliche Selbstständigkeit einschliesslich des Rechtes der Gesetzgebung und Verwaltung in kirchlichen Angelegenheiten. Aber auch den Privatvereinen lässt der Staat ein freies Gebiet: das Gebiet der privatrechtlichen Betätigung. Ob diese Grenzziehung durch Vereinbarung oder durch einseitige Bestimmung des Staates geschieht, verschlägt dabei wenig, in jedem Falle handelt es sich nur um eine Schranke, die der Staat seiner eigenen Macht zieht. Andererseits schliesst diese Art der Auseinandersetzung zwischen dem Staate und den übrigen Verbänden nicht aus, dass jener die Anerkennung des fremden Rechtes an bestimmte Voraussetzungen knüpft und darüber wacht, dass diese Voraussetzungen bestehen bleiben. Tritt in dieser Hinsieht eine Änderung ein oder überschreitet der Verband die ihm gesteckte Grenze, so gebraucht der Staat seine Machtmittel, um ihn in seine Schranken zurückzuweisen oder zu unterdrücken. Ja, unter Umständen beansprucht er ein Recht der ständigen Beaufsichtigung der Körperschaft. Und zwar dann, wenn er dieser seine Machtmittel zur Verfügung gestellt hat, gegenüber den Mitgliedern oder Dritten. Verleiht der Staat einer Kirche das Besteuerungsrecht oder verleiht er einem Vereine die Privatrechtsfähigkeit, so [221] bedeutet das eine Mehrung der Macht des betreffenden Verbandes durch Hilfe des Staates; um deswillen ist der Verband gehalten, sich eine Beaufsichtigung nach der Richtung gefallen zu lassen, ob er von den ihm zur Verfügung gestellten Mitteln einen richtigen Gebrauch macht.

Grundsätzlich anders gestaltet sich aber das Verhältnis einer Körperschaft zum Staate dann, wenn dieser sie zur Erfüllung staatlicher Aufgaben heranzieht. Das Verhältnis zwischen Bundesstaat und Einzelstaat, zwischen Staat und Gemeinde hat nicht nur eine Abgrenzung, sondern auch eine Verbindung zum Ziele; neben der eigenen Wirkungssphäre erhält der innerstaatliche Verband vom Staat eine fremde Wirkungssphäre überwiesen. Wiederum ist es dabei von nebensächlicher Bedeutung, ob diese Indienstnahme auf dem Fusse der Gleichberechtigung durch Vertrag erfolgt oder im Wege der Unterordnung, durch Befehl. In jedem Falle wird dem Verband eine staatliche Aufgabe anvertraut und er damit verpflichtet, sein eigenes Interesse dem Staatsinteresse unterzuordnen. Damit wird er zur „öffentlichen Körperschaft“.

Auch öffentliche Verbände haben ihren eigenen Wirkungskreis. Die Frage, wo das eigene und wo das anvertraute Gebiet beginnt, kann für keine Körperschaft a priori beantwortet werden, sondern ist lediglich eine Frage des positiven Rechtes. Nicht richtig wäre es jedenfalls zu meinen, dass die Ausübung staatlicher Hoheitsrechte begrifflich zum übertragenen Wirkungskreise gehöre. Kirchen und Gemeinden haben das Besteuerungsrecht vielmehr auch für ihre eigenen Zwecke. Andererseits wäre es irrig, wenn man annehmen wollte, dass das Recht der Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung sich lediglich auf das eigene Gebiet der Körperschaften beziehe; haben doch die Gemeinden in Preussen eine, wenn auch beschränkte, Selbstverwaltung im Schulwesen, das zweifellos zum übertragenen Wirkungskreise gehört. Allerdings hat das Aufsichtsrecht des Staates auf dem der Körperschaft anvertrauten Gebiete eine besondere Bedeutung: die Beaufsichtigung soll nicht nur zur Innehaltung der rechtlich gebotenen Grenzen, sondern auch zur Pflichterfüllung anhalten; sie findet daher ihre Schranke lediglich in Erwägungen der Zweckmässigkeit. Wie denn überhaupt das Verhältnis zwischen dem Staate und den Körperschaften mit übertragenem Wirkungskreise nach Massgabe der staatlichen Interessen gestaltet ist. Die Stellung, die der Staat zu den anderen innerstaatlichen Körperschaften eingenommen hat, musste verschieden sein je nach der Gestaltung der Staatsaufgaben und der Entfaltung der staatlichen Machtmittel.

Der älteste menschliche Verband ist die Familie. Mit ihr hat sich der Staat zunächst auseinanderzusetzen. Ist er selbst familienhaft aufgebaut, so ist sein Verhältnis zu den übrigen Familien-Organisationen das einer gegenseitigen Ergänzung und Durchdringung. Entwickelt er sich als religiöser Verband oder als Wehr-Verband, so wird er den Familien-Verbänden gegenüber eine Grenzziehung vorzunehmen haben. Auch nach Auflösung der grösseren Familienverbände, der Gentes, Sippen, Ganerbschaften, bleibt doch die Familie die kleinste staatsähnliche Genossenschaft, bleibt das Haus eine Schranke der Staatsgewalt.

Dies selbstverständlich auf dem Lande in stärkerem Masse als in der Stadt. Städtisches Leben löst auch die wirtschaftliche und soziale Geschlossenheit des Hauses. Wo aber die Blutsgenossenschaft[WS 1] ihren Einfluss verliert, da setzen andere Genossenschaften ein, um das Bedürfnis nach gemeinschaftlicher Verfolgung wirtschaftlicher und nichtwirtschaftlicher Zwecke zu befriedigen. Bilden sich auf dem Lande da und dort Weidegenossenschaften, Waldgenossenschaften, Deichverbände, so erzeugt die Stadt eine fast unübersehbare Fülle von Verbänden aller Art, die das Leben des Stadtbürgers sozialisieren und binden.

Nicht überall sind die staatsähnlichen Verbände genossenschaftlich organisiert. Wie der Staat selbst bald als Herrschaft bald als Genossenschaft erscheint, möglicherweise auch beide Organisationsformen zu einer Mischform vereinigt, so treten neben die im Staatsverbande stehenden Genossenschaften herrschaftliche Verbände, die einen Herren (Hausherrn, Gebietsherrn) für sich haben und zugleich dem Staatsoberhaupte unterstehen. Und auch die innerstaatlichen Verbände zeigen Mischungen des genossenschaftlichen und des herrschaftlichen Typus.

Von besonderer Bedeutung für den Staat aber wird die Entwicklung der Gemeinden, zumal der Stadtgemeinden. Wie die Mauern des Hauses, so umgrenzen die Mauern der Stadt einen Bezirk, in dem eine Sondergemeinschaft mit besonderer Geschichte und besonderem Geiste sich [222] gestaltet. Das Bewusstsein, dass sie für sich selber sorge, erzeugt in der Bürgerschaft den Wunsch nach Freiheit vom Staate. Und die Möglichkeit, den Trägern der Staatsgewalt Hilfe zu leisten gegen ihre Feinde, verleiht diesem Wunsch den erforderlichen Nachdruck. So bilden sich Stadtstaaten im Staate; sie schliessen Bündnisse, führen Kriege und verhandeln mit dem Staatsoberhaupte wie, wenn sie unabhängig wären.

Zwischen die Gemeinden und den Staat schieben sich möglicherweise genossenschaftliche oder herrschaftliche Verbände : Kreise, Provinzen, Länder. Auch sie erfüllen Aufgaben des Gemeinlebens und beschränken somit auf der einen Seite die kleineren Verbände in ihrem Wirkungskreise wie sie auf der anderen Seite dem Staatsleben Grenzen ziehen.

Und nun zeigt sich, wie die verschiedenen Formen der menschlichen Verbände sich wechselseitig vertreten können. Ein schwacher Staat – eine starke Entwicklung der anderen Verbände. Beschränkt sich der Staat auf die Mehrung des Rechtsfriedens, so nehmen Familie, Genossenschaft, Gemeinde, Provinz die Aufgaben wahr, die nur in gesellschaftlichem Zusammenwirken gefördert werden können. Ist der Staat nicht im Stande, den Frieden zu erhalten, so übernehmen die anderen Verbände auch diese Aufgabe. Es kommt zu einer Dezentralisation des sozialen Lebens, die zur völligen Auflösung des Staates führen kann. Indem sie aber etwa den Staat vernichtet, schafft sie neue, unabhängige Gewalten und damit neue Staaten – der Kreislauf der Körperschaftsbildung beginnt von neuem.

Der Polizeistaat des 17. und 18. Jahrhunderts bedeutet einen Tiefstand des Lebens der nichtstaatlichen Verbände. Der Staat monopolisiert das öffentliche Leben und die öffentliche Gewalt; er unterdrückt wie die Freiheit des Einzelnen so auch die der mit ihm konkurrierenden Verbände. Er strebt nach „Allmacht“. Doch ist auch dafür gesorgt, dass die Staatsbäume nicht in den Himmel wachsen. Denn er muss die Kindererziehung notwendig der Familie überlassen; das Privateigentum zu beseitigen hat auch der absolute Staat nicht versucht; wie die Kirche sich neben dem Staate behauptet, so behaupten sich in ihm örtliche und persönliche Verbände, deren Selbstverwaltung allerdings auf’s äusserste beschränkt, wenn nicht beseitigt wird.

Dass die französische Revolution, die die absolute Herrschaft des Königs zerbrach, um die absolute Herrschaft des Volkes an deren Stelle zu setzen, der Bildung anderer Verbände neben dem Staate nicht günstig war, kann nicht wunder nehmen. Es bildete sich zwar die Vorstellung eines den drei Betätigungen der Staatsgewalt ebenbürtigen „pouvoir municipal“ heraus, deren folgerichtige Verwirklichung zur Umformung des Staates in einen aus kommunalen Verbänden zusammengesetzten Bundesstaat hätte führen müssen. Doch ging die weitere Entwicklung in Frankreich bald wieder nach entgegengesetztem Extrem hin. Die municipale Selbständigkeit passte nicht in das System der „einigen und ungeteilten Staatsgewalt“; so wurde denn bald genug das Präfekten-System wieder eingeführt. Aber diese Politik führte zur völligen Zentralisation von Gesetzgebung und Verwaltung und damit zum Despotismus Napoleon’s wie des Parlaments.

Wie anders die Entwicklung in Deutschland, zumal in Preussen! Als der Freiherr vom Stein mit den Trümmern des Staates Friedrichs des Grossen ein neues Preussen schuf, begann er mit der Beseitigung der patrimonialen Gewalt und der Wiederherstellung des Rechts der Selbstverwaltung der Städte, das er in entsprechender Ausbildung auf die übrigen lokalen Verbände zu übertragen gedachte. Von unten auf gedachte er deu Staat zu bauen: im Gemeindebürgertum sollte das Staatsbürgertum wurzeln; auf der Gemeinde fussend, sollte der Bau des Staates emporsteigen. Der Bau blieb unvollendet; erst die neuere Zeit hat unternommen, ihn weiterzuführen; noch aber ist er nicht vollendet. Kein Zweifel, dass es ein kerndeutscher Gedanke ist, der die Freiheit des Einzelnen mit der Gemeindefreiheit, beide aber mit dem Staatsgedanken in Einklang setzt.

Nicht Freiheit vom Staate, sondern Freiheit im Staate und für den Staat ist nunmehr die Forderung. In diesem Sinne auch Freiheit für die innerstaatlichen Körperschaften, insbesondere die Gemeinden. So ist die Rechtsform der öffentlichen Körperschaft die Verwirklichung des Gedankens der Selbständigkeit der Verbände; sie sind selbständig, weil ihre Selbständigkeit dem Staate dienlich ist.

Dennoch werden diese Verbände nicht einfach Staatsbehörden. Was sie von solchen unterscheidet, ist, dass sie nicht vom Staat für Staatszwecke organisiert worden sind, sondern zunächst [223] für ihre Mitglieder da sind und nur der Staat die vorhandenen Organisationen für sich ausgestaltet und benutzt hat. Sie sind „Körperschaften“ mit sozialem Eigenleben. Aber dieses Eigenleben könnte heute nur in privatrechtlichen Formen sich abspielen, wenn nicht der Staat sie mit Hoheit ausstattete. Er stärkt dadurch ihr Eigenleben; doch nur, um es für seine Zwecke ausnützen zu können. Die Rechtsform des privatrechtlichen Eigenlebens der Körperschaft ist die „juristische Persönlichkeit“. Die Rechtsform des öffentlichrechtlichen Eigenlebens ist die „Selbstgesetzgebung“ (Autonomie) und „Selbstverwaltung.“

Es verschlägt wenig, ob man den autonomen Körperschaften ein „Recht auf Selbstverwaltung“ zuerkennt. Denn es könnte immer nur vom Staate hergeleitet werden. Die naturrechtliche Anschauung, als ob ein unentziehbares Recht dieses Inhalts den Gemeinden und ähnlichen Körperschaften zustehen müsse, ist heute wohl endgiltig überwunden. Sie ist unvereinbar mit der herrschenden Auffassung vom Wesen des Staates; sie macht aus dem Einheitsstaate einen Bund von Staaten. Deshalb ist auch die Ansicht, als stünde die Staatsaufsicht eigentlich im Widerspruch zu dem „Geiste“ der Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung, ein Rückfall in naturrechtliche Vorstellungen. In der Aufsicht über die Körperschaften betätigt der Staat lediglich, dass er die Quelle ihrer öffentlich-rechtlichen Befugnisse ist. Nur dann liegt in der Staatsaufsicht eine „Bevormundung“, wenn sie sich auf privatrechtliche Handlungen der Selbstverwaltungsorgane bezieht. Aber auch eine solche Bevormundung kann geboten sein, sofern die Gefahr besteht, dass diese Organe ihr Recht missbrauchen, um nicht das Gemeinwohl der Mitglieder, sondern das eigene Wohl zu fördern.

Im übrigen ist die Frage, inwieweit die Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung durch die Staatsaufsicht zu beschränken sei, lediglich vom Standpunkte des Staatsinteresses zu beantworten, das heisst: massgebend wird sein, welchen Vorteil der Staat von der öffentlichrechtlichen Betätigung der Körperschaften erwartet und welche Gefahren er zu befürchten hat. In dieser Hinsicht wird aber ein Unterschied zwischen Körperschaften mit Gebiet (Kommunalverbänden) und solchen ohne Gebiet (Genossenschaften) sich ergeben.

Die Benutzung der Organisation der Körperschaften ermöglicht zunächst dem Staate eine Dezentralisation der Verwaltung, eine sachliche und, wenn es sich um Gebietskörperschaften handelt, auch eine örtliche Dezentralisation. Aber für diesen Zweck würde es schon genügen, wenn er Organe dieser Körperschaften in seinen Dienst stellte, wie denn in der Tat der Staat Kommunalverwaltungsbehörden für die Zwecke der allgemeinen Landesverwaltung benutzt. Indem er aber jenen Verbänden Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung zugesteht, will der Staat mehr als nur Dezentralisation: er will das soziale Eigenleben der Körperschaften für Staatszwecke fruchtbar machen.

Dieses Eigenleben ist nun bei Gebietskörperschaften insofern eigenartig entwickelt, als die Bevölkerung durch die Wohnsitzgemeinschaft inniger verbunden wird als durch irgend ein anderes Band, ausser etwa dem Bande der Blutsgemeinschaft. Erst durch Sesshaftwerdung wird aus der Horde ein Volk, und die Kulturgemeinschaft, die im Zusammenhange mit dem Erdboden sich entwickelt, erweist sich als stark genug, um sogar der Gemeinschaft des religiösen Glaubens Abbruch zu tun, ja diese zu sprengen. Wenn also der Staat sesshafte Körperschaften in seinen Dienst stellen will, so findet er ein stark entwickeltes Eigenleben mit einem kräftigen Eigenbewusstsein vor, das will sagen: ein starkes Bewusstsein der besonderen Gemeinschaft, die die Mitglieder dieser Verbände zusammenschliesst. Und dieses gilt es schonend zu behandeln, ja zu pflegen, da gerade die hierin zum Ausdruck kommende Gesamtpersönlichkeit es ist, die an diesen Verbänden für den Staat Wert hat. In einem freien Staat, das heisst: einem Staat, der durch den Willen seiner Bürger lebt, wird das Eigenleben der Körperschaften ebenso zu berücksichtigen sein wie das Eigenleben des Einzelnen. Ist doch das Gemeinbewusstsein, das sich in den engeren Verbänden: der Familie, der Gemeinde entwickelt, die Vorstufe für das Staatsbewusstsein und somit die Betätigung in diesen Verbänden die Vorschule für die Betätigung im Staate.

Dabei soll nicht verkannt werden, dass die euphemistisch „Lokalpatriotismus“ genannte Sonderbünderlei auch eine nicht geringe Gefahr für den Staat bedeutet, eine zentrifugale Kraft hat, der er entgegenwirken muss. Ein wichtiges Mittel zu diesem Zwecke ist die Zusammenfügung [224] kleiner Verbände zu grösseren, der stufenweise Aufbau von Selbstverwaltungskörpern. Nur muss als letzter allumfassender Verband in dieser Folge der Staat stehen; die ehedem in der liberalen Doktrin vertretene Meinung, dass kommunale Hoheit ausserhalb der Staatshoheit stände, ist nach dem eben Gesagten für den Staat der Gegenwart zu verwerfen.

Schwächer als bei den Gemeinden ist das Eigenleben bei den zahlreichen gebietlosen Körperschaften, die das öffentliche Recht kennt. Zwar sind auch sie zum Teil von ehrwürdigem Alter. Aber soweit sie sich aus den Zeiten, wo Privatrecht und öffentliches Recht im Gemenge lagen, hinüber gerettet haben in den absoluten und von diesem in den konstitutionellen Staat, ist doch die alte Kraft zumeist nicht mehr in ihnen. Dies gilt auch für solche Verbände, die einen gewissen örtlichen Zusammenhang haben. Die Innungen von heute sind etwas anderes als die Zünfte des Mittelalters und auch die älteren ländlichen Genossenschaften: die Waldgenossenschaften, die Deichverbände haben doch wohl an Lebenskraft eingebüsst.

Immerhin gibt eins ihnen auch heute noch neues wirksames Leben: die Gemeinschaft der wirtschaftlichen Interessen, das Bewusstsein, dass diese Interessen nur in Gemeinschaft befriedigt werden können. Privatrechtliche Genossenschaften aller Art zeugen von der treibenden Kraft dieses Gedankens. Und eben diese Erkenntnis macht sich der Staat zu Nutze; er stellt alten Verbänden neue wirtschaftliche Aufgaben und schafft neue Verbände für neu entstehende Aufgaben. Er stellt sie dahin, wo das Wohl der Mitglieder des Verbandes mit dem Staatswohl sich deckt. Und so ist denn das heutige öffentliche Leben erfüllt von solchen Verbänden: von Berufs-Organisationen der Anwälte, der Ärzte, der Kaufleute, der Handwerker, der Landwirte, den sog. „Kammern“; Genossenschaften, Kassen, Sozietäten – Körperschaften aller Arten reihen sich an.

Öffentlich sind sie, sofern sie im Dienste des Staates eine Hoheit über ihre Mitglieder ausüben, die vielfach schon darin zum Ausdruck kommt, dass die Mitglieder ihnen zwangsweise angehören. Verliehen ist ihnen Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung, weil der Staat ihre Sonder-Interessen dadurch dienstbar machen will für die Staats-Interessen. Die Aufsicht muss ihnen gegenüber notwendig schärfer sein als gegenüber den Gebiets-Körperschaften. Denn, da sie Interessen-Verbände sind, so ist ihr Eigenleben stets in Gefahr, im Interessen-Widerstreit zu Grunde zu gehen oder aber in Widerspruch zum Staats-Interesse zu treten. Und schärfer noch als gegenüber den Gebiets-Körperschaften muss diesen Verbänden gegenüber betont werden, dass „salus publica suprema lex“ bleiben müsse.

Das Leben aller öffentlichen Körperschaften, vom Staate bis zu den kleinsten Verbänden, leidet notwendig darunter, dass die Tätigkeit der Organe gebunden ist durch die Verfassung und die auf ihr fussende Gesetzgebung. Zwar kann innerhalb der Körperschaft wiederum eine Dezentralisation stattfinden wie sie dem Staat durch die Übertragung von Aufgaben an die Gemeinden, den Gemeinden durch die Bestellung von Verwaltungsdeputationen ermöglicht wird – trotz dieser und ähnlicher Massregeln hat die dem neuzeitlichen öffentlichen Recht eigene Organisation der Beaufsichtigung nur zu leicht eine Lähmung der Unternehmungslust und Tatkraft im Gefolge. Der Ruf nach „kaufmännischen“ Verwaltung bedeutet im Grunde nichts anderes als das Verlangen nach privatrechtlicher Ungebundenheit an Stelle öffentlichrechtlicher Gebundenheit des Handelns. Aber vor Übertreibungen muss gewarnt werden. Dass die kritiklose Durchführung dieses Gedankens eine Rückkehr zu überwundenen Zuständen unseres öffentlichen Lebens bedeuten würde, sollte einleuchten.

Die Erkenntnis, dass in der Organisation eine Schwäche aller Körperschaften öffentlichen Rechts begründet sei, hat in neuerer Zeit dahin geführt, den Privat-Vereinen mit gemeinnützigen Zwecken eine erhöhte Aufmerksamkeit zuzuwenden, in ihnen die Pioniere der öffentlichen Körperschaften zu erkennen und zu unterstützen. Mag es sich um Säuglingsfürsorge oder Heimatpflege, um Jugenderziehung oder Volksgesundheitspflege, um Förderung der Kunst oder um Fürsorge für entlassene Strafgefangene handeln – überall arbeiten dem Staate und den anderen öffentlichen Körperschaften Privatvereine vor.

In der Freiwilligkeit der Bildung und der Freiwilligkeit der übernommenen Aufgaben liegt ihr Vorzug und liegt ihre Schwäche. Der Vorzug, sofern die Unternehmungslust, die Bereitwilligkeit, die Schnelligkeit des Handelns durch die Fessellosigkeit gefördert wird. Die Schwäche, sofern eben [225] der gute Wille nur zu leicht erlahmt und das Ausscheiden eines einzigen leitenden und führenden Mitgliedes ein völliges Aufhören der Tätigkeit des Vereines herbeiführen kann. Dazu kommt die Gefahr der Kräfte-Zersplitterung, ja des Gegeneinanderarbeitens der Vereine.

Aber die Nachteile können wesentlich gemindert, ja behoben und somit die Vorteile dieser gemeinnützigen Organisation zur uneingeschränkten Geltung gebracht werden, indem eine Angliederung der Privatvereine an öffentlichrechtliche Körperschaften vorgenommen wird. Sie kann in doppelter Form erfolgen: durch Herstellung einer Personalunion oder durch Schaffung einer öffentlichen Zentralstelle. Kommt eine finanzielle Unterstützung hinzu, so ist damit eine besonders wirksame Grundlage für die Herstellung eines Einflusses auf die Verwaltung des Vereins gegeben.

Auf ähnlichen Gedankengängen beruht es, wenn in neuerer Zeit öffentliche Körperschaften, insbesondere Gemeinden, dazu übergegangen sind, ihre wirtschaftlichen Bedürfnisse in der Weise zu befriedigen, dass sie sich durch Beteiligung einen massgebenden Einfluss auf Aktien-Gesellschaften sichern und auf diese Weise die Vorteile, die eine privatrechtliche Verwaltung von Strassenbahnen, Elektrizitätswerken, Bergwerken bietet, zu erhalten und die Nachteile auszuschliessen suchen. („Gemischt-öffentliche Betriebe“.)

Dass diese Verknüpfung privatrechtlicher und öffentlich-rechtlicher Organisation und Autonomie in manchen Fällen zu empfehlen ist, dürfte aus dem Gesagten hervorgehen. Es darf aber nicht aus dem Auge gelassen werden, dass eine übermässige Benutzung dieser Rechtsform dieselbe Gefahr mit sich bringt wie eine übermässige Verselbständigung der im Staate lebenden Körperschaften öffentlichen Rechts: die Gefahr, dass die Dezentralisation zur Zerreissung führe. Alle Kraftentfaltung im Staate darf nur den Zwecke des Gemeinwohls der Staatsbürger dienen. Unter diesen Gesichtspunkt allein ist auch die Frage zu beantworten, wie die Selbstgesetzgebung und Selbstverwaltung der Körperschaften zweckmässig zu organisieren ist.



Anmerkungen (Wikisource)

  1. so lesbar im Original