Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Hugo Preuß
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland
Untertitel:
aus: Handbuch der Politik Erster Band: Die Grundlagen der Politik, Drittes Hauptstück: Herrschaft und Verwaltung, Abschnitt 15, S. 199−219
Herausgeber: Paul Laban, Adolf Wach, Adolf Wagner, Georg Jellinek, Karl Lamprecht, Franz von Liszt, Georg von Schanz, Fritz Berolzheimer
Auflage:
Entstehungsdatum: {{{ENTSTEHUNGSJAHR}}}
Erscheinungsdatum: 1914
Verlag: Dr. Walther Rothschild
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Berlin und Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
korrigiert
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal Korrektur gelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[199]
15. Abschnitt.


a) Die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland.
Von
Dr. jur. Hugo Preuss,
Professor an der Handelshochschule Berlin.


Inhalt:[Bearbeiten]

1. Selbstverwaltung und selfgovernment. – 2. Die Entwicklung der Selbstverwaltungsgesetzgebung in Preussen. – 3. Die Entwicklung der Selbstverwaltungsgesetzgebung in den anderen deutschen Staaten. – 4. Die heutige Organisation der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland.

Die Literatur[Bearbeiten]

über die „Selbstverwaltung“ kann hier auch nicht im Ueberblick gegeben werden. Neben den Kompendien des Staats- und Verwaltungsrechts, des allgemeinen, des deutschen und einzelstaatlichen, kommen die Kommentare zu den Gemeinde-Kreis-Provinzial-Ordnungen in Betracht sowie eine überreiche monographische Literatur. – Ein Ueberblick der geltenden Gemeinde-Gesetze nach dem Stande von 1905 findet sich bei

Meyer-Anschütz: „Lehrbuch des deutschen Staatsrechts“. 6. Aufl. S. 373 fg.

Hier seien lediglich erwähnt: die Werke Gneists und dazu:

Jos. Redlich, „Englische Lokalverwaltung“ (1901).
Gierke: Genossenschaftsrecht Bd. I, und Art. „Gemeindebeamte“ in Holzendorffs Rechtslexikon sowie sein Vortrag: „Die preussische St. O. v. 1808 und ihre Nachfolgerinnen.“
– Die Publikationen des Vereins f. Sozialpolitik über „Verfassung und Verwaltung der Städte“. 1906–1908.
Keil: „Die Landgemeinde“ 1896.
Preuss: „Das städtische Amtsrecht in Preussen“ 1902.
– „Die Entwicklung des deutschen Städtewesens“, Bd. I 1906.
– „Das Recht der städtischen Schulverwaltung in Preussen“ 1905.
– „Zur preussischen Verwaltungsreform“. 1910.

1. Selbstverwaltung und selfgovernment.[Bearbeiten]

Die schönste Einmütigkeit und die schlimmste Meinungsverworrenheit zugleich bestehen in unserer Literatur über die Selbstverwaltung. Dass sie nützlich, notwendig, unentbehrlich sei, darüber ist alles einig; aber was eigentlich Selbstverwaltung ist, worauf ihr Wesen beruht, – darüber ist alles uneinig. Und gerade seit der Wirksamkeit Gneist’s, die für die Beschäftigung der Wissenschaft, der Publizistik und der Gesetzgebung mit dem Problem der Selbstverwaltung von grösster Bedeutung gewesen ist, hat dieses Problem in Theorie und Praxis an Unklarheit stark zugenommen. Sehen die einen im Ehrenamt das Charakteristikum der Selbstverwaltung, so erkennen die andern, dass auch berufsamtliche Tätigkeit den Begriff der Selbstverwaltung nicht ausschliesst, während umgekehrt mit dem Ehrenamt an sich jener Begriff noch nicht gegeben ist. Bestellung der Beamten durch Wahl ist für die einen der entscheidende Punkt, während für die andern das echte Wesen der Selbstverwaltung die Ernennung ihrer Träger durch die Krone erfordern soll. Geht man hier von der Antithese aus: Selbstverwaltung ist der Gegensatz von Staatsverwaltung, so verkündet man dort das Dogma: alle Selbstverwaltung ist staatliche Verwaltung. Damit verknüpft sich weiter die Meinung, dass das eigentliche Gebiet der Selbstverwaltung nur die Verwaltung wirtschaftlicher Angelegenheiten sei, während die obrigkeitliche Verwaltung dem Staate zukommt; dagegen sehen andere in der Selbstverwaltung eine wahre politische Verwaltung, die als solche obrigkeitliche und wirtschaftliche Aufgaben enthalte. Einen Notweg aus dieser Wirrsal sucht man zu gewinnen durch die Spaltung des Begriffs der Selbstverwaltung: in einen politischen Begriff der „bürgerlichen“ und einen juristischen Begriff der „körperschaftlichen“ Selbstverwaltung; wogegen jedoch geltend gemacht wird, dass hier wie überall im Staatsrecht die juristische Form einen politischen Inhalt umschliessen müsse. Endlich ist es bei solcher Meinungsverschiedenheit über das Wesen der Sache nicht verwunderlich, dass für die einen England nicht bloss das Mutterland, [200] sondern immer noch das Musterland höchstentwickelter Selbstverwaltung ist, während die anderen behaupten, dass die deutsche, insonderheit die preussische Gestaltung jenes Urbild längst überflügelt habe.

So der status causae et controversiae.

Dieser Status ist deshalb so hoffnungslos, weil die Vertreter der verschiedenen Meinungen an einander vorbei argumentieren; und dafür wieder liegt der Grund, wie so oft, darin, dass die einen für eine logische Kategorie halten, was die andern als historische Kategorie erkennen. Das gilt hier nicht von dem Begriff der Selbstverwaltung an sich, wohl aber von dem Begriff des „Staates“, an dem jener beständig gemessen wird. Und eben dieser Masstab ist die Ursache der ganzen Verwirrung; denn das, woran gemessen wird, ist keine fest bestimmte Grösse, vielmehr etwas weit variableres, als das, was daran gemessen werden soll.

So erklärt sich auch der tiefe Gegensatz, der schlechtweg als inkommensurabel erscheint, zwischen den englischen und den kontinentalen, insonderheit den deutschen Verhältnissen. In der Heimat des „selfgovernment“ bleibt jener ganze Kontroversenknäuel über den „Begriff der Selbstverwaltung“ vollständig unbegreiflich, wie man ja in der Heimat des parlamentarischen Konstitutionalismus manche fine fleur unseres konstitutionellen Staatsrechts, etwa die Lehre vom „Gesetz in materiellem und formellem Sinn“, nicht begreift; wie man in dem Weltreich, das die verschiedenartigsten Gemeinwesen in den mannigfachsten Eingliederungsverhältnissen umfasst, auch unsere dogmatischen Schmerzen wegen des Bundesstaatsbegriffs und des Wesensunterschiedes von „Staat“ und „Gemeinde“ nicht versteht.

Wort und Prinzip der heutigen deutschen Selbstverwaltung wurden in bewusster Anlehnung an das Wort und das Prinzip des englischen selfgovernment gebildet. Aber schon das Wort erfuhr in der Übertragung eine vermutlich unbewusste Einschränkung; denn „Verwaltung“ ist enger als „government“. Dem entspricht die Einschränkung des Prinzips und zwar eine qualitative Einschränkung. Beiden gemeinsam ist der Gegensatz zu der Beamtenregierung des absolutistischen Obrigkeitsstaates; völlig verschieden aber ist hüben und drüben die Austragung dieses Gegensatzes. In England hat eine in Jahrhunderten konstante Entwickelung das Prinzip des selfgovernment auf allen Stufen des Gemeinlebens völlig an die Stelle obrigkeitlicher Beamtenregierung gesetzt. Wie das nationale Gemeinwesen sich durch sein parlamentarisches Organ und dessen Mehrheitsausschuss selbst regiert: national government, so regieren sich die kommunalen Gemeinwesen durch ihre Repräsentanten und deren Ausschüsse selbst: local government. Die technische Arbeit der Berufsbeamten, die stets erforderlich war und neuerdings in erweitertem Umfange erforderlich ist, wird in den Dienst der regierenden Politiker gestellt; der Berufsbeamte ist Techniker, nicht Obrigkeit – im Staat wie in der Gemeinde. Gewiss ist die kommunale Verwaltung in einem uns befremdenden Masse an Parlamentsakte gebunden; aber dasselbe gilt von der Staatsverwaltung. Es ist eine durchaus einheitliche Struktur.

In vollem Gegensatz hierzu zeigt die deutsche Struktur das Bild eines ungelösten Dualismus. Das Prinzip des selfgovernment hat zwar in die obrigkeitliche Beamtenregierung manche Bresche gelegt in Gestalt des staatlichen Konstitutionalismus wie der kommunalen Selbstverwaltung; aber es hat sich keineswegs an ihre Stelle zu setzen vermocht, und zwar im Staate noch weniger als in der Gemeinde. Von einem „national selfgovernment“ ist trotz der konstitutionellen Verfassungen weder in den Einzelstaaten noch im Reiche zu reden. Dort steht die alte Obrigkeitsorganisation der Beamtenhierarchie immer noch als „Regierung“ der „Volksvertretung“ nicht bloss selbständig, sondern trotz der abweichenden theoretischen Konstruktion als eigentliche Verkörperung des „Staates“ gegenüber. Und im Reiche, wo die historische Tradition des alten Obrigkeitsstaates fehlt, wird sie durch die verfassungsmässige Stellung der „verbündeten Regierungen“ ersetzt! Eben jene obrigkeitliche Beamtenregierung ist denn auch in Wahrheit der „Staat“, mit dessen „Wesen“ ein wirkliches local selfgovernment unvereinbar, und höchstens unter mannigfachen Reibungen eine beschränkte kommunale Selbstverwaltung zu verbinden ist. Daraus ergeben sich in der Praxis die ständigen Grenzverschiebungen zwischen staatlicher Aufsicht über die kommunale Tätigkeit und hierarchischer Subordination der kommunalen unter die staatlichen Verwaltungsbehörden. Daraus ergeben sich in der Theorie alle jene Probleme über das Wesen der Selbstverwaltung [201] im Verhältnis zum „Staat“, die als wahre querelles allemandes der deutschen Wissenschaft eigentümlich sind. Die Lösung dieser Probleme ist unmöglich, so lange man den entscheidenden Gegensatz da sucht, wo er nicht liegt: im Wesen des „Staates“ und der „Gemeinde“, die vielmehr einander homogen sind ; und ihn da nicht sieht, wo er wirklich besteht: im Verhältnis der obrigkeitlichen Beamtenregierung zum Prinzip des selfgovernment in Staat und Gemeinde.

Dieser bestehende Zustand ist der Niederschlag der geschichtlichen Entwicklung, vor allem in dem führenden deutschen Staate, in Preussen.

2. Die Entwicklung der Selbstverwaltungsgesetzgebung in Preussen.[Bearbeiten]

Die Grundlage der modernen Selbstverwaltung in Deutschland, die erste preussische St. O. v. 19. Nov. 1808 war von ihren Urhebern nur als Bestandteil der fundamentalen Reform gedacht die das zusammengebrochene System der obrigkeitlichen Beamtenregierung durch die Organisation eines national selfgovernment ersetzen sollte. „Durch die Reform eine Nation zu bilden“, das war das ausgesprochene Ziel der Politik Steins. Diesen Reformgedanken zu verwirklichen, misslang jedoch; vielmehr blieb die St. O. das einzige abgeschlossene Werk der Steinschen Gesetzgebung. Im übrigen ging aus der Reformära nur eine Rekonstruktion der obrigkeitlichen Beamtenregierung hervor, in deren Rahmen die städtische Selbstverwaltungsorganisation als ein isoliertes, der sonstigen staatlichen Struktur heterogenes Element eintrat. Damit war von Anbeginn der immanente Gegensatz gegeben, der die ganze folgende Entwicklung beherrscht.

Die Steinsche Reform hatte die Organisation des national selfgovernment folgerichtig von unten nach oben durchführen wollen, und deshalb mit der Befreiung der lokalen Verbände, mit der Organisation des local selfgovernment begonnen. Auch hier war zunächst eine Beschränkung auf die Stadtgemeinden kaum zu vermeiden. Allerdings hatte der absolute Obrigkeitsstaat die mittelalterliche Städtefreiheit völlig gebrochen, den einst so kräftigen bürgerlichen Gemeingeist gänzlich erstickt; nirgends gründlicher als gerade in Brandenburg-Preussen. Immerhin konnte man in den Städten doch an eine zwar halbverklungene, aber von der Erinnerung romantisch verklärte Tradition anknüpfen. Vor allem jedoch stiess die politische Wiedergeburt des städtischen Bürgertums nicht auf die schweren Hemmungen, die sich einer analogen Umgestaltung auf dem flachen Lande entgegenstemmten durch die persönliche Unfreiheit der Bauern, die gutsherrliche Obrigkeit, die patrimonial-feudale Ordnung der Grundbesitzverhältnisse, wo öffentliches und privates Recht noch ebenso im Gemenge lag, wie Ritterhufen und Rustikalland. Hier hatte das Edikt v. 9. Okt. 1807 mehr nur das Programm einer Reform, als eine unmittelbar wirksame Neugestaltung gebracht. Wohl rechnete Steins feurige Tatkraft auf eine schleunige Ueberwindung auch dieser gewaltigen Widerstände; aber eben dieser Tatkraft entsprach es, sofort zuzugreifen, wo sich das Neue ohne langwierige Vorstadien schaffen liess. Und Eile tat dringend not. Ohne die kongeniale Mitarbeit des Königsberger Polizeidirektors und Stadtrats Frey hätte Stein schwerlich noch seinen Namen unter die St. O. setzen können; 5 Tage nach deren Sanktion wurde der grosse Reformminister entlassen.

Das moderne selfgovernment lässt sich im Staate wie in grösseren Gemeinden nur auf Grundlage der Repräsentativverfassung organisieren. Mit der Wahl der Stadtverordneten durch die Bürgerschaft, mit der Uebertragung des Beschluss- und Kontrollrechts auf dieses Repräsentativorgan trieb die St. O. in den obrigkeitlichen Beamtenstaat das ihm diametral entgegengesetzte Prinzip der kommunalen und das Prototyp des parlamentarischen selfgovernment hinein. Die Entscheidungsmacht über die Angelegenheiten der Stadtgemeinde sollte von der Staatsbureaukratie auf die erwählte Vertretung der Bürgerschaft übergehen. Es ist wahrlich kein Zufall, dass die St. O. den Beruf dieser Repräsentanten fast wörtlich so umschreibt, wie es die Constituante für das erste verfassungsmässige Parlament des Kontinents getan hatte. Wenn neben der Stadtver.-Vers. als zweites Organ der Gemeinde der Magistrat bestehen blieb, so streifte er doch den patrimonialen Charakter der alten Ratsobrigkeit völlig ab. An die Stelle der Lebenslänglichkeit und der Selbstergänzung, die durch ein oft bis zur Ernennung überspanntes Bestätigungsrecht der staatlichen Obrigkeit beschränkt [202] war, trat die Wahl auf Zeit durch die Stadtverordneten, als deren Exekutivausschuss der neue Magistrat erscheint. Er „soll überall nur aus Mitgliedern der Bürgerschaft bestehen, die das Vertrauen derselben geniessen.“ (§ 141). In der Hauptsache sollten seine Mitglieder im Ehrenamte stehen. Stein entschloss sich ungern, auf den ehrenamtlichen Bürgermeister zu verzichten; und die St. O. sucht die Zahl der Berufsbeamten im Magistrat nach Möglichkeit zu beschränken. Das Berufsbeamtentum war das wichtigste Element im Entwicklungsgang des fürstlichen Obrigkeitsstaates gewesen; dieser hatte das alte Ehrenamt der ständischen Gesellschaft ausgerottet. Jetzt lebte es als bürgerliches Ehrenamt in verjüngter Gestalt wieder auf. Denn nur auf dem Boden eines freien genossenschaftlichen Lebens ist die ehrenamtliche Tätigkeit denkbar; und an einem solchen fehlte es durchaus innerhalb der obrigkeitlichen Beamtenregierung. Diese Beamten waren und konnten nur sein die berufsmässigen Diener des politisch allein berechtigten fürstlichen Herrn, in dessen Lohn und Brot sie standen. Indem die St. O. die genossenschaftliche Struktur des bürgerlichen Gemeinwesens wieder belebte, schuf sie auch wieder Raum für die Tätigkeit von Bürgern im Ehrenamt als Organe dieses Gemeinwesens, nicht als gemietete Diener eines fürstlichen Herrn. Diesen neuen Charakter aber teilten mit den Ehrenämtern nun die städtischen Berufsämter; auch ihre Träger sind nicht mehr missi dominici, beauftragte Diener einer transcendenten Obrigkeit, sondern Organe des Gemeinwesens, in dessen Rechten ihre amtliche Zuständigkeit wurzelt. Ja, diese Umgestaltung wirkt hinüber auf das Staatsbeamtentum; wenn die regenerierte Bureaukratie nach der Reformära trotz der Fortdauer des Absolutismus doch nicht mehr völlig der des ancien regime gleicht, so ist dies eine Wirkung des Geistes, aus dem die St. O. erwuchs. Für diesen Ideennexus ist es bezeichnend, dass die mit der St. O. fast gleichzeitige Verordnung v. 26. Dez. 1808 die Vorgesetzten anweist, „das Dienstverhältnis gegen ihre Untergebenen nicht zu einem Mietskontrakt und öffentliche Beamte nicht zu Mietlingen herabzuwürdigen“. Auch hier wird also im Prinzip schon der Bruch mit dem fürstlichen Dienertum des Obrigkeitsstaates vollzogen und ein Gedanke ausgesprochen, den erst der Verfassungsstaat vollenden kann.

Für die Kompetenzabgrenzung zwischen Staat und Stadt enthielt die St. O. gar keine positiven und nur eine negative Bestimmung. Abgesehen von der Gerichtsbarkeit, die den Städten gleichzeitig durch ein anderes Gesetz genommen wurde, schloss die St. O. die Ortspolizei von der Zuständigkeit der städtischen Selbstverwaltung, aber nicht von ihrer Zahlungspflicht aus. Sie beging damit ihren einzigen, überaus verhängnisvollen Prinzipfehler (vgl. unten). Im übrigen unterstellte sie zwar die kommunale Tätigkeit der staatlichen Aufsicht; gab dieser aber durch genaue gesetzliche Umschreibung eine feste Rechtsform.

Qualitativ war der mit der St. O. vollzogene Fortschritt überaus bedeutungsvoll; aber im Rahmen des grossen Steinschen Planes einer fundamentalen Staatsreform, die das obrigkeitliche Beamtenregiment durch die Selbstverwaltung in den Verfassungsstaat überführen wollte, war quantitativ ihre Wirksamkeit doch nur recht beschränkt. Das damalige Preussen war ganz überwiegend Agrarstaat, das städtische Element an Zahl und an wirtschaftlicher wie politischer Bedeutung keineswegs ausschlaggebend. Die notwendige Voraussetzung für eine Höherführung der Selbstverwaltungsorganisation war also eine Verbreiterung ihrer Grundlage durch die Ausdehnung auf das agrarische Land. Die Vorbedingung dafür wiederum war die Neuordnung der gutsherrlich-bäuerlichen Verhältnisse. Sie ward von der Hardenbergschen Gesetzgebung in Angriff genommen. Da jedoch die Beamtenregierung hierbei auf den energischen Widerstand der alten sozialen Herrenschicht stiess, ohne die tatkräftige Unterstützung der übrigen Volksklassen zu erhalten, konnte der Erfolg nur unzulänglich sein. Ja, der bisher schon hier so mächtig überwiegende Grossgrundbesitz wurde noch gewaltig verstärkt, indem die Rittergüter für die Aufhebung feudaler Gerechtsame durch Zuschlagung von Bauernland entschädigt wurden. Die Aufgabe, diese Grossgüter mit den meist kleinen und leistungsschwachen Dörfern in den Rahmen einer modernen Organisation kommunaler Selbstverwaltung einzufügen, war tatsächlich unlösbar. Demgemäss blieb die feudal-patrimoniale Organisationsform bestehen: die Patrimonialobrigkeit der Rittergüter über die Landgemeinden.

Zu diesem scharfen Gegensatz zwischen Stadt und Land der ostelbischen Provinzen trat nach dem Wiener Kongress in dem vergrössert wiederhergestellten Staate der nicht minder scharfe [203] Gegensatz von Ost und West. Hier im Westen war jener Gegensatz von Stadt und Land, der im Osten der wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Struktur der Bevölkerung das charakteristische Gepräge gab, erheblich abgemildert, im Rheinland vielfach fast ausgeglichen. Und im Gegensatz zum Osten mit seinem ländlichen Grossgrundbesitz und Zwerggemeindetum herrschte im Westen ländlicher Kleinbesitz und Grossgemeindetum, so dass die Reste des Grossgrundbesitzes sich leicht in die kommunale Organisation der grossen Gemeinden einfügten, die überdies noch zu Samtgemeinden verbunden waren.

Die von Hardenberg erwirkte Verordnung v. 22. Mai 1815 „über die zu bildende Repräsentation des Volkes“ hatte noch den Steinschen Reformgedanken bewahrt, die Staatsverfassung organisch auf der kommunalen Selbstverwaltung in Gemeinde, Kreis und Provinz aufzubauen. Demgemäss liess der Staatskanzler durch eine Immediatkommission die Entwürfe einer Städte- und Landgemeinde-Ordnung sowie einer Kreisordnung für den ganzen Staat ausarbeiten, mit dem Ziele: „die Grundsätze der St. O. v. 1808 auf alle Kommunen auszudehnen, um mit der grösseren Selbständigkeit, welche hiernach den Gemeinden zuteil wird, auch eine rege Teilnahme für ihre gemeinschaftlichen Angelegenheiten unter allen ihren Gliedern zu erwecken, und auf einer in diesem Sinne gebildeten Gemeindeeinrichtung die Grundlagen der künftigen Verfassung zu erbauen“. Eine wirklich gemeinsame Grundlage der kommunalen Organisation des östlichen und westlichen Landes vermochten diese Entwürfe freilich nicht herzustellen, da sie an die ländlichen Verhältnisse des Ostens, insonderheit an die kommunale Immunität der Rittergüter nicht rühren durften. Daher versuchte man schon damals den Ausweg, die auf der untersten Stufe, der Ortsgemeinde, zunächst unmögliche Ausgleichung auf der nächst höheren Stufe, bei den Kreisen, zu gewinnen. Dazu bedurfte es jedoch auch einer gründlichen Umgestaltung der östlichen Kreistage, die wiederum aus den Rittergutsbesitzern als Kreisständen, mit dem von ihnen präsentierten Landrat an der Spitze, bestanden; denn dies hier allein herrschende ritterschaftliche Element fehlte im Westen fast völlig. Aber auch dieser Versuch, an der Eigenart „Alt-Preussens“ und seiner „echt teutschen ständischen Gliederung“ etwas zu ändern, stiess in der Zeit der Karlsbader Beschlüsse auf unüberwindlichen Widerstand; die Hardenbergschen Entwürfe wurden vom König abgelehnt. Damit war sowohl der Ausbau der kommunalen Selbstverwaltung wie eine organische Entwickelung zur repräsentativen Staatsverfassung unterbunden. Die durch Gesetz v. 23. Juni 1823 eingeleitete provinzial- und kreisständische Gesetzgebung liess das Virilstimmrecht der Rittergutsbesitzer auf den Kreistagen bestehen und basierte Kreis- wie Provinzialstandschaft auf den Grundbesitz in ständischer Gliederung. Die St. O. v. 1808 blieb völlig isoliert im absolutistischen Beamtenstaat und gegenüber jenen feudalen Kreis- und Provinzialständen stehen; die Prinzipien ihrer Selbstverwaltung wurden weder auf die Landgemeinden noch auf höhere Kommunalverbände ausgedehnt; auch nicht auf die Städte der neuen Provinzen. Vielmehr erging für die grösseren Städte der Provinz Posen, die westelbischen Teile der Provinz Sachsen, für die Provinz Westfalen und für 3 rheinische Städte die revidierte St. O. v. 1831. Sie war in den äusseren Formen der Organisation dem Grundgesetz städtischer Selbstverwaltung ziemlich genau nachgebildet; aber von ihrem Geiste urteilte treffend Wilhelm v. Humboldt, „dass dem Beaufsichtigen der Staatsbehörden sehr viel zugestanden worden sei, und dass in dem ganzen Entwurf die Absicht, den Städten die zur Erwerbung allgemeiner Teilnahme an dem Gesamtwohl notwendige Selbständigkeit zu geben, sich nicht so lebendig als in der alten St. O. ausspricht“. Dies trifft namentlich das Verhältniss zwischen Magistrat und Stadtverordneten und die Staatsaufsicht. In erster Beziehung verschiebt die revidierte St. O. den Schwerpunkt scheinbar zugunsten des Magistrats, in Wahrheit zugunsten der Staatsbureaukratie ; denn diese entscheidet endgültig in allen Konfliktsfällen zwischen beiden städtischen Kollegien; und die Wahrscheinlichkeit solcher Konflikte ist durch die unklare und komplizierte Abgrenzung der Zuständigkeit sehr gesteigert. Wie anders als in der ersten St. O. klingt hier die Legaldefinition von der Stellung des Magistrats: „Jeder Stadt soll als deren Obrigkeit ein Magistrat vorgesetzt sein, welcher in einer doppelten Beziehung steht : a) als Verwalter der Gemeindeangelegenheiten; b) als Organ der Staatsgewalt“! Die Betonung seines Charakters als „Obrigkeit“ betont zugleich die Subordinierung des Magistrats unter die eigentliche Obrigkeit: die Beamtenregierung. Und dem entspricht es durchaus, dass an die Stelle der präzisen gesetzlichen Umschreibung der Staatsaufsicht in der ersten [204] St. O. hier als Inhalt dieser Aufsicht die Kautschukbestimmung erscheint: „dafür zu sorgen, dass die Verwaltung fortwährend in dem vorgeschriebenen Gange bleibe und angezeigte Störungen beseitigt werden“. Das ist in Wirklichkeit keine Aufsicht über kommunale Selbstverwaltung, sondern die Leitung einer subordinierten Verwaltung durch die vorgesetzte Staatsbehörde. Während im Geltungsbereich der ersten St. O. ihre Hineinzwängung in den Rahmen der obrigkeitlichen Beamtenregierung durch zahlreiche „Deklarationen“ in recht mühseliger Einzelarbeit geschehen musste, ist die revidierte St. O. v. 1831 der reine Ausdruck dieses zwieschlächtigen Systems. Und für die Fortdauer dieses Systems ist es bezeichnend, dass die Bestimmungen jenes längst nicht mehr geltenden Gesetzes noch heute mit Vorliebe zur „Deklaration“ des geltenden Städterechts herangezogen werden.

In Westfalen trat neben die revid. St. O. eine Landgemeinde-O. v. 1841; die Rheinprovinz erhielt eine für Stadt- und Landgemeinden geltende Gem. O. v. 1845, die sich an die dort bestehenden, von der französischen Organisation beeinflussten Zustände anlehnte. In dem früher schwedischen Teil Pommerns liess man die besondern Statuten und Recesse für die einzelnen Städte bestehen. Und auch auf dem flachen Lande der östlichen Provinzen galt nach wie vor die Ordnung des preussischen Landrechts mit der Patrimonialgewalt der Rittergüter über die Landgemeinden.

Der grosse Reformgedanke, eine Repräsentativverfassung aus dem organischen Aufbau der Selbstverwaltungskörper herauswachsen zu lassen, war also gescheitert. Die Bewegung von 1848 setzte vielmehr auch hier die konstitutionellen Formen der Verfassung neben die bureaukratische Verwaltungsorganisation der Beamtenregierung. Trotzdem verkannte die siegreiche konstitutionelle Bewegung keineswegs, dass das national selfgovernment parlamentarischen Verfassungslebens den soliden Unterbau des local selfgovernment kommunaler Selbstverwaltung nicht entbehren könne. Das erste deutsche Parlament hatte in seine „Grundrechte des deutschen Volkes“ und damit in die erstrebte Reichsverfassung auch Normativbestimmungen für die Gemeindeverfassungen aufgenommen, indem es mit scharfem politischen Blick die wichtigsten Hemmnisse beseitigen wollte, die bisher einer kräftigen Entwicklung des kommunalen Lebens in den deutschen Einzelstaaten entgegenstanden. Auch beim Erlass der preussischen Verfassung v. 31. Jan. 1850 war diese Anschauung noch wirksam, wenn auch in erheblicher Abschwächung, indem der Art. 105 die Ausdehnung der Selbstverwaltungsorganisation nicht nur auf alle Ortsgemeinden, sondern auch auf die höheren Kommunalverbände: Kreis, Bezirk und Provinz vorschrieb. Die nähere Ausgestaltung war besondern Gesetzen vorbehalten. Sie kamen auch als eines der ersten Werke der neuen konstitutionellen Gesetzgebung sehr rasch zustande; am 11. März 1850 erging eine neue Gemeinde-O. für städtische und ländliche Gemeinden des ganzen Staates, eine Kreis-, Bezirks- und Provinzial-O. und ein Gesetz über die Polizeiverwaltung.

Das Ziel dieser Gesetzgebung konnte kein anderes sein, als die Lücke auszufüllen, die durch das Verlassen des Stein-Hardenbergschen Reformplans entstanden war; ihr Inhalt musste daher den einstigen Hardenbergschen Entwürfen wesensverwandt sein. Wie damals war es auch jetzt die Aufgabe, die organisatorischen Gegensätze der städtischen und ländlichen Kommunalverfassung und damit zugleich die des östlichen und westlichen Staatsteiles auszugleichen. Dem entsprach die Gemeinde-O., indem sie zwar für kleine Gemeinden eine Vereinfachung der Organisation zuliess, im übrigen aber Stadt- und Landgemeinden des ganzen Staates gleich behandelte. Sie führte als Grundlage des Bürgerrechts das Prinzip der Einwohnergemeinde durch; schloss sich aber in vielen Punkten an die Bestimmungen der revidierten St. O. v. 1831 an. Insofern brachte sie den Städten im Geltungsbereich der Steinschen St. O. eher einen Rückschritt ihrer kommunalen Autonomie. Dafür dehnte sie diese auf alle Ortsgemeinden aus unter Beseitigung der gutsherrlichen Obrigkeit, insonderheit ihrer Patrimonialpolizei über die Landgemeinden. Damit stand weiter im Zusammenhang die Uebertragung der wichtigsten Aufsichtsbefugnisse von der reinen Staatsbureaukratie auf die Organe der durch die gleichzeitige Kreis-, Bezirks- und Provinzial-O. konstituierten höheren Selbstverwaltungskörper. Denn diese Gesetze beseitigten auch die feudalen Kreis- und Provinzialstände, indem sie aus den Wahlen der Gemeindevertretungen die Kreisversammlungen nach dem Masstabe der Bevölkerung hervorgehen liessen; ebenso aus den Wahlen der [205] Kreisvertretungen die Provinzialversammlung. Gerade die Verwandtschaft dieser Gesetzgebung mit den Grundgedanken der alten Reformpläne bereitete ihr bei der raschen Erstarkung der Reaktion sehr schnell das gleiche Schicksal, das dieselben Kräfte der Stein-Hardenbergschen Reform bereitet hatten. Die Gemeinde-O. kam allenfalls im Westen und in einigen grösseren Städten des Ostens zur Ausführung d. h. da, wo sie an den bestehenden Einrichtungen kaum etwas verbesserte. Wo sie jedoch wirklich Neues schaffen sollte, auf dem flachen Land der östlichen Provinzen, vermochten die alten Mächte jeden Anfang der Ausführung zu verhindern; damit war auch die Ausführung der Kreis-, Bezirks- und Provinzial-O. unmöglich gemacht. Am 24. Mai 1853 wurden alle diese Gesetze nebst Art. 105 der V. aufgehoben, die alten Kreis- und Provinzialstände wiederhergestellt. Die unmittelbare Folge war die Ersetzung der verfassungsgemässen I. Kammer durch das Herrenhaus. Für die Landesteile, die vorher kommunale Verfassungen besessen hatten, lebten sie in ihrer alten Buntscheckigkeit wieder auf. Die Städte der östl. Provinzen (ausser Neuvorpommern und Rügen, wo es bei den einzelnen Stadtrezessen blieb), erhielten die St. O. v. 30. Mai 1853, die sich an die aufgehobene Gemeinde-O. v. 1850 anlehnt. Ihr ähnlich ist die westfälische St. O. v. 19. März 1856, neben die gleichzeitig eine Landgemeinde-O. trat, die in der Hauptsache die früheren Einrichtungen wiederherstellte. Die rheinische Gemeinde-O. v. 1845 wurde wieder in Kraft gesetzt, aber nur für die Landgemeinden, während die Bestimmungen für die Städte abgetrennt wurden als rheinische St. O. v. 15. Mai 1856. Alle diese Gesetze gelten heute noch, nachdem die Novelle zur rheinischen Gemeinde-O. bei dem etwas plötzlichen Schluss der Landtags-Session 1911 unter den Tisch geraten ist.

Auf dem flachen Lande der östl. Provinzen aber wurden durch zwei Gesetze v. 14. April 1856 in der Hauptsache die Rechtszustände des preussischen Landrechts, insonderheit die patrimoniale Polizeiobrigkeit des Gutsherrn über die Landgemeinde restauriert.

Mit dieser Organisation, „halb noch Rohbau und halb schon Ruine“, trat Preussen an die Spitze des neuen Reichs. Von den 1866 annektierten Ländern behielten Hannover, Hessen und Nassau ihre bisherigen Gemeindegesetze, Frankfurt a. M. erhielt 1867, Schleswig-Holstein 1869 eine neue St. O., die einige von dem älteren Typus abweichende Bestimmungen enthält, in denen man Konzessionen an die liberalisierende Politik sehen mochte. Nach jahrelangen Kämpfen mit der feudalen Opposition, namentlich des Herrenhauses, kam dann die Kreisordnung v. 13. Dez. 1872 zustande, mit der man den Grundstein zu einer Reform der ganzen inneren Verwaltung zu legen glaubte. Das Prinzip dieser Reform hatten die Motive zum ersten Entwurf der Kr. O. also verkündet: „Der Entwurf soll, indem er für die Selbstverwaltung die Basis schafft, die Reform der inneren Verwaltung überhaupt einleiten“. Es war im Kern immer wieder der Leitgedanke des Stein-Hardenbergschen Planes, der mit immanenter Notwendigkeit bis zu seiner endlichen Verwirklichung wiederkehren muss, weil es keine andere Möglichkeit einer einheitlichen Organisation gibt.

War der Sinn des neuen Reformversuches notwendig der gleiche wie der seiner Vorgänger, so stiess er gleich ihnen auf die alten Hindernisse: den Gegensatz zwischen West und Ost, der wieder in der „Eigenart“ der ostelbischen Landzustände wurzelte. Statt diese Hemmungen zu überwinden, suchte die Reform sie zu umgehen, indem die Kr. O. nicht einheitlich für den ganzen Staat, sondern nur für die östlichen Provinzen (ausser Posen) erlassen wurde; und indem man auch hier das heisse Eisen der Beziehungen zwischen Rittergut und Landgemeinde möglichst wenig berührte. Damit entfiel aber ein tragfähiger kommunaler Unterbau der Kreisverfassung. Von den 25 000 Landgemeinden der östlichen Provinzen hatten kaum 10% mehr als 500 Einwohner; daneben standen etwa 16 000 selbständige Rittergüter mit fast 2 Millionen Einwohnern. Die einfache Eingemeindung dieser ungeheuerlichen Latifundien in jene Kleingemeinden war tatsächlich undurchführbar. So lange solche Hypertrophie des Grossgrundbesitzes besteht, gibt es für die kommunale Organisation nur den Notbehelf, grosse Samtgemeinden zu bilden, die für die Inkommunalisierung des Grossgrundbesitzes genügenden Raum bieten. Das war zugleich der einzige Weg zu einer Annäherung der östlichen und westlichen Organisation. An diesem Kardinalpunkt schieden sich nun aber die Geister; was die einen erstrebten, wollten die andern gerade verhindern. Um die Kr. O. überhaupt zustande zu bringen, einigte man sich schliesslich auf das Kompromiss kleinere Gemeinden und Gutsbezirke zu Amtsbezirken zu verbinden. Die einen erwarteten davon die Entwicklung zu [206] kommunalen Samtgemeinden, die andern die Verhinderung solcher Entwicklung. Die letzteren haben recht behalten; die kommunale Funktion der Amtsbezirke ist völlig verkümmert; sie sind lediglich ländliche Ortspolizeibezirke geblieben. Denn soweit musste die Kr. O. allerdings in das Verhältnis von Rittergut und Landgemeinde eingreifen, dass sie endlich die 1807 beabsichtigte Aufhebung der gutsherrlichen Patrimonialpolizei aussprach, wie auch die des Erb- oder Lehnschulzenamts, an dessen Stelle der gewählte Gemeindevorsteher trat. Da man aber keine genügend starken Landgemeinden schuf, tat man gerade das, was bei den Beratungen von allen Seiten prinzipiell verworfen worden war, indem man auch hier wieder die Ortspolizei von der Kommunalorganisation losriss und sie dem vom Oberpräsidenten zu ernennenden Amtsvorsteher überwies. Tatsächlich blieb damit in vielen Fällen die alte Patrimonialpolizei unter anderer Firma bestehen; denn sehr häufig erscheint immer noch der Rittergutsbesitzer in der Eigenschaft des Amtsvorstehers als Polizeiherr über die Landgemeinden.

Bei dieser Sachlage war es weiter unmöglich, die Kreisvertretung einheitlich aus den Gemeindevertretungen hervorgehen zu lassen; vielmehr wurde der Kreistag im Anschluss an die „gegebene Gliederung“ in Städte, Landgemeinden und selbständigen Grossgrundbesitz in Gestalt der 3 Wahlverbände gebildet. Allerdings wurde für die Zugehörigkeit zum ersten Kreisstand nicht an der „historischen Eigenschaft als Rittergut“ festgehalten; sondern massgebend ist ein Census an Grund- und Gebäudesteuer; auch treten die ländlichen Gewerbetreibenden der höchsten Gewerbesteuerklasse hinzu. Während die ländlichen Kreistagssitze je zur Hälfte auf diesen ersten Wahlverband und den der Landgemeinden verteilt werden, geschieht die Verteilung zwischen Stadt und Land ohne Rücksicht auf die Steuerleistung nach dem Verhältnis der Einwohnerzahlen; jedoch mit der Beschränkung, dass die Städte keinesfalls mehr als die Hälfte, wenn nur eine Stadt zum Kreise gehört, höchstens ein Drittel der Abgeordneten stellen. Das mächtig aufstrebende städtische Element ist also kraft Gesetzes zur ewigen Minorität innerhalb der Kreisverfassung verurteilt, die sich damit von vornherein in prinzipiellen Gegensatz zur natürlichen Entwicklung unsrer Zeit gesetzt hat. Freilich haben die Städte von mehr als 25 000 E. die Möglichkeit, aus dem Kreise auszuscheiden und selbständige Stadtkreise zu bilden. Soweit diese Möglichkeit Wirklichkeit wird, was meist recht schwierig ist, prägt sich natürlich der antiurbane Charakter des zurückbleibenden Landkreises noch schärfer aus, so dass er auch für die kleineren Städte keinen geeigneten Platz bietet. Daran ändert die halb anerkannte, halb wieder verkümmerte Sonderstellung der kreisangehörigen Städte von mehr als 10 000 E. gar nichts. Ueberhaupt versagt ja unsere historisch-verwaltungsrechtliche Grenzziehung zwischen Stadt- und Landgemeinde völlig gegenüber der modernen Entwicklung, vor allem in Industriegegenden und in der Umgebung der Grosstädte; sie ermöglicht die Existenz von „Städten“ mit 500–600 E. neben „Landgemeinden“ mit 50–60 000 E. Letztere hält man künstlich im „Stande der Landgemeinden“ zurück, weil sie als Städte doch ihr Ausscheiden aus dem Kreise schliesslich durchsetzen könnten. Sie und die kreisangehörigen Städte sollen durch ihre Steuerkraft der Leistungsschwäche der Kleingemeinden und Gutsbezirke aufhelfen. Andererseits sind sie an den Leistungen der Kreisgemeinde weit weniger interessiert, weil sie als Grossgemeinden die wichtigsten kommunalen Aufgaben zunächst allein zu erfüllen haben. Daneben aber müssen sie weiter durch die Kreisorganisation einen grossen Teil der Kosten für die kommunalen Funktionen aufbringen, denen die Kleingemeinden und Gutsbezirke nicht gewachsen sind. Bei alledem bilden ihre Vertreter auf den Kreistagen die geborene Minorität.

Schliesst schon diese Gestaltung des Repräsentativorgans der Kreisgemeinde ein wirkliches kommunales Leben aus, so gilt dies nicht minder von den beiden anderen obersten Organen. Der vom Kreistag gewählte Kreisausschuss ist natürlich ein Mikrokosmos seines Wahlkollegiums. Und der Leiter der ganzen Kreisverwaltung, der von Amts wegen den Vorsitz im Kreistag und Kreisausschuss führt, der Landrat, ist mit der Kreisgemeinde nur durch eine rechtlich unmassgebliche Vorschlagsbefugnis des Kreistags verbunden. Er ist „ad nutum amovibler“ politischer Beamter, steht also in schärfstem Subordinationsverhältnis zu den vorgesetzten Staatsbehörden, mithin in prinzipiellem Gegensatz zur Selbständigkeit eines Selbstverwaltungsorgans. Auf der anderen Seite erscheint freilich bei ihm auch die prinzipielle Unabhängigkeit der reinen Staatsbeamten von [207] unten nur in eigentümlicher Brechung, die sich aus seinem Verhältnis zu den 3 Elementen der Kreisorganisation, den 3 restaurierten Kreisständen ergibt. Zwischen Landrat und Kreisstädten herrscht bestenfalls ein bewaffneter Frieden als notwendige Folge der unglücklichen Eingliederung der Städte in den agrarischen Kreis. Dagegen hat der Landrat die Landgemeinden tatsächlich und rechtlich unbedingt in der Hand. Zur wirksamen Leitung des Kreises ist er also auf die Unterstützung des ersten Kreisstandes angewiesen, die er nur durch Eingehen auf dessen Sonderinteressen gewinnen kann. Gemeinsam aber beherrschen beide nicht nur Kreistag und Kreisausschuss absolut, sondern damit die ganze Organisation, we sie auf Grundlage dieser Kr. O. aufgebaut wurde.

Der Reform der Kreise folgte die der Provinzen durch die Prov. O. v. 1875, die gleichfalls nur für die östlichen Provinzen ausser Posen erging. Und mit zwingender Logik projizierten sich die spezifisch östlichen Charakterzüge der Kr. O., insonderheit die Unterordnung der städtischen Interessen unter die des agrarischen Grossgrundbesitzes, auf die Prov. O. Das gilt zunächst von der Bildung des Repräsentativorganes der Provinzialgemeinde, des Provinziallandtags. Seine Mitglieder werden von den Kreistagen gewählt, in Stadtkreisen von Mag. und Stadtver. Dass die Provinzialvertretung aus den Kreisvertretungen hervorgehe, entspricht dem seit den Stein-Hardenbergschen Plänen feststehenden Grundriss dieser Organisation. Jedoch sollten danach die Kreisvertretungen aus den Gemeindevertretungen hervorgehen; und diese grundlegende Voraussetzung ist mangels einheitlicher kommunaler Fundamentierung des Kreises, an deren Stelle das Dreiständesystem der Kr. O. getreten war, weggefallen. Damit sind auch im Provinziallandtag die Städte kraft Gesetzes zu hoffnungsloser Minderheit verdammt. Und der Provinziallandtag wählt die beiden anderen leitenden Organe der Provinzialgemeinde: Provinzialausschuss und Landesdirektor! Aus der Konstruktion der Kreisverfassung ergibt sich auch die merkwürdige Tatsache, dass im Provinzialausschuss, einem Organ rein kommunaler Selbstverwaltung, politische Staatsbeamte, die Landräte, eine massgebende Rolle spielen. So haben auch im Provinzialverbande die Städte den geringsten Einfluss auf die Verwendung der Mittel, zu deren Aufbringung sie nach ihrer Leistungsfähigkeit am meisten beitragen müssen; wie denn auch hier diese Mittel vor allem für solche Einrichtungen gebraucht werden, an denen jedenfalls die grösseren Städte das geringste Interesse haben, weil sie schon als Grossgemeinden solche kommunalen Aufgaben z. B. Wegebau, Irrenpflege und ähnl. selbst erfüllen müssen. Andrerseits fehlt der beim Kreise noch gelassene Notausgang eines Ausscheidens aus dem Provinzialverband auch für die grössten Städte. Nur Berlin gehört keiner Provinz an.

Doch auf diese wesentlich pekuniäre Beeinträchtigung ist die Wirkung der antiurbanen Grundlage der ganzen Organisation keineswegs beschränkt. Die mit Kr.- und Prov.-O. eingeführte Gesetzgebung nahm auch den Gedanken wieder auf, die reorganisierten höheren Kommunalkörper zur Ausübung der Kommunalaufsicht heranzuziehen; und sie fügte die Organisation einer – freilich recht fragmentarischen – Verwaltungsrechtsprechung hinzu. Die dafür neugeschaffenen Behörden erhielten nach mannigfachen Experimenten durch L.V.G. u. Z.G. von 1883 ihre heutige Gestalt. Als Beschlussbehörden der allgemeinen Landesverwaltung fungieren über dem Kreisausschuss: Bezirksausschuss und Provinzialrat; der Bezirksausschuss ist zugleich, wie auch der Kreisausschuss, Verwaltungsgericht. Der Provinzialrat besteht aus dem Oberpräsidenten als Vorsitzenden, einem ernannten staatlichen Berufs- und 5 gewählten Ehrenbeamten; der Bezirksausschuss aus dem Regierungspräsidenten als Vorsitzenden, 2 ernannten staatlichen Berufs- und 4 gewählten Ehrenbeamten. Die ehrenamtlichen Mitglieder beider Behörden aber werden vom Provinzialausschuss gewählt. Da der Povinzialausschuss vom Provinziallandtag gewählt wird, so überträgt sich dessen Struktur auf jene Kollegien; und da der Provinziallandtag auf der Kreisverfassung ruht, ist am letzten Ende für die ganze Organisation das im Kreise verankerte condominium von Staatsbureaukratie und Grossgrundbesitz massgebend. Die so konstruierten Behörden aber sind zur Mitwirkung bei der Staatsaufsicht über die städtische Selbstverwaltung, der Bezirksausschuss auch zur Verwaltungsrechtsprechung über ihre Angelegenheiten berufen. Dagegen erhob sich schon bei der Beratung der Prov. O. der energische Widerspruch aller Vertreter der Städte ohne Unterschied der politischen Partei; lieber noch wollten sie unter der bisherigen Aufsicht der Staatsbureaukratie allein verbleiben. Sogar der Minister Eulenburg erkannte die Berechtigung dieses Widerspruches an, verwies aber zur Beruhigung auf das Gesetz, das er nunmehr für das „notwendigste“ erklärte, nämlich eine revidierte [208] St. O. Ein solcher Entwurf wurde auch 1876 von der Regierung eingebracht, um „die unerlässliche weitgreifende Umgestaltung mittels eines völlig neuen, die gesamte städtische Verfassung einheitlich und übersichtlich regelnden Gesetzes herbeizuführen“, wie es in den Motiven heisst. Nicht nur die Einordnung in das neue, von der Kreisverfassung beherrschte Behördensystem sollte dadurch für die Städte erträglicher gestaltet, sondern auch der als unhaltbar anerkannte Zustand der Geltung von etwa 20 verschiedenen Städte- und Landgemeinde-Ordnungen mit vielfach veralteten Bestimmungen beseitigt werden. Der Entwurf scheiterte jedoch am Widerstande des Herrenhauses; und damit haben sich alle jene Uebelstände bis heute unverändert erhalten.

Doch auch für das Prinzip der ganzen Reformgesetzgebung war die Konstruktion jener Behörden von verhängnisvollster Bedeutung. Der ursprüngliche Grundgedanke dieser Reform war der einer Dezentralisation der Staatsverwaltung durch Selbstverwaltung gewesen, das notwendig immer wiederkehrende Steinsche Leitmotiv. Dazu war die Organisation der höheren Kommunalkörper, Kreis und Provinz, notwendige Voraussetzung; aber sie schuf doch nur die Formen, die ihren Inhalt erst durch die Uebertragung der bisher vom Staatszentrum bureaukratisch geleiteten inneren Landesverwaltung an die kommunalen Selbstverwaltungskörper erhalten sollten. Demgemäss erwartete man auch noch bei Verabschiedung der Kr. O. ganz allgemein von dem Fortgange der Reform die Aufhebung des alten Hauptsitzes bureaukratischer Landesverwaltung, der Bezirksregierungen, und die Aufteilung ihrer Zuständigkeit zwischen Kreis und Provinz. Mit der Prov. O. trat jedoch eine bedeutsame Schwenkung ein. Die bureaukratische Bezirksinstanz wurde konsolidiert; und ausser einigen Spezialangelegenheiten, die den Provinzialgemeinden zugewiesen wurden, fand keine Dezentralisation durch kommunale Selbstverwaltung statt; vielmehr wurden jene neuen, aus Berufs- und Ehrenbeamten gemischten Staatsbehörden gebildet, die man seitdem ebenso hartnäckig wie falsch als „Selbstverwaltungsorgane“ bezeichnet. Dass man den Widersinn dieser Bezeichnung jemals übersehen konnte, das erklärt sich aus der lange herrschenden und noch heute nicht ganz ausgestorbenen, falschen Identifizierung der Verwaltung durch Ehrenämter mit dem Begriff der Selbstverwaltung. Weil in jenen Kollegien auch Ehrenbeamte sitzen, verfiel man in den Wahn, Behörden als Selbstverwaltungsorgane gelten zu lassen, die unter der Leitung der eigentlichen Träger der Staatsbureaukratie stehen! Jene Identifizierung ergab sich aus der Doktrin von dem Gegensatz zwischen „wirtschaftlicher“ und „obrigkeitlicher“ Selbstverwaltung und diese Doktrin beruhte wiederum auf der Irrlehre, dass Kommunalverwaltung ihrer Natur nach nur wirtschaftliche Verwaltung sei, während alle „obrigkeitliche“ Verwaltung begrifflich „staatlich“ sei. Diese Dogmatik war ein altes Erbstück des doktrinären Liberalismus und, gestützt durch die wissenschaftliche und politische Autorität Gneists, noch so wirksam, dass sich der damals einflussreiche Liberalismus auf die abschüssige Bahn dieser fälschlich s. g. „Selbstverwaltungsorganisation“ drängen liess. Allerdings forderte er programmatisch „eine Reform der staatlichen Obrigkeitsverwaltung im Sinne der Selbstverwaltung“ und daneben, wie man es gern ausdrückte, „eine Verbindung der kommunalen Wirtschafts- mit der staatlichen Obrigkeitsverwaltung“. Aber worin sollte das Wesen jener „obrigkeitlichen Selbstverwaltung“ im Unterschiede von sonstiger staatlicher Verwaltung denn bestehen, da man die Kommunalisierung der „obrigkeitlichen“ Funktionen als Widerspruch zum „wirtschaftlichen“ Charakter der Kommunalverwaltung ansah? Da blieb freilich kein anderer Anhaltspunkt als der Unterschied von besoldetem Berufs- und unbesoldetem Ehrenamt. So entstand das Dogma: obrigkeitliche Selbstverwaltung ist die Verwaltung von Staatsämtern durch unbesoldete Ehrenbeamte! Also ist der vom Oberpräsidenten ernannte, dem Landrat subordinierte ländliche Polizeiverwalter, der Amtsvorsteher: Organ der Selbstverwaltung; und sogar die Verbindung mit der „wirtschaftlichen Kommunalverwaltung“ ist durch die Vorschlagsliste des Kreistages erfreulich hergestellt. Aber das gilt nur, falls sich ein unbesoldeter Ehrenbeamter für den Posten findet; andernfalls kann der Oberpräsident auch einen besoldeten Beamten hinsetzen; – und sofort hört dasselbe Amt auf, Organ der Selbstverwaltung zu sein! Nach derselben Formel ist dann freilich der Provinzialrat zu 5/7, der Bezirksausschuss zu 4/7 Selbstverwaltungsorgan; und die Verbindung mit der „wirtschaftlichen Kommunalverwaltung“ ist hier sogar durch Wahl der Selbstverwaltungs-Siebentel seitens des Prov.-Ausschusses hergestellt. Aber ist es eine mögliche Vorstellung, dass ein und dieselbe Behörde zu einem gewissen Bruchteil [209] Selbstverwaltungsorgan sei, zum andren Bruchteil etwas andres? Und kann man die besoldeten Berufsbeamten in den städtischen Magistraten nach dieser Formel noch irgendwo in der Selbstverwaltungsorganisation unterbringen? Hier liegt die Wurzel bloss für die theoretischen Schmerzen der deutschen Lehre von der Selbstverwaltung; aber auch für die praktische Unzulänglichkeit der preussischen Verwaltungsorganisation.

Wie jedes andere Kriterium einer begrifflichen Unterscheidung von „staatlichen“ und „kommunalen“ Funktionen, so versagt auch das der „obrigkeitlichen“ und „wirtschaftlichen“ Verwaltung. Als politische Gemeinwesen haben Staat wie Gemeinde sowohl obrigkeitliche wie wirtschaftliche Funktionen. Es gibt folglich auch keinen Gegensatz von „obrigkeitlicher“ und „wirtschaftlicher“ Selbstverwaltung. Wohl scheiden sich staatliche und kommunale Selbstverwaltung, wie oben erörtert worden, als national und local selfgovernment. Aber eine „Dezentralisierung der Staatsverwaltung durch Selbstverwaltung“, die von der vorigen preussischen – wie übrigens von jeder modernen – Verwaltungsreform als Ziel proklamiert wurde, ist nur im Sinne kommunaler Selbstverwaltung möglich d. h. durch Uebertragung bisher staatlicher Kompetenzen auf die kommunalen Selbstverwaltungskörper, die Gemeinden und Gemeindeverbände. Nur so scheiden diese Funktionen aus dem Verantwortlichkeitskreise des staatlichen Behördensystems aus, weil sie aus dem Subordinationsverhältnis unter den verantwortlichen Minister ausscheiden. Denn Subordination und Dezentralisation sind miteinander völlig unvereinbar; die Dezentralisation beginnt, wo die Subordination und mit ihr die Verantwortlichkeit eines staatlichen Vorgesetzten aufhört, und an ihre Stelle ein anderes Behördensystem und eine andre Verantwortlichkeit tritt: im kommunalen Selbstverwaltungskörper. Die Voraussetzung ist aber eben der Übergang der Funktionen auf die kommunalen Gemeinwesen selbst, so dass die lokale Verwaltung, statt von dem grossen Staatszentrum her, aus dem engeren Zentrum des Selbstverwaltungskörpers geleitet wird. Diese ursprüngliche Reformidee gab man auf und schuf statt dessen Staatsbehörden, gemischt aus subordinierten Berufs- und aus Ehrenbeamten, deren Bestellung aus einem so vielfachen Destillationsprozess hervorgeht, dass sich jeder lebendige Zusammenhang mit einem Selbstverwaltungskörper und jede kommunale Verantwortlichkeit verflüchtigt. Dieser organische Fehler zeitigte als Symptome: die Ueberfülle der Behörden, die unerträgliche Kasuistik ihrer Zuständigkeitsgrenzen, die Schwerfälligkeit des unter ständigen Reibungen sich hinschleppenden Geschäftsganges; kurz, die sofortige Reformbedürftigkeit der ganzen Verwaltungsreform. Es ist das eingetreten, wovor der damalige Abg. Miquel 1875 warnte: „Wenn uns diese Selbstverwaltungsorganisation dahin führte, dass wir schliesslich, wenn wir die Rechnung machen, sagen müssten: wir haben ebenso viel Geheimräte und Regierungsräte wie vorher, aber wir haben daneben noch viele tausend Bürger herangezogen zu den Staatsangelegenheiten, so würde das allerdings ein sehr schlechtes Resultat sein. Wir würden dann auch uns von dem Ausgangspunkt der ganzen Reform entfernen. Der ganze Ausgangspunkt war der: nicht Stellung der bürgerlichen Tätigkeit neben der der Staatsbeamten, sondern Ersatz des Staatsbeamten durch die freie Tätigkeit des Bürgers“.

Die Organisation der höheren Kommunalkörper wurde im Laufe der 80er Jahre auf die übrigen Provinzen mit Ausnahme von Posen ausgedehnt, indem jede von ihnen eine besondere Kr.- und Prov. O. erhielt, die den östlichen Mustern nachgebildet sind mit etlichen Modifikationen, die sich hauptsächlich aus dem Fehlen des selbständigen Gutsbezirks im Westen ergaben. Hier tritt zum Teil die Grossindustrie an die Stelle des ostelbischen Grossgrundbesitzes. Den Schluss dieser Gesetzesreihe macht die Hohenzollernsche Landes-O. v. 1900 für den Regierungsbezirk Sigmaringen, der, wie die beiden Regierungsbezirke von Hessen-Nassau, ausnahmsweise einen Kommunalverband bildet. Auch darin hat Hohenzollern eine Sonderstellung, dass seine Gemeinde-O. v. 1900 als einzige in Preussen für Stadt- und Landgemeinden zugleich gilt; es gibt dort nämlich nur wenige und unbedeutende Städte. Hessen-Nassau erhielt dagegen noch 1897 eine Städte- und eine Landgemeinde-O. Die Miquelsche Steuerreform der 90er Jahre hatte eine Verschärfung des „plutokratischen Charakters“ der Dreiklassenwahl zur Folge, als deren Gegengewicht nach manchen Experimenten das Gemeinde-Wahlgesetz v. 30. Juni 1900 erlassen wurde. Es gilt für die Städte von mehr als 10 000 E., in denen das Dreiklassenwahlsystem besteht; und es kann füglich als Musterbeispiel [210] des Flickwerks gelten, das die Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte auf diesem Gebiete nur noch zu leisten vermochte.

Die Lücke, die bei der Entlassung Steins i. J. 1808 in der Kommunalorganisation des östlichen Landes offen gelassen war, wurde endlich durch die östl. Landgemeinde-O. v. 3. Juli 1891 ausgefüllt. Den zwingenden Anlass gab auch hierzu jene Steuerreform, da die Neuordnung der Kommunalabgaben unter Überweisung der bisher staatlichen Realsteuern ohne eine Neuordnung der ländlichen Kommunalverfassung undurchführbar gewesen wäre. Das alte Prinzip einer blossen Realgemeinde der „angesessenen Wirte“ konnte nicht mehr in voller Ausschliesslichkeit aufrecht gehalten werden. Aber in dem für die ganze Organisation der ländlichen Selbstverwaltung und damit auch der höheren Kommunalkörper entscheidendsten Punkte, dem Verhältnis von Kleingemeinde und selbständigem Gutsbezirk, vermochte auch jetzt noch der preussische Gesetzgeber nichts zu bessern. Wohl hatte der Entwurf des Ministers Herrfurth eine Zusammenlegung von Landgemeinden und Gutsbezirken durch Verordnung zulassen wollen und sogar eine allgemeine Revision dieser Verhältnisse in Aussicht genommen. Aber diese Absicht einer gründlichen Reform scheiterte auch diesmal wieder an der alten Gegnerschaft. Das schliessliche Kompromiss behält zwar formell die Möglichkeit einer Eingemeindung durch Verordnung bei; knüpft sie jedoch an so komplizierte Bedingungen und Instanzen für jeden Einzelfall, dass tatsächlich eine planmässige, organisatorische Neuordnung der kommunalen Einteilung unmöglich gemacht ist. Auch die als Surrogat leistungsfähiger Landgemeinden vorgesehenen Zweckverbände sind darauf angelegt, die Entwicklung von ländlichen Samtgemeinden unter Einbeziehung des Grossgrundbesitzes zu verhindern. Die Entscheidung steht beim Kreisausschuss, dessen Zusammensetzung wie die des Kreistages ja gerade auf dem Mangel solcher Samtgemeinden beruht. Zu Gunsten dieser Behörde ist auch das Selbstbestimmungsrecht der Landgemeinde gelähmt, da der Gemeindevorsteher ihre Entscheidung einzuholen hat bei jedem Gemeindebeschluss, der nach seiner – oder des Landrats – Ansicht das Gemeindeinteresse verletzt. So ist auch an dieser fundamentalen Stelle der Kardinalfehler der ganzen Organisation unverändert geblieben. Eine der östlichen ähnliche L.G.O. erhielt Schleswig-Holstein 1802.

Der Gedanke der Zweckverbände, der in der L.G.O. ein Notbehelf für die Zwerggemeinden sein sollte, hat neuestens durch die beiden Gesetze vom Juli 1911 Anwendung auf die Städte und im besonderen auf die grösste Gemeinde des Reichs gefunden. Während die deutsche Entwicklung des letzten Menschenalters vornehmlich durch das gewaltige Anwachsen der Städte, insonderheit der Grossstädte und ihrer Umgebung, der grossstädtischen Agglomerationen charakterisiert wird, hat die Verwaltungsorganisation von Anbeginn einen ausgesprochen antiurbanen Zug gezeigt; und seit 1876 hat die Gesetzgebung nicht einmal mehr den Versuch gemacht, der gewaltigen tatsächlichen Entwicklung dieser ältesten und grössten Selbstverwaltungskörper organisatorisch auch nur nachzuhinken. Alle, vor 35 Jahren von der Regierung selbst als unhaltbar bezeichneten Mängel bestehen noch heute. Mit der gesetzlichen Möglichkeit einer eventuell zwangsweisen Bildung städtischer Zweckverbände ist demgegenüber wenig getan. Allerdings ist bei vielen Städten den dringendsten Misständen durch Eingemeindungen wenigstens äusserlich abgeholfen worden. Nicht so bei Berlin. Seine Einfügung in den Aufbau der Verwaltungsorganisation war von vornherein für die Entfaltung kommunaler Selbstverwaltung höchst ungünstig. Sein schnelles und gewaltiges Wachstum musste sich bei der unverhältnismässigen Enge seines Gebiets – es ist weitaus die kleinste Millionenstadt der Erde! – mehr als irgendwo sonst ausserhalb des Weichbildes, in der suburbanen Agglomeration vollziehen. Nach der kurzen Episode unter dem Minister Herrfurth setzte die Regierung jeder Eingemeindungspolitik hartnäckigsten Widerspruch entgegen und förderte das Emporwuchern eines kommunalen Chaos ohne gleichen. Und doch wäre hier die Gesetzgebung zur Lösung einer Aufgabe berufen gewesen, die in der bisherigen Entwicklung der modernen Stadtverfassungen fast völlig vernachlässigt ist: der Dezentralisierung kommunaler Organisation. Sie ist ein unabweisliches Bedürfnis für eine gedeihliche Selbstverwaltung der Grossstädte. Der unerträglich gewordenen kommunalen Zersplitterung Gross-Berlins soll nunmehr der neue „Verband“ abhelfen. An sich ein höchst unzulängliches Mittel für solchen Zweck, und nicht ohne ernste Gefahr für das Lebensprinzip kommunaler Selbstverwaltung, weil dadurch die organisch [211] ineinander greifenden Zweige ihrer Tätigkeit, vor allem auch ihr finanzieller Bedarf und seine Deckung willkürlich auseinander gerissen werden. Immerhin könnte dieser vorläufige Notbehelf hingenommen werden als ein Übergangsstadium, das schliesslich zu der einzig erspriesslichen Lösung, der Eingemeindung mit kommunaler Dezentralisation führen soll. Aber die Anlage dieser Organisation eröffnet für solche Entwicklung keine günstigen Aussichten. Das Gebiet des Verbandes, das zwei weit hingestreckte Landkreise einschliesst, entspricht in keiner Weise der natürlichen Gestalt eines Gemeindegebiets. Seine Kompetenz ist höchst fragmentarisch und ganz unzulänglich für die wichtigsten Gemeininteressen. Und seine Organe: Verbandsversammlung, Verbandsausschuss und Verbandsdirektor haben eine so bedenkliche Ähnlichkeit mit den Organen der Provinzialgemeinde, dass die Absicht durchscheint, eher den einst mit Recht verworfenen Plan einer Provinz Berlin wieder aufzunehmen, als die Grundlage einer Grossgemeinde Berlin zu schaffen. Damit wäre aber die hier gestellte Aufgabe völlig verkannt und verfehlt. Aufgabe der Provinzialgemeinde ist es, die Tätigkeit ihrer Glieder, der Kreisgemeinden, zu ergänzen, soweit deren Kräfte für gewisse kommunale Funktionen nicht ausreichen. Darum handelt es sich hier jedoch gar nicht; vielmehr um eine so enge wirtschaftliche, soziale und örtliche Durchdringung verschiedener Gemeinden, dass ihre kommunale Tätigkeit bei getrennter, unzusammenhängender kommunaler Organisation durch ständige Reibung gehemmt wird. Da bedarf es der Lösung der Gegensätze durch die Organisation einer grossen Ortsgemeinde, deren Gebiet durch die örtliche, soziale und wirtschaftliche Einheit bestimmt wird, mit einer Dezentralisation, die den Partikulargemeinden die innerhalb der Gemeinschaft ohne hemmende Reibung mögliche Selbständigkeit lässt. Wie wenig der „Verband“ in seiner jetzigen Gestalt die Gegensätze durch eine höhere Einheit organisch löst, das zeigt sich deutlich darin, dass er sie immer wieder mechanisch durch den Machtspruch einer Beschlussbehörde durchhauen muss. Diese Behörde ist ein potenzierter Bezirksausschuss, und so wenig wie dieser ein Selbstverwaltungsorgan. Für eine gesunde Entwicklung unseres grössten Selbstverwaltungskörpers bleibt nur die Hoffnung, dass sich schliesslich die Logik der Tatsachen wieder einmal stärker erweisen mag als die der Menschen.

Im Verlaufe eines Jahrhunderts hat die preussische Selbstverwaltungsgesetzgebung den grossen Plan Steins nicht zu verwirklichen vermocht. Der Dualismus zwischen obrigkeitlicher Beamtenregierung und selfgovernment, der im Staate nicht gelöst ist, ist es auch nicht gegenüber der Gemeinde. Eben deshalb bleibt die ganze Verwaltungsorganisation dauernd reformbedürftig. Aber die gegenwärtig wieder in Angriff genommene „Verwaltungsreform“ wird an die eigentliche Wurzel des Übels nicht rühren; und so bleibt diese Organisation, wie seit einem Jahrhundert, „halb noch Rohbau und halb schon Ruine“.

3. Die Entwicklung der Selbstverwaltungsgesetzgebung in den anderen deutschen Staaten.[Bearbeiten]

Die Entwicklung der kommunalen Selbstverwaltung in Preussen hat für die ganze deutsche Entwicklung nicht bloss die Bedeutung einer partikularen Erscheinung neben so und so vielen andern. Und zwar geht sie weit darüber hinaus, keineswegs nur quantitativ im Verhältniss der Grösse dieses Einzelstaates zu der aller andern; auch nicht bloss in Folge seines natürlichen Einflusses auf die Gestaltung in den kleineren, namentlich in den norddeutschen Staaten. Vielmehr treten alle Probleme dieses Gegenstandes auch qualitativ hier vollständiger und schärfer hervor, als in der Entwicklung aller übrigen Einzelstaaten zusammen. Der für das politische und kommunale Leben ganz Deutschlands so wichtige Gegensatz zwischen West und Ost geht mitten durch das preussische Staatsgebiet. Und der andere gemein deutsche Gegensatz zwischen obrigkeitlichem Beamtenregiment und genossenschaftlichem selfgovernment ist in Preussen am schärfsten herausgearbeitet, weil hier einerseits der Obrigkeitstaat am rücksichtslosesten verwirklicht wurde, und andererseits das entgegengesetzte Prinzip im grossen Reformplan Steins am reinsten postuliert wurde. So kann die preussische ziemlich als Paradigma der deutschen Entwicklung für die Prinzipienfragen gelten; und die Betrachtung darf sich für die übrigen Einzelstaaten auf eine gedrängte Übersicht der Hauptzüge beschränken.

Wie in Preussen selbst nach Wiederherstellung des Staates einer Ausdehnung des Geltungsbereichs der Steinschen St. O. sich übermächtige Hindernisse in den Weg stellten, so fand in den [212] anderen norddeutschen Staaten zunächst das Vorbild jener Reform kaum irgend eine Nachahmung. Vielmehr stellte man in der Restaurationszeit nach Möglichkeit die alten Gemeindeverhältnisse wieder her. Erst unter der Nachwirkung der Julirevolution von 1830 vollzog sich in den norddeutschen Kleinstaaten vielfach im Zusammenhang mit der konstitutionellen Bewegung der Übergang zu einer modernen Organisation der kommunalen Selbstverwaltung. Eine Sonderstellung nehmen die freien Städte ein, bei denen Staatsverfassung und Stadtverfassung im wesentlichen zusammenfallen; und andererseits die Grossherzogtümer Mecklenburg, die sich solcher Modernisierung bisher entzogen haben. Dagegen ging im Königreich Sachsen die politische Bewegung gerade von der Unzufriedenheit mit dem veralteten städtischen Ratsregiment aus und führte, wie zur konstitutionellen V. v. 1831, so zur St. O. v. 1832. Auf diese wie auf andere kleinstaatliche Gemeindegesetze übte neben dem preussischen auch schon das süddeutsche Muster einen gewissen Einfluss aus; jedoch wurde die verschiedene Behandlung von Stadt- und Landgemeinden im Norden durchweg festgehalten.

Fast gleichzeitig mit der Steinschen St.-O. war in Bayern das Edikt vom 24. September 1808 über das Gemeindewesen ergangen, das die Nachahmung der napoleonischen Einrichtungen in den Rheinbundstaaten auch auf dem Gebiet der Munizipalverfassung treulich wiederspiegelt. In den kleineren süddeutschen Staaten wurde dieses System auch noch einige Zeit nach dem Sturz der Fremdherrschaft beibehalten; dagegen vollzog sich in den beiden süddeutschen Königreichen in Zusammenhang mit der Einführung konstitutioneller Staatsverfassungen auch der Übergang zur kommunalen Selbstverwaltung. Das bayrische Edikt von 1818 über die Verfassung und Verwaltung der Gemeinden trennt die Organisation der Städte und grösseren „Märkte“ von der der „Ruralgemeinden“, und folgt in vielen Punkten dem Steinschen Vorbild in der Absicht, „in den Städten und Märkten die Magisträte mit einem freieren und erweiterten Wirkungskreise wiederherzustellen“. Auch das kommunale Zweikammersystem - „bürgerlicher Magistrat“ und „Gemeinde-Ausschuss“ – wie die Verbindung von Ehren- und Berufsamt wird herübergenommen. Schärfer tritt die süddeutsche Eigenart in dem württembergischen Edikt von 1822 für die Gemeinden, Oberämter und Stiftungen hervor. Die Organisation ist im wesentlichen für alle Gemeinden eine einheitliche, nur mit etlichen Vereinfachungen für die Gemeinden bis zu 5000 E. Die Gemeindekollegien – Gemeinderat und Bürgerausschuss – werden beide direkt von der Bürgerschaft gewählt; auch ist ihre Beratung m der Regel eine gemeinsame. Eine dieser württembergischen vielfach ähnliche Gemeindeverfassung erging 1831 in Baden, wie überhaupt die dreissiger Jahre auch in Süddeutschland manche Fortbildung des Kommunalrechts brachten.

Alle diese Gemeindegesetze bleiben in der Grösse und Weite ihrer leitenden Gesichtspunkte, ihrer politischen Triebkraft hinter dem Steinschen Vorbild weit zurück; mögen auch manche von ihnen in technischen Einzelheiten zweckmässigere Bestimmungen enthalten. In den Kleinstaaten stellt ja auch die Zentralgewalt den örtlichen Verhältnissen allzu nahe, als dass sich die politische Bedeutung der Differenzierung von kommunaler und staatlicher Organisation so fühlbar machen könnte wie im Grossstaate. So schiebt sich dort die wirtschaftliche Seite in den Vordergrund. Treffend hat schon Brater sein Urteil über jene Gemeindegesetze also zusammengefasst: „Als Kern des Gemeindelebens fassen sie noch die Vermögensverwaltung auf und nehmen auf die höheren Zwecke, welchen das Gemeindevermögen als Hilfsmittel dienen soll, in ihren Anordnungen wenig Bedacht. Von den zwei Elementen der Gemeindefreiheit wird eines, die Autonomie, noch kaum erkannt, das andere, die Selbstverwaltung, durch eine überwuchernde Staatskuratel verkümmert. Zudem sind die Vorschriften über Organisation der Gemeindeobrigkeit darauf berechnet, dass die wichtigsten Sitze von bureaukratisch geschulten Männern eingenommen werden, und so eine Gemeindebureaukratie von innen heraus der von aussen herein regierenden Staatsbureaukratie die Hand reicht.“

Die Bewegung von 1848 und die in den Frankfurter Grundrechten gegebenen Richtlinien für die Befreiung der Gemeinden als der Grundlagen des freien Staates brachten auch die Gemeindegesetzgebung der kleineren Staaten in lebhaften Fluss. Jedoch trat auch hier der Rückschlag sehr bald ein, der diesen Gesetzen meist ein ähnliches Schicksal bereitete wie den preussischen Kommunalordnungen vom 11. März 1850. Erst seit der Ära der Reichsgründung setzt hier eine neue Tätigkeit [213] ein, die bis zur Gegenwart fortgedauert und in manchen Mittelstaaten zu fruchtbareren und zeitgemässeren Resultaten als in Preussen geführt hat.

Bayern reformierte seine Gemeindeverfassung i. J. 1869 durch zwei verschiedene Ordnungen für die rechtsrheinischen und für die pfälzischen Landesteile. Im Gegensatz zu den übrigen deutschen Staaten hat Bayern auf Grund seines Reservatrechtes nicht das System der Einwohnergemeinde angenommen, sondern das der Heimatsberechtigung beibehalten. Der Unterschied zwischen Stadt- und Landgemeinde-Verfassung bestand nur im rechtsrheinischen Bayern, nicht in der Pfalz; auch nur dort die Magistratsverfassung. Durch Ges. v. 15. Aug. 1908 ist die Städteverfassung in der Pfalz modifiziert worden; ferner ist in allen bayerischen Gemeinden von mehr als 4000 E. das Proportionalwahlsystem eingeführt.

Baden und Hessen begannen die Reform ihrer Gemeindegesetzgebung 1874 und setzten sie durch eine Reihe von Novellen bis zur jüngsten Zeit fort. Das Königreich Sachsen revidierte seine St. O. durch zwei Gesetze v. 1873, eines für die grossen, das andere für mittlere und kleine Gemeinden; im Rahmen des ersteren haben Dresden, Leipzig und Chemnitz je ihr besonderes Statut.

In Württemberg ist nach langen Kämpfen im Zusammenhang mit einer Verfassungsrevision die Gemeinde-O. v. 28. Juli 1906 zustande gekommen, die zwar drei Klassen von Gemeinden nach der Einwohnerzahl (über 50 000, über und unter 10 000) durch einige Sonderbestimmungen unterscheidet; aber doch allen gemeinsame Grundlagen der Organisation gibt. Ortsvorsteher, Gemeinderat und Bürgerausschuss werden sämtlich unmittelbar von der Bürgerschaft gewählt; die beiden Kollegien beraten in der Regel gemeinschaftlich.

Und so sind während der letzten Jahrzehnte in fast allen Einzelstaaten Gemeindegesetze in überreicher Fülle ergangen, deren Aufzählung hier unterbleiben mag.

Vielfach hing diese Gemeindegesetzgebung mit der über die Organisation höherer Kommunalverbände zusammen, die nach dem Vorgange Sachsen-Weimars i. J. 1850 und Badens 1863 jetzt mit Ausnahme weniger Kleinstaaten überall durchgeführt ist. In Bayern steht neben der staatlichen Verwaltungseinteilung in Kreise und Bezirke die kommunale Vertretung in Landräten und Distriktsräten. Die württembergischen Oberamtsbezirke sind Kommunalkörper mit dem Repräsentativorgan der Amtsversammlungen. Ähnlich in einer Reihe norddeutscher Kleinstaaten. In anderen Staaten fallen die Kommunalverbände nicht mit den staatlichen Verwaltungsbezirken zusammen, stellen ihnen aber das ehrenamtliche Element wie bei den preussischen Bezirksausschüssen. So wählen in Sachsen die kommunalen Bezirksversammlungen die ehrenamtlichen Mitglieder der staatlichen Bezirks- und Kreisausschüsse. In Baden sind die Kreise lediglich Kommunalkörper, denen aber durch Ernennung die ehrenamtlichen Mitglieder der staatlichen Bezirksräte entnommen werden. In anderen Staaten endlich verbindet sich beides, wie in den hessischen Kreis- und Provinzialtagen mit ihren Kreis- und Provinzial-Ausschüssen; in den braunschweigischen und anhaltischen Kreisversammlungen und ihren Ausschüssen. Es sind gar viele Variationen über dasselbe Thema.

4. Die heutige Organisation der kommunalen Selbstverwaltung in Deutschland.[Bearbeiten]

Die Grundlage der Gemeindeangehörigkeit bildet heute in allen deutschen Staaten mit Ausnahme Bayerns die Einwohnergemeinde; nur in Bayern ist noch das System des Heimatsrechts in Geltung, freilich gerade hinsichtlich der Gemeindeangehörigkeit sehr gemildert. Im übrigen hebt sich aus der – vom Wohnsitz bestimmten – Gemeindeangehörigkeit die Gemeinde-Mitgliedschaft oder -Bürgerschaft heraus durch Hinzutritt gesetzlich bestimmter Eigenschaften: längere Dauer des Wohnsitzes, Grundbesitz, Steuerleistung usw. Eine besondere Bürgerkorporation findet sich noch in Hannover. Ohne Wohnsitz kann das Bürgerrecht den „Forensen“ zustehen, Einzel- oder Gesamtpersonen, die der Gemeinde durch Grundbesitz oder Gewerbebetrieb von bestimmtem Umfang angehören. Der Inhalt des Bürgerrechts ist heute ein lediglich kommunalpolitischer: aktives und passives Wahlrecht, Fähigkeit ev. Pflicht zur Übernahme kommunaler Ehrenämter.

[214] Dem Prinzip moderner Staatsgliederung entspricht der Satz, dass jeder Teil des Staatsgebietes einer Ortsgemeinde angehören muss. Dieser Satz wird in den östlichen Provinzen Preussens und einigen norddeutschen Kleinstaaten durchbrochen von dem Rudiment der alten patrimonialen Gliederung des flachen Landes, dem selbständigen Gutsbezirk. Hier steht noch die feudal-patrimoniale Gestalt der Selbstverwaltung an Stelle der korporativen; die kommunalen Pflichten und Rechte sind solche des Gutsherrn, der sie persönlich oder durch einen Vertreter als Gutsvorsteher ausübt. Die Einwohner des Gutsbezirkes sind kommunalpolitisch noch Hintersassen; und zwar sind sie nach der oben dargestellten preussischen Organisation, die auf der Kreisverfassung mit ihrem Dreiständesystem beruht, auch von jeder Vertretung in den höheren Kommunalkörpern ausgeschlossen.

Die Verfassung der Ortsgemeinden ist im Süden und Westen Deutschlands eine überwiegend einheitliche für Stadt und Land; im Norden und Osten eine verschiedene für Land- und Stadtgemeinden. Das erste System herrscht tatsächlich auch da, wo zwar formell verschiedene Ordnungen bestehen, ihr Inhalt aber in der Hauptsache übereinstimmt, wie in der Rheinprovinz, Hessen und Baden. Württemberg differenziert innerhalb seiner einheitlichen Gemeinde-Verfassung lediglich nach der Einwohnerzahl. Dagegen ist nach dem preussischen System, das die meisten norddeutschen Staaten und das rechtsrheinische Bayern angenommen haben, der Unterschied zwischen Stadt- und Landgemeinden ein „historischer“, d. h. Städte sind nur die Ortsgemeinden, in denen die St. O. eingeführt wurde, die also entweder von altersher Stadtrecht besassen oder denen es ausdrücklich verliehen ist.

Man sieht in der starken Differenzierung städtischer und ländlicher Gemeindeverfassung gern einen urwüchsigen Zug deutscher Eigenart im Gegensatz zur romanischen Neigung der Schablonisierung und Nivellierung. Danach hätte sich die deutsche Eigenart auf ostelbisch-slavischem Kolonialboden urwüchsig reiner erhalten als in den alten Landen deutscher Kernstämme, der Franken und Schwaben, die sich verwelschen liessen! Doch sieht man von diesem völkerpsychologischen Problem ab, so erscheint die Forderung wohl berechtigt, dass sich die Organisationsformen des kommunalen Gemeinlebens möglichst der Verschiedenartigkeit der konkreten Gemeinden anpassen, nicht aber in eine abstrakte Schablone gepresst werden. Jedoch wird gerade dieser Forderung das „historische“ System keineswegs gerecht, indem es einerseits überwiegend agrarische Flecken als „Städte“, andrerseits grosse Industrieorte oder Pertinenzen grösster Städte als „Dörfer“ behandelt. Die Abgrenzung nach der Einwohnerzahl mag den praktischen Bedürfnissen eher entsprechen, doch nicht immer; auch haftet ihr eine mechanische Starrheit an, die in den Grenzfällen und bei besondern örtlichen Verhältnissen zu recht unbefriedigenden Resultaten führen kann. Sowohl den praktischen Bedürfnissen wie dem Selbstverwaltungsprinzip passt sich am besten eine Ordnung an, die innerhalb gesetzlicher Normativbestimmungen der kommunalen Autonomie einen freieren Spielraum bei der Auswahl ihrer Organisationsformen lässt. Die Hauptsache bleibt aber, dass in jeder Form die Gemeinde als wahrer Selbstverwaltungskörper organisiert sei; und gerade dies ist nach dem preussischen System bei der Landgemeinde noch weit weniger der Fall als bei der Stadt. Allerdings fehlt es hier im Osten allzu oft an der Voraussetzung wirklicher kommunaler Selbstverwaltung, der entsprechenden materiellen und intellektuellen Leistungsfähigkeit der Gemeinde, was wiederum mit der radix malorum zusammenhängt, dem Zwerggemeindetum inmitten der kommunalen Immunitäten des Grossgrundbesitzes.

Als Repräsentativorgan erscheint in den kleinsten Landgemeinden noch unmittelbar die Gemeinde-Versammlung aller Gemeinde-Mitglieder, eventuell mit einem Pluralstimmrecht der Grundbesitzer; in den grösseren Landgemeinden wird von diesen Stimmberechtigten die Gemeinde-Vertretung gewählt; in den meisten preussischen Provinzen, in vielen norddeutschen Staaten und in Baden nach dem Dreiklassensystem. Gemeinde- Versammlung oder Vertretung wählt den Gemeinde-Vorsteher und die Schöffen, die in der Regel kein Kollegium bilden.

Die Stadtverfassung weist zwei Haupttypen auf: die dualistische Ratsverfassung, die sich schon in der mittelalterlichen Organisation der Städte entwickelt hatte, und die Bürgermeistereiverfassung, die sich an das französische Mairiesystem anlehnt. Die erstere charakterisiert sich nicht bloss durch die kollegiale Organisation des Stadtvorstandes (Magistrat, Stadtrat), sondern auch [215] durch die Notwendigkeit einer Übereinstimmung zweier Kollegien zu jedem Gemeindebeschlusse, also durch ein kommunales Zweikammersystem. Dagegen steht bei dem andern Typus ein einziges kollegiales Organ an der Spitze der Stadtgemeinde, da der Bürgermeister von Amtswegen Vorsitzender der Stadtvertretung ist. Das erste System überwiegt in Deutschland weitaus; die Bürgermeisterei-Verfassung besteht nur in der preussischen Rheinprovinz, der bairischen Pfalz, im Grossherzogtum Hessen, Elsass-Lothringen und mehreren sächsisch-thüringischen Staaten. Im kommunalen Zweikammersystem ist die gesonderte Beratung und Beschlussfassung der beiden Kollegien meist die Regel, nur dass der Magistrat in den Sitzungen der Stadtverordneten vertreten ist und gehört werden muss. Umgekehrt bildet nach der Hannoverschen und Schleswig-Holsteinschen St. O. gemeinschaftliche Beratung und Beschlussfassung die Regel; jedoch wird die Mehrheit innerhalb eines jeden Kollegiums festgestellt; ähnlich in Baden, Württemberg, fakultativ auch im Königreich Sachsen u. a.

Die Frage, ob Rats- oder Bürgermeisterei-Verfassung den Vorzug verdiene, ist eins der meist umstrittenen Probleme kommunaler Organisation. Früher überwog wohl die Meinung, dass der anspruchsvollere Apparat des kommunalen Zweikammersystems nur für grössere Städte geeignet sei, während Kleinstädte sich bei dem andern, der Landgemeinde-Verfassung ähnlichen Typus bescheiden sollten; demgemäss sieht auch die altländische preussische St. O. eine solche Vereinfachung der Organisation für die kleinsten Städte (bis 2500 E.) vor. Neuerdings macht sich jedoch umgekehrt die Erwägung geltend, dass gerade die grössten Städte infolge der natürlichen Schwerfälligkeit des bei der Ratsverfassung gehäuften Kollegialsystems den rasch wechselnden Anforderungen ihres kommunalen Lebens kaum zu folgen vermögen; und dass gerade ihnen die rasche Schlagkraft, die Beweglichkeit und klare Verantwortlichkeit der Bürgermeistereiverfassung dringend nottue. In der Tat erstickt die frische Initiative bei einem Geschäftsgang, der jede wichtigere Angelegenheit durch mindestens ein halbes Dutzend verschiedener Kollegialinstanzen schleppt; denn zu Magistrat und Stadtverordneten treten noch die betreffenden Verwaltungsdeputationen, und regelmässig auch vorberatende Ausschüsse aller dieser Kollegien. Stimmen die Beschlüsse der verschiedenen Instanzen nicht in allen Punkten überein, so wiederholt sich die umständliche Prozedur. Die Leitung der ganzen Verwaltung und jedes einzelnen Zweiges durch Mehrheitsbeschlüsse von Kollegien schaltet das Moment einer persönlichen Verantwortlichkeit gegenüber der Bürgerschaft und ihrer Vertretung wie auch vor der Öffentlichkeit in bedenklicher Weise aus. Ferner schwillt die Zahl der Magistratsmitglieder in den grössten Städten als Folge ihrer sich häufenden Arbeitslast und doch sehr zum Schaden der Erledigung dieser Arbeit an. Nachdem von Anfang die leitenden juristischen und sonstigen Techniker als Berufsbeamte in den Rat gekommen sind, muss sich ihre Zahl in dem Masse vermehren, wie sich die kommunale Tätigkeit ausdehnt. Wenn der juristische Fachmann wie der des Schulwesens, des höheren und niedern, des Hoch- und Tiefbaues im Magistrat sitzt, so gehört auch der Techniker des Medizinalwesens, des Verkehrswesens und mancher andrer Verwaltungszweige hinein. Von der Möglichkeit, Berufsbeamte als Ressortchefs ausserhalb des Magistrats, also unter ihn zu stellen, kann desshalb kein genügender Gebrauch gemacht werden, weil solche Stellung für die Person wie für den Verwaltungszweig als untergeordnet im Vergleich zur Mitgliedschaft im Magistrat erscheint. Auch sind die Stadtverordneten regelmässig einer solchen Massregel wenig geneigt, weil sie auf die Anstellung dieser Beamten ohne entscheidenden Einfluss sind, der vielmehr beim Magistrat liegt, während sie die Magistratsmitglieder wählen. Wahl und Wiederwahl sind aber gerade im Kollegialsystem fast das einzige Mittel, eine persönliche Verantwortlichkeit geltend zu machen. In dem Masse, wie demnach die Zahl der Berufsbeamten im Magistrat anwächst, muss nun weiter auch die Zahl der ehrenamtlichen Mitglieder steigen, wenn dieses Element, das ursprünglich als ausschlaggebend gedacht war, nicht zur Bedeutungslosigkeit herabgedrückt werden soll, womit dann ein Lebensnerv bürgerlicher Selbstverwaltung durchschnitten wäre. Mit alledem ergeben sich jedoch unförmlich grosse Magistratskollegien, deren Beratungen und oft vom Zufall abhängige Mehrheitsbeschlüsse den Gang der Verwaltung unerträglich hemmen und die Zeit der mit laufender Arbeit belasteten Mitglieder meist unfruchtbar vergeuden.

Zu erheblichem Teil fallen diese Missstände bei der Bürgermeisterei-Verfassung fort; aber sie erzeugt dafür andere. Gewiss ist die Verantwortlichkeit für die Leitung der ganzen Verwaltung eine weit klarere, wenn die Vertretung der Bürgerschaft nicht ein anonymes Kollegium, sondern [216] den Chef der Verwaltung sich gegenüber sieht. Aber dieser Vorteil wird wieder beseitigt, wenn der Verwaltungschef zugleich Vorsitzender der Versammlung ist, die seine Verwaltung kontrollieren soll. Diese Verbindung legt die Gefahr einer bureaukratischen Präfekturgewalt allerdings sehr nahe; und sie paralysiert auch tatsächlich die formell alleinige Entscheidungsmacht, die das kommunale Einkammersystem der bürgerschaftlichen Vertretung einräumt. Gegen die Möglichkeit, die Bürgermeistereiverfassung im übrigen beizubehalten, aber dem Bürgermeister den Vorsitz der Stadtv.-Vers. zu nehmen, wird geltend gemacht, dass seine Stellung dieser Versammlung gegenüber dadurch eine allzu schwache würde; er wäre dann der Türkenkopf für alle Hiebe und Stösse. Gewiss ist auch die Stellung der „Beigeordneten“, der Stadträte innerhalb der Bürgermeistereiverfassung kaum geeignet, selbständige Charaktere mit kräftiger Initiative zu befriedigen, und namentlich für das bürgerliche Ehrenamt wenig verlockend. Hier bietet der kollegiale Magistrat unverkennbare Vorzüge.

Unter diesen Umständen wäre es nur zweckmässig, die Entscheidung zwischen Rats- und Bürgermeisterei-Verfassung der kommunalen Autonomie zu überlassen, die sie nach der besonderen Natur der einzelnen Gemeinden treffen könnte. Diesen Weg wollte auch schon der preussische Entwurf von 1876 einschlagen. Für die Grossstädte ist aber, falls sie die Ratsverfassung beibehalten wollen, eine sehr wesentliche Verkleinerung der Magistratskollegien unentbehrlich, indem sich deren Funktion zugleich auf die Gesamtleitung beschränkt und vom Detail der Verwaltungsgeschäfte entlastet. Dazu bedarf es einmal einer Veränderung in der Stellung der oberen Verwaltungsämter ausserhalb der Magistrats, auf deren Besetzung den Stadtverordneten Einfluss zu geben wäre, wie es gleichfalls der Entwurf von 1876 vorgesehen hatte; sodann aber und vor allem der auch sonst dringend nötigen Lösung des Problems kommunaler Dezentralisation. Der einzige Ansatz, der sich hierfür in den jetzt geltenden St. O. findet, das Amt des Bezirksvorstehers, ist ziemlich verkümmert und für die heutigen grossstädtischen Verhältnisse ganz unzulänglich. Auch die Bezirke müssen als Selbstverwaltungskörper, als Teilgemeinden im Rahmen der Grossgemeinde organisiert werden, um die rein lokalen Angelegenheiten selbst zu verwalten, wozu sie einer gewählten Vertretung der Bezirksbürgerschaft bedürfen.

Die Gestaltung des Wahlrechts für die Vertretung der Bürgerschaft ist überaus buntscheckig. Das Dreiklassensystem nach der direkten Steuerleistung, das zuerst in der rheinischen Gem. O. v. 1845 erschien, gilt heute in allen preussischen Provinzen mit Ausnahme Hannovers, Schleswig-Holsteins und der Stadt Frankfurt a. M., ferner in Baden und vielen Kleinstaaten. Modifiziert ist es in Preussen für die Städte von mehr als 10 000 E. durch die Prinzipien des Durchschnitts oder des qualifizierten Durchschnittes oder der Zwölftelung nach dem Ges. v. 30. Juni 1900. Sonst gilt das gleiche Wahlrecht, das jedoch in Schleswig-Holstein und Frankfurt durch einen ortsstatutarisch zu normierenden Census beschränkt ist. Bayern hat für die Gemeinden von über 4000 E., Württemberg für grosse und mittlere Städte das Proportionalsystem. Die Wahl ist überall direkt; in Preussen ausser Frankfurt öffentlich, sonst fast überall geheim. Das Hausbesitzerprivileg, das der preussische Entwurf von 1876 schon beseitigen wollte, ist stehen geblieben. Die Weiterentwicklung des kommunalen Wahlrechts steht mit der staatspolitischen Gestaltung in unlöslichem Zusammenhange. Freilich ist die Meinung weit verbreitet, dass mehr als in Staat und Reich sich in der Gemeinde das Wahlrecht den wirtschaftlichen Verschiedenheiten und, als deren Exponenten, der Steuerleistung anpassen müsse. Indessen wurzelt diese Meinung recht eigentlich in der oben kritisierten Anschauung von der Gemeinde als einem wirtschaftlichen Verbande im Gegensatz zum politischen Staats- und Reichsverband. Wenn man dagegen von der Wesensgleichheit der engeren und weiteren politischen Verbände, Gemeinden, Staat und Reich ausgeht, kann man für eine Verschiedenheit in der Normierung der kommunal-, staats- und reichspolitischen Bürgerrechte, die bei der ihnen gemeinsamen Repräsentativ-Verfassung im Wahlrecht gipfeln, keinen anderen prinzipiellen Unterschied finden, als etwa einen solchen, der sich aus der Verschiedenheit der Angehörigkeit zu jedem dieser Verbände ergibt.

Bürgermeister und Magistratsmitglieder (Stadträte, Senatoren usw.) gehen nach den meisten G. O. aus der Wahl der Gemeinde-Vertretung hervor. In Hessen-Nassau werden die Bürgermeister von den Stadtverordneten und den ehrenamtlichen Magistratsmitgliedern gemeinsam gewählt; [217] in Sachsen der erste Bürgermeister, in Baden und Oldenburg sämtliche Ratsmitglieder in gemeinschaftlicher Sitzung beider Kollegien; in Hannover werden die Senatoren vom Senat und einer gleichen Anzahl „Bürgervorsteher“ auf Lebenszeit gewählt. Die Wahl geschieht unmittelbar durch die Bürgerschaft: in Schleswig-Holstein aus drei von einem Präsentationsausschuss vorgeschlagenen Kandidaten, in Württemberg und Weimar. In Frankfurt a. M. wird der erste Bürgermeister aus 3 von den Stadtverordneten präsentierten Kandidaten vom König ernannt. Der zweite Bürgermeister bedarf dort der staatlichen Bestätigung; ebenso die beiden Bürgermeister in Schleswig-Holstein. Der Entwurf von 1876 hatte die Bestätigung allgemein auf die Bürgermeister beschränken wollen; jedoch ist es nach dem Scheitern dieses Entwurfes bei der staatlichen Bestätigung sämtlicher Magistratsmitglieder in allen anderen preussischen Provinzen geblieben; und zwar für 1. und 2. Bürgermeister in Städten von mehr als 10 000 E. durch den König, sonst durch den Regierungspräsidenten. Dass letzterer die Bestätigung nur mit Zustimmung des Bezirksausschusses versagen kann, hat kaum mehr als dekorative Bedeutung, da die verweigerte Zustimmung vom Minister des Innern „ergänzt“ werden kann. In den meisten andern deutschen Staaten ist das Bestätigungsrecht auf die Bürgermeister beschränkt, in Bayern auf die rechtskundigen Magistratsmitglieder. In Württemberg ist das auf die Ortsvorsteher beschränkte Bestätigungsrecht an bestimmte Versagungsgründe gebunden; und Baden endlich hat den grossen Wurf gewagt, auf dies alte Institut überhaupt zu verzichten, ohne dass schreckliche Folgen bekannt geworden wären.

Die Beibehaltung des Bestätigungsrechts ist mit der Übertragung „staatlicher“ Kompetenzen, insonderheit der Polizei, zu begründen versucht worden. Diese Begründung versagt – abgesehen von der petitio principii der „staatlichen“ Natur jener Funktionen – in der grossen Mehrzahl der Fälle, in denen die betreffenden Stellen mit den angeblich „staatlichen“ Funktionen gar nicht betraut sind. In Wahrheit liegt dem ganzen Institut das angeborene Misstrauen des obrigkeitlichen Beamtenstaats gegen die freie bürgerliche Selbstbestimmung zugrunde; wie im alten System hält er es für die natürliche Pflicht der Obrigkeit, die „Eignung der gewählten Subjekte für ihre Stellen“ nachzuprüfen. Es ist also ein immanenter Widerspruch gegen den tragenden Grundgedanken der Selbstverwaltung. Völlig unvereinbar mit ihrem Prinzip wie mit dem des Rechtsstaats ist aber das freie Ermessen in der Versagung der Bestätigung ohne Angabe von Gründen. Wenn dafür geltend gemacht wird, dass niemand ein Anrecht auf ein bestimmtes Amt habe, und man also keine Gründe für die Nichternennung verlangen könne, so zeigt dies eine völlige Verkennung der rechtlichen Natur der Bestätigung. Denn diese ist kein Residuum der Ernennung; die Berufung der Person ist durch die Wahl geschehen; und die Bestätigung ist ein Mittel der Staatsaufsicht über die kommunale Selbstverwaltung, also ein staatlicher Eingriff in die Rechtssphäre der Gemeinde. Als solcher bedarf er aber nach dem Grundprinzip des Rechtsstaates der gesetzlichen Determinierung seiner Voraussetzungen und der Möglichkeit einer Nachprüfung seiner Rechtmässigkeit im Wege der Rechtsprechung.

Das Gleiche gilt von den sonstigen Mitteln der staatlichen Kommunalaufsicht, zu denen auch die Genehmigung von Ortsstatuten und dergl. gehört; es gilt vor allem aber von der Staatsaufsicht als Ganzem. Eine gesetzlich ungemessene Aufsicht ist tatsächlich die Aufhebung der Selbstverwaltung, an deren Stelle sie eine Oberleitung der kommunalen Verwaltung durch die Staatsbehörden setzt. So werden aus den Aufsichtsbehörden in Wirklichkeit „vorgesetzte“ Behörden und aus den Organen kommunaler Selbstverwaltung, „subordinierte“ Staatsbehörden. Diese Vertauschung von Aufsicht und Subordination ist das chronische Leiden der deutschen, vor allem der preussischen Selbstverwaltung. Es wurzelt zunächst in der erblichen Belastung durch die immanente Denkart des obrigkeitlichen Bureaukratismus, der sich ein Behördensystem gar nicht anders vorzustellen vermag, als in der Gestalt einer von oben nach unten abgestuften Hierarchie „vorgesetzter“ und „nachgeordneter“ Amtsstellen. Im begrifflichen Gegensatz hierzu steht das Wesen der Selbstverwaltung, das die kommunalen Funktionen der Zuständigkeit und also auch der Verantwortlichkeit staatlicher Behörden entzieht. Hier tritt das kommunale Willenszentrum an die Stelle des staatlichen, und damit ein eigenes System von Verantwortlichkeiten und Subordinationen. Weil die Gemeinde dem Staate eingegliedert ist, hat [218] er gesetzlich bestimmte Aufsichtsbefugnisse über sie; aber weil die kommunale Selbstverwaltung von dem Zentrum eines andern Gemeinwillens geleitet wird als die Staatsverwaltung, sind ihre Organe den staatlichen Verwaltungsbehörden nicht subordiniert.

Das in der Tradition wurzelnde Übel wird erhalten und verstärkt durch den völligen Mangel an klarer Folgerichtigkeit bei der Auseinandersetzung zwischen staatlicher und kommunaler Zuständigkeit. Sobald man die Unbaltbarkeit des Dogmas vom Staate als dem „obrigkeitlichen“ und der Gemeinde als dem „wirtschaftlichen“ Verbande erfasst hat, kann man aus dem Wesen beider für ihre Zuständigkeit nur folgern, dass die Gemeinde der politische Verband zur genossenschaftlichen Ordnung der lokalen Angelegenheiten, der Staat der politische Verband zur genossenschaftlichen Ordnung der nationalen Angelegenheiten sei. Wobei dann freilich der deutsche Territorialstaat in eine recht prekäre Lage kommt, weil er ein lokales Gemeinwesen nicht sein will, weil er aber ein nationales Gemeinwesen nicht ist. Daher jene unlösbaren Schwierigkeiten der deutschen staatsrechtlichen Begriffskonstruktion, von denen oben im 1. Abschnitt die Rede war. Und diese Schwierigkeiten projizieren sich auf die Praxis, weil gerade der Einzelstaat, in dem die Tradition der bureaukratischen Obrigkeit ihren Stammsitz hat, sich mediatisierend zwischen Reich und Gemeinde stellt. Jedenfalls aber lassen sich „lokale Agenden“, die notwendig dem „Staate“ vorbehalten bleiben müssten, aus dem Wesen der Gemeinde im Gegensatz zum „Staate“ unmöglich ableiten. Wenn daher manche positive Gesetzgebung zwischen einem „eignen“ und einem „übertragenen“ Wirkungskreise der Gemeinden unterscheidet, so kann dies nur bedeuten, dass diese Gesetzgebung die zur ersten Kategorie gehörigen Angelegenheiten für solche hält, die nur der Gemeinde zustehen können, die andern dagegen für solche, die entweder dem Staate oder der Gemeinde zustehen können, die sie aber der letzteren zuschreibt. Das ist theoretisch sehr anfechtbar, praktisch aber wenig erheblich, da auch diese „übertragenen“ Angelegenheiten der Gemeinde als Selbstverwaltungskörper zustehen und gleich den „eignen“ im Rahmen der Selbstverwaltung wahrgenommen werden. Denn nicht die Überordnung der Gesetzgebung über die Selbstverwaltung steht in Frage, sondern die Unterordnung der kommunalen unter die staatlichen Verwaltungsbehörden. Gerade dies ist aber die Wirkung des in vielen deutschen Staaten, namentlich in Preussen herrschenden Systems.

Den typischen Fall bildet die Ortspolizei. Wie Verwaltung und Polizei überhaupt, so sind Ortsverwaltung und Ortspolizei weder begrifflich noch praktisch von einander zu lösen; vollends nicht die (der sogenannten Sicherheitspolizei gegenübergestellte) Wohlfahrts- oder besser Verwaltungspolizei. Denn sie ist ja gar nichts andres als die Zwangsseite jedes Verwaltungszweiges; die Schulpolizei von der Schulverwaltung, die Baupolizei von der Bauverwaltung, die Verkehrspolizei von der Verkehrsverwaltung etc. organisatorisch trennen zu wollen, das ist der Gipfel des theoretischen wie des praktischen Widersinns. Aber freilich ist es für den Geist des obrigkeitlichen Poiizeistaates auch der Gipfel der Selbstentäusserung, den Donnerkeil obrigkeitlicher Zwangsgewalt an „Untertanen“-Verbände auszuliefern. Österreich, Württemberg, Baden u. a. haben diesen Schritt getan, indem sie die Ortspolizei als Angelegenheit kommunaler Selbstverwaltung anerkennen. Nicht so Preussen. Nach dem preussischen Grunddogma ist jede Polizeifunktion unveräusserlich und unverjährbar „staatlich“. Da aber der „Staat“ doch nicht an jedem Orte die Ortspolizei durch eigne Beamte verwalten kann, so expropriiert er die Gemeinden, indem er deren Organe, insonderheit Ortsvorsteher und Bürgermeister, zu „staatlichen“ Polizeiverwaltern macht. Polizeiliche Funktionen werden hier also prinzipiell niemals dem Selbstverwaltungskörper zugestanden; vielmehr wird das kommunale Organ auf diesem Gebiet zum subordinierten Staatsbeamten herabgedrückt. Das wirkt jedoch weit über dieses eine Gebiet hinaus. In die ganze Stellung der obersten Kommunalbeamten wird dadurch jene Zwieschlechtigkeit hineingetragen, die der geflissentlichen Vermengung von Aufsicht und Subordination Vorschub leistet. Dass die Ortspolizei doch in Wahrheit Gemeindesache ist, erkennt sogar der preussische Staat wenigstens dadurch an, dass er ihr die Kosten dafür auferlegt. Damit entsteht das Prototyp für jene spezifisch preussische Abart der Selbstverwaltung, die darin besteht, dass der „Staat“ d. h. die bureaukratische Obrigkeit die Angelegenheit – selbst verwaltet, während der Selbstverwaltungskörper die Kosten aufzubringen hat. Da auch das preussische System nicht das Unmögliche möglich machen und wirklich in jedem Verwaltungszweige [219] das polizeiliche von den übrigen Elementen scheiden kann, so unterwirft fast überall das polizei-staatliche die kommunalen Elemente seiner Leitung. So wird nach Miquels treffendem Ausdruck „das Sein zum Schein der Selbstverwaltung“.

Was auf dem Polizeigebiet ein falsches Prinzip der Gesetzgebung geleistet hat, das hat namentlich im Schulwesen eine eng verwandte Verwaltungspraxis zu Wege gebracht. Auch hier die gleiche Methode des divide et impera: zwei Begriffe, die sich nicht scheiden lassen, werden angeblich doch geschieden und der eine für unbedingt „staatlich“ erklärt. Das sind hier die „Interna“ im Unterschied von den „Externa“ des Schulwesens. Und auch das Resultat ist das gleiche. Das natürliche Verhältnis: kommunale Selbstverwaltung der von der Gemeinde erhaltenen Schulen nach den staatlichen Gesetzen und unter staatlicher Aufsicht – wird künstlich zerstört; an seine Stelle tritt ein formal ungeheuer komplizierter Zustand mit unwahrscheinlichen Reibungsvorrichtungen zwischen staatlichen und kommunalen Organen; aber mit dem tatsächlichen Ergebnis, dass – nach etlicher unfruchtbarer Kraftvergeudung durch gegenseitige Hemmung – die bureaukratische Obrigkeit die Verwaltung leitet, die kommunalen Organe ihr subordinierte Dienste leisten, und der Selbstverwaltungskörper die Kosten aufbringt!

Ähnlich, wenngleich kaum so klar, liegen die Dinge auf vielen anderen Verwaltungsgebieten. Gewiss ist die kommunale Selbstverwaltung in Deutschland bei der Ausdehnung ihres Wirkungskreises von der Gesetzgebung wenig behindert; sie kann der modernen Entwicklung gemäss sozialpolitische Aufgaben aller Art, Aufgaben der Wohnungs- und Bodenpolitik, des Verkehrswesens usw. in Angriff nehmen, ohne eines Spezialtitels durch Parlamentsakte zu bedürfen. Aber fast bei jedem Schritt stösst sie auf die übergeordnete Macht bureaukratischer Obrigkeit, die zu genehmigen, zu bestätigen, zu entscheiden, in Wahrheit zu leiten hat; vor allem in Preussen. Wie sind namentlich die Grossstädte in einer ihrer allerwichtigsten Lebensbedingungen, der Ordnung und Entwicklung des Verkehrswesens, durch das staatliche Polizeimonopol und noch obenein durch das preussische Kleinbahn-Gesetz gehemmt, für das sie überhaupt nicht als politische Gemeinwesen, sondern lediglich als „Wegeunterhaltungpflichtige“ existieren!

Im letzten Grunde ruht dies ganze System auf dem Gedanken, dass schliesslich auch für die Qualität der kommunalen Arbeit der „Staat“ verantwortlich sei, und dass dieser „Staat“ durch das obrigkeitliche Beamtentum tätig werde. Damit ist jedoch Sinn und Zweck der ganzen Selbstverwaltungsorganisation in sein Gegenteil verkehrt. Diese beruht vielmehr auf dem Prinzip, dass an die Stelle der verantwortlichen Leitung von oben die Selbständigkeit des engeren Gemeinwesens tritt, deren gesetzliche Grenzen durch die staatliche Kommunalaufsicht zu kontrollieren sind. Für die Qualität seiner inneren Verwaltung muss vor allem durch die Art der gesetzlichen Organisation des Selbstverwaltungskörpers gesorgt werden: durch eine reale Verantwortlichkeit seiner Organe gegenüber dem Gemeinwesen und durch eine Gestaltung der Wahlrechte, die denen, die unter einer schlechten Verwaltung am unmittelbarsten zu leiden haben, die Macht gibt, die Verwaltung ihrer eignen Angelegenheiten zu bessern. Auf der Überzeugung, dass so, trotz aller möglichen Fehlgriffe im einzelnen, die übrigens bei reiner Obrigkeitsverwaltung mindestens ebenso wahrscheinlich sind, das Gemeinwohl des engeren wie des weiteren Verbandes am sichersten und dauerndsten gewahrt werde, beruht die ganze Selbstverwaltung; nur durch ihre rückhaltlose Anerkennung auch in der praktischen Führung der Verwaltung kann sie zur lebendigen Wahrheit werden. Die Voraussetzung dafür ist aber die Durchführung des selfgovernment auch in der staatlichen Struktur unter Überwindung der obrigkeitlichen Rudimente. Die kommunale Selbstverwaltung kann nur im wahren Verfassungsstaat Wahrheit werden.