BLKÖ:Streicher, Nannette

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Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich
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Streicher, Joseph
Band: 40 (1880), ab Seite: 19. (Quelle)
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Streicher, Nannette [Maria Anna] (Tonkünstlerin, geb. zu Augsburg 2. Jänner 1769, gest. zu Wien 16. Jänner 1833). Ihr Vater Johann Andreas Stein, seßhaft zu Augsburg, erfreute sich nicht nur eines europäischen Rufes in der Fabrication von Orgeln und Clavieren, sondern auch eines gründlich gebildeten Spieles auf diesen Instrumenten. Da auf Nannette, welche bereits im achten Jahre das Piano trefflich beherrschte, sein Musiktalent sich vererbt hatte, zog er sie auch vor ihren Geschwistern zur Clavierfabrication heran, so daß sie mit den Einzelheiten dieses Geschäftes und mit der Ausführung der wichtigsten mechanischen Arbeiten desselben frühzeitig auf das innigste vertraut wurde. Bei den zahlreichen Besuchen der Musikfreunde und Tonkünstler, welche der Vater in seinem Etablissement empfing, wohnte sie denn auch meist den Proben der Instrumente bei, wodurch sie bald einen sehr ausgebreiteten Ruf erlangte, der durch verschiedene Reisen, die sie in Angelegenheiten des Geschäftes machte, nur immer mehr steigen mußte. Als aber der kränkelnde Vater bei zunehmendem Leiden nicht selbst auf sein ausgedehntes Geschäft sehen konnte, trat Nannette entschlossen an seine Stelle, in welcher sie eine musterhafte Energie entfaltete. Der Vater starb (1792), und die 23jährige Tochter unterzog sich der Leitung des Unternehmens, zugleich aber der Sorge um das Wohl ihrer Mutter und die Zukunft ihrer sechs Geschwister. Mit wahrem Mannesmuthe führte sie in Verbindung mit ihrem 16jährigen Bruder das Geschäft durch volle zwei Jahre für die Familie fort. In dieser Zeit lernte sie ihren späteren Gatten Johann Andreas Streicher [siehe die S. 13] kennen, welcher in München als Clavierlehrer lebte. Da sie durch eine Reise, die sie mit ihrem Vater einmal nach der österreichischen Hauptstadt unternommen, einigermaßen mit den dortigen Verhältnissen bekannt geworden und ihr Vater daselbst auch einige Freunde gewonnen hatte, so beschloß sie ihre Uebersiedlung nach Wien, reiste aber vorerst noch einmal selbst dahin, um an Ort und Stelle die Verhältnisse wiederholt und genau zu prüfen, und als sie von Wiener Freunden zur Uebersiedlung aufgemuntert wurde, führte sie im Juli 1794 ihr Vorhaben aus und eröffnete gemeinschaftlich mit ihrem ältesten und jüngsten Bruder die Pianoforte-Fabrik unter der Firma „Geschwister Stein“. Nachdem aber Johann Andreas Streicher ihr Gatte geworden, leitete sie im Verein mit demselben das Etablissement unter jener Firma in ersprießlichster Weise bis zum Jahre 1802, in welchem sich die Geschwister trennten und jeder Theil: Matthäus Andreas Stein [Band XXXVIII, Seite 43, Nr. 8], und Nannette Stein in eigenem Namen sein Geschäft fortführte. Ihr Gatte aber bestand darauf, daß sie im Geschäfte den väterlichen Namen beibehalte, da sie ja, im mechanischen Theile desselben vollkommen unterrichtet, die Traditionen des Vaters im Baue der Instrumente, die einen europäischen Ruf besaßen, genau kannte. So leitete sie denn mit aller Energie zwei Decennien hindurch das Unternehmen bis 1823, wo der für dasselbe ausschließlich herangebildete Sohn ihr die Bürde abnahm. Von da an bestand das Etablissement unter der Firma: „Nannette Streicher geb. Stein [20] und Sohn“. Aber nicht nur als Leiterin der Piano-Fabrik ist Nannette beachtenswerth; auch als Clavierspielerin suchte sie ihres Gleichen. Ihr Spiel war von seltener Vollendung und die Werke eines Clementi, Haydn, Beethoven fanden durch ihren Vortrag die getreueste, den Intentionen ihrer Schöpfer genau entsprechende Wiedergabe. Auch im Gesange leistete sie so Vortreffliches, daß, wenn sie nach dem Vortrage einer „Kunstsängerin“ auftrat, sie mit ihrem einfachen, natürlichen, aber von einer wunderlieblichen Stimme begleiteten Gesange einen nicht geringeren Sieg feierte als jene. Als sie in der Folge Mutterpflichten unausgesetzt in Anspruch nahmen, entsagte sie wohl dem Gesange, der Pflege des Clavierspiels aber blieb sie bis in ihr spätes Alter treu. Von nicht gewöhnlicher Bildung, besaß sie eine gründliche Kenntniß der französischen Sprache, wofür die interessante Thatsache spricht, daß sie das große Werk „Anatomie et Physiologie du système nerveux“ des berühmten Phrenologen Gall [Bd. V, S. 63], der in Wien ihr Hausarzt war und auch nach seiner Uebersiedlung nach Paris mit ihrer Familie in freundschaftlichstem Verkehre blieb, übersetzte; nur die zweite Hälfte des sechsten Bandes hinterließ sie unvollendet. Als Geschäftsfrau, Künstlerin, Gattin und Mutter, und als Frau überhaupt hochgeachtet, starb sie nach mehrwöchentlichem Leiden im Alter von 64 Jahren. Auf dem Friedhofe, auf welchem Mozart ruht, liegt auch sie begraben, und ein Denkstein bezeichnet diese Ruhestätte einer nicht gewöhnlichen Frau.

Gerber (Ernst Ludwig), Historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler u. s. w. (Leipzig 1792, Breitkopf, gr. 8°.) Bd. II, Sp. 573, im Artikel: „Maria Anna Stein“. – Derselbe, Neues historisch-biographisches Lexikon u. s. w.. Bd. IV, S. 294, im Artikel: „Maria Anna Streicher“. – Allgemeine musikalische Zeitung (Leipzig, 4°.) 1833, Nr. 23. – Allgemeine Wiener Musik-Zeitung. Herausgegeben von Dr. August Schmidt (4°.) 1841, Nr. 7, S. 28, in den „Geschichtlichen Rückblicken“.