Bei verkrüppelten Künstlern

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Textdaten
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Autor: Otfrid Mylius
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Titel: Bei verkrüppelten Künstlern
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 35, S. 545–547
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1866
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originaltitel:
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung: Im Asyl für behinderte Knaben in München
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Bei verkrüppelten Künstlern.


Etliche zwanzig Jahre mögen es her sein. Ein nun verstorbener Freund von mir war damals Schüler des genialen Kaulbach, dessen Narrenhaus, Hunnenschlacht und sonstige Compositionen soeben die öffentliche Aufmerksamkeit auf ihn gelenkt hatten. Kaulbach hatte gerade den ernsten Griffel der grausig-mythischen Charaktermalerei weggelegt, um für einige Zeit der Aesop der Malerei zu werden und Goethe’s Reineke Fuchs zu illustriren. Das Werk war noch nicht an die Oeffentlichkeit getreten, aber unter den Münchener Kunstkennern, Künstlern und Kunstfreunden schon bekannt geworden und hatte einen solchen Eindruck gemacht, daß man dem Meister dafür eine Huldigung zu bringen gedachte. Es war im „wunderschönen Monat Mai“ und eine der Künstlergesellschaften wollte ihr herkömmliches Frühlingsfest feiern und zwar am Starnberger See, wo damals Kaulbach ein hübsches Landhäuschen bewohnte und in ländlicher Abgeschiedenheit an seinem neuen Werke arbeitete. Da machten mein Freund und einige andere Schüler Kaulbach’s den Vorschlag, mit jenem Künstlerfest die beabsichtigte Huldigung für den Meister zu verbinden, und zwar durch einen Maskenzug, welcher die verschiedenen Thiergestalten aus Reineke Fuchs darstellen sollte. Diese Idee fand allgemeinen Beifall; der liebenswürdige, talentvolle Graf Pocci, in welchem sich Dichter, Musiker, Maler und Caricaturenzeichner vereinigen, erbot sich sogleich, Text und Chöre für das Festspiel zu dichten und zu componiren. Es handelte sich also nur noch um die Masken. Einige der Künstler unternahmen es, sich selbst die nöthigen Thierköpfe für die eigenen Rollen zu verfertigen, aber noch war man sehr in Sorge darüber, woher man die anderen Thierlarven bekommen sollte, als plötzlich Jemand, von einem glücklichen Einfall inspirirt, rief: „Wohlan, laßt sie von den verkrüppelten Knaben verfertigen!“

Noch waren manche unschlüssig, ob dies nicht eine Persiflage sein sollte, als uns der Finder dieser glücklichen Idee auseinander setzte: drunten an der Isar sei eine Bewahranstalt für krüppelhafte Knaben, ganz wundersam geschickte Bursche, die alles zu Stande brächten, was nur aus Pappe und Leim gemacht werden könne. Mein Freund ward mit dem Auftrage betraut, sich mit dem genannten Asyl in Verbindung zu setzen, und ich begleitete ihn auf diesem amtlichen Gange. Wir fanden die Anstalt, ein geräumiges altes Haus, das vor zweihundert Jahren eine lustigere Gesellschaft beherbergt haben mochte. Der Director derselben, ein Herr Mayer, empfing uns; mein Freund nannte sein Anliegen, legte die Skizzen zu den verschiedenen Larven und Thierköpfen vor und freute sich herzlich, daß der Director alsbald auf den Humor der Sache einging. Wir hatten noch einige von den Köpfen vergessen, aber Herr Mayer entwarf sogleich Skizzen nach den Andeutungen meines Freundes und überraschte uns hinterher durch die Thatsache, daß die von ihm gelieferten Entwürfe zu den besten unter allen gehörten, denn dieser Herr Mayer war ein vortrefflicher Zeichner. Nachdem der Auftrag, der uns hergeführt hatte, erledigt war, zeigte uns der Director einen Theil der Arbeiten, welche seine Pfleglinge lieferten, nämlich Masken und anderes Geräthe für Theater und alle möglichen eleganten Spielzeuge in Papiermaché. „Einige von diesen Knaben sind wahre Kobolde und Teufelsbraten,“ sagte er, „allein wenn man dem bösen Geiste der negativen Thatkraft in ihnen einen künstlerischen Abzugscanal eröffnet, so schlägt das Schlimme leicht in das Gute um.“

Die Larven und Thierköpfe wurden verfertigt, die Rollen einstudirt, und an einem glorreichen Maimorgen machte sich die ganze Gesellschaft zu Roß und Wagen auf den Weg nach dem Starnberger See, wo im Walde hinter Meister Kaulbach’s Landhäuschen das Fest mit jenem unverwüstlich ausgiebigen, ansteckenden Humor gefeiert wurde, welcher alle derartigen Künstlerfeste auszeichnet.

[546] Nie kann ich seitdem Thierlarven sehen, ohne an jenes Fest und die verkrüppelten Knaben erinnert zu werden, und wie oft ich nachmals auch nach München kam, immer vergaß ich über anderen Anregungen, meinen Besuch jenes Asyls zu erneuern. Endlich vorigen Sommer fand ich Muße zu einem derartigen Besuch. Argloser Weise hatte ich das ursprünglich von einem menschenfreundlichen Privatmann, Herrn von Kunz, schon 1832 gegründete, zwölf Jahre später zur Staatsanstalt erhobene Asyl für verkrüppelte Knaben noch in seiner alten Behausung unten an der Isar aufgesucht, mußte aber erfahren, daß dasselbe nun ein eigenes Grundstück in einem der neuen Stadttheile, in Nr. 13 der Staubstraße besitze, das ich nach langem Suchen und nach einer Wanderung durch die beiden blüthengeschmückten Kirchhöfe endlich auffand. Diese Nummer 13 in der Staubstraße ergab sich als ein zweistöckiges, weißes Haus ohne allen Anschein oder Aussehen von der Würde einer öffentlichen Anstalt. Ein Zaun, ein leicht geneigter Rasenplatz mit Gruppen von Rosenbäumchen und Fuchsien trennte es von der Straße, die ihren Namen mit Recht führte. Der Director, der mir auf der Treppe des Hauses entgegenkam, war nicht mehr mein alter Bekannter Herr Mayer, der inzwischen Chef einer bedeutenden Fabrik geworden war, empfing mich aber auf das Freundlichste und versicherte mich, daß es ihm Vergnügen machen werde, mir die Anstalt und die Leistungen seiner Zöglinge zu zeigen.

Es war Nachmittags und der Director theilte mir auf dem Wege nach dem Schulzimmer mit, die Schulstunden seien sämmtlich so angeordnet, daß sie mit zwölf Uhr Mittags schlössen, damit die Knaben nach dem Essen sich mit ihren Handarbeiten befassen könnten. Ich betrat nun unter seiner Führung einen wahrhaften Fabriksaal von mehr als vierzig Fuß Länge, der zwar leider keine hinreichende Lüftung, aber durch fünf Fenster genügendes Licht hatte. Hier beaufsichtigte der Industrielehrer, ein freundlicher Mann von intelligentem Aussehen, etwa achtundzwanzig Knaben im Alter von neun bis fünfzehn Jahren an den niedrigen, viereckigen Tischen, welche in doppelter Reihe das Zimmer entlang standen. Der Fußboden war mit Schnitzeln von Pappe und buntem Papier bedeckt; halb vollendete Uhrständer, Schachteln und alle möglichen Gegenstände von Papp- und Etuisarbeiten in verschiedenen Stadien der Anfertigung nahmen einzelne Tische ein, und an anderen saßen die jungen Arbeiter, pfiffen zu dem Tacte ihrer schmalen Uhrfedersägen oder bliesen den Staub von den feinen Holz-Galanteriearbeiten hinweg, welche sie aussägten. Alle waren in die Uniform der Anstalt, Beinkleider und Westen von dunklem Wollstoff und blaue Blousen mit Gürteln, gekleidet. Viele von ihnen hatten Krücken dicht neben sich an die Bank gelehnt stehen, andere die schmächtigen Fußgelenke in eiserne Maschinen gespannt; Lahmheit war in verschiedenen Graden und Arten vertreten; einige Knaben waren nur halb gelähmt, bei anderen waren durch eine seltsame Laune der Natur die zehn Finger so verkrümmt und verdreht, daß es kaum glaublich erschien, wie dieselben jemals die Verrichtungen von menschlichen Händen zu erlernen vermöchten. Auch Buckelige waren da, vielleicht noch die Glücklichsten von Allen, denn sie versprachen gemeinhin den meisten Erfolg. Der Mehrzahl jener Verkrüppelungen und Verkrümmungen liegt Scrophulose zu Grunde, die bei Buckeligen weit seltener vorkommt. Ein kleiner Buckeliger copirte an diesem Nachmittag mit besonderer Erlaubniß einiges ornamentale Laubwerk und zwar mit der Genauigkeit und Sorgfalt eines mittelalterlichen Miniaturmalers. Wie er so bei seiner Arbeit saß, den Kopf beinahe ganz verborgen unter den hochgebauchten Schultern, und auf des Directors freundlich-beifälligen Zuspruch das blasse Gesicht langsam zu uns aufschlug, überkam mich eine unwillkürliche Wehmuth bei dem Anblick der seltsamen Schönheit dieser intelligenten Augen und dem Lächeln der schmalen, bleichen Lippen seines ausdrucksvollen Mundes, der einen ruhigen, selbstbewußten Stolz ausdrückte. Man darf nämlich hier im Bereich der Krücken nicht die Schüchternheit und das hübsche, linkisch-naive Wesen anderer Kinder erwarten: alle solche Dinge verschwinden mit dem ersten Bewußtsein eines exceptionellen Geschickes.

„Ich lasse alle diese Knaben im Zeichnen unterrichten,“ sagte der Director; „die Genauigkeit im Augenmaß und Sicherheit des Tastsinns, welche das Zeichnen verleiht, ist diesen Armen von großem Nutzen und ersetzt ihnen Vieles, was ihren mangelhaften Händen die Natur versagt hat. Keiner von diesen Knaben darf sich an irgend eine unserer feineren Arbeiten wagen, bevor er nicht fertig zeichnen kann.“ Wir traten an einen Tisch am jenseitigen Ende des Zimmers, wo ein Knabe von ungefähr zehn Jahren mit so geraden Schultern und strammen, gesunden Gliedmaßen, wie man sie nur von einem Jungen erwarten konnte, ganz emsig an einem Leimtopf und großen Haufen regelmäßig geschnittener Papierstückchen hantirte. „Wie steht es mit der Schachtel?“ fragte der Director den Jungen, der offenbar kein Krüppel war.

„Ganz gut, sehen Sie, Herr!“ war die Antwort und der Knabe hielt eine Schachtel mit hübsch gerändertem und bunt überzogenem Deckel in die Höhe mit Händen, deren jede nur zwei Finger hatte. Noch vor wenigen Monaten vermochte der Knabe mit diesen verstümmelten Händen kaum zu essen, jetzt konnte er sehr hübsch schreiben, etwas zeichnen und Schneidwerkzeuge vollkommen genau und geschickt handhaben. Er war aber noch nicht einmal so übel daran, wie einer seiner Vorgänger, der nur einen Finger an jeder Hand gehabt, sich indeß so viel Mühe gegeben hatte, seine Mängel zu überwinden, daß er wegen seiner Handgeschicklichkeit in der Anstalt berühmt gewesen und nun im Stande war, sich außerhalb derselben seinen Unterhalt zu verdienen. Was für ein trauriges Loos wäre einem solchen Menschen aufbewahrt gewesen, wenn er nicht die geduldige Sorgfalt, die unermüdliche Unterstützung und Ermuthigung gefunden hätte, welche diese Anstalt solchen Unglücklichen bietet!

Die Arbeit des Leimens schien die jungen Zöglinge am meisten zu absorbiren, denn ich sah drei buckelige Knaben ganz vertieft in den Aufbau der Pappwände eines großen Bonbons-Aufsatzes, wozu das von ihnen selbst verfertigte Muster vor ihnen stand. Es sah ganz phantastisch aus mit seinen elfenbeinweißen Säulen, seinem geschmückten Karnies und den dahinter befindlichen, mit gewässertem Seidenstoff überzogenen Wänden. Die Zeichnungen und Entwürfe zu allen diesen Arbeiten der verschiedensten Art rühren von dem Director her, und die Muster davon sind in Menge in einem großen Glasschrank am Ende des Zimmers aufgestellt. Es sind darunter à jour ausgeführte und geschnitzte Arbeiten aus verschiedenen Holzarten, welche sich auf jedem Markte sehen lassen dürften. Während ich diese Muster betrachtete, gedachte ich der alten Larven, die meine erste Bekanntschaft mit der Anstalt vermittelt hatten, und erfuhr, daß die Formen dazu noch existirten und manchmal im Carneval noch hervorgeholt würden, wenn Bestellungen auf einzelne derartige Thierköpfe eingingen.

„Ich freue mich jedesmal über einen solchen Auftrag, denn die Knaben arbeiten mit einem wahren Vergnügen daran,“ sagte der Director. „Weil unsere Anstalt sich bemühen muß, sich so viel wie möglich selbst zu erhalten, so richten sich unsere Arbeiten natürlich immer nur nach dem Bedarf von außen. Zu jener Zeit wurden vielerlei Zimmerverzierungen von Papiermaché in der Anstalt verfertigt; jetzt aber machen wir vorzugsweise nur noch Jagdthierköpfe, denen wir natürliche Geweihe und Gehörne aufsetzen, wie diese hier,“ und er zeigte mir einen derartigen Hirschkopf. „Die hierzu angewendete Papiermasse ist von einer besonderen Art und kann trotz ihrer Leichtigkeit ungemein viel aushalten.“

Auf meine Frage, ob die Knaben gewöhnlich den in der Anstalt erlernten Beschäftigungen treu blieben, antwortete der Director, dies geschehe nicht in allen Fällen. „Der Hauptzweck unserer Anstalt ist eigentlich nur der, den Knaben durch die hier betriebenen Arbeiten eine gewisse Handfertigkeit zu geben,“ sagte er. „Sind es Söhne armer Eltern, so bringen wir sie bei ihrem Austritte auf Kosten der Anstalt als Lehrlinge in irgend einer geeigneten Profession unter und finden leicht Lehrherren für sie. Nach den ursprünglichen Statuten ward kein Knabe unter zwölf Jahren in die Anstalt aufgenommen; da wir aber immer den ärmsten Candidaten den Vorzug geben, so fand man es bald für passend, von dieser Regel zurückzukommen, denn je jünger die Zöglinge uns übergeben werden, desto leichter ist gewöhnlich ihre physische Erziehung. Die Eltern machen nur allzuoft einen Gelderwerb aus der Verkrüppelung eines Kindes; das arme Geschöpf wird auf den Bettel hinausgeschickt, bis es diese Beschäftigung lieb gewinnt, und eine sittliche Besserung ist dann bei ihm fast unmöglich; die hierbei in’s Spiel kommende Eitelkeit ist eine sonderbare sittliche Erscheinung bei diesen verwahrlosten Kindern.“ Unter anderen Beispielen erzählte mir nun der Director folgendes sehr charakteristische. Ein ungewöhnlich begabter buckeliger Knabe von etwa zehn Jahren war in die Anstalt aufgenommen worden, nachdem er zuvor gewöhnt gewesen war, wochenlang allein im Lande [547] herumzustreifen. Beim ersten Kirchenbesuch war der Knabe kaum in das Gotteshaus getreten, so sank er plötzlich zu Boden, ließ alle Glieder aus den Gelenken fallen und begann mit dem Munde zu schäumen. Je dichter sich die Zuschauermenge um ihn drängte, desto schlimmer ward er, und der Hauslehrer brachte ihn ganz bestürzt nach Hause.

„Da ich argwöhnte, der Knabe verstelle sich,“ fuhr der Director fort, „so begleitete ich ihn am folgenden Sonntage selbst in die Kirche und packte ihn scharf am Kragen, als er sich gerade anschickte, zu Boden zu fallen. Mein Zugreifen verhinderte den Anfall und er gestand mir nachher, er simulire immer einen solchen, wenn er unter eine große Menge Leute komme; es sei so hübsch, wenn man Aller Augen auf sich gerichtet sehe. Unter vernünftiger Behandlung ward er einer der besten Knaben in der Anstalt. Unter vernünftiger Behandlung,“ sprach der Director weiter, „verstehe ich jedoch nicht die moralische Unterweisung allein, denn wir finden, daß nichts so sehr zur Steigung der Selbstachtung der Knaben beiträgt, als die physische Erziehung: Exerciren, Turnen und häufiges Baden haben einen wunderbaren Erfolg. Die gymnastischen Leistungen vieler dieser verkrüppelten Geschöpfe würden manchen geistig und körperlich gesunden Knaben mit geraden Gliedern in Erstaunen setzen; Turnen gewährt ihnen vor allem Andern das größte Vergnügen, und wir haben oft nur Mühe, sie von übermäßiger Anstrengung ihrer Kräfte zurückzuhalten.“

Sämmtliche Knaben sind unter beständiger ärztlicher Aufsicht und jede medicinische Erleichterung ihres Zustandes wird ihnen zu Theil, so daß durch diese sorgfältige Behandlung schon viele den vollständigen Gebrauch ihrer Glieder wieder erlangt haben. Durch einen besonders glücklichen Zufall ist der Director selbst ziemlich vertraut mit der orthopädischen Heilmethode und hat sich durch einige wichtige Verbesserungen in der Anfertigung künstlicher Gliedmaßen hervorgethan. Beim Ueberblick des Lehrplans fand ich zu meinem Erstaunen unter den verschiedenen Unterrichtsfächern auch die Stenographie aufgeführt, und der Director sagte: „Diese Neuerung rührt von mir her, und der Erfolg, den sie bei den Knaben hat, rechtfertigt ihre Einführung vollkommen. Es ist eine Profession, welcher sie zuweilen sich zu widmen im Stande sind, denn sie erheischt kein Betriebscapital,“ setzte er lächelnd hinzu und rief, um mir die Fertigkeit seiner Knaben hierin zu zeigen, einen blauäugigen lahmen Knaben herbei, welchem er eine Stelle aus einer Zeitung schnell dictirte, die der Knabe sogleich niederschrieb. Nach vier Minuten hatte der Knabe dreihundert und sechzig Worte phonographirt und kein einziges ausgelassen. „Nur wenige von meinen Zöglingen bringen es im Stenographiren auf mehr als sechszig Worte in der Minute,“ sagte der Director, „aber dieser da ist auch zugleich einer meiner geschicktesten Arbeiter. He, zeige diesem Herrn hier Deinen kleinen Gemälderahmen!“ sagte er zu ihm.

Der Knabe erwiderte, er stehe im Glasschrank-Zimmer, und führte uns in ein kleines Gelaß, das offenbar als Werkstätte zu feineren Tischler- und Drechsler-Arbeiten diente, denn es standen in den Fenstern Dreh- und Hobelbänke und andere Maschinen und einige Glasschränke an den Wänden. Bevor ich mich aber noch umsehen konnte, hatte der kleine Stenograph einen Rahmen von der Wand genommen und hielt ihn mir lächelnd hin. Es war wirklich ein kleines Meisterstück von schöner Arbeit: auf einem breiten Streifen dunklen Holzes war ein wundervolles Intaglio von Verzierungen, Arabesken, Laubwerk, Vögeln, Muscheln etc. in Metall, Elfenbein und Perlmutter eingelegt; nur die Federn auf den Schwingen der Vögel bedurften noch des Gravirens. Der Knabe erröthete vor Vergnügen ob meines Lobes, und als ich ihn fragte, wer ihm denn beim Ausschneiden und Einlegen dieser feinen Zeichnung geholfen, versicherte er mich, er habe Alles allein gemacht. Das Original, wovon dies eine Copie, war ein Meisterstück französischer Arbeit aus der Renaissance-Periode und von dem Director zum Zweck des Copirens aus Paris mitgebracht worden. Leider finden jedoch derartige Arbeiten wenig Absatz in München.

Der Schlafsaal der Zöglinge befindet sich im obern Stockwerk und sieht reinlich und freundlich aus, nur standen die Reihen der kleinen Bettstellen vielleicht etwas zu dicht beisammen. Die Privatzimmer des Hauslehrers (denn der Industrielehrer wohnt nicht im Hause) und des Directors stoßen an diesen Schlafsaal. Mit einem unbegreiflichen Gefühle der Ueberraschung und des Erstaunens betrat ich auf die Einladung des Directors dessen Zimmer und sah mich wie durch Zauberschlag gleichsam aus der Concentration des verschiedenartigsten menschlichen Elends unter uns in ein stilles, friedliches, altväterisches Heiligthum der Kunst versetzt. In reichgeschnitzten Schränken und auf Gestellen standen ehrwürdige alte Folianten und kleinere Bücher in Pergament und Schweinsleder mit Renaissance-Vergoldungen, seltsame alte Flaschen und Gläser, grimmige mittelalterliche Waffen und Rüststücke und hunderterlei verschiedene Merkwürdigkeiten der Kunst vergangener Jahrhunderte, vom kunstreichen, vielfach verschlungenen kaiserlichen Siegel an bis zu Kästchen und Truhen der Vorzeit mit allerhand eingelegter Arbeit und seltsamem Beschlag, und alle möglichen anderen Curiositäten, welche einzeln aufzuführen mir Raum und Geduld gebricht. Alle diese sorgsam und kundig gesammelten Schätze aber und die Staffelei in der Mitte des Zimmers mit dem halbvollendeten Oelgemälde darauf bekundeten, daß der Herr dieser Räume kein gewöhnlicher Mensch, sondern eine geniale poetische Natur ist, welche über ihrer praktischen Aufgabe auch das nicht vergißt, was dem geistigen Leben einen Inhalt giebt.

Als ich mit dem Director wieder die Treppe hinabging, öffnete sich eben die Thür des Schulzimmers und die Zöglinge kamen unter lautem Lachen und Geplauder heraus. Es war die Erholungsstunde, die mit Exerciren und Turnen ausgefüllt wird. Ich konnte mir’s nicht versagen, die Zöglinge auch bei diesem Treiben zu beobachten, und es erfüllte mir das Herz mit einer stillen Rührung, als ich diese verkümmerten Wesen mit dem Ernst alter Grenadiere ihre Evolutionen machen sah. Dann kamen die Uebungen an Barren und Reck, bei welchen ich wirklich so staunenswerthe Leistungen von Kraft und Gewandtheit sah, wie ich sie von diesen armen verstümmelten und verkrüppelten Exemplaren des Genus Menschheit niemals erwartet hätte, Beispiele von Gelenkigkeit und Schnellkraft, die an das Affen- oder Katzenartige grenzten, aber ihren Urhebern augenscheinlich die größte Befriedigung verursachten.

Bevor ich aber die Feder niederlege, sei noch eines Beispiels von einem armen Krüppel gedacht, des Sohnes einer armen Wittwe vom Lande, die vor etwa dreißig Jahren ihn und seine Geschwister hatte auf den Bettel schicken müssen. Der Knabe war von seiner Heimathsgemeinde der Anstalt anvertraut und in ihr von einem nahezu hülflosen Krüppel zu einem geschickten Arbeiter erzogen worden, hatte nach seinem Austritt aus der Anstalt mit fünfzehn Jahren eine Lehrstelle bei einem Graveur gefunden und sich in seinem Fache so sehr ausgezeichnet, daß er nun einer der geschätztesten Meister seiner Kunst ist, dessen Arbeiten äußerst gesucht sind. Allein die erhaltene Erziehung hat bei ihm auch noch eine andere höhere Frucht getragen; denn dieser Mensch nahm seine Mutter später zu sich, sorgte für sie und seine jüngeren Geschwister und ist ein geachteter Bürger von München geworden, vielleicht kein reicher Mann, aber im Genuß ehrenhaftester Unabhängigkeit; erfüllt von jenem gerechten Selbstgefühl seiner Befähigung, von jener Liebe zu seiner Kunst, welche dem Streben des Künstlers die Weihe giebt. Ohne das Asyl für krüppelhafte Knaben wäre der Mann zu bleibendem hoffnungslosen Elend und dauernder Armuth verurtheilt gewesen und der Menschheit ein wackerer Charakter, der Kunst ein schönes Talent verloren gegangen!

Sollte das nicht eine ernste Mahnung sein, das Werk der Humanität und praktisch zugreifenden Nächstenliebe auch anderwärts auf diese Classe von Unglücklichen auszudehnen und ähnliche Asyle zu gründen?
Otfrid Mylius.