Bilder von der Balkanhalbinsel (2)
Bilder von der Balkanhalbinsel.
Nachdem die Türken sich als Sieger auf den Abhängen des Balkangebirges niedergelassen hatten, entstand im bulgarischen Volke die Sage, daß sein letzter Zar im Kampfe nicht gefallen sei, sondern im tiefen Verließ unter den Trümmern seiner Burg träumend schlafe und einst erwachen werde, um die Niederlagen seines Volkes zu rächen und die frühere Macht und Größe des bulgarischen Reiches wieder herzustellen. Fast ein halbes Jahrtausend war verflossen, bis jene symbolische Prophezeiung sich erfüllte und ein fremder Zar als Befreier die Balkankette überschritt, bis in der alten Zarenstadt Tirnowo der bulgarische Reichstag wiederum tagte und einen bulgarischen Fürsten wählte. In diesem langen Zeitraume war inzwischen das Ansehen der „Zarin der Städte“ gesunken, ihr Reichthum von den neuen Sitzen der türkischen Paschas überflügelt, aber auf den Trümmern der Fürstenburgen saß als treue Hüterin der Vergangenheit die altersgraue Sage und sang ohne Unterlaß unsterbliche Heldenlieder und flüsterte leise von lichten Hoffnungen und einer besseren Zukunft. Und wie wunderbar half die Natur dem Wirken und Schaffen der menschlichen Dichtung! Sie, die alles Verjüngende, wußte stets die Spuren blutiger Kämpfe zu tilgen, deckte frische Matten über die verwüsteten Abhänge, ließ breite Linden über den Kriegergräbern rauschen und lockte Nachtigallen in die duftenden Rosenhaine. Seit Jahrhunderten schauten also die schneeweißen Häupter der Balkanriesen in das herrliche Jantrathal hinab, in dem, von Hügel zu Hügel sich ausstreckend, die alte Stadt friedlich an den Ufern des rauschenden Stromes von früheren Kämpfen ausruhte.
Kein Wunder also, daß hier in Tirnowo am 19. Mai 1837 Moltke einen seiner „Briefe“[1] mit den Worten begann: „Was für ein wunderschönes Land ist doch dieses Bulgarien!“ Bald hierauf entwirft er eine kurze Schilderung des herrlichen Panoramas, welches vierzig Jahre später F. Kanitz[2] mit dem Zeichenstift festgehalten (vergl. unsere Illustration), und faßt sie in folgende knappe Worte zusammen: „Ich habe nie eine romantischere Lage, als die dieser Stadt gefunden; denke Dir ein enges Gebirgsthal, in welchem die Jantra sich ihr tiefes Felsbett zwischen senkrechten Sandsteinwänden gewühlt hat und wie eine Schlange in den seltsamsten und kapriciösesten Wendungen fortfließt. Die eine Wand des Thals ist ganz mit Wald, die andere ganz mit Stadt bedeckt. Mitten im Thale erhebt sich ein kegelförmiger Berg, dessen senkrechte Felswände ihn zu einer natürlichen Festung machen; der Fluß schließt ihn ein wie eine Insel, und er hängt mit der übrigen Stadt nur durch einen 200 Fuß langen und 40 Fuß hohen natürlichen Felsdamm zusammen, der aber nur breit genug für den Weg und die Wasserleitung ist. Ich habe eine so abenteuerliche Felsbildnng nie gesehen …“
So bewundert schon jeder Fremdling die schöne „Dornburg“ (Tirnowo), den Bulgaren aber erfaßt beim Anblick der vielen Kirchen und Klöster, der denkwürdigen Plätze und der Burgruinen noch ein anderes Gefühl. Stolz denkt er an die Zeiten, da hier seine Zaren regierten und gewaltig in die Schicksale der Balkanhalbinsel eingriffen.
Tirnowo ist jedoch keineswegs die Wiege der Bulgaren. Als jener kriegerische Stamm finnisch-ugrischer Abkunft die Donau überschritten und die an ihren Ufern wohnenden slavischen Völker unterjocht hatte, war zunächst Varna die Hauptstadt der siegreichen Eroberer. Erst als die Bulgaren slavische Sprache und slavische Sitten angenommen hatten und auf die Besiegten nur ihren Namen, ihren kriegerischen Geist und den sonderbaren „Drang nach Süden“ vererbten, wurde die fürstliche Hauptstadt mehrmals näher dem Balkan verlegt.
In wichtiger Zeit ward es Tirnowo beschieden, die Zaren von Bulgarien zu beherbergen.
Zu Anfang dieses Jahrtausends rückten die bulgarischen Heere über den Balkan und bedrohten die Sicherheit des in ewigen Fehden hin und her schwankenden byzantinischen Kaiserreichs. Es entbrannte ein vierzigjähriger blutiger Krieg, aus dem die Gestalten des Kaisers Basilios II. und des Zaren Samuel in düsterer Größe hervorragen. Im Jahre 1014 erfolgte die Entscheidungsschlacht bei Belasiza, in der das Bulgarenheer vernichtet wurde und 15 000 Krieger in Gefangenschaft des Kaisers geriethen.
Zar Samuel flüchtete nach Prilep, wohin ihm eine Botschaft Basilios’ II. folgte, die vielleicht einzig in der Geschichte dasteht und genügend die grausame Barbarei kennzeichnet, mit welcher damals auf der Balkanhalbinsel Kriege geführt wurden.
Basilios II. war ein starker, aber rauher und herzloser Charakter; mönchisch war seine Lebensweise, er lebte ohne Frau; Wein und Fleisch kamen nie auf seinen Tisch. Er war aber ein kluger Herrscher und gewandter Feldherr, dessen Leben ein unversöhnlicher Haß gegen die Bulgaren ausfüllte.
Dieser Mann ließ nach der Schlacht bei Belasiza die 15 000 gefangenen Bulgaren sämmtlich blenden, beließ jedem Hundert einen „Einäugigen“ als Führer und sandte sie so zu ihrem Zaren nach Prilep. „Als sie Samuel in so großer Menge so unmenschlich verstümmelt heranströmen sah, stürzte er besinnungslos zu Boden. Zum Bewußtsein gekommen, [726] verlangte er Wasser, aber kaum daß er davon verkostet, erfaßten ihn Herzkrämpfe und binnen zwei Tagen verschied er am 15. September 1014.“
Wenige Jahre hierauf wurde ganz Bulgarien von Basilios unterworfen, der eine Schreckensherrschaft einführte, die ihm den Beinamen „der Bulgarentödter“ eintrug.
Erst im Jahre 1186 vermochten die Bulgaren das Joch abzuwerfen. „Wie Hirsche oder Ziegen“ erschienen damals die Hirten auf den hohen Felsen und schütteten überall einen Pfeilregen und wälzten Blöcke auf das byzantinische Heer hinab, daß der Kaiser fliehen mußte und froh war, sein nacktes Leben gerettet zu haben.
Nun zog Joannes Asen I., der muthige Führer dieses Aufstandes, als neuer Zar von Bulgarien in Tirnowo ein, das zwei Jahrhunderte lang die Hauptstadt des Landes bildete, bis die türkische Woge sich über den Balkan ergoß.
Mit der Herrschaft der Aseniden beginnt die Glanzzeit Bulgariens, deren fieberhafter Herzschlag in den engen Mauern Tirnowos am lautesten pochte – jetzt kamen glückliche Raubzüge und frohe Heimkehr beutebeladener Krieger, welche Byzantium die alte Schuld heimzahlten – dann erschien das erste schwache Sprießen und Keimen der Kultur, und vorsichtig wagten sich die Anfänge bulgarischen Schriftthums hervor. Fremde Fürsten warben um die Freundschaft der Zaren, und selbst der versöhnte Kaiser von Byzantium holte sich aus Tirnowos Mauern die schöne Tochter des Zaren Boris zur Gemahlin.
Aber wie kurz war diese Zeit des Glücks! Als im Norden Stefan Duschan, der Gewaltige, Serbiens Macht gefahrdrohend ausdehnte und im Süden schon die Vorhut der türkischen Horden erschien, begann im Innern der Verfall des bulgarischen Reiches. Während in der Umgegend von Tirnowo die Sekten der Adamiten und Hesychasten, die von der Ehe nichts wissen wollten, in Bergen und Schluchten ihr Unwesen trieben und die Sitten des Volkes untergruben, gab der Hof kein besseres Beispiel. Zar Alexander sandte seine rechtmäßige Gattin, eine walachische Fürstentochter, in ein Kloster, da ihm ein „bezaubernd schönes Judenmädchen“ weit besser gefiel. Er ließ es taufen und erhob es zur „neuerleuchteten Zarin“.
Da schmetterten in das sinnentrunkene Leben, in das ausgelassene Jauchzen der Bacchanalien die Kriegstrompeten von den Höhen des Balkan hinein. Murad, der unüberwindliche „Sieger im heiligen Kampfe“, überschritt mit seinem Heere die schlecht bewachten Pässe; bald zwang er Bulgarien zu einem Bündniß und bedrohte ernstlich das serbische Reich, als noch einmal das Kriegsglück den Slaven lächelte und die freudige Kunde durch die Länder ging, daß bei Ploznik an der Topliza Murad geschlagen wurde. Aber kurz nur dauerte der Freudenrausch. Nach kaum zwei Jahren mußte Tirnowo den Türken die Thore öffnen, und Zar Schischman wurde Vasall Murad’s. Bulgarien war gedemüthigt, aber noch nicht unterjocht. Als jedoch am St. Veitstage 1389 die große Schlacht auf dem Amselfelde geschlagen und die letzte Kraft der Südslaven gebrochen war, erschien auch sein Schicksal besiegelt.
Am 17. Juli 1393 wurde Tirnowo nach dreimonatlicher Belagerung von den Türken erstürmt. Die hervorragendsten Bürger wurden niedergemetzelt, die schönsten Mädchen und Knaben als Kolonisten nach Kleinasien geschleppt, die Kirchen in Moscheen und Bäder umgewandelt!
Seit jenem Tage spielt Tirnowo lange keine Rolle mehr in der Geschichte. Durch ein halbes Jahrtausend kann der Chronist höchstens von namenlosen Bedrückungen und von fruchtlosen Aufständen, die schließlich in ein Banditenthum ausarteten, berichten. Andere Städte Bulgariens, wie Rustschuk, Varna und Sofia, überholten selbst im Wohlstand die alte Zarenstadt.
Erst in der Nacht vom 6. zum 7. Juli 1877 begrüßten die aufgeregten Bewohner die im Norden auflodernden Feuersäulen brennender Dörfer als Zeichen naher Erlösung. Diese blutige Lohe deutete ja den Weg des General Gurko an, der mit seiner Kavallerie unaufhaltsam gegen Tirnowo vordrang und Scharen moslimischer Landleute vor sich herscheuchte. Am 7. Morgens zogen die Russen fast ohne Kampf in Tirnowo ein, und seit jenem Tage begann für die alte Zarenstadt die freudige Zeit der nationalen Wiedergeburt; sie sah wiederum einen bulgarischen Landtag in ihren Mauern, und auf ihren Straßen jubelte wiederum das Volk einem bulgarischen Fürsten entgegen.
Man nennt die Geschichte die Lehrmeisterin der Völker, aber wer folgt ihren Lehren? Sie predigt aus Tausenden von Ruinen und an Hunderten von Schlachtfeldern weise Mäßigung dem Bulgarenvolke, und trotzdem sehen wir heute den Fürsten Alexander, wie einst die Zaren Bulgariens, dahinstürmen auf dem schmalen Wege kühner Wagnisse. Man sagt, die türkische Herrschaft habe aus dem kriegerischen Bulgaren einen friedlichen Landbauer und Gärtner gemacht; aber die Thatsachen lehren, daß den Grundzug eines Volkscharakters selbst Jahrhunderte der schlimmsten Knechtschaft zu ändern nicht vermögen; denn bis heute sind den Bulgaren ihre alten Eigenschaften verblieben: der ungestüme „Drang nach Süden“ und die Lust, kriegerisch in die Geschicke der Balkanhalbinsel einzugreifen. Siegfried.