Brief an den Staatsanwalt

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Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Brief an den Staatsanwalt
Untertitel:
aus: Das Lächeln der Mona Lisa, S. 173-176
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1929
Verlag: Rowohlt
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Weltbühne, 6. April 1922
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Brief an den Staatsanwalt

Hierdurch tue ich Dir kund und zu wissen, daß ich am neunundzwanzigsten Februar dieses Jahres gegen den § 184 (Verbreitung unzüchtiger Schriften) ein bißchen habe verstoßen helfen. Ich habe mir nämlich in der Buchhandlung Hujahn in der Rügenwalder Straße 29 ein großes Buch mit durchaus unerlaubten Bildern gekauft. Das Buch ist zweihundertvierundsiebzig Seiten stark, gutes Friedens-Velinpapier, bedruckt mit mattgetönten farbigen Lithographien eines in Bayern wohnhaften Malers. Es ist im Jahre 1919 in München erschienen. Herr Hujahn gab es mir im kleinen Hinterzimmer unter einer sausenden Gasflamme, aus einem Geldschrank; er blinzelte stark dabei, putzte sich schämig die Brillengläser und nahm zweihundert Prozent Teuerungszuschlag.

Es ist ja möglich, lieber Staatsanwalt, daß diese Angaben alle nicht stimmen; aber Du hast doch eine so vorzügliche Polizei – Du wirst es schon herausbekommen. Mach aber keine Haussuchung bei mir: Ich habe das Buch in einer Laube vergraben. Komm, wir wollen spielen: „Feuer, Wasser, Kohle…“ Streng dich an; such, such, such –!

Man müßte dergleichen übrigens wirklich beschlagnahmen. Denk mal, was da alles darin ist…! Jetzt sitzt Du Armer mit gespitztem Bleistift da, vor Dir liegen die „Mona Lisa“ [174] und Deine Karriere, und wenn Du diese Seiten für unzüchtig erklärst, dann wirst Du vielleicht bald Oberstaatsanwalt. Ich will es also ganz vorsichtig anfangen, Onkel.

Es sind Sinnbilder, weißt Du – Allegorien, wenn Du Dich auf Deine Prima besinnst, aber sie sind doch sehr schön. Wenn wir das, was Du dem Onkel Magnus Hirschfeld beschlagnahmst, mit einer Eins bezeichnen und das, was manche Pfaffen bei der Venus von Lonjumeau ausschließlich zu sehen pflegen, mit einer Zwei, dann liegen folgende Bilder vor mir:

Da schippt ein Mann lauter Gold in eine Erdspalte, aber das ist gar keine Erdspalte. Was hältst Du von dem Manne? „Symbolisch“, würde Wilhelm Bendow sagen. Und dann ist ein alter Herr da, der sammelt Zweien: er hat sie alle auf dem Tisch ausgebreitet, fein säuberlich mit Zettelchen etikettiert, und er beguckt sie sich durch eine Lupe, ob er vielleicht eine doppelt hat. Und dann ist ein Bild da, das kannst Du gewiß nicht beschlagnahmen: da steht eine dicke Frau vor dem Elefantenzwinger und sieht sich den Rüssel an und sagt gar nichts. Und ein Bild ist da, das hat keine Unterschrift, aber ich glaube, das weißt sogar Du, was es bedeutet: ein nacktes Mädchen liegt mit gespreizten Beinen auf der Straße, denk mal, mitten auf der Straße! und diese lange Straße geht nun gerade durch das Mädchen hindurch. Und eine Frau ist da, ein Frauenkopf mit süß geschlossenen Augen – sie lauscht wohl auf Musik. Aber an ihrem Ohr macht sich ein kleiner Mann zu schaffen, ich kann Dir gar nicht sagen, wie.

Und es sind auch Vorkommnisse aus dem Familienleben abgebildet: wie ein ganzes Fenster voller Frauen in Aufregung gerät, sie fallen beinah auf die Straße, so weit beugen sie sich hinaus – denn unten steht ein Mann und verrichtet bescheiden ein kleines Werk. Und eine Malerin malt einen männlichen Akt: sie malt ihn ganz richtig, nur wächst ihr die Proportion [175] ins Ungeheure. Und eine fette Frau mit einem Kreuz am Hals gibt aus ihrer ungeheuern Brust einem proletarischen Säugling zu trinken, und das wird von vier Seiten gefilmt, und ich glaube, das heißt: Wohltätigkeit.

Der wilde Affentanz der Geschlechter zieht vorüber, in allen, sagen wir, Lagen des menschlichen Lebens, in allen Situationen mit den wenigen nur denkbaren Abwechslungen, die einem der liebe Gott beschert hat. Du bist auch darin, lieber Staatsanwalt. Du stehst vor einem großen Bild in der Ausstellung und mißt an einem gewaltigen Schinken den Popo, auf daß er ja nicht das Maß Deiner Sittlichkeit überschreite. Und wenn ich mir den ganzen Phall betrachte, die alten Jungfern, die danach gieren, und die alten Kerle, die danach gieren, und die jungen Dinger, die viel, viel mehr von der Sache verstehen, als man ihnen ansieht, und all das lächerliche Gekrampfe, all den Lärm, der um diesen einen Eierkuchen gemacht wird, dann muß ich schon sagen: Es geht nirgends so merkwürdig zu wie auf der Welt.

Jetzt bist Du böse… Jetzt sagst Du gewiß, ich sei einer, der das Schamgefühl gröblich verletzt habe, und obgleich ich doch meine symbolischen Zahlen kaum gebraucht habe, fängst Du am Ende einen Prozeß mit mir an, und ich muß mir von den Professoren bescheinigen lassen, daß ich keinen Menschen habe unterhalten wollen, sondern daß ich ein höherer Künstler bin. Oder ist es vielleicht unterhaltsam, wenn alte, verbrauchte Frauen vor dem Spiegel stehen wie Jericho auf den Trümmern Karthagos und sich die Rudimente ansehen, die noch übrig sind?

Onkelchen, sei wieder gut. Und wenn Du Deine sella curulis verlassen hast und in den staatlich konzessionierten Schoß Deiner Familie zurückgekehrt bist, dann drück den Daumen für mich, daß mir noch einmal in meinem Leben solch ein Chanson glückt, wie es die Zeichnung auf Seite 83 darstellt. Hinter dem [176] Souffleurkasten, vorn an der Rampe, steht, mit dem Rücken zum Publikum, eine junge Dame, die sich das Wenige, womit sie bekleidet ist, auch noch emporgehoben hat. Ihre linke Hand… na, lassen wir das. Es scheint eine Szene aus dem „Götz von Berlichingen“ zu sein, die da gespielt wird. Aus ihrem überschnittenen Profil ist zu ersehen, wie entzückend schnuppe ihr die ganze Geschichte ist. Und solch ein Chanson möchte ich einmal schreiben.

Und Dir, Onkelchen, will ich es widmen. „Seinem lieben Staatsanwalt in tiefsinniger Verehrung

hochachtungsvoll

Peter Panter.“

P.S. Das Buch gibts wirklich. Der Zeichner ist Ungar und heißt Boris. Du kannst ihm aber nichts mehr tun: er ist, ein ganz junger Mensch, in der Schweiz gestorben.