Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Antinomie der reinen Vernunft Dritter Widerstreit der transscendentalen Ideen.

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Critik der reinen Vernunft (1781)
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Der Antinomie der reinen Vernunft
Dritter Widerstreit der transscendentalen Ideen.
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Thesis.

 Die Caussalität nach Gesetzen der Natur ist nicht die einzige, aus welcher die Erscheinungen der Welt insgesamt abgeleitet werden können. Es ist noch eine Caussalität durch Freiheit zu Erklärung derselben anzunehmen[WS 1] nothwendig.


Beweis.
 Man nehme an: es gebe keine andere Caussalität, als nach Gesetzen der Natur, so sezt alles, was geschieht, einen vorigen Zustand voraus, auf den es unausbleiblich nach einer Regel folgt. Nun muß aber der vorige Zustand selbst etwas seyn, was geschehen ist (in der Zeit geworden, da es vorher nicht war), weil, wenn es iederzeit gewesen wäre, seine Folge auch nicht allererst entstanden, sondern immer gewesen seyn würde. Also ist die Caussalität der Ursache, durch welche etwas geschieht, selbst etwas Geschehenes, welches nach dem Gesetze der Natur wiederum einen vorigen Zustand und dessen Caussalität, dieser aber eben so einen noch älteren voraussezt u. s. w. Wenn also alles nach blossen Gesetzen der Natur geschieht, so giebt es iederzeit nur einen subalternen, niemals aber| einen ersten Anfang und also überhaupt keine Vollständigkeit der Reihe auf der Seite der von einander abstammenden Ursachen. Nun besteht aber eben darin das Gesetz der Natur: daß ohne hinreichend a priori bestimte Ursache nichts geschehe. Also widerspricht der Satz, als wenn alle Caussalität nur nach Naturgesetzen möglich sey, sich selbst in seiner unbeschränkten Allgemeinheit, und diese kan also nicht als die einzige angenommen werden.

 Diesemnach muß eine Caussalität angenommen werden, durch welche etwas geschieht, ohne daß die Ursache davon noch weiter, durch eine andere vorhergehende Ursache, nach nothwendigen Gesetzen bestimt sey, d. i. eine absolute Spontaneität der Ursachen, eine Reihe von Erscheinungen, die nach Naturgesetzen läuft, von selbst anzufangen, mithin transscendentale Freiheit, ohne welche selbst im Laufe der Natur die Reihenfolge der Erscheinungen auf der Seite der Ursachen niemals vollständig ist.


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Antithesis.

 Es ist keine Freiheit, sondern alles in der Welt geschieht lediglich nach Gesetzen der Natur:


Beweis.
 Setzet: es gebe eine Freiheit im transscendentalen Verstande, als eine besondere Art von Caussalität, nach welcher die Begebenheiten der Welt erfolgen könten, nemlich ein Vermögen einen Zustand, mithin, auch eine Reihe von Folgen desselben schlechthin anzufangen, so wird nicht allein eine Reihe durch diese Spontaneität, sondern die Bestimmung dieser Spontaneität selbst zur Hervorbringung der Reihe, d. i. die Caussalität wird schlechthin anfangen, so daß nichts vorhergeht, wodurch diese geschehende Handlung nach beständigen Gesetzen bestimt sey. Es sezt aber ein ieder Anfang zu handeln einen Zustand der noch nicht handelnden Ursache voraus, und ein dynamisch erster Anfang der Handlung, einen Zustand, der mit dem vorhergehenden eben derselben Ursache gar keinen Zusammenhang der Caussalität hat, d. i. auf keine Weise daraus erfolgt. Also ist die transscendentale Freiheit dem Caussalgesetze entgegen und eine solche Verbindung der successiven| Zustände wirkender Ursachen, nach welcher keine Einheit der Erfahrung möglich ist, die also auch in keiner Erfahrung angetroffen wird, mithin ein leeres Gedankending.

 Wir haben also nichts als Natur, in welcher wir den Zusammenhang und Ordnung der Weltbegebenheiten suchen müssen. Die Freiheit (Unabhängigkeit) von den Gesetzen der Natur, ist zwar eine Befreiung vom Zwange, aber auch vom Leitfaden aller Regeln. Denn man kan nicht sagen: daß, an statt der Gesetze der Natur, Gesetze der Freiheit in die Caussalität des Weltlaufs eintreten, weil, wenn diese nach Gesetzen bestimt wäre, so wäre sie nicht Freiheit, sondern selbst nichts anders als Natur. Natur also und transscendentale Freiheit unterscheiden sich wie Gesetzmässigkeit und Gesetzlosigkeit, davon iene zwar den Verstand mit der Schwierigkeit belästigt, die Abstammung der Begebenheiten in der Reihe der Ursachen immer höher hinauf zu suchen, weil die Caussalität an ihnen iederzeit bedingt ist, aber zur Schadloshaltung durchgängige und gesetzmässige Einheit der Erfahrung verspricht, dahingegen das Blendwerk von Freiheit zwar dem forschenden Verstande in der Kette der Ursachen Ruhe verheißt, indem sie ihn zu einer unbedingten Caussalität führet, die von selbst zu handeln anhebt, die aber, da sie selbst blind ist, den Leitfaden der Regeln abreißt, an welchem allein eine durchgängig zusammenhängende Erfahrung möglich ist.


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Anmerkung zur dritten Antinomie
I. zur Thesis.
 Die transscendentale Idee der Freiheit macht zwar bey weitem nicht den ganzen Inhalt des psychologischen Begriffs dieses Nahmens aus, welcher grossen Theils empirisch ist, sondern nur den der absoluten Spontaneität der Handlung, als den eigentlichen Grund der Imputabilität derselben, ist aber dennoch der eigentliche Stein des Anstosses vor die Philosophie, welche unüberwindliche Schwierigkeiten findet, dergleichen Art von unbedingter Caussalität einzuräumen. Dasienige also in der Frage über die Freiheit des Willens, was die speculative Vernunft von ieher in so grosse Verlegenheit gesezt hat, ist eigentlich nur transscendental und gehet lediglich darauf: ob ein Vermögen angenommen werden müsse, eine Reihe von successiven Dingen oder Zuständen von selbst anzufangen. Wie ein solches möglich sey, ist nicht eben so nothwendig beantworten zu können, da wir uns eben so wol bey der Caussalität nach Naturgesetzen damit begnügen müssen, a priori zu erkennen, daß eine solche vorausgesezt werden müsse, ob wir gleich die Möglichkeit, wie durch ein gewisses Daseyn das Daseyn eines andern gesezt werde, auf keine Weise begreifen, und uns desfalls lediglich an die Erfahrung halten müssen. Nun haben wir diese Nothwendigkeit eines ersten Anfangs einer Reihe von Erscheinungen aus Freiheit, zwar nur eigentlich in so fern dargethan, als zur Begreiflichkeit eines Ursprungs der Welt erfoderlich ist, indessen daß man alle nachfolgende Zustände vor eine Abfolge nach blossen Naturgesetzen| nehmen kan. Weil aber dadurch doch einmal das Vermögen, eine Reihe in der Zeit ganz von selbst anzufangen, bewiesen (obzwar nicht eingesehen) ist, so ist es uns nunmehr auch erlaubt, mitten im Laufe der Welt verschiedene Reihen, der Caussalität nach, von selbst anfangen zu lassen, und den Substanzen derselben ein Vermögen beizulegen, aus Freiheit zu handeln. Man lasse sich aber hiebey nicht durch einen Mißverstand aufhalten: daß, da nemlich eine successive Reihe in der Welt nur einen comparativ ersten Anfang haben kan, indem doch immer ein Zustand der Dinge in der Welt vorhergeht, etwa kein absolut erster Anfang der Reihen während dem Weltlaufe möglich sey. Denn wir reden hier nicht vom absolutersten Anfange der Zeit nach, sondern der Caussalität nach. Wenn ich iezt (zum Beispiel) völlig frey, und ohne den nothwendig bestimmenden Einfluß der Naturursachen von meinem Stuhle aufstehe, so fängt in dieser Begebenheit, samt deren natürlichen Folgen ins Unendliche, eine neue Reihe schlechthin an, obgleich der Zeit nach diese Begebenheit nur die Fortsetzung einer vorhergehenden Reihe ist. Denn diese Entschliessung und That liegt gar nicht in der Abfolge blosser Naturwirkungen, und ist nicht eine blosse Fortsetzung derselben, sondern die bestimmende Naturursachen hören oberhalb derselben, in Ansehung dieser Eräugniß, ganz auf, das zwar auf iene folgt, aber daraus nicht erfolgt und daher zwar nicht der Zeit nach, aber doch in Ansehung der Caussalität, ein schlechthin erster Anfang einer Reihe von Erscheinungen genant werden muß.

 Die Bestätigung von der Bedürfniß der Vernunft, in der Reihe der Naturursachen sich auf einen ersten Anfang aus Freiheit zu berufen, leuchtet daran sehr klar in die Augen: daß (die epicurische Schule ausgenommen) alle Philosophen des Alterthums sich gedrungen sahen, zur Erklärung der Weltbewegungen einen ersten Beweger anzunehmen, d. i. eine freihandelnde Ursache, welche diese Reihe von Zuständen zuerst und von selbst anfieng. Denn aus blosser Natur unterfingen sie sich nicht, einen ersten Anfang begreiflich zu machen.


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II. Anmerkung
zur Antithesis.
 Der Vertheidiger der Allvermögenheit der Natur (transscendentale Physiocratie), im Widerspiel mit der Lehre von der Freiheit, würde seinen Satz, gegen die vernünftelnden Schlüsse der lezteren, auf folgende Art behaupten. Wenn ihr kein mathematisch Erstes der Zeit nach in der Welt annehmt, so habt ihr auch nicht nöthig, ein dynamisch Erstes der Caussalität nach zu suchen. Wer hat euch geheissen, einen schlechthin ersten Zustand der Welt, und mithin einen absoluten Anfang der nach und nach ablaufenden Reihe der Erscheinungen zu erdenken, und, damit ihr eurer Einbildung einen Ruhepunct verschaffen möget, der unumschränkten Natur Gränzen zu setzen. Da die Substanzen in der Welt iederzeit gewesen sind, wenigstens die Einheit der Erfahrung eine solche Voraussetzung nothwendig macht, so hat es keine Schwierigkeit auch anzunehmen: daß der Wechsel ihrer Zustände, d. i. eine Reihe ihrer Veränderungen iederzeit gewesen sey, und mithin kein erster Anfang, weder mathematisch, noch dynamisch, gesucht werden dürfe. Die Möglichkeit einer solchen unendlichen Abstammung, ohne ein erstes Glied, in Ansehung dessen alles übrige blos nachfolgend ist, läßt sich, seiner Möglichkeit nach, nicht begreiflich machen. Aber wenn ihr diese Naturräthsel darum wegwerfen wollt, so werdet ihr euch genöthigt sehen, viel synthetische Grundbeschaffenheiten zu verwerfen, (Grundkräfte) die ihr eben so wenig begreifen könt,| und selbst die Möglichkeit einer Veränderung überhaupt muß euch anstössig werden. Denn, wenn ihr nicht durch Erfahrung fändet, daß sie wirklich ist, so würdet ihr niemals a priori ersinnen können, wie eine solche unaufhörliche Folge von Seyn und Nichtseyn möglich sey.

 Wenn auch indessen allenfalls ein transscendentales Vermögen der Freiheit nachgegeben wird, um die Weltveränderungen anzufangen, so würde dieses Vermögen doch wenigstens nur ausserhalb der Welt seyn müssen, (wiewol es immer eine kühne Anmassung bleibt, ausserhalb dem Inbegriffe aller möglichen Anschauungen, noch einen Gegenstand anzunehmen, der in keiner möglichen Wahrnehmung gegeben werden kan). Allein, in der Welt selbst, den Substanzen ein solches Vermögen beyzumessen, kan nimmermehr erlaubt seyn, weil alsdenn der Zusammenhang nach allgemeinen Gesetzen sich einander nothwendig bestimmender Erscheinungen, den man Natur nent, und mit ihm das Merkmal empirischer Wahrheit, welches Erfahrung vom Traum unterscheidet, größtentheils verschwinden würde. Denn es läßt sich neben einem solchen gesetzlosen Vermögen der Freiheit, kaum mehr Natur denken; weil die Gesetze der lezteren durch die Einflüsse der ersteren, unaufhörlich abgeändert, und das Spiel der Erscheinungen, welches nach der blossen Natur regelmässig und gleichförmig seyn würde, dadurch verwirret und unzusammenhängend gemacht wird.


Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: anzumehmen


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