Critik der reinen Vernunft (1781)/Der Antinomie der reinen Vernunft Vierter Widerstreit der transscendentalen Ideen.

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Der Antinomie der reinen Vernunft
vierter Widerstreit der transscendentalen Ideen.
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Thesis.

 Zu der Welt gehört etwas, das, entweder als ihr Theil, oder ihre Ursache, ein schlechthin nothwendig Wesen ist.


Beweis.
 Die Sinnenwelt, als das Ganze aller Erscheinungen, enthält zugleich eine Reihe von Veränderungen. Denn, ohne diese, würde selbst die Vorstellung der Zeitreihe, als einer Bedingung der Möglichkeit der Sinnenwelt, uns nicht gegeben seyn[1]. Eine iede Veränderung aber steht unter ihrer Bedingung, die der Zeit nach vorher geht und unter welcher sie nothwendig ist. Nun sezt ein iedes Bedingte, das gegeben ist, in Ansehung seiner Existenz, eine vollständige Reihe von Bedingungen bis zum Schlechthinunbedingten voraus, welches allein absolutnothwendig ist. Also muß etwas Absolutnothwendiges existiren, wenn eine Veränderung als seine Folge existirt. Dieses Nothwendige aber gehöret selber zur Sinnenwelt. Denn setzet, es sey ausser derselben: so würde von ihm die Reihe der Weltveränderungen ihren Anfang ableiten, ohne| daß doch diese nothwendige Ursache selbst zur Sinnenwelt gehörete. Nun ist dieses unmöglich. Denn, da der Anfang einer Zeitreihe nur durch dasienige, was der Zeit nach vorhergeht, bestimt werden kan: so muß die oberste Bedingung des Anfangs einer Reihe von Veränderungen in der Zeit existiren, da diese noch nicht war, (denn der Anfang ist ein Daseyn, vor welchem eine Zeit vorhergeht, darin das Ding, welches anfängt, noch nicht war). Also gehöret die Caussalität der nothwendigen Ursache der Veränderungen, mithin auch die Ursache selbst, zu der Zeit, mithin zur Erscheinung (an welcher die Zeit allein als deren Form möglich ist), folglich kan sie von der Sinnenwelt, als dem Inbegriff aller Erscheinungen, nicht abgesondert gedacht werden. Also ist in der Welt selbst etwas Schlechthinnothwendiges enthalten (es mag nun dieses die ganze Weltreihe selbst, oder ein Theil derselben seyn).


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Antithesis.

 Es existirt überall kein schlechthinnothwendiges Wesen, weder in der Welt, noch ausser der Welt, als ihre Ursache.


Beweis.

 Setzet: die Welt selber, oder in ihr, sey ein nothwendiges Wesen, so würde in der Reihe ihrer Veränderungen, entweder ein Anfang seyn, der unbedingtnothwendig, mithin ohne Ursache wäre, welches dem dynamischen Gesetze der Bestimmung aller Erscheinungen in der Zeit widerstreitet, oder die Reihe selbst wäre ohne allen Anfang, und, obgleich in allen ihren Theilen zufällig und bedingt, im Ganzen dennoch schlechthinnothwendig und unbedingt, welches sich selbst widerspricht; weil das Daseyn einer Menge nicht nothwendig seyn kan, wenn kein einziger Theil derselben ein an sich nothwendiges Daseyn besizt.

 Setzet dagegen: es gebe eine schlechthin nothwendige Weltursache ausser der Welt, so würde dieselbe als das| oberste Glied in der Reihe der Ursachen der Weltveränderungen, das Daseyn der lezteren und ihre Reihe zuerst anfangen[2]. Nun müßte sie aber alsdenn auch anfangen zu handeln und ihre Caussalität würde in die Zeit, eben darum aber in den Inbegriff der Erscheinungen, d. i. in die Welt gehören, folglich sie selbst, die Ursache, nicht ausser der Welt seyn, welches der Voraussetzung widerspricht. Also ist weder in der Welt, noch ausser derselben (aber mit ihr in Caussalverbindung) irgend ein schlechthin nothwendiges Wesen.


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Anmerkung zur vierten Antinomie
I. zur Thesis.

 Um das Daseyn eines nothwendigen Wesens zu beweisen, liegt mir hier ob, kein anderes als cosmologisches Argument zu brauchen, welches nemlich von dem Bedingten in der Erscheinung zum Unbedingten im Begriffe aufsteigt, indem man dieses als die nothwendige Bedingung der absoluten Totalität der Reihe ansieht. Den Beweis, aus der blossen Idee eines obersten aller Wesen überhaupt, zu versuchen, gehört zu einem andern Princip der Vernunft, und ein solcher wird daher besonders vorkommen müssen.

 Der reine cosmologische Beweis kan nun das Daseyn eines nothwendigen Wesens nicht anders darthun, als daß er es zugleich unausgemacht lasse, ob dasselbe die Welt selbst, oder ein von ihr unterschiedenes Ding sey. Denn, um das leztere auszumitteln, dazu werden Grundsätze erfordert, die nicht mehr cosmologisch sind, und nicht in der Reihe der Erscheinungen fortgehen, sondern Begriffe von zufälligen Wesen überhaupt, (so fern sie blos als Gegenstände des Verstandes erwogen werden) und ein Princip, solche mit einem nothwendigen Wesen, durch blosse Begriffe, zu verknüpfen, welches alles vor eine transscendente Philosophie gehört, für welche hier noch nicht der Platz ist.

 Wenn man aber einmal den Beweis cosmologisch anfängt, indem man die Reihe von Erscheinungen, und den Regressus in derselben nach empirischen Gesetzen der Caussalität, zum Grunde legt: so kan man nachher davon nicht abspringen und auf etwas übergehen, was gar nicht in die Reihe als ein Glied gehört. Denn in eben derselben| Bedeutung muß etwas als Bedingung angesehen werden, in welcher die Relation des Bedingten zu seiner Bedingung in der Reihe genommen wurde, die auf diese höchste Bedingung in continuirlichem Fortschritte führen sollte. Ist nun dieses Verhältniß sinnlich und gehört zum möglichen empirischen Verstandesgebrauch, so kan die oberste Bedingung oder Ursache nur nach Gesetzen der Sinnlichkeit, mithin nur als zur Zeitreihe gehörig den Regressus beschliessen, und das nothwendige Wesen muß als das oberste Glied der Weltreihe angesehen werden.

 Gleichwol hat man sich die Freiheit genommen, einen solchen Absprung (μεταβασις ἐις ἀλλο γενος) zu thun. Man schloß nemlich aus den Veränderungen in der Welt auf die empirische Zufälligkeit, d. i. die Abhängigkeit derselben von empirischbestimmenden Ursachen und bekam eine aufsteigende Reihe empirischer Bedingungen, welches auch ganz Recht war. Da man aber hierin keinen ersten Anfang und kein oberstes Glied finden konte, so gieng man plötzlich vom empirischen Begriff der Zufälligkeit ab und nahm die reine Categorie, welche alsdenn eine blos intelligibele Reihe veranlaßte, deren Vollständigkeit auf dem Daseyn einer schlechthinnothwendigen Ursache beruhete, die nunmehr, da sie an keine sinnliche Bedingungen gebunden war, auch von der Zeitbedingung, ihre Caussalität selbst anzufangen, befreiet wurde. Dieses Verfahren ist aber ganz widerrechtlich, wie man aus folgenden schliessen kan.

 Zufällig, im reinen Sinne der Categorie, ist das, dessen contradictorisches Gegentheil möglich ist. Nun kan man aus der empirischen Zufälligkeit auf iene intelligibele gar nicht schliessen. Was verändert wird, dessen Gegentheil| (seines Zustandes) ist zu einer andern Zeit wirklich, mithin auch möglich, mithin ist dieses nicht das contradictorische Gegentheil des vorigen Zustandes, wozu erfodert wird, daß in derselben Zeit, da der vorige Zustand war, an die Stelle desselben sein Gegentheil hätte seyn können, welches aus der Veränderung gar nicht geschlossen werden kan. Ein Cörper, der in Bewegung war = A, kömt in Ruhe = non A. Daraus nun, daß ein entgegengesezter Zustand vom Zustande A auf diesen folgt, kan gar nicht geschlossen werden, daß das contradictorische Gegentheil von A möglich, mithin A zufällig sey; denn dazu würde erfordert werden, daß in derselben Zeit, da die Bewegung war, anstatt derselben die Ruhe habe seyn können. Nun wissen wir nichts weiter, als daß die Ruhe in der folgenden Zeit wirklich, mithin auch möglich war. Bewegung aber zu einer Zeit, und Ruhe zu einer anderen Zeit sind einander nicht contradictorisch entgegengesezt. Also beweiset die Succession entgegengesezter Bestimmungen, d. i. die Veränderung, keinesweges die Zufälligkeit nach Begriffen des reinen Verstandes, und kan also auch nicht auf das Daseyn eines nothwendigen Wesens nach reinen Verstandesbegriffen, führen. Die Veränderung beweiset nur die empirische Zufälligkeit, d. i. daß der neue Zustand vor sich selbst, ohne eine Ursache, die zur vorigen Zeit gehört, gar nicht hätte statt finden können, zu Folge dem Gesetze der Caussalität. Diese Ursache, und wenn sie auch als schlechthin nothwendig angenommen wird, muß auf diese Art doch in der Zeit angetroffen werden, und zur Reihe der Erscheinungen gehören.


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II. Anmerkung
zur Antithesis.

 Wenn man, beim Aufsteigen in der Reihe der Erscheinungen, wider das Daseyn einer schlechthin nothwendigen obersten Ursache, Schwierigkeiten anzutreffen vermeint, so müssen sich diese auch nicht auf blosse Begriffe vom nothwendigen Daseyn eines Dinges überhaupt gründen und mithin nicht ontologisch seyn, sondern sich aus der Caussalverbindung mit einer Reihe von Erscheinungen, um zu derselben eine Bedingung anzunehmen, die selbst unbedingt ist, hervor finden, folglich cosmologisch und nach empirischen Gesetzen gefolgert seyn. Es muß sich nemlich zeigen, daß das Aufsteigen in der Reihe der Ursachen (in der Sinnenwelt) niemals bey einer empirischunbedingten Bedingung endigen könne, und daß das cosmologische Argument aus der Zufälligkeit der Weltzustände, laut ihrer Veränderungen, wider die Annehmung einer ersten, und die Reihe schlechthin zuerst anhebenden Ursache ausfalle.

|  Es zeiget sich aber in dieser Antinomie ein seltsamer Contrast: daß nemlich aus eben demselben Beweisgrunde, woraus in der Thesis das Daseyn eines Urwesens geschlossen wurde, in der Antithesis das Nichtseyn desselben, und zwar mit derselben Schärfe, geschlossen wird. Erst hieß es: es ist ein nothwendiges Wesen, weil die ganze vergangene Zeit die Reihe aller Bedingungen und hiemit also auch das Unbedingte (Nothwendige) in sich faßt; Nun heißt es: es ist kein nothwendiges Wesen, eben darum, weil die ganze verflossene Zeit die Reihe aller Bedingungen (die mithin insgesamt wiederum bedingt seyn) in sich faßt. Die Ursache hievon ist diese. Das erste Argument siehet nur auf die absolute Totalität der Reihe der Bedingungen, deren eine die andere in der Zeit bestimt, und bekomt dadurch ein Unbedingtes und Nothwendiges. Das zweite zieht dagegen die Zufälligkeit alles dessen, was in der Zeitreihe bestimt ist, in Betrachtung, (weil vor iedem eine Zeit vorhergeht, darin die Bedingung selbst wiederum als bedingt bestimt seyn muß) wodurch denn alles Unbedingte,| und alle absolute Nothwendigkeit, gänzlich wegfällt. Indessen ist die Schlußart in beiden, selbst der gemeinen Menschenvernunft ganz angemessen, welche mehrmalen in den Fall geräth, sich mit sich selbst zu entzweien, nachdem sie ihren Gegenstand aus zwey verschiedenen Standpuncten erwägt. Herr von Mairan hielt den Streit zweier berühmter Astronomen, der aus einer ähnlichen Schwierigkeit über die Wahl des Standpuncts entsprang, vor ein gnugsam merkwürdiges Phänomen, um darüber eine besondere Abhandlung abzufassen. Der eine schloß nemlich so: der Mond drehet sich um seine Achse, darum, weil er der Erde beständig dieselbe Seite zukehrt, der andere: der Mond dreht sich nicht um seine Achse, eben darum, weil er der Erde beständig dieselbe Seite zukehrt. Beide Schlüsse waren richtig, nachdem man den Standpunct nahm, aus dem man die Mondsbewegung beobachten wollte.



  1. Die Zeit geht zwar als formale Bedingung der Möglichkeit der Veränderungen vor dieser obiectiv vorher, allein subiectiv, und in der Wirklichkeit des Bewustseyns, ist diese Vorstellung doch nur, so wie iede andere, durch Veranlassung der Wahrnehmungen gegeben.
  2. Das Wort: Anfangen, wird in zwiefacher Bedeutung genommen. Die erste ist activ, da die Ursache eine Reihe von Zuständen als ihre Wirkung anfängt (infit). Die zweite passiv, da die Caussalität in der Ursache selbst anhebt (fit). Ich schliesse hier aus der ersteren auf die lezte.


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