Critik der reinen Vernunft (1781)/Des dritten Hauptstücks Zweiter Abschnitt. Von dem transscendentalen Ideal (Prototypon transscendentale).
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Ein ieder Begriff ist in Ansehung dessen, was in ihm selbst nicht enthalten ist, unbestimt und steht unter dem Grundsatze der Bestimbarkeit: daß nur eines, von ieden zween einander contradictorisch-entgegengesezten Prädicaten, ihm zukommen könne, welcher auf dem Satze des Widerspruchs beruht und daher ein blos logisch Princip ist, das von allem Inhalte der Erkentniß abstrahirt und nichts, als die logische Form derselben vor Augen hat.
Ein iedes Ding aber, seiner Möglichkeit nach, steht noch unter dem Grundsatze der durchgängigen Bestimmung, nach welchem ihm von allen möglichen Prädicaten der| Dinge, so fern sie mit ihren Gegentheilen verglichen werden, eines zukommen muß. Dieses beruht nicht blos auf dem Satze des Widerspruchs; denn es betrachtet ausser dem Verhältniß zweier einander widerstreitenden Prädicate, iedes Ding noch im Verhältniß auf die gesamte Möglichkeit, als den Inbegriff aller Prädicate der Dinge überhaupt und, indem es solche als Bedingung a priori voraussezt, so stellt es ein iedes Ding so vor, wie es von dem Antheil, den es an iener gesamten Möglichkeit hat, seine eigene Möglichkeit ableite[1]. Das Principium der durchgängigen Bestimmung betrift also den Inhalt und nicht blos die logische Form. Es ist der Grundsatz der Synthesis aller Prädicate, die den vollständigen Begriff von einem Dinge machen sollen und nicht blos der analytischen Vorstellung, durch eines zweier entgegengesezten Prädicate, und enthält eine transscendentale Voraussetzung, nemlich| die der Materie zu aller Möglichkeit, welche a priori die Data zur besonderen Möglichkeit iedes Dinges enthalten soll.Der Satz: alles Existirende ist durchgängig bestimt, bedeutet nicht allein, daß von iedem Paare einander entgegengesezten gegebenen, sondern auch von allen möglichen Prädicaten ihm immer eines zukomme; es werden durch diesen Satz nicht blos Prädicate unter einander logisch, sondern das Ding selbst, mit dem Inbegriffe aller möglichen Prädicate, transscendental verglichen. Er will so viel sagen, als: um ein Ding vollständig zu erkennen, muß man alles Mögliche erkennen, und es dadurch, es sey beiahend oder verneinend, bestimmen. Die durchgängige Bestimmung ist folglich ein Begriff, den wir niemals in concreto seiner Totalität nach darstellen können und gründet sich also auf einer Idee, welche lediglich in der Vernunft ihren Sitz hat, die dem Verstande die Regel seines vollständigen Gebrauchs vorschreibt.
Ob nun zwar diese Idee von dem Inbegriffe aller Möglichkeit, so fern er als Bedingung der durchgängigen Bestimmung eines ieden Dinges zum Grunde liegt, in Ansehung der Prädicate, die denselben ausmachen mögen, selbst noch unbestimt ist, und wir dadurch nichts weiter, als einen Inbegriff aller möglichen Prädicate überhaupt denken, so finden wir doch bey näherer Untersuchung, daß diese Idee, als Urbegriff, eine Menge von Prädicaten ausstosse, die als abgeleitet durch andere schon gegeben| seyn, oder neben einander nicht stehen können, und daß sie sich bis zu einem durchgängig a priori bestimten Begriffe läutere und dadurch der Begriff von einem einzelnen Gegenstande werde, der durch die blosse Idee durchgängig bestimt ist, mithin ein Ideal der reinen Vernunft genant werden muß.Nun kan sich niemand eine Verneinung bestimt denken, ohne daß er die entgegengesezte Beiahung zum Grunde liegen habe. Der Blindgebohrne kan sich nicht die mindeste Vorstellung von Finsterniß machen, weil er keine vom Lichte hat; der Wilde nicht von Armuth, weil er den Wohlstand nicht kent[2]. Der Unwissende hat keinen Begriff von seiner Unwissenheit, weil er keinen von der Wissenschaft hat, u. s. w. Es sind also auch alle Begriffe der Negationen abgeleitet, und die Realitäten enthalten die Data und so zu sagen die Materie, oder den transscendentalen Inhalt, zu der Möglichkeit und durchgängigen Bestimmung aller Dinge.
Wenn also der durchgängigen Bestimmung in unserer Vernunft ein transscendentales Substratum zum Grunde gelegt wird, welches gleichsam den ganzen Vorrath des Stoffes, daher alle mögliche Prädicate der Dinge genommen werden können, enthält, so ist dieses Substratum nichts anders, als die Idee von einem All der| Realität (omnitudo realitatis). Alle wahre Verneinungen sind alsdenn nichts als Schranken, welches sie nicht genant werden könten, wenn nicht das Unbeschränkte (das All) zum Grunde läge.Es ist aber auch durch diesen Allbesitz der Realität der Begriff eines Dinges an sich selbst, als durchgängig bestimt, vorgestellt und der Begriff eines entis realissimi ist der Begriff eines einzelnen Wesens, weil von allen möglichen entgegengesezten Prädicaten eines, nemlich das, was zum Seyn schlechthin gehört, in seiner Bestimmung angetroffen wird. Also ist es ein transscendentales Ideal, welches der durchgängigen Bestimmung, die nothwendig bey allem, was existirt, angetroffen wird, zum Grunde liegt, und die oberste und vollständige materiale Bedingung[WS 1] seiner Möglichkeit ausmacht, auf welcher alles Denken der Gegenstände überhaupt ihrem Inhalte nach zurückgeführt werden muß. Es ist aber auch das einzige eigentliche Ideal, dessen die menschliche Vernunft fähig ist; weil nur in diesem einzigen Falle ein an sich allgemeiner Begriff von einem Dinge durch sich selbst durchgängig bestimt, und als die Vorstellung von einem Individuum erkant wird.
Die logische Bestimmung eines Begriffs durch die Vernunft beruht auf einem disiunctiven Vernunftschlusse, in welchem der Obersatz eine logische Eintheilung (die Theilung der Sphäre eines allgemeinen Begriffs) enthält, der Untersatz diese Sphäre bis auf einen Theil einschränkt| und der Schlußsatz den Begriff durch diesen bestimt. Der allgemeine Begriff einer Realität überhaupt kan a priori nicht eingetheilt werden, weil man ohne Erfahrung keine bestimte Arten von Realität kent, die unter iener Gattung enthalten wären. Also ist der transscendentale Obersatz der durchgängigen Bestimmung aller Dinge nichts anders, als die Vorstellung des Inbegriffs aller Realität, nicht blos ein Begriff, der alle Prädicate ihrem transscendentalen Inhalte nach unter sich, sondern der sie in sich begreift und die durchgängige Bestimmung eines ieden Dinges beruht auf der Einschränkung dieses All der Realität, indem Einiges derselben dem Dinge beigelegt, das übrige aber ausgeschlossen wird, welches mit dem Entweder- oder des disiunctiven Obersatzes und der Bestimmung des Gegenstandes, durch eins der Glieder dieser Theilung im Untersatze, übereinkomt. Demnach ist der Gebrauch der Vernunft, durch den sie das transscendentale Ideal zum Grunde ihrer Bestimmung aller möglichen Dinge legt, demienigen analogisch, nach welchem sie in disiunctiven Vernunftschlüssen verfährt, welches der Satz war, den ich oben zum Grunde der systematischen Eintheilung aller transscendentalen Ideen legte, nach welchem sie den drey Arten von Vernunftschlüssen parallel und correspondirend erzeugt werden.Weil man auch nicht sagen kan: daß ein Urwesen aus viel abgeleiteten Wesen bestehe, indem ein iedes derselben ienes voraussezt, mithin es nicht ausmachen kan, so wird das Ideal des Urwesens auch als einfach gedacht werden müssen.
Die Ableitung aller anderen Möglichkeit von diesem Urwesen wird daher, genau zu reden, auch nicht als eine Einschränkung seiner höchsten Realität und gleichsam als eine Theilung derselben angesehen werden können; denn alsdenn würde das Urwesen als ein blosses Aggregat von abgeleiteten Wesen angesehen werden, welches nach dem vorigen unmöglich ist, ob wir es gleich anfänglich im ersten rohen Schattenrisse so vorstelleten. Vielmehr würde der Möglichkeit aller Dinge die höchste Realität als ein Grund und nicht als Inbegriff zum Grunde liegen und die Mannigfaltigkeit der ersteren nicht auf der Einschränkung des Urwesens selbst, sondern seiner vollständigen Folge beruhen, zu welcher denn auch unsere ganze Sinnlichkeit, samt aller Realität in der Erscheinung, gehören würde, die zu der Idee des höchsten Wesens, als ein Ingredienz, nicht gehören kan.
| Wenn wir nun dieser unserer Idee, indem wir sie hypostasiren, so ferner nachgehen, so werden wir das Urwesen durch den blossen Begriff der höchsten Realität als ein einiges, einfaches, allgenugsames, ewiges etc. mit einem Worte, es in seiner unbedingten Vollständigkeit durch alle Prädicamente bestimmen können. Der Begriff eines solchen Wesens ist der von Gott in transscendentalem Verstande gedacht, und so ist das Ideal der reinen Vernunft[WS 2] der Gegenstand einer transscendentalen Theologie, so wie ich es auch oben angeführt habe.
- ↑ Es wird also durch diesen Grundsatz iedes Ding auf ein gemeinschaftliches Correlatum, nemlich, die gesamte Möglichkeit, bezogen, welche, wenn sie (d. i. der Stoff zu allen möglichen Prädicaten) in der Idee eines einzigen Dinges angetroffen würde, eine Affinität alles Möglichen durch die Identität des Grundes der durchgängigen Bestimmung desselben beweisen würde. Die Bestimbarkeit eines ieden Begriffs ist der Allgemeinheit (Vniuersalitas) des Grundsatzes der Ausschliessung eines Mittleren zwischen zween entgegengesezten Prädicaten, die Bestimmung aber eines Dinges der Allheit (Vniversitas) oder dem Inbegriffe aller möglichen Prädicate untergeordnet.
- ↑ Die Beobachtungen und Berechnungen der Sternkundiger haben uns viel bewundernswürdiges gelehrt, aber das Wichtigste ist wol, daß sie uns den Abgrund der Unwissenheit aufgedekt haben, den die menschliche Vernunft, ohne diese Kentnisse, sich niemals so groß hätte vorstellen können, und worüber das Nachdenken eine grosse Veränderung in der Bestimmung der Endabsichten unseres Vernunftgebrauchs hervorbringen muß.
- ↑ Dieses Ideal des allerrealesten Wesens wird also, ob es zwar eine blosse Vorstellung ist, zuerst realisirt, d. i. zum Obiect gemacht, darauf hypostasirt, endlich, durch einen natürlichen Fortschritt der Vernunft zur Vollendung der Einheit, so gar personificirt, wie wir bald anführen werden; weil die regulative Einheit der Erfahrung nicht auf den Erscheinungen selbst (der Sinnlichkeit allein), sondern auf der Verknüpfung ihres Mannigfaltigen durch den Verstand (in einer Apperception) beruht, mithin die Einheit der höchsten Realität und die durchgängige Bestimbarkeit (Möglichkeit) aller Dinge in einem höchsten Verstande, mithin in einer Intelligenz zu liegen scheint.
Anmerkungen (Wikisource)
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