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Das Gastmahl von Plato – Teil 1

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Autor: Platon
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Titel: Das Gastmahl von Plato oder Gespräch über die Liebe
Untertitel: Teil 1
aus: Neue Thalia. 1792–93.
1792, Zweyter Band,
S. 170–228
Herausgeber: Friedrich Schiller
Auflage: 1. Auflage
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1792
Verlag: G. J. Göschen’sche Verlagsbuchhandlung
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: Anonymus (Friedrich Immanuel Niethammer)
Originaltitel: Συμπόσιον
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: UB Bielefeld bzw. Commons
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[170]
II.
Das Gastmahl von Plato
oder
Gespräch über die Liebe.


Apollodor.

Nun diesmal, Freunde, wäre’ ich ja wohl der Mann dazu, eure Neugierde zu befriedigen! Und damit ihr seht, daß ich die Geschichte noch ganz auswendig weiß, so hört nur! Gestern gehe ich von Phaleron, wo ich zu Hause bin, nach der Stadt. Unterwegs bekömmt mich einer von meinen Bekannten von hintenzu zu sehen, und ruft mir von ferne in spaßhafter Laune nach: „He da, gestrenger Herr Apollodorus, Bürger und Zünfter von Phaleron [1], so nehmen Sie doch einen [171] andern auch mit!“ Ich stand also still, bis er nachkam. – „Wie erwünscht,“ sagt er, „Apollodor, daß ich dich treffe. Ich habe dich schon aufgesucht, und wollte dich bitten, mir doch die Gespräche über die Liebe mitzutheilen, die neulich bey Agathons großem Schmause zwischen ihm, dem Sokrates, Alcibiades und andern Gästen vorgefallen sind. Es hat mir zwar schon ein anderer etwas davon gesagt, der es von Phönix, des Philippus Sohn, gehört hatte, das war mir aber nicht deutlich, und nicht umständlich genug. Und du sollst ja auch davon wissen. Also erzähle mir doch. Du hast gewiß vor andern Beruf, deines Freundes Reden und Grundsätze weiter zu verbreiten. Aber vor allen Dingen sage mir doch, warst du etwa selbst von der Gesellschaft?“ – Ja nun sehe ich wohl, daß dein Erzähler weder deutlich noch umständlich gewesen ist, da du dir einbildest, die Zusammenkunft, von der die Rede ist, wäre so ganz von neulich her, daß ich selbst hätte dabey seyn können. – „Nun ja, das dacht ich doch.“ – Wie wäre das aber möglich, lieber Glaukon? Weißt du denn nicht, daß schon seit vielen Jahren Agathon nicht mehr hieher gekommen ist. Und noch ist es nicht drey Jahre her, daß ich mit dem Sokrates umgehe, und daß mich alles, was er spricht und thut, so sehr interessirt. Vorher war ich dir wirklich ein [172] unstäter Landstreicher, und so viel ich mir auch auf meine Thätigkeit einbildete, ein recht erbärmlicher Mensch! Nicht um ein Haar besser daran, als du alleweile; denn Philosophie ist doch auch in deinen Augen das Letzte, was man treiben muß. – „Nu, den Stich will ich mir verbitten! Aber sag mir doch, wenn war denn also der berühmte Schmauß?“ – Ach, damals waren wir noch Kinder. Agathon hatte seinen ersten Preis im Trauerspiel gewonnen. Diesem Sieg zu Ehren gab er seinen Schauspielern ein großes Fest, und den Tag darauf bat er auch einige gute Freunde zusammen. – „Das ist also schon eine sehr alte Geschichte, wie ich merke! aber, wer hat es denn dir erzählt? Etwa Sokrates selbst?“ – Nein, ich habe mit dem Phönix einerley Referenten. Es war ein gewisser Aristodemus, ein kleines Männchen, das immer baarfuß gieng; der war mit bey der Gesellschaft gewesen. Auch war er, meines Wissens, damals einer von Sokrates wärmsten Freunden. Doch hab’ ich nachher über verschiedne Punkte den Sokrates selbst befragt, und er hat mir versichert, es wäre alles so richtig, wie es mir jener erzählt hätte. – „Nun denn, du erzählst es mir doch auch? Wir können ja auf dem Wege nach der Stadt nichts bessers thun, als plaudern!“ – – So schlenderten wir mit einander fort, und sprachen von der Geschichte. Also [173] könnt ihr denken, wie ich schon gesagt, daß ich sie ganz auswendig weiß. Soll ich sie etwa euch auch erzählen, so muß ich ja wohl. Ohnedem macht es mir, den Nutzen abgerechnet, allemal ein ausnehmendes Vergnügen, wenn ich über Philosophie sprechen oder andre hören kann. Wenn ich aber so andere Gespräche mit anhören muß, zumal wie sie in der Gesellschaft solcher reichen Negocianten und Kapitalisten, wie ihr seyd, vorfallen, so möchte ich sterben vor Langerweile, und bedaure euch als meine guten Freunde zugleich, daß ihr eine so nichtswürdige Beschäftigung für wahre Thätigkeit haltet. Freylich werdet ihr, umgekehrt, mich auch für einen armen Stümper halten, und ich glaube selbst, daß ihr den wahren Glauben habt; was ich aber von euch denke, das ist nicht bloßer Glaube, das ist Wissenschaft.


Ein Freund des Apollodor.

Du bleibst dir doch immer gleich, Apollodorus; immer der ewige Strafprediger gegen dich selbst und uns andere; und im Ernste, glaub’ ich, außer dem Sokrates hältst du alle Menschen, dich selbst an der Spitze, für erbärmliche Leute. Nun weiß ich zwar nicht, wie du zu dem Ehrentitel kömmst, daß dich die Leute einen Phantasten nennen; aber in Gesellschaften, gestehe ich, bist du wirklich nichts anders, denn immer ereiferst du dich gegen [174] dich selbst und die ganze Welt, nur den Sokrates ausgenommen.


Apollodor.

Nun freylich, daraus siehst du ja eben, lieber Freund, da ich so von mir und euch denke, daß ich nichts anders bin als ein Phantast und ein verrückter Schwärmer!


Der Freund.

Nun darüber wollen wir nun alleweile nicht mit einander hadern; thu’ uns lieber jetzt den Gefallen, und erzähle uns die bewußte Unterredung.


Apollodor.

Ich kam zu Sokrates, sagte mir Aristodem, und fand ihn gebadet, und, was man sehr selten bey ihm sieht, mit Schuhen an den Füßen. „Wohin so geputzt, Sokrates?“ fragte ich ihn. Zu einem Gastmahl bey Agathon. Gestern da er sein Siegesfest feyerte, war mirs zu laut bey ihm; darum hab ichs ihm auf heute zugesagt. Und nun siehst du mich aufs beste herausgepuzt, damit ich dem schönen Mann keine Schande mache. Wo werde ich aber dich jetzt hinthun, Aristodem? hättest du etwa Lust, als ungebetener Gast die Gesellschaft zu vermehren? –

[175] „Was du mit mir machen willst, Sokrates.“ – Laß uns also gehen. Wir wollen einmal dem Sprichwort eine kleine Gewalt anthun [2] und uns einbilden, als hieße es:

Bey dem Edeln bittet der Edle sich selber zu Gaste.

Hat es doch Vater Homer sogar umgekehrt, da er den weichlichen Menelaus ungeladen zu des tapfern Agamemnons Opfermahl kommen läßt, den Schlechtern zu dem weit Edlern. – „Und mit Homer werd ich es wohl auch halten müssen, da ich mich als ein Mann von gemeinem Schlage bey einem Philosophen zu Gaste bitte. Wie wirst du es aber verantworten, Sokrates, daß du mich mitbringst? denn mache dich immer darauf gefaßt, daß ich mich auf deine Einladung berufe.“ Dazu wird sich auf dem Wege schon Rath finden. Komm nur.

So giengen wir also fort. Sokrates, der seinen Gedanken nachhieng, blieb bald zurück, und hieß mich, da ich auf ihn warten wollte, vorangehen. Es machte sich aber seltsam genug. Die Thüre an Agathons Hause fand ich offen und ein Sklave, der mir entgegen kam, führte mich gleich in den Saal, wo die andern schon an der Tafel waren und eben zulangen wollten. Du kommst eben recht, Aristodem, rief mir Agathon [176] entgegen, wenn du unser Gast seyn willst; führt dich aber etwas anders hieher, so laß es immer auf einandermal anstehen. Ich habe dich gestern lange gesucht, um dich zu mir zu bitten, aber du warst nirgends zu finden. Warum bringst du uns aber den Sokrates nicht mit? – Jetzt erst sah ich mich um, und bemerkte, daß er mir nicht nachgekommen war. „Mit Sokrates komm’ ich eben her, sagte ich, und er ists, der mich zu dir eingeladen hat.

Das hast du gut gemacht, Aristodem. Aber wo hast du denn deinen Mann gelassen? „Er war eben noch hinter mir, und ich begreife nicht, wo er mag hingekommen seyn.“ Geschwind such ihn auf, sagte Agathon zu einem Sklaven und führe ihn herein –. Und du, Aristodem, magst inzwischen neben Eryximachus Platz nehmen. Laß dir von jenem Sklaven die Füße waschen, damit du dich alsdenn niederlassen kannst.

Unterdessen kam der vorige Sklav mit der Nachricht zurück: „Sokrates stehe im Vorhof eines Nachbar-Hauses; und kein Bitten habe ihn vermögen können, herein zu kommen.“ [177] Das ist ja ein sonderbarer Einfall von ihm, rief Agathon. Geh noch einmal hin und ruhe nicht, bis du ihn mitbringst.

Nicht doch, sagte ich, laßt ihm immer seine Freiheit. Ihr kennt ja schon seine Weise, allein und in sich selbst versenkt, bald da bald dort stehen zu bleiben. Seid unbesorgt. Er kommt ganz gewiß von selbst, wenn ihr ihn jetzt in Ruhe lasset.


Agathon.

Wie du meinst Aristodem. – Unterdessen könnt ihr uns aufwarten, Sklaven! Sezet uns vor, was ihr wollt, heute sollt ihr einmal keinen Herrn haben. Bildet euch ein, ich sey auch eurer Gäste einer, und bewirthet uns so, daß wir euch loben können.

Wir fingen an zu speisen und Sokrates kam noch immer nicht. Agathon wollte mehrmalen nach ihm schicken, wenn ichs zugelassen hätte. Endlich kam er, und früher als er es sonst in solchen Fällen zu halten pflegt; doch hatten wir schon zur Hälfte abgespeiset. „Komm hieher, Sokrates, sagte Agathon, der unten an der Tafel allein saß [3], „setze dich neben mich, vielleicht theilt sich mir durch die Berührung auch etwas von der [178] Weisheit mit, die dir im Vorhofe erschienen ist; denn entdeckt hast du gewiß etwas, sonst dürften wir dich schwerlich schon haben.


Sokrates, (indem er sich niederläßt,)

Ich wäre es ganz wohl zufrieden, wenn es mit der Weisheit wäre wie mit dem Wasser, das aus dem vollen Krug durch das wollene Tuch in die leeren Becher tröpfelt. Dann würde mir der Platz neben Agathon noch einmal so werth seyn. Meine Weisheit, die sich wohl überhaupt noch bezweyfeln ließe, und die vielleicht nicht viel mehr ist als ein Traum, würde sich gar nicht übel in der Nachbarschaft der deinigen befinden, die dir kürzlich in so jungen Jahren vor einer glänzenden Versammlung von mehr als 30,000 Griechen soviel Ehre und Beyfall erworben.


Agathon.

Spotte nur Sokrates! Welcher von uns der größte Meister in der Weisheit sey, wollen wir nachher ausmachen. Bacchus soll nachher Schiedsmann seyn! Inzwischen laß dir jezt nur das Essen wol schmecken.

Sobald die Mahlzeit geendiget war, wurde die Libation[4] verrichtet. Die Gäste sangen ein [179] Loblied und verrichteten die übrigen Cerimonien; und nun wurden Anstalten zum Trinkgelage gemacht. – „Ich dächte“ fieng jetzt Pausanias an, „es würde nicht übel gethan seyn, heute jedem seine freye Wahl beym Trinken zu lassen. Ich wenigstens darf mir nicht viel zumuthen, mir ist der Kopf vom gestrigen Rausche noch schwer, und ich sollte meinen, euch nicht weniger; ihr habt euch wenigstens gestern auch wacker genug gehalten. Es wird euch also wohl auch recht seyn, wenn wir heute lieber jeden trinken lassen, soviel er will.“


Aristophanes.

Ein sehr vernünftiger Einfall von dir, Pausanias! Ich muß gestehen, ich bin auch einer von denen, die sich gestern zuviel zugemuthet haben


Eryximachus.

Topp! ich bins auch zufrieden. Aber was wird der große Trinker Agathon dazu sagen?


Agathon.

Meinetwegen könnt ihr beschließen, was ihr wollt. Der gestrige Tag könnte übrigens auch einem größern Trinker den Rest gegeben haben.


Eryximachus.

Das ist ja ein wahres unverhofftes Glück für mich und für Aristodem und für Phädrus, und [180] für die andern, daß euch Meistern vom Stuhle die Lust zum Zechen heute auch vergangen ist. Wir andern sind ohnehin immer schwache Helden; den Sokrates ausgenommen, versteht sich, denn der ist immer auf beide Fälle gefaßt! Ihm wird es aber gewiß auch am gleichgültigsten seyn, was beschlossen wird. – So viel ich also sehen kann, wird heute hier nicht gezecht werden, und so wird mirs also die ehrsame Gesellschaft um so weniger übel deuten, wenn ich mir die Freyheit nehme, aus meiner Diätetik zu versichern, daß es auch sehr schädlich wäre. Die Entdeckung ist eben nicht sehr neu, aber sie ist wichtig genug für mich, daß ich mich in acht nehme; und wer gern einem guten Rath folgt, der wird sich auch von mir warnen lassen, zumal wenn er noch von gestern her einen Hieb hat.


Phädrus.

Was mich betrift, Eryximachus, ich bin bekanntlich immer sehr folgsam gegen deine Lehren gewesen, und du weißt, daß ich besonders vor deinen medicinischen Kenntnissen großen Respekt habe. Dein Rath scheint aber diesmal auch bey den andern ein günstiges Gehör zu finden.

Die Versammlung beschloß nun für heute mit Einwilligung aller, die dabey Sitz und Stimme hatten, eine allgemeine Trinkfreyheit; keiner sollte [181] den andern mit Zutrinken inkommodiren, sondern jeder seiner freyen Wahl überlassen werden.


Eryximachus.

Dieses Zwanges wären wir also für heute loß. Nun möchte ich wohl der Gesellschaft noch einen zweiten Vorschlag thun. Ich sehe eben die Flötenspielerin kommen. Lasset uns diese auch wegschicken! Sie mag sich selbst eins vorblasen, wenn sie Lust hat, oder den Frauenzimmern im Hause. Wir wollen uns diesmal bloß mit Gesprächen unterhalten. Darf ich etwa auch einen Gegenstand vorschlagen, über den wir sprechen wollen?“

Alle waren es zufrieden, und er fuhr also fort:

Meinen Vortrag muß ich anheben, wie Menalippe beym Euripides: [5]

Nicht von mir ist, was ich euch sage – dem Phädrus gehört es.

„Ist es nicht ärgerlich, Eryximachus,“ spricht er öfters ganz im Eifer zu mir; „So unzählige Hymnen und Loblieder haben sie gemacht, alle Götter haben sie besungen, hundert tausend Dichter sind in der Welt, und noch nicht ein einziger von ihnen hat den vernünftigen Einfall gehabt, [182] den Amor zu besingen. Ich wüßte doch warlich keinen belohnenderen Gegenstand für einen Dichter, als diese alte und mächtige Gottheit. Und siehst du, zum größten Aerger haben auch unsre Prosaiker eben so wenig daran gedacht! Sieh nur die Schriften unsrer Sophisten an – ja, auf Herkules und dergleichen kannst du wohl Lobreden finden, wie z. B. beim Prodikus, der noch einer der besten unter ihnen ist. – Doch das möchte alles noch hingehen! Aber dieser Tagen fiel mir ein Buch in die Hand, worin ein tiefgelehrter Mann den weisen Gedanken ausführt, dem Salz eine lange Lobrede zu halten – Nein, es ist in der That nicht auszuhalten! Solche Dinge lobpreißt man, mit solchen Dingen gibt man sich soviel Mühe, und dem Amor allein will niemand ein Loblied gönnen?“ – Mich dünkt, Phädrus hat nicht so ganz Unrecht, und es wäre wohl Zeit, diesen Fehler gut zu machen. Wie wär es nun, wenn wir das Lob dieser Gottheit zum Gegenstand unsrer jetzigen Unterhaltung machten. Dürftig wenigstens ist dieser Stoff nicht, und unwürdig gewiß noch weniger! Mein Vorschlag ist also: jeder von uns hält, der Reihe nach, dem Amor eine Lobrede, versteht sich, so gut ers kann! Phädrus muß den Anfang machen, weil er oben ansitzt, und die Veranlassung zu diesem Vorschlag gegebenhat.

[183] Sokrates.

Meine Stimme hast du, Eryximachus. Liebe ist es ja ohnehin, worauf all mein Philosophiren zuletzt hinausläuft. Agathon und Pausanias werden dir schwerlich entgegen seyn, und Aristophanes der mit Venus und Bacchus so vertraut ist, wird sich nicht lange bitten lassen. Ueberhaupt sehe ichs allen an, daß ihnen dein Vorschlag gefällt. Uns die wir hier unten sitzen, wird es freylich nicht zum besten ergehen. – Was wird uns nach so vielen zierlichen Reden noch übrig bleiben? Doch die schönen Reden selbst werden unser Trost seyn. So mag denn Phädrus in Gottes Nahmen beginnen!“

Ich werde euch nun freilich diese Reden nicht mehr vollständig mittheilen können. Sie waren theils dem Gedächtniß des Aristodem selbst nicht mehr ganz gegenwärtig, theils ist auch mir von seiner Erzählung manches wieder entfallen. Aber die merkwürdigsten sind mir noch deutlich genug geblieben, um sie euch mittheilen zu können.

„Groß und wunderbar in vielen Rücksichten, hub Phädrus an, ist Amor unter Menschen und Göttern, vorzüglich aber in Rücksicht seines Ursprungs. Der ältesten Gottheiten eine zu seyn, ist ein hoher Vorzug; und dieses ehrwürdige Alter hat Amor, denn er hat keine Eltern. Kein Dichter und kein Prosaist nennt sie uns; und Hesiod sagt sogar: „Zuerst sey das Chaos erzeugt worden

[184]
– – nach ihm, mit breiten Schultern die Erde.

Ein nie wankender ewiger Grund das Ganze zu tragen;

Nach ihr Amor –“

Er behauptet also: Amor und die Erde seyen die zwey Wesen, die zunächst nach dem Chaos ins Daseyn gekommen. Parmenides aber sagt von seinem Ursprung:

„Unter allen Göttern zuerst erschuf er den Amor.“

Auch Akusilaus stimmt mit Hesiod überein. So hört man also von allen Seiten nur eine Stimme: Amor ist einer der ältesten Götter. Dieser Vorzug ist aber nicht sein einziger: er ist auch die Quelle unserer größesten Freuden. Ich kenne wenigstens kein größeres Glück für einen noch jungen Menschen, als einen edlen Liebhaber, und kein größeres für diesen, als einen edeln Geliebten zu finden. Denn zu großen und edeln Handlungen führt weder vornehmes Herkommen, noch Ehrenstellen, noch Reichthum, noch irgend etwas anderes, die Menschen so sicher, als die Liebe. Sie allein erzeugt ein richtiges Gefühl der Schaam vor dem Schändlichen und ein lebendiges Streben nach dem wahren Schönen – jene göttlichen Eigenschaften, ohne welche nie weder ein einzelner Mensch noch eine ganze Nation etwas Großes und Schönes vollbracht hat. Ein Liebender, der etwas schändliches [185] begangen, oder aus Feigherzigkeit Mißhandlung geduldet hätte, wird weit weniger vor dem Anblick seines Vaters, oder seiner Freunde, oder irgend eines anderen Menschen sich scheuen, als vor dem Anblick seines Geliebten. Eben so schämt sich vor dem Liebenden der Geliebte, wenn er sich des Vorwurfs einer schändlichen Handlung bewußt ist. Könnte je ein Staat oder eine Armee aus lauter Geliebten und Liebenden bestehen, wie könnten sie vortreflicher berathen seyn, als durch diese Menschen, die vor jeder unedlen Handlung zurück beben, und im Guten mit einander wetteifern. In einer Schlacht würden sie, wenn ihre Anzahl auch noch so klein wäre, durch Vereinigung der Kraft – um mit einem mal alles zu sagen – alles überwinden. Eher vor den Augen der ganzen Welt, als vor den Augen seines Lieblings, würde der Liebende sein Glied verlassen oder seinen Schild wegwerfen, lieber würde er einen dreyfachen Tod sterben; und eher würde er seinen Liebling selbst verlassen als einem andern in Gefahr nicht beystehen. Keiner ist so feig, den nicht Amor zum Helden machen sollte. Und was Homer von seinen Helden sagt:

„Ihre Brust erfüllten mit hohem Muthe die Götter“,

das wirkt bey Liebenden die Kraft der Liebe. Für einander zu sterben sind auch nur Liebende [186] fähig. Und nicht Männern allein, auch Weibern sogar gibt Liebe diesen Muth. Wer kennt nicht die Heldenthat von Pelius Tochter, Alceste? Sie allein unter allen Griechen war bereit für ihren Gatten zu sterben. Er hatte noch Vater und Mutter; aber sie, stärker durch Liebe, übertraf auch die Eltern an Zärtlichkeit so sehr, daß neben ihr es schien, als ob diese ihm nur dem Namen nach angehörten. Was sie gethan, gefiel auch nicht bloß den Menschen. Die Götter selbst, die sonst nur sehr wenigen aus der großen Zahl der Vortreflichen die Rückkehr aus dem Orkus erlaubten, machten, von dieser herrlichen That gerührt, mit Alcesten eine Ausnahme[.] So wird Tugend aus Liebe, selbst von den Göttern geehrt. Den Orpheus hingegen, des Oeagrus Sohn, schickten sie unverrichteter Dinge aus dem Hades zurück. Sie zeigten ihm bloß ein Schattenbild derjenigen, um derentwillen er hinabgestiegen war; die Gattin selbst gaben sie ihm nicht zurück, denn der Weichling hatte nicht gewagt, wie Alceste, aus Liebe zu sterben, sondern war bloß mit Hülfe seiner Cithar lebendig in den Orkus hinabgestiegen. Eben deswegen ließen sie ihn auch durch Weiberhände sterben. Ganz anders ehrten sie den Achill, der Thetis Sohn. Ihn schikten sie in die Inseln der Seeligen; aber groß war auch was er that. Er hatte die Wahl: den Hektor zu tödten und zu [187] sterben, oder ihn zu verschonen, und beym väterlichen Heerd ein hohes Alter zu erreichen; und sein Heldenherz erwählte das Erstere. Um seinen Liebhaber Patroklus zu rächen, wollte er nicht bloß für ihn sterben, sondern, da er ihn nicht mehr retten konnte, als sein Rächer ihm folgen. Deswegen haben auch die Götter, über eine solche Treue gegen den Liebenden entzückt, ihn so auszeichnend geehrt. Und in der That ist auch den Göttern nichts so achtungswürdig, als ein solcher Heldenmuth in der Liebe. Noch mehr aber trift ihre Bewunderung, ihr Beyfall, ihre Belohnung, die Zärtlichkeit des Geliebten gegen den Liebenden, als die des Liebenden gegen den Geliebten; denn jener hat an sich schon mehr göttliches, weil er begeistert ist. Deswegen haben sie auch den Achill ganz anders belohnt, als den Orpheus [6], und ihn auf die Inseln der Seeligen [188] versetzt. – So erkläre also auch ich den Amor für den ältesten und für den achtungswürdigsten unter den Göttern. Er ist es, der die Menschen, sowohl in diesem Leben als in der andern Welt, am sichersten zur Tugend und Glückseligkeit leitet.“

Dies ungefähr, sagte Aristodem, war der Inhalt von Phädrus Rede. Nach ihm folgten einige andre, deren Reden er vergessen hatte. Er gieng[WS 1] also sogleich über auf die Rede des


Pausanias.

„Dem Amor eine Lobrede zu halten, scheint mir, so überhaupt ausgedrükt, eine zu unbestimmte Aufgabe. Gäbe es nur Einen Amor, so möchte es hingehen; da es aber mehr als Einen giebt, [189] so wird es zweckmäßiger seyn, vorher auszumachen, welcher von ihnen der Gegenstand des Lobes seyn solle. Ich will also versuchen dies zu verbessern; zuerst denjenigen Gott zu bestimmen, dem das Lob gelten soll, und ihn dann eines Gottes würdig zu loben. Wir alle wissen, daß keine Liebesgöttin ohne Amor ist. Gäbe es also nur Eine, so würden wir auch nur Einen Amor haben. Da es aber ihrer zwey gibt, so muß es nothwendig auch zwey Amor geben. Ich sage: es gibt eine doppelte Venus; eine ältere nämlich, ohne Mutter, des Uranus Tochter, welche eben deswegen auch Urania (die Himmlische) heißt; und eine jüngere, Jupiters und der Dione Tochter, welche die Gemeine genannt wird. Wir müssen also allerdings auch den Gehülfen der leztern den Gemeinen, jenen aber den Himmlischen nennen. Man soll zwar alle Götter loben; aber wir wollen jezt nur versuchen, die besondern Eigenschaften von diesen beiden darzustellen. Eine Handlung an und für sich betrachtet ist weder schön noch häßlich. Zum Beyspiel, was wir eben jezt thun, Trinken, Singen, Reden; keines dieser Dinge ist an und für sich schön, sondern es wird es durch die Art und Weise, wie es geschieht. Es ist schön, wenn es auf eine schöne und anständige Art geschieht; häßlich aber, wenn es nicht auf eine anständige Art geschieht. Eben so ist es auch [190] mit der Liebe und dem Amor. Nicht jeder Amor ist schön und einer Lobrede würdig, sondern derjenige nur, der uns mit einer edeln Liebe begeistert. Der Amor der gemeinen Venus ist in der That gemein; blindlings handelt er, bey allem was er thut. Ihm huldiget die gemeine Klasse von Menschen. Ihnen dünkt es nicht unedler, ein Weib zu lieben, als einen Jüngling. Erhebt sich auch ihre Neigung zum ersteren Gegenstande, so ist es der Körper mehr als die Seele, was sie lieben, und ihre niedrige Leidenschaft erlaubt sich die schändlichsten Ausbrüche.[7] Auf Genuß ist nur ihr Blick gerichtet, unbekümmert ob sie auf eine edle oder unedle Art ihr Ziel erreichen. Daher kommt es auch, daß sie handeln, wie es der Zufall ihnen räth, bald gut bald böse. Dieser Amor ist aber auch der Gehülfe derjenigen Venus, die ihr Dasein selbst einer Vermischung beider Geschlechter zu danken hat, und viel jünger ist. Der andere hingegen ist der Gehülfe der himmlischen, welche erstlich ihr Daseyn von dem männlichen Geschlechte [191] allein hat, und zweytens viel älter, folglich frey von aller Ausgelassenheit, ist. Wen dieser begeistert, der liebt daher auch nur das männliche Geschlecht, als dasjenige, das von Natur mehr Kraft und Geist besizt. Aber nicht alle Liebe zu diesem Geschlechte ist dieses Gottes Werk. Von ihm begeistert ist nicht, wer Knaben liebt. Wen er beseelt, der wird nur Jünglinge lieben, denn nur bey diesen erst zeigen sich Spuren des sich entfaltenden Geistes. [8] Eine feste dauernde Verbindung läßt sich auch nur bey einem Geliebten von reiferem Alter erwarten. Verbindungen mit Geliebten von früheren Jahren können kaum einen andern Zweck haben, als den Geliebten zu hintergehen, im unreiferen Alter ihn anzulocken, um ihn als Jüngling zu verspotten und zu verlassen, und einem andern nachzulaufen. Denn wer kann wissen, wie die Anlagen eines noch unerwachsenen Knaben sich entwickeln werden? ob nicht alle Mühe, die er an ihn wendet, umsonst vergeudet [192] sey? Billig sollte es also durch ein Gesez verboten seyn, Minderjährige zu lieben. Edle Liebende schreiben zwar selbst sich dieses Gesez vor; aber jenen gemeinen Liebhabern einen solchen Zaum anzulegen, wäre darum nicht überflüssig; so wie man auch ihren Angriffen auf freygeborne Weiber solche heilsame Schranken gesezt hat. Denn diese niedrig denkenden Menschen allein haben die Liebe in einen so übeln Ruf gebracht. Ihr liederliches und treuloses Betragen allein hat die Meinung erzeugt: daß es schändlich sey, des Liebenden Liebe zu erwiedern; eine Sache, die doch so wenig als alles andere, was mit Anständigkeit und Sittlichkeit geschieht, Tadel verdienen kann! In allen Staaten hat die Gewohnheit in Rüksicht der Liebe etwas festgesezt, was als Gesez gilt. In allen andern Staaten, ausser Sparta und Athen, ist dieses Gesez sehr einfach und kann ohne Kopfbrechen verstanden werden; bey uns ist es aber etwas verwickelter. In Elis und Böotien, wo die großen Redner bekanntlich nicht zu Hause sind, ist es ohne Einschränkung erlaubt, des Liebenden Liebe zu erwiedern; weder Jung noch Alt hat da etwas Arges dran. Es würde aber auch den guten Leuten gar zu sauer werden, wenn sie ihren Kindern andre Grundsäze beybringen müßten; so etwas kann doch nicht ohne Reden vor sich gehen. In Jonien hingegen und bey allen [193] andern Völkern außer Griechenland, wird es eben so ohne Einschränkung für unerlaubt gehalten. Es ist auch leicht begreiflich, wie dies nicht anders kommen kann. Wo der Wille des Despoten Gesez ist, da muß dies noch weit mehr, als selbst Philosophie und Gymnastik, verboten seyn. Denn was ist dem Interesse der Tyrannen gefährlicher als große Gesinnungen und enge Freundschaftsbündnisse ihrer Unterthanen? Und was erzeugt sicherer, als die Liebe, diese edeln Früchte? Eine traurige Erfahrung hat dies auch die Tyrannen von Athen gelehrt. Durch Aristogitons Liebe und Harmodius treue Gegenliebe allein ward ihre Herrschaft zertrümmert. – Jenes einfache Gesez in Rüksicht der Liebe scheint also allerdings verdächtig. Wo das Erwiedern der Liebe schlechthin verboten ist, da darf man immer Verfall der Nation, despotische Herrschsucht der Regenten und sklavische Feigheit der Unterthanen; wo es schlechthin erlaubt ist, Stumpfheit des Geistes bey dem Volke, das einem solchen Gesez unbedingt huldigt, vermuthen. Richtiger denkt man darüber in Athen. Aber unser Gesetz ist auch, wie gesagt, nicht so leicht zu fassen. Bey uns hört man so oft: es sey unschicklich, seine Liebe nicht öffentlich zeigen, sondern heimlich halten zu wollen; es sey anständiger, edle und vornehme Jünglinge zu wählen, und sich nicht durch Schönheit oder Häßlichkeit [194] in seiner Wahl bestimmen zu lassen. Bey uns wird der Liebende nicht wie einer, der etwas schändliches beginnt, gewarnt, sondern von allen Seiten vielmehr ermuntert. Bey uns bringt es Ehre, einen Geliebten gewonnen, Schande, ihn nicht gewonnen zu haben. Bey uns hat ein Liebender Beyfall zu erwarten, wenn er zu seinem Zwecke sich Mittel erlaubt, die jedem andern, der sie zu was immer für einem Zwecke gebrauchen wollte, den Spott der ganzen philosophischen Welt zuziehen würden. Gesezt, es wollte einer, um Geld zu bekommen, oder ein öffentliches Amt zu erlangen, wie ein Liebender vor dem Geliebten, bitten, flehen, beschwören, ganze Nächte vor der Thüre zubringen, mehr als Sklavendienste versehen: als einen niederträchtigen Schmeichler würden ihn seine Feinde verachten, seine Freunde sich seiner schämen. Mit Ehren hingegen kann alles dies der Liebende thun, durch das Gesez selbst vor allem Tadel gesichert; bey ihm wird es wie die lobenswürdigste Handlung betrachtet. Ja, noch mehr! Bey uns hört man sogar nicht selten: der einzige, dem die Götter selbst einen falschen Eid verziehen, sey der Liebende, denn des Liebenden Eid sey weniger bindend. So denkt man bey uns in Rüksicht der Liebe; von Göttern und Menschen ist hier dem Liebenden volle Freyheit verstattet. [195] Wer sollte daher nicht denken, daß Lieben und Liebe erwiedern ohne Einschränkung für edel in unserm Staate gehalten werde? Wenn man aber auf der andern Seite sieht, wie ängstlich die Väter nach Hofmeistern für die Geliebten sich umsehen, wie ernstlich sie ihnen verbieten mit ihrem Liebhaber zu sprechen, wie angelegentlich sie dem Hofmeister befehlen, darüber zu wachen; wenn man sieht, daß die Gespielen und andere junge Leute einen Geliebten verspotten, und daß kein älterer es ihnen wehrt, keiner es ihnen als ein unverständiges Betragen verweist: sollte man denn nicht vielmehr im Gegentheil denken, beydes werde in unserem Staate durchaus für entehrend gehalten? Doch, es läßt sich beydes vereinigen! Man kann, wie gesagt, nicht im allgemeinen behaupten, weder daß es edel, noch daß es unedel sey, des Liebenden Liebe zu erwiedern. Es ist edel, wenn es edel geschieht; unedel, wenn es unedel geschieht. Unedel aber ist es, dem strafbaren Liebenden mit strafbarer Liebe entgegen zu kommen; edel hingegen, reine Liebe mit reiner Gegenliebe belohnen. Der strafbare Liebende aber ist jener gemeine. Ihm ist es mehr um den Körper als um die Seele zu thun. Seine Liebe kann eben darum auch gar nicht beständig seyn, weil der Gegenstand selbst, den sie sucht, so vergänglich ist. Ist die Blüthe des Körpers, die ihn reizte, dahingewelkt, [196] so entflieht er mit verächtlichem Blicke seiner schönen Worte und seiner Versprechungen spottend. Der edlere Liebende hingegen bleibt durch sein ganzes Leben beständig, denn was ihn fesselt, ist bleibend. Man kann also sagen, es sey bey uns Gesez: Man müsse die Liebenden erst aufmerksam prüfen; dann sey es erlaubt, den Edeln wieder zu lieben; und Pflicht, den Unedlen sogleich abzuweisen. [9] Dies sieht man auch daraus, weil es bey uns einem Geliebten zur Schande gerechnet wird, wenn er entweder den Liebenden zu bald erhört – er soll sich erst Zeit nehmen, verlangt man, um alles gehörig zu prüfen –; [197] oder, wenn er durch Geld oder äußeres Ansehen des Liebenden sich bestimmen läßt; wenn er entweder aus Furcht vor dem mächtigen Einfluß eines angesehenen Mannes nicht Muth genug hat, ihn abzuweisen, oder aus Eigennutz nicht hohen Sinnes genug, über Vortheile, die er ihm für seine häuslichen oder bürgerlichen Angelegenheiten anbietet, sich zu erheben – denn außerdem, sagt man, daß keines dieser Dinge ächte Liebe erzeugen kann, läßt sich auch gar keine Dauer einer solchen Verbindung erwarten. Den Liebenden wieder zu lieben, wird also bey uns allerdings, aber nur in einem einzigen Falle, für anständig gehalten. So wie wir es nämlich weder für schmeichlerisch noch für beschimpfend halten, was immer für eine Unterwürfigkeit unter den Willen des Geliebten der Liebende zeigt; so giebt es auch eine Unterwürfigkeit des Geliebten, die wir für tadelloß erkennen – die, welche Tugend zum Zweck hat. Nach einem bey uns ganz allgemeinen Urtheile ist es weder schändlich noch schmeichlerisch, einem andern sich gefällig zu machen, durch den man an Ausbildung des Geistes oder des Herzens zu gewinnen hofft. Trift nun dieses Gesez der Philosophie und der Tugend mit jenem Gesez der Liebe zusammen, so kann es allerdings edel seyn, Liebe mit Gegenliebe zu erwiedern. Gründen zwey Liebende ihre Verbindung [198] auf das wechselseitige Gesez: daß die Gegenliebe des Geliebten jede erlaubte Gefälligkeit verdiene, und daß der Eifer des Liebenden, ihn zum weisen und tugendhaften Mann zu machen, jede tadellose Ergebung fordere; und hat der eine das Vermögen, Weisheit und Tugend zu befördern, der andere aber das Bedürfniß, Geisteskultur und Lebensweisheit zu erwerben: dann, und sonst nie, tritt der Fall ein, daß es edel ist, Liebe mit Gegenliebe zu erwiedern. Auch nur in diesem Falle ist es nicht schimpflich, sich betrogen zu haben; in allen andern Fällen – man mag seinen Zweck erreichen, oder nicht – hat man Schande von einer solchen Verbindung. Erwiedert ein Jüngling die Liebe eines Mannes, den er für reich hält, um seines Geldes willen, so wird er dadurch keineswegs von der Verachtung befreyt, wenn es sich am Ende zeigt, daß der Liebhaber arm sey, und ihm nichts geben könne; er hat schon verrathen, daß er fähig sey, jedem Menschen zu jeder Absicht für Geld die Hand zu bieten, und das ist nicht edel gedacht. Wird hingegen ein Jüngling von einem Manne geliebt, den er für rechtschaffen hält, und erwiedert seine Liebe, um durch den Umgang mit ihm besser zu werden, so bringt ihm die Täuschung durchaus keine Schande, wenn es sich auch am Ende entdeckt, daß sein Liebhaber ein schlechter Mensch [199] sey, und keine Tugend besitze; er hat doch bewiesen, daß er um der Tugend und um seiner Vervollkommnung willen für jeden alles zu thun entschlossen sey, und dies ist höchst edel gedacht. Liebe mit Gegenliebe um der Tugend willen erwiedern ist also allerdings lobenswürdig und edel. Diese Liebe allein ist von der himmlischen Göttin entsprungen, selbst himmlisch, und würdig der allgemeinen Verehrung des Staats und der einzelnen Bürger, ein mächtiger Antrieb dem Liebenden, sich selbst und den Geliebten zur Tugend zu bilden. Der gemeinen Venus Zögling ist jede andere Liebe! Dies, mein Phädrus – so schloß er – ist alles, was ich aus dem Stegreif zum Lobe des Amors zu sagen weiß.“

Nachdem nun Pausanias (um mich so wizig wie ein Sophist auszudrücken) pausirt hatte, so kam die Reihe an den Aristophanes. War es Ueberladung des Magens oder was es sonst war, genug er hatte den Schlucken und konnte nicht sprechen. Er wendete sich also an Eryximachus, der zunächst auf ihn folgte, und sagte: „Ich kann dir nicht helfen Eryximachus, du mußt mir entweder den Schlucken vertreiben oder an meiner Stelle reden.


Eryximachus.

Oder noch besser, ich thue beides! Ich will einstweilen an deiner statt reden, wenn dich hernach [200] der Schlucken verlassen hat, so kannst du ja meine Rolle übernehmen. Gegen den Schlucken aber weiß ich dir dreyerley zu rathen! Vielleicht kannst du ihn schon loß werden, wenn du nur eine Zeitlang den Athem anhältst; hilfts nicht, so gurgle dich mit Wasser; ist er aber gar zu hartnäckig, so kitzle dir nur mit einer Feder oder sonst so etwas in der Nase daß du zum Niesen kommst: thust du dis zwey bis dreymal, so wird er sich legen, und wenn er noch so heftig wäre.


Aristophanes.

Gut! das sollst du mir nicht zweymal sagen. Aber jetzt nur gleich zu deiner Rede.


Eryximachus.

„Pausanias hat seine Rede schön angefangen, aber nicht befriedigend ausgeführt. Es wird wohl nicht übel seyn, wenn ich ihm ein wenig nachhelfe. Die Eintheilung, daß es zwey Amor gebe, finde ich allerdings gegründet. Aber mich hat meine Wissenschaft weiter geführt. Ich habe beobachtet, daß sich nicht bloß in den Seelen der Menschen gegen schöne Menschen und gegen schöne Sachen Liebe finde, sondern daß sich eben sowohl in den Körpern der Thiere, in den Pflanzen und mit einem Wort in allem was ist, Liebe [10] entdecke; [201] und mir ist eben dadurch die Größe dieser Gottheit, die ihren Einfluß über alles, über göttliche und über menschliche Dinge ausbreitet, um so bewundernswürdiger erschienen. Meiner Kunst zu ehren, will ich nun von den Gegenständen der Heilkunde den Anfang machen. Auch in der Beschaffenheit der Körper zeigt sich der doppelte Amor. Die gesunden und die kranken Theile eines Körpers sind offenbar sehr verschieden und unähnlich. Nun zeigt aber unsre Wissenschaft, daß auch zwischen den ungesunden Theilen sich eine wechselseitige Liebe finde; also giebt es eine andere Liebe in den gesunden Theilen, eine andre in den kranken. Nun läßt sich aber auch hier die Regel anwenden, die Pausanias in Rücksicht auf die Menschen aufgestellt hat: daß es nämlich schön sey, den Guten; schändlich, den Verderbten mit Liebe entgegen zu kommen. Gerade so kann ich nun auch in Rücksicht auf die Körper sagen: es ist schön und nothwendig, und eines Arztes würdig, die guten und gesunden Theile zu pflegen, schändlich hingegen, die verdorbenen und kranken Theile zu nähren; diesen muß man vielmehr [202] auf alle nur mögliche Art entgegenwirken, wenn man nicht ein wahrer Stümper in seiner Kunst seyn will. Denn die ganze Heilkunde, wenn ich es mit einem mal sagen soll, ist nichts anders, als die Wissenschaft der in dem Körper liegenden Triebe zur Anfüllung und Ausleerung. Wer hier den gemeinen und den himmlischen Amor am besten zu unterscheiden versteht, der ist der beste Arzt, und wer den einen in den andern verwandlen, den bessern, wo er fehlt, einpflanzen, den schlimmern, wo er sich eingenistet hat, austreiben könnte, der wäre erst der wahre Meister seiner Kunst. Dazu wird aber nichts geringeres erfordert, als daß er die feindseligsten Dinge in Harmonie und Liebe zu bringen wisse. Unter den feindseligen Dingen verstehe ich nämlich die entgegengesetztesten, Warm und kalt, Bitter und süß, Trocken und feucht, und so weiter. Diese Weisheit verstand (so erzählen es wenigstens die Dichter, und ich kanns ihnen wohl glauben) unser Großvater Aeskulap, und ward dadurch der Schöpfer unsrer Kunst. Die ganze Arzneykunst wird also, wie gesagt, durch diesen Gott regiert. Eben so aber auch die Gymnastik und der Landbau; und daß auch die Musik unter demselben Einfluß stehe, muß jeder bemerken, der nur ein wenig nachdenkt. Vermuthlich ist dies auch der Sinn einer ziemlich dunkeln Stelle des Heraklit, wo er sagt: das Universum ist in sich [203] selbst verschieden und doch mit sich selbst übereinstimmend, wie die Spannung eines Bogens oder die Harmonie einer Leier. Es wäre doch höchst ungereimt zu sagen: in der Harmonie sey Verschiedenheit, oder ihre Theile fahren fort, verschieden zu bleiben. Vermuthlich wollte er also nur sagen: die Tonkunst bringe aus hohen und tiefen Tönen Harmonie hervor, indem sie diese an sich verschiedenen Töne in Uebereinstimmung bringt; denn aus hohen und tiefen Tönen, die nicht zusammenpassen und nicht übereinstimmen, kann keine Harmonie entstehen. Eben so entsteht auch der Rythmus aus schnellen und langsamen Zeitmaaßen – Dingen, die ganz verschieden an sich, aber in Uebereinstimmung gebracht sind. Diese Uebereinstimmung in Tönen und Zeitmaaßen bewirkt aber die Tonkunst durch einerley Operation, wie die Heilkunst, in dem sie wechselseitige Liebe und Eintracht hervorbringt. Und die Tonkunst ist auch nichts anders, als die Wissenschaft der Uebereinstimmungen in Absicht auf Harmonie und Rythmus. Diese wechselseitigen Uebereinstimmungen in einer schon angelegten Harmonie und in einem schon vorhandenen Rythmus zu entdecken, ist eben keine so schwere Aufgabe [11]. Eine schwerere, die mehr [204] Kunstsinn und Fertigkeit fordert, ist es, aus den sich liebenden Theilen der Harmonie und des Rythmus ein Ganzes, das des Menschen Herz erfreue, zusammen zu sezen oder, wie die Kunstverständigen sprechen, zu komponiren, oder auch nur ein komponirtes richtig vorzutragen. Hier muß man wieder nach dem nämlichen Grundsatz verfahren, den Pausanias aufgestellt hat: Nach den gesitteten Menschen muß man sich richten, ihre Liebe muß man suchen zu erwerben, und dann auch die Liebe der noch nicht gesitteten – in der Absicht sie zu bekehren. Diese Liebe ist der himmlischen Göttin Tochter, rein und himmlisch. Polymnia’s Tochter ist die gemeine Liebe. Sie darf man nur mit großer Behutsamkeit erwecken, denn sie artet leicht in Leidenschaft aus, und man ist in Gefahr, ihr Vergnügen sehr theuer zu bezahlen. Der Musiker hat dabey ungefähr dasselbe Problem, wie der Arzt, der das rechte diätetische Ebenmaaß

ein Glossem, wodurch sich vielleicht der Glossator selbst erklären wollte, warum es leicht sey, in den Verhältnissen der Harmonie und der des Rhythmus, das sich liebende zu finden. Denn daß Eryximachus jenen Gedanken – der freylich nach seiner eignen Ankündigung der herrschende in seiner Rede ist – so gezwungen hieher gezogen haben sollte, ist um so unwahrscheinlicher, da dieser Theil der Allegorie gleich nachher besonders aufgeführt wird. [205] sucht, der Lüsternheit des Gaumen den möglich freisten Spielraum zu lassen, und dabey doch der Gesundheit zu schonen. Es kommt also sowohl in der Tonkunst als in der Heilkunst, und mit einem Worte überhaupt bey allen göttlichen und menschlichen Dingen, alles auf die Kenntniß und richtige Behandlung des doppelten Amors an. Denn dieser ist überall. Selbst in der Beschaffenheit der Jahreszeiten zeigt er sich. Herrscht nämlich der bessere Gott in der Natur, zwischen Wärme und Kälte, zwischen Trockenheit und Feuchtigkeit, so daß Harmonie und gemäßigte Mischung derselben entsteht: so sehen wir Fruchtbarkeit und Gesundheit, und allgemeines Gedeihen für Menschen, Thiere und Pflanzen. Hat aber der andere Amor in den Jahrszeiten die Obergewalt, so wird alles zu Grunde gerichtet; es entstehen Seuchen und allerley bösartige[12] Krankheiten für Thiere und Pflanzen. Auch Reif und Hagel und Fruchtbrand entspringen aus einer unmäßigen [206] und regellosen Liebe dieser Dinge[13] Aber auch sogar die ganze Opferkunst und alles was die Mantik[14] zu thun befiehlt, besteht bloß in dem Studium einer rechten Behandlung des Amors. Denn aller Mangel an Religion entspringt daher, wenn jemand nicht dem göttlichen sondern dem gemeinen Amor ergeben ist, wenn er in seinem [207] Betragen gegen Eltern, gegen Lebende und Verstorbene, und gegen die Götter selbst, nicht jenem, sondern diesem huldigt. Die ganze Weisheit der Mantik schränkt sich also bloß auf die Kenntniß einer weisen Leitung des Amors ein, und sie lehrt die Menschen, mit den Göttern in Rapport zu kommen, indem sie die Menschen rechtmäßige und unerlaubte Neigungen unterscheiden lehrt. Amor hat also allerdings viele und große, und – man kann sagen – alle Gewalt. Doch die größeste hat derjenige, durch welchen die Menschen mit Selbstbeherrschung und reinem Gefühl für Recht das was bey Göttern und Menschen gut ist, vollbringen lernen. Er ist es, der uns zu der Glükseligkeit geschikt macht, die Freuden eines vertrauten Umgangs zu genießen und Freunde der über uns erhabnen Götter zu seyn.“ – Somit wäre ich also am Ende meiner Lobrede. Es ist wohl möglich, daß ich manches übersehen habe. Indeß mit meinem Willen ists nicht geschehen, und Aristophanes wird schon allenfalls so etwas gut zu machen wissen. Doch du hast wohl so deine eigne Manier, den Gott zu loben? fang also nur gleich an. Dein Schlucken hat doch seinen Abzug genommen?


Aristophanes.

Ja wohl ist er abgezogen, doch hat er erst das Nießen abgewartet. Es ist mir in der That unbegreiflich, [208] wie das Ordentliche im Körper eine so unordentliche Erschütterung lieben kann, und doch ist es wirklich wahr, sobald ich den Schlucken mit dem Nießen in Harmonie sezte, so verschwand das Uebel.


Eryximachus.

Du wagst viel, Aristophanes, dein Spott soll dich theuer zu stehen kommen! Ich werde deiner Rede recht aufpassen, und – die Götter mögen dir gnädig seyn, wenn du was lächerliches vorbringst! Du sollst gewiß nicht ungeschlagen davon kommen.


Aristophanes.

Ich bitte um Pardon, Eryximachus! Ich will ja gerne nichts gesagt haben, wenn du mich nur in Ruhe lassen willst. Ich fürchte nur gar zu sehr, es möchte in meiner Rede nicht etwa bloß, wie du meinst, etwas lächerliches – das wäre eben so übel nicht, denn so was liebt meine Muse – sondern gar etwas auslachenswerthes vorkommen.


Eryximachus.

Glaubst du zu entwischen durch diese Wendung? So leichten Kaufs sollst du nicht davon kommen. Nimm dich nur in Acht, ich werde dich schon zur Rechenschaft ziehen, wenn mirs [209] nicht aus besonderer Gnade beliebt, dir durch die Finger zu sehen.


Aristophanes.

„Ich habe wirklich im Sinn den Gegenstand aus einem etwas andern Gesichtspunkt zu fassen, als du und Pausanias. Die Menschen scheinen in der That die Macht des Amors noch gar nicht zu kennen. Würden sie ihm sonst nicht lange schon die prächtigsten Tempel und Altäre errichtet und die glänzendsten Opfer gebracht haben? Man vernachlässigt aber ganz die Verehrung dieses Gottes, deren doch keiner würdiger seyn kann als er, der menschenfreundlichste unter allen Göttern, und der Wohlthäter der Menschen, die er von solchen Uebeln befreit, durch deren Heilung schon dem menschlichen Geschlechte die größeste Glückseligkeit gesichert ist. Ich fühle mich also berufen, euch seine Allmacht zu verkünden. Möget ihr dann wieder die Lehrer anderer werden! Ich fange damit an, euch mit der ursprünglichen Beschaffenheit des Menschen und ihrer erlittenen Schicksale näher bekannt zu machen. Ehmals war nämlich unsre Natur ganz anders, als jetzt. Damals gab es nicht bloß Männer und Weiber, wie jezt, sondern noch ein drittes Geschlecht, das Zwittergeschlecht, das zwar nicht mehr selbst vorhanden ist, von dem aber doch der Name noch als ein Spottname [210] existirt. Diese Menschenrace hatte eine völlig runde Form, Nacken und Rippen ringsherum, vier Hände und eben soviel Füße; zwey Gesichter, einander ganz ähnlich, auf dem runden Nacken, die an Einem Kopf in gerade entgegengesezter Richtung standen; vier Ohren, doppelte Geschlechtstheile, und so weiter alles, wie man es sich leicht denken kann. Uebrigens giengen sie aufrecht wie wir, und konnten sich frey nach allen Seiten hin bewegen. Um recht schnell an einen Ort zu kommen, machten sie es wie die Springer, die sich auf ihre Hände werfen und mit ihren Füßen ein Rad über den Kopf schlagen; und es gieng um so schneller bey ihnen, da sie acht Glieder dazu brauchen konnten. Nun können wir uns das Dasein dieses dreyfachen Geschlechtes daher erklären, weil das männliche Geschlecht aus der Sonne, das weibliche aus der Erde, das Zwittergeschlecht aus dem Monde, der auch ein Zwitter von jenen beiden ist, seinen Ursprung hatte. Kreisförmig, wie die ihrer Stammeltern, war auch ihre Gestalt und ihr Gang. Das Gefühl ihrer Stärke und Kraft machte sie endlich so verwegen, daß sie die Götter selbst angriffen. Von ihnen gilt, was Homer von Ephialtes und Otus sagt:

Sie wollten den Himmel ersteigen und selbst die Götter bekriegen.

[211] Nun berathschlagte sich Zevs mit den andern Göttern was bey diesem Handel zu thun wäre. Lange waren sie ganz unschlüßig. Diese Menschen zu tödten, und ihr Geschlecht wie die Giganten mit dem Blitz zu vernichten – das gieng doch nicht so; denn wo wären denn die Opfer und der ganze Gottesdienst geblieben? Und doch, eine solche Ungezogenheit zu dulden, das war ihnen auch wieder nicht anständig. Sie besannen sich also lange hin und her. Endlich fieng Jupiter an: „Ich glaube, mir geht ein Licht auf! Ja, so können wirs machen. Ich will ihrem Muthwillen schon die Flügel beschneiden, ohne daß es nöthig seyn soll, sie ganz zu vertilgen. Ich werde sie von oben herunter in zwey Hälften zerschneiden. Dadurch machen wir sie nicht nur zahmer, sondern erhalten auch noch obendrein den Vortheil, daß uns ihrer zwey gerade noch einmal so viel opfern werden. So können sie dann noch immer auf zwey Beinen aufrecht herumgehen. Werden sie aber alsdenn noch nicht Ruhe halten, so spalte ich sie noch einmal, dann mögen sie sehen, wie sie auf Einem Beine herumhüpfen.“ Sogleich fieng er nun an die Menschen nach einander jeden in zwey Hälften zu spalten, wie die Köche Arlesbeere zum Einmachen zerschneiden, oder Eier mit Haaren zertheilen. So oft einer nun auf diese Art halbirt war, mußte ihm Apollo [212] das Gesicht und den halbirten Nacken vorne nach dem Schnitt zu drehen, damit sie fleissig an das Zerschneiden erinnert und dadurch bescheidener werden möchten. War dies geschehen, so zog Apollo die Haut in der Gegend, die nun der Bauch heißt, von allen Seiten zusammen, ungefähr so wie man einen Beutel oben zusammenschnürt, so daß nur eine einzige Oeffnung blieb, die er in der Mitte des Bauches zuknüpfte, und die jezt der Nabel heißt. Alsdenn nahm er eine Falzzange, womit die Schuster das Leder über den Leisten glatt ziehen, wölbte damit die Brust, und glättete die entstandenen Runzeln aus. Ein Paar ließ er aber doch um Bauch und Nabel stehen, damit auch hier ein kleines Andenken von der ehmaligen Züchtigung übrig bliebe. Nachdem nun diese Bisection unsers Wesens glücklich vollendet war, fiengen die getrennten Hälften an sich nach einander zu sehnen, umschlossen sich mit ihren Armen so fest, und hängten sich so innig an einander, als wollten sie wieder in Ein Wesen zusammenfliessen. Keine wollte ohne die andere etwas verrichten, und so starben sie endlich miteinander aus lauter Hunger und Nichtsthun. Starb aber nur die eine, so suchte die Verlaßene wieder eine andere entweder männliche oder weibliche Hälfte (was wir nämlich jezt Weiber [213] nennen), schloß sich an sie an, und starb so mit ihr umschlungen. Jupiter ließ sichs endlich der armen Sterblichen erbarmen, und sann auf ein anderes Mittel ihnen zu helfen. Bisher hatten die Menschen sich nicht durch wechselseitige Begattung, sondern wie die Cicaden durch Befruchtung der Erde fortgepflanzt, und ihre Geschlechtstheile standen nach hinten zu. Nun versezte Zevs diese an die Vorderseite, und traf die Einrichtung zur wechselseitigen Begattung, damit durch die Umarmungen des Mannes und des Weibes das Geschlecht fortgepflanzt, und wenn Mann und Mann sich umarmen, wenigstens die Geschlechtslust gestillt würde, damit diese heftige Leidenschaft ihnen endlich Ruhe liesse, auf nützliche Geschäfte zu denken, und für ihren Unterhalt zu sorgen. Seitdem ist die Liebe ein Naturtrieb der Menschen, ein Drang die ursprüngliche Beschaffenheit wieder herzustellen, zwey Wesen in Eins zu verbinden, und die Verstümmelung der menschlichen Natur wieder aufzuheben. Jeder von uns ist also nur ein Fragment von einem Menschen, aus Einem in Zwey getheilt, wie die Schollen[15]; und jeder sucht nun seine von ihm getrennte Hälfte. [214] Nun sind aber einige, Hälften der eigentlichen Zwitter, die zweyerley Geschlecht hatten. Der männliche Theil von diesen liebt die Weiber, und diese Klasse hat uns die meisten Buhler geliefert, so wie der weibliche Theil von ihnen, der die Männer liebt, die meisten Buhlerinnen. Die Hälften der ehmaligen Doppelweiber sind gleichgültig gegen die Männer und lieben nur ihr eignes Geschlecht; daher die Tribaden. Die Hälften der vormaligen Doppelmänner aber fühlen eine Neigung zum Männergeschlecht. So lange ihre Jugend dauert, lieben sie, als Theilchen von einem Manne, nur Männer, und finden Vergnügen in ihrem Umgang und in ihrer Umarmung; und dies sind die edelsten Knaben und Jünglinge, weil sie von Natur die männlichsten sind. Mit Unrecht hat man sie der Unzüchtigkeit beschuldiget; denn nicht Unzucht, sondern inneres Gefühl ihrer männlichen Kraft, und männlicher Geist ist der Grund ihrer Neigung zu ihrem Geschlechte. Dies zeigt sich offenbar dadurch, daß nur solche Jünglinge im reiferen Alter die politische Laufbahn betreten. Zu Männern gereift lieben sie selbst wieder Jünglinge; heirathen zwar und zeugen Kinder, aber nicht aus Neigung sondern gezwungen durch das Gesez; zufriedener, wenn sie unverheirathet im Umgang mit ihres gleichen leben


so daß man sie beynah für halbirt oder durchschnitten ansehen könnte. S. Wolfs Ausg. des Symp. an dieser Stelle.

[215] könnten. Die Liebe zu Jünglingen und die Gegenliebe von diesen hat also offenbar keinen andern Grund, als weil jeder nach Vereinigung mit seiner Hälfte strebt. Hat der eine oder der andre seine eigentliche Hälfte gefunden: unaussprechlich ist dann das Wonnegefühl ihrer Zärtlichkeit, ihrer Vertraulichkeit, ihrer Liebe, und – was kann man mehr sagen? – auch nicht einen Augenblick sind sie zu trennen. Wenn sie nun aber auch Lebenslang in unzertrennlicher Vereinigung gestanden haben, so wissen sie doch am Ende nicht zu sagen, was sie eigentlich von einander wünschen und verlangen. Befriedigung einer unreinen Lust kann es nicht seyn, was sie mit solcher Innigkeit vereiniget, und ihren Umgang zu einer Quelle so unerschöpflicher Freuden macht; sondern etwas anders ist es, wornach beider Seele sich sehnt, was sie aber nicht sagen, nur ahnen, nur im dunkeln Vorgefühl rathen kann. Träte nun zu solchen Menschen, wenn sie so beisammen sind, Vulkan mit seinen Werkzeugen und fragte: „Was wollt ihr doch, ihr Menschen, einer vom andern?“ und keiner wüßte es zu sagen, und er spräche nun: „Wollt ihr vielleicht so ganz vereiniget seyn, daß Tag und Nacht keiner vom andern sich trenne? Wünschet ihr dies, so will ich euch so zusammenfügen und zusammenschmelzen, daß ihr aus zweien Eins werdet, daß ihr, so lange euer Leben dauert, als ein Wesen [216] zusammen lebet, und bey eurem Tode gemeinschaftlich in die Unterwelt wanderet, und auch dort nicht zwey seid, sondern Eins! Besinnet euch, ob dieß euer Wunsch sey, ob es euch recht wäre, wenn ihn jemand erfüllen wollte?“ –: keiner, das weiß ich, würde dann Nein sagen, keiner einen andern Wunsch äussern jeder nur seinen eignen längst gefühlten Wunsch zu hören glauben: zusammengeschmolzen und verbunden mit seinem Geliebten aus zweyen Eins zu werden. Die Ursache davon ist, weil wir jetzt nur Brüche von Menschen sind, ehmals aber ganze Menschen waren. Liebe ist also nichts anders, als das Verlangen und das Streben nach der Ergänzung unseres Wesens. Denn, wie gesagt, wir waren ehmals ganze Einheiten, aber jene unseelige Revolution unsrer Ahnen hat den Zevs zu der unglücklichen Theilung veranlaßt, und seitdem sind unsre Hälften dislocirt worden, wie die Arkadier durch die Spartaner. Und wenn wir uns nicht hübsch artig gegen die Götter aufführen, so dürften wir leicht noch einmal von Zevs gespalten werden. Dann würden wir aussehen wie die Reliefs auf den Grabsteinen, die nur ein Profil vorstellen, mit halben Nasen so dünn wie Spielmarken [16]. Es sollte also billig jeder Mensch den andern warnen, sich aller aufrührischen Gedanken [217] zu entschlagen und fromm gegen die Götter zu sein, damit wir nicht nur dies Unglück abwenden, sondern auch des Glücks theilhaftig werden, wozu Amor uns leitet und hilft, wenn wir ihm nur nicht entgegenhandeln. Ihm entgegen aber handelt, wer sich die Götter zu Feinden macht; denn, nur wenn wir Freunde der Gottheit sind, haben wir Hoffnung, unsere wahren Liebchen zu finden – ein Glück, das Wenigen zu Theil wird! – Daß mir aber nicht Eryximachus Tadelsucht dies auffasse, und auf Pausanias und Agathon deute! denn sie gehören auch vielleicht zu jenem Geschlecht, und haben ehmals einen Doppelmann mit einander ausgemacht. Ich spreche ganz im Allgemeinen von Männern und Weibern, indem ich behaupte: daß wir nur dann die höchste Stufe unseres Glücks erreichen, wenn uns die wahre Liebe zu Theil wird, wenn jeder seine eigentliche geliebte Hälfte wieder findet, und vereinigt mit ihr in sein ursprüngliches Wesen gleichsam wieder verwandelt wird. Ist dies der höchste Grad des Glücks, den wir erreichen können; so muß unter den gegenwärtigen Umständen das, was diesem am nächsten kömmt, der höchste seyn, nämlich einen Liebling zu finden, der unserem Herzen entspricht. Wie könnte ich aber den Gott der Liebe würdiger preisen, als wenn ich von ihm alles dies Glück ableite, wenn ich erkläre, daß er es ist, der uns gegenwärtig [218] so glücklich macht, indem er uns zu gleichgestimmten Lieblingen leitet, und der uns die noch größere Hoffnung für die Zukunft eröffnet, uns, wenn wir nur den Göttern gehorsam sind, zu dem ursprünglichen Zustand unsers Wesens zurückzuführen, und uns jenen höchsten Grad der Glückseligkeit zu ertheilen! – Dies ist meine Rede über Amor. Sie ist freylich etwas anders ausgefallen als die Deinige, Eryximachus. Aber, ich bitte, verschone mich mit deiner Recension, damit wir auch die übrigen, oder ich muß vielmehr sagen die beiden – denn es ist ja nur Agathon und Sokrates noch übrig – noch hören können.


Eryximachus.

Ich will dirs wol diesmal noch so hingehen lassen, weil mir deine Rede wirklich viel Spaß gemacht hat. Es ist aber überhaupt schon soviel lehrreiches und schönes über diesen Gegenstand gesagt worden, daß mirs in der That bange für Sokrates und Agathon seyn würde, was sie denn noch anfangen werden; wenn ich nicht wüßte, was sie für Meister in Sachen der Liebe sind. Allein nun kann ich ganz ruhig seyn –


Sokrates.

– Freylich, weil du deinen Kampf glücklich bestanden hast! Aber wärst du an der Stelle, wo ich [219] jezt bin, und noch mehr, wo ich vermuthlich seyn werde, wenn erst Agathon gesprochen hat: ich weiß gewiß, das Herz würde dir eben so pochen, wie mir.


Agathon.

Willst du mich beschreyen [17], Sokrates, mit deinem Lobe? du willst wol nur, daß die Vorstellung einer recht großen Erwartung, die das Theater von mir habe, mich aus der Fassung bringen soll?


Sokrates.

Habe ich dich etwa nicht ganz neuerlich gesehen, wie du so ganz unerschrocken und freymüthig mit den Schauspielern die Bühne betratest, wie du im Angesicht einer solchen Menge von Zuschauern, vor welchen eines deiner Stücke gespielt werden sollte, ohne die mindeste Verlegenheit erschienest? glaubst du denn, daß ich das ein paar Tage darauf schon so ganz vergessen habe, daß ich mir einbilden könnte, so eine Handvoll Leute werde dich aus der Fassung bringen?


Agathon.

Warum nicht, Sokrates? So ganz hat mir das Parterre doch den Kopf noch nicht verrükt, daß [220] ich nicht mehr wüßte, daß einem verständigen Künstler eine kleine Zahl von Kennern weit furchtbarer ist, als ein ganzer Haufen von unkundigen Gaffern.


Sokrates.

Es wäre auch sehr unverzeihlich, dir einen solchen Stumpfsinn zuzutrauen. Wenn du freylich Leute antrifst, die du für Kenner halten kannst, so glaube ich dir gerne, daß du mehr Rücksicht auf sie als auf den großen Haufen nehmen wirst. Aber das sind wir ja nicht, wir waren ja auch dort unter dem großen Haufen! Gesezt aber, du träfest solche Kenner an, sag mir doch, würdest du dich wohl vor ihnen schämen, wenn du etwas nicht recht gemacht zu haben glaubtest?


Agathon.

Allerdings.


Sokrates.

Vor dem großen Haufen würdest du dich aber nicht schämen, wenn du auch glaubtest, etwas nicht recht gemacht zu haben?


Phädrus.

O, ich bitte, lieber Agathon, laß dich doch mit Sokrates nicht ein. Er wird sich viel darum bekümmern, was aus unsrer Verabredung wird, wenn [221] er nur jemand hat, mit dem er sprechen kann, zumal einen so schönen Mann. Ich höre zwar immer Sokrates Unterredungen mit Vergnügen, aber mir liegen jezt Amors Lobreden gar zu sehr am Herzen, ich muß also auch euren Beytrag noch eintreiben. Habt ihr beide dem Gott diesen Tribut bezahlt, dann mögt ihr sprechen, soviel ihr wollt.


Agathon.

Es ist auch wahr, Phädrus! ich will mich nicht länger abhalten lassen. Mit Sokrates kann ich ja auch nachher noch lange sprechen.

Um mich aber recht gründlich über meinen Gegenstand zu verbreiten, will ich euch vor allen Dingen meinen Plan vorlegen. Soviel ich urtheilen kann, haben meine Vorgänger sämtlich übersehen, daß sie eigentlich nicht den Gott, sondern nur die Gaben dieses Gottes und das Glück, das wir durch ihn empfangen, gerühmt, und über den Gaben den Geber selbst im eigentlichsten Sinn vergessen haben. Gleichwohl giebt es überall nur Eine Methode, einen Gegenstand, von welcher Art er auch sey, richtig zu behandeln. Man muß über ihn selbst und über seine Eigenschaften erst im reinen seyn, ehe man anfangen kann, von seinen Wirkungen zu sprechen. Meine erste Pflicht wird es also seyn, den Gott der Liebe selbst und seine Eigenschaften zu schildern, und dann erst, [222] seine Gaben zu preisen. Unter allen seeligen Göttern (sie mögen mir verzeihen, wenn ich irre!) ist Amor der seeligste, als der schönste und vollkommenste unter allen. Der schönste, sage ich; denn fürs erste ist er der jüngste unter den Göttern. Dies ist in die Augen springend, wenn man nur sein Betragen ansieht. Mit Schrecken flieht er das Alter, das leider! nur zu schnelle Füße hat und uns immer zu früh übereilt. Es liegt in seiner Natur, es zu hassen, und sich ihm auch nicht einmal von ferne zu nähern. Aber junge Leute sind seine Gesellschaft. Er muß also selbst jung seyn; denn ein altes Sprichwort sagt, daß

– – Gleiches sich immer gern zu Gleichem geselle.

Wenn ich also mit Phädrus auch in allen andern Stücken übereinstimme, so kann ich ihm doch das nicht zugeben, daß Amor älter als Saturn und Japet sey. Er ist vielmehr – ich kann das mit Recht behaupten, – der jüngste unter den Göttern, und immer jung. Die alten Geschichten von den Göttern, welche Hesiod und Parmenides erzählen, wenn sie anders wahr sind, hat gewiß nicht Amor sondern das Fatum geleitet. Unter Amors Regiment würden sie sich einander gewiß nicht bald castrirt, bald in Ketten und Banden geworfen, und sonst auf andre Art gewaltthätig behandelt, sondern eben so ruhig und friedlich zusammen gewohnt haben, wie jezt, seit Amor sie wirklich regiert. Es ist also [223] kein Zweifel, daß Amor sehr jung ist. Ueberdies ist er auch äusserst zart gebildet. Nur ein Dichter, wie Homer, ist im Stande, diese Zartheit zu schildern. So spricht er von der Zartheit der Ate, die er auch für eine Göttin erklärt, oder wenigstens von der Zartheit ihrer Füße, wo er sagt:

Ihre Füße sind zart, denn nie berührt sie den Boden,
Ueber die Köpfe der Menschen weg eilt sie mit leichterem Schritte;

und es scheint mir, der Dichter hätte die Zartheit durch keinen glücklicheren Zug mahlen können, als daß er sie nicht auf hartem Grunde, sondern auf etwas Weichem gehen läßt. Eben dieser Beweis für die Zartheit läßt sich aber auch auf Amor anwenden. Nicht nur die Erde, auch Menschenköpfe sogar, die bekanntlich eben nicht immer sehr weich sind, sind ein zu harter Boden für ihn. In dem allerweichsten und zartesten, was sich nur denken läßt, wandelt und wohnt er, nämlich in den Herzen und Seelen der Menschen und Götter. Und selbst in diesen nicht einmal ohne Ausnahme. Er flieht die Seele, die er in einem rauhen Wohnsitz findet, und bleibt nur, wo sie eine sanftere Hütte bewohnt. Da er nun nicht mit den Füßen bloß, sondern mit seinem ganzen Körper, immer das weichste von allem weichen berührt, so muß er auch nothwendig der zarteste aller Zärtlinge seyn. Sonach wäre also seine Jugend und seine Zartheit [224] erwiesen. Ueberdieß aber muß er äußerst geschmeidig seyn. Wie könnte er sonst, falls er spröde wäre, so allenthalben durchdringen, wie könnte er in alle Seelen einschleichen, und zwar so unvermerkt, daß er da ist, ehe man sichs versieht, und eben so unbemerkt wieder seinen Abschied nimmt? Ein Beweis von Amors regelmäßiger und geschmeidiger Gestalt ist die Schönheit, die nach dem allgemeinen Urtheile vorzüglich ihm eigen ist. Häßlichkeit und Liebe sind auch im ewigen Streite wider einander. Ferner, wie lieblich muß nicht seine Farbe seyn, da er beständig in Blüthen lebt? denn nie bewohnt er einen Körper, oder eine Seele, oder einen andern Gegenstand, der entweder noch nicht zur Blühte gereift, oder schon verblüht ist. Ueberall aber, wo Blumen blühen, und Wohlgerüche duften, mag er gern sitzen, und wohnen bleiben. Ich sage nichts weiter von Amors Schönheit – so reich auch der Stoff noch wäre – um nun von Amors Tugenden zu sprechen. Eine der ersten ist unstreitig seine Gerechtigkeit, daß er keinen Gott und keinen Menschen beleidigt, aber auch eben so wenig von einem derselben Beleidigung erträgt. Gewaltsamen Zwang übt Amor nicht aus, und duldet auch keinen. Das leztere nicht; denn Zwang und Liebe heben sich auf. Aber auch nicht das erstere; denn jeder unterwirft sich ihm freywillig, und die Regenten des Staats, [225] die Gesetze, sprechen: wer das wollte, was ihm geschieht, dem geschieht kein Unrecht. – Ausser der Gerechtigkeit besizt Amor auch die höchste Mäßigkeit. Unter Mäßigkeit versteht man nämlich nichts anders, als Herrschaft über die Begierden und Leidenschaften. Nun wird aber Liebe allgemein für die stärkste Leidenschaft gehalten. Die andern Leidenschaften als die schwächeren, können also von Amor bezwungen werden, und er, der die andern Leidenschaften bezwingen kann, muß folglich in vorzüglichem Sinne mäßig seyn. – In Rücksicht der Tapferkeit aber kann sich Mars selbst nicht mit Amor messen. Mars hat nie eine solche Gewalt über den Amor ausüben können als Amor über ihn. Wir wissen, was die Mythen von ihm und der Venus, erzählen. Nun ist der bekanntlich stärker, der die Gewalt ausübt, als der der sie leidet; wer aber stärker ist als der tapferste, der muß tapfrer als alle seyn. – Von der Gerechtigkeit, Mäßigkeit, und Tapferkeit des Gottes, hoffe ich euch nunmehr überzeugt zu haben. Noch habe ich von seiner Geschicklichkeit nichts gesagt. Dieß ist aber gerade eine Seite, die ich am wenigsten unberührt lassen will. Zuerst also – damit ich meiner Kunst auch eine Ehre anthue, wie Eryximachus der seinigen – Amor ist ein vortreflicher Dichter, so vorzüglich, daß er auch andere sogar dazu umschaffen kann. Wer auch die Musen [226] noch gar nicht kennt, den darf nur Amor ergreifen, um ihn sogleich zum Dichter zu machen. Was brauchen wir mehr, um uns zu überzeugen, daß Amor ein vorzüglicher Künstler [18] sey, besonders in allem, was Werke der schönen Künste betrift; wie könnte er sonst andern geben und andere lehren, was er selbst nicht hat und nicht kennt? Wer kennt aber nicht Amor als den Lehrmeister einer andern Kunst, durch welche alles Lebende sein Daseyn erhält? Und überdieß, wissen wir nicht seinen Einfluß auf alle Meisterwerke der Kunst? Welchem Künstler, den er begeistert, gelingt nicht ein Werk zur Unsterblichkeit? Welcher, den er verlassen, erhob sich über die unterste Stufe? Apollo ist zwar der Erfinder der Bogenkunst, der Medicin und der Mantik; aber hat nicht Liebe und Leidenschaft ihn zu seiner Entdeckung geleitet? Also auch er ist Amors Schüler; wie in der Erfindung der schönen Künste, die Musen; in der Bearbeitung der Metalle, Vulkan; in der Weberey, Minerva; und Jupiter in der Regierung der Götter und Menschen. Daher kamen auch die Götter mit ihren Sachen nicht [227] früher zu Stande, bis Liebe bey ihnen sich einfand, (versteht sich Liebe zum Schönen, denn mit dem Häßlichen hat Amor gar nichts zu schaffen). Vorher aber, wie ich schon im Anfang gesagt habe, giengen viele Gewaltthätigkeiten unter den Göttern vor. So erzählen es wenigstens die Mythen. Allein dies war wegen der Herrschaft des Fatums. Seitdem aber dieser Gott geboren ist, kam aus der Liebe zum Schönen [19] alles Glück für Götter und Menschen. – Aus diesen Gründen, mein Phädrus, halte ich Amor für den schönsten und vollkommensten, und für den Urheber des Schönen und Vollkommenen bey allen anderen Wesen. Und – damit ich doch auch etwas in Versen sage, wie michs eben ankommt – er ist es, der

Friede den Menschen, und Stille des Meers und Schweigen der Winde
Schafft, und die Ruhe der Nacht und Kummer lindernden Schlaf giebt.

Er ist es, der unsre Seelen von Ungeselligkeit reinigt, und uns mit Wohlwollen erfüllt, der Stifter aller jener öffentlichen Zusammenkünfte, bey denen wir uns näher kommen, der Anführer bey Festen, beym Reigen, beym Opfer. Er ist es der das [228] Herz dem sanften Gefühl öffnet, und alle Roheit verbannt; der Urheber aller Gutherzigkeit, und aller Hartherzigkeit feind; gnädig den Guten; geachtet von Weisen, von den Göttern bewundert; vermißt, wo er nicht ist, und theuer denen, die seine Gegenwart fühlen; der Urquell des feinern Genusses, der Annehmlichkeit, der süsseren Freuden, des höhern Vergnügens, des Schmachtens, der Sehnsucht; für die Guten interessirt, gleichgültig gegen die Bösen; in Furcht und in Sehnsucht, in Mühseligkeit und in Noth,[20] der beste Rathgeber, Führer, Beystand und Retter; die Zierde aller Götter und Menschen; der schönste und beste Befehlshaber, den alles mit hohem Jubel begleiten muß, einstimmend in den schönen Gesang, womit er jedes Herz der Götter und Menschen bezaubert. – Ich weihe dem Gott diese Rede, die Ernst und spielenden Scherz, so gut ich beydes vermochte, vereinigt.


  1. Das Spaßhafte liegt eben darin, daß er seine Anrede mit dieser Formel macht, die nur vor Gericht und in öffentlichen Versammlungen gebraucht wurde. Vergl. Ch. Gfr. Schütz, Lectionum Platonicarum Partic. 1.
  2. Das Sprichwort hieß eigentlich:
    Bey dem Niedrigen bittet der Edle sich selber zu Gaste.
  3. Eigentlich lagen die Gäste auf einer Art von Kanapee, meistentheils drey und drey zusammen.
  4. Jeder Tischgenosse goß etwas Wein aus seinem Becher für die Gottheit aus. – Es erräht sich übrigens von selbst, für welche Klasse von Lesern Bemerkungen dieser Art beygefügt sind.
  5. Solche Parodieen eines bekannten Verses lieben die Griechen sehr.
  6. Dem Text gemäß müßte es hier heissen „als die Alceste“. Allein die Alceste war ja auch, nicht die Liebende (δια τον ερωτα, wie es oben heißt, giebt wenigstens keinen Grund dies zu behaupten) sondern die Geliebte, und insofern dem Achill ganz gleich. Warum sollten also die Götter, wenn dies der Grund einer größern Belohnungswürdigkeit war, dem Achill mehr Ehre erwiesen haben, als der Alceste? Offenbar ist also hier von dem Abschreiber entweder eine Verwechselung der Namen geschehen, oder [188] (vergl. Schütz Lect. Plat. P. I) [της Αλκηστιδος], das ein Glossator an seinen Rand geschrieben hatte, unverdienter weise in den Text aufgenommen worden. Ich glaubte mich, der ersteren Conjektur zu folgen, vorzüglich dadurch berechtiget, weil alsdenn dieser Schluß ganz natürlich mit der Wendung übereinstimmt, mit welcher Phädrus oben den Uebergang von Orpheus auf den Achill gemacht hat: „Ganz anders ehrten sie den Achill,“ und die Rede also (wie wir es in diesen Gesprächen öfters finden) eben so schließt, wie sie angefangen hat.
  7. Die Konjektur ανοητατως anstatt ανοητατων zu lesen, (vergl. Schütz. Lect. Plat. P. I.) scheint mir einen sehr leichten natürlichen und dem Ganzen mehr angemessenen Sinn zu geben, als die gewöhnliche Lesart.
  8. Der Zusaz: „das ist ungefähr um die Zeit, wenn der Bart hervorbricht;“ der hier im Original steht, gehört gewiß (vergl. Schütz Lect. Plat. P. I.) einem Glossator, dem wir seine scharfsinnige Bemerkung gern allein überlassen wollen.
  9. „Deswegen erlaubt das Gesez auch, dem leztern zu folgen und befiehlt, die erstern zu fliehen, nachdem man durch eine ernstliche und bedachtsame Prüfung sich überzeugt hat, zu welcher Klasse der Liebende und der Geliebte gehör!“ – Eine bloße Wiederholung des vorhergehenden, die weder eine Berichtigung noch eine Erweiterung, und noch überdies eine Ungereimtheit enthält, indem sie von Prüfen des Geliebten spricht, der doch selbst der Prüfende ist, dem hier eine Vorschrift, nicht zu seiner eignen Prüfung, sondern zur Prüfung seines Liebhabers gegeben wird. Offenbar gehört also dieser Zusaz (vergl. Schütz Lect. Plat. P. I.) einem Glossator, und wird mit Grund aus dem Texte verwiesen.
  10. Unerachtet im Teutschen das Wort Liebe nicht so allgemein gebraucht wird, daß es den Gattungsbegriff [201] von allem was sich wechselseitig anzieht bezeichnete: so habe ich doch lieber einen ungewöhnlichen Ausdruck gebrauchen als durch Verwechselung mit dem eigentlichen die Anspielung auf die Hauptidee verlöschen wollen.
  11. Der Zusaz: „hier giebt es auch nicht zweyerley Liebe,“ der hier im Original steht, ist ohne Zweifel ([S. Schütz. Lect. Plat. P. 1.]) wieder [204] ein Glossem, wodurch sich vielleicht der Glossator selbst erklären wollte, warum es leicht sey, in den Verhältnissen der Harmonie und der des Rhythmus, das sich liebende zu finden. Denn daß Eryximachus jenen Gedanken – der freylich nach seiner eignen Ankündigung der herrschende in seiner Rede ist – so gezwungen hieher gezogen haben sollte, ist um so unwahrscheinlicher, da dieser Theil der Allegorie gleich nachher besonders aufgeführt wird.
  12. Ich nehme ανομοια in dem Sinne, den ihm Eryximachus oben (XII, 3) durch den Gegensaz selbst gegeben hat, wo es ganz offenbar ist, daß er nicht Unähnlichkeiten überhaupt sondern ανομοιον τῳ ὑγιει versteht, weil sonst das το ανομοιον ανομοιῳ επιθυμει das gerade Gegentheil von dem ausdrücken würde, was er damit sagen will.
  13. „Deren Kenntniß aus dem Lauf der Gestirne und den verschiedenen Jahreszeiten Astronomie heißt.“ Eine solche Definition von Astronomie hat Plato schwerlich dem Eryximachus in den Mund gelegt. Wenn man sich also auch zum Beweis für die Avthentie dieses Zusatzes darauf berufen wollte, daß Eryximachus seine Reflexion gerne mit einer Definition schließt: so würde man doch mit Grunde behaupten können, daß der Text hier verdorben sey. Ich bin also den einleuchtenden Gründen (S. Schütz Lect. Plat. P. I.), welche diese Definition, als eine Glosse, aus dem Text verweisen, um so lieber gefolgt.
  14. Mantik ist eine Art von Theosophie, die Kunst sich mit der Gottheit unmittelbar in Rapport zu setzen. Ich glaube also um so zuverläßiger, den Zusatz: „das, was Menschen mit Göttern in Verbindung bringt,“ für eine Glosse halten zu müssen, wofür sie (in den angef. Lect. Plat.) erklärt worden ist. Es wäre höchst ungereimt, wenn Plato den Eryximachus eine Definition von Mantik geben liesse, die alle Anwesende wenigstens eben so gut wußten.
  15. Ein Geschlecht von Fischen (Pleuronectes im System), und zwar die einzigen Thiere in der Natur, die ihre beiden Augen, ihre beiden Nasenlöcher etc. auf einer Seite des Kopfes haben, [214] so daß man sie beynah für halbirt oder durchschnitten ansehen könnte. S. Wolfs Ausg. des Symp. an dieser Stelle.
  16. Ich substituire diesen Ausdruck für das griechische λισπαι, was mehrere Glossatoren mit Suidas für eine Art von Würfeln, die in der Mitte durchschnitten waren, erklären.
  17. Es war damals, wie noch jetzt, Volksmeinung, daß man einen durch übertriebenes Lob behexen könne.
  18. Agathon spielt hier mit dem Worte Poet, das in seiner Sprache, zugleich Dichter und Schöpfer oder überhaupt einen der etwas macht, bedeutet. Diese Spielerey muß freylich in der Uebersezung zum Theil verloren gehen, weil wir kein Wort haben, das eben diesen Doppelsinn ausdrükt.
  19. Ich möchte hier lieber das Komma nach εφυ sezen, und das εκ του εραν zum folgenden ziehen.
  20. Daß ich hier der glücklichen Verbesserung (S. Schütz, Lect. Plat. P. I.) μογω anstatt λογω zu lesen, gefolgt bin bedarf wohl weiter keiner Rechtfertigung.

Anmerkungen von Wikisource-Bearbeitern

  1. Vorlage: Ergieng