Das Gift des Speichels
[20] Das Gift des Speichels. In der Auffassung vieler Naturvölker
hat das Gift der Schlangen bekanntlich die ganze Thierclasse, in welcher
es doch auch harmlose und mit ehrlichen Waffen kämpfende Glieder
giebt, in Verruf gebracht und sie so gewissermaßen zur Personification
der bösen Princips gemacht. Bis auf unsere Tage war er seither ein
geheimnisvoller Saft geblieben, dessen Mysterium die Wissenschaft nicht
zu entschleiern vermochte. Durch die Bemühungen einiger französischen
Aerzte und Naturforscher ist jedoch bezüglich dieses Giftes in den letzten
Monaten einige und zum Theil sehr überraschende Aufklärung erzielt
worden. Das Gift der Schlangen ist bekanntlich die Absonderung mehrerer
Drüsen der Oberkiefers dieser Thiere, und jene Drüsen entsprechen
nach Lage und Bau den Speicheldrüsen. Neuere Untersuchungen von
Pasteur, A. Gautier und Anderen haben nun ergeben, das keineswegs
nur der Speichel der Schlangen, wenn er in eine Wunde geräth, giftig
wirkt, sondern das der Speichel der meisten anderen Thiere, z. B. des
Hundes, des Kaninchens, ja sogar der des Menschen ganz ähnlich wirkt.
Ein aus dem menschlichen Speichel bereiteter wässeriger Extract
tödtete einen kleinen Vogel, wenn er in den Blutumlauf gebracht wurde,
beinahe ebenso schnell, wie Schlangengift. Die von aller Welt in die
Acht erklärten Giftschlangen bilden also in dieser Beziehung nur insofern
eine Ausnahme, als sie vor den Mündungen der betreffenden Drüsen mit
offenen oder geschlossenen Rinnen versehene Zähne besitzen, durch welche
eine ungewöhnlich große Quantität der Speichelgiftes in die Wunde befördert
werden kann. Und wie das Gift einer und derselben Schlangenart
unter verschiedenen Himmelsstrichen verschieden stark wirkt, so wird der
menschliche Speichel ebenfalls den Umständen nach von sehr verschiedener
Giftigkeit befunden, und zwar am stärksten der Morgens bei nüchternen
Personen, wo er noch nicht durch Ausgaben verdünnt worden ist.
Was nun die eigentliche Ursache der Giftigkeit dieser sonst die Verdauung befördernden Absonderung betrifft, so besteht sie nach A. Gautier wahrscheinlich nicht, wie man wohl früher glaubte, in einer Art von organisirtem Ferment, welches das Blut in Gährung versetzt, sondern vielmehr in einem starkgiftigen Alkaloide, denn man kann z. B. das Gift, welcher man einer Brillenschlange entlockt hat, indem man sie wiederholt in einen Bausch Baumwolle beißen ließ, mit Wasser verdünnen, bis zum Sieden erhitzen, filtriren, mit Alkohol behandeln, vollständig eintrocknen lassen etc., ohne das er seine Wirksamkeit einbüßt, während man durch ähnliche Behandlung jede Art Hefe lösen und unwirksam machen würde.
Wenn aber der Speichel anderer Thiere dem Schlangengifte ähnlich wirkt, so steht andererseits das Schlangengift nach den Untersuchungen von De Lacerda dem gewöhnlichen thierischen Speichel und besonders dem Safte der sogenannten Bauchspeicheldrüse in seinen verdauenden Eigenschaft nahe; es löst unlösliche Nährstoffe und verwandelt Fettstoffe in Emulsion. Als wichtigster Ergebnis der Untersuchungen des letztgenannten Naturforschers dürfte die Entdeckung eines Gegengiftes von der wunderbarsten Wirkung zu bezeichnen sein. zwei bis drei Centimeter einer filtrirten einprocentigen Auflösung von übermangansaurem Kali in Wasser mittelst einer Pravaz'schen Spritze in die Bisswunde eingeführt, verhinderten in der Mehrzahl der Fälle nicht nur jede Entzündung der Wunde, sondern retteten selbst solche Thiere, bei denen das Gift bereits unter den bedenklichsten Symptomen in den Blutumlauf eingetreten war
Die Versuche wurden in Gegenwart der Kaisers von Brasilien mit einer sehr giftigen Schlangenart (Bothrops), angestellt, der gegenüber sich alle sonst empfohlenen Gegengifte (Eisenchlorid, Borax, Tannin etc.), völlig unwirksam erwiesen. Fast alle Thiere, bei denen dar Gegengift nicht in Anwendung gebracht wurde, gingen zu Grunde, dagegen starben von dreißig Stück denen es eingespritzt wurde, nur zwei schwächliche Versuchsthiere.