Das Inquisitionsverfahren gegen Dr. Sydow

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Titel: Das Inquisitionsverfahren gegen Dr. Sydow
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aus: Die Gartenlaube, Heft 5, S. 83–87
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Das Inquisitionsverfahren gegen den Dr. Sydow.


Seit dem Vorgange jener gegen Twesten eingeleiteten Untersuchung hat keine Procedur der preußischen Behörden ein so allgemeines Erstaunen hervorgerufen, wie das am 2. December vor. J. vom Berliner Consistorium gefällte Erkenntniß, durch welches der Berliner Prediger Dr. Sydow seines geistlichen Amtes wegen grober Irrlehre entsetzt worden ist. Wer da wußte, was die im Geiste strenger Rechtgläubigkeit besetzten und geleiteten Consistorien auch jetzt noch in Preußen bedeuten, konnte von dem Ausgang der Untersuchung nicht gerade überrascht sein, zumal das Berliner Consistorium von Zeit zu Zeit ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, das sich wie die Stimme des alten Moor aus tiefem und dunklem Kellergeschoß anhörte. Es hat über den Stillstand der Erde und den Rundgang der Sonne, welche ein Berliner Pastor, Herr Knak, freudig bekennt, seine Belehrung und Beschwichtigung veröffentlicht. Es hat ohne irgend welche Mißbilligung es geschehen lassen, daß auf einer Berliner Synode die Fanatiker der Orthodoxie die Entfernung ihrer zum Protestantenverein gehörenden Amtsgenossen fordern durften. Es hatte vor kurzem Dr. Lisco wegen eines über das apostolische Glaubensbekenntniß gehaltenen Vortrages zur Rechenschaft gezogen und abgekanzelt. Es hatte etwas längere Zeit vorher exorcistische Formeln zum Gebrauch auf der Kanzel verordnet gegen Christen, welche zum Judenthum übergetreten waren, und dabei eine Ansicht vom Judenthum kund gegeben, welche zu den Zeiten des Papstes Sylvester die herrschende war. Warum sollte diese selbige Behörde, welche die Monotonie der Berliner Börsen- und Gründergeschichten so oft durch gelegentliche Ueberraschungen unterbrochen hatte, nicht auch zu einer Absetzung angesehener Geistlichen schreiten?

Auch der Papst muß seine Allocutionen nach und nach stärker würzen, wenn sie Aufmerksamkeit erregen sollen. Wenn nichtsdestoweniger, und obwohl man dem brandenburgischen Consistorium neben geringer Erkenntniß der Zeit alle möglichen Erkenntnisse, also auch Ketzergerichte zutrauen konnte, der durch Sydow’s Absetzung hervorgebrachte Eindruck ein so allgemein überraschender war, so erklärt sich diese Erscheinung durch die heutigen Zeitverhältnisse, durch das ungewöhnliche Ansehen des verurtheilten Geistlichen und durch die Erwartung, daß das Berliner Inquisitionstribunal wahrscheinlich durch sein Vorgehen einen Anstoß zu weitgreifenden Veränderungen in der evangelischen Landeskirche Preußens darbieten könnte.

Besinnen wir uns einen Augenblick auf die Zeitverhältnisse. Preußen tritt an die Spitze des deutschen Reichs. Berlin beansprucht seinen Rang als Weltstadt. Der Minister Mühler ist aus der Weltstadt abgezogen und schreibt mit Hülfe seiner Lebensgefährtin einige Grundlinien alttestamentarisch-brandenburgischer Rechtsphilosophie auf Grund von Offenbarungen, die erst in Potsdam zur völligen Unklarheit herangewachsen sind. Gegen den unfehlbar gewordenen Papst in Rom beginnt der Reichskanzler und der Reichstag, gegen seine schwachen Söldlingstruppen der Minister Falk einen Feldzug, dessen Schlachten gewiß nicht mit der Schnelligkeit von Wörth und Sedan gewonnen werden. Deutschland schickt sich an, die weltgeschichtliche Aufgabe zu lösen, welche den Hohenstaufen den Untergang brachte und Deutschland zerriß, welche Luther’s Kräfte überstieg und seit der französischen Revolution die besten Geister lahm legte. In dieser Epoche, in welcher, wie durch einen wunderbaren Lichtglanz erleuchtet, Deutschland die Nothwendigkeit begreift, die Fundamente der mittelalterlichen Hierarchie zu zertrümmern, damit ein auf Wahrheitssinn, Frömmigkeit, Wissenschaft und Volksthümlichkeit gegründetes Staatswesen aufwachsen kann, erklärt eine protestantische Kirchenbehörde in Berlin unter den Augen des Kaisers die Unfehlbarkeit von Bekenntnissen, welche theils vor dreihundert, theils vor fünfzehnhundert Jahren entstanden sind, indem sie sich selbst die Befugniß beilegt, in einer die protestantischen Gewissen bindenden, die gesammte historische Wissenschaft schlechthin verleugnenden Auslegung zu beschließen, was und wieviel von den Geistlichen bei Vermeidung des Amtsverlustes geglaubt werden soll. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts führt dieses Collegium eine an Papiergeschwulst leidende Disciplinaruntersuchung, die man einen theologischen Competenzconflict zwischen dem Zimmermann Joseph von Nazareth, einem überirdischen Wesen und der Jungfrau Maria nennen könnte. Das Consistorium examinirt einen Geistlichen, ob seiner Auffassung nach Joseph an der Entstehung Christi betheiligt, mitbetheiligt oder nicht betheiligt sei. Wenn Heine noch unter den Lebenden wäre, würde er in seinem Romanzero hinter dem Pater José noch ein Kampfgedicht zur Verherrlichung dieser Disputation eingeschaltet haben.

Wer den Hergang dieses Verfahrens genauer kennen zu lernen wünscht, möge die eben jetzt von Sydow selbst herausgegebenen „Actenstücke betreffend das vom königlichen Consistorium der Provinz Brandenburg über mich verhängte Disciplinarverfahren wegen meines Vortrags ‚über die wunderbare Geburt Jesu‘“ (Berlin 1873) nachlesen. Für die Gartenlaube eignet sich weder eine Recension noch eine Kritik, noch ein Auszug dieser Urkunden. Unsere Aufgabe, verschieden von derjenigen der politischen Presse, und derjenigen einer theologischen oder juristischen Zeitschrift, kann nur darin bestehen, in seinen allgemeinen Grundzügen ein Ereigniß zu schildern, welches keineswegs eine geringere Bedeutung hat, als etwa die Wiederholung eines Hexenprocesses haben würde. Denn dies darf allerdings behauptet werden: dem Bewußtsein der denkenden und gebildeten Protestanten bedeutet die Absetzung Sydow’s nicht viel weniger, als die Verbrennung einer Hexe.

Freilich giebt es auf der anderen Seite Pastoren genug, die, in dem Zeitalter der dogmatischen Pfahlbauten lebend, fest davon durchdrungen sind, daß solche Männer, wie Sydow und Lisco, völlig unberechtigt sind, die Kanzel zu besteigen. Wie der Katholicismus, ebenso hat auch der Protestantismus seine „jüngere Generation“. Diese „Jungen“ zwitschern aber ganz anders, als die Alten sungen. Wie bei den Katholiken Wessenberg sich verhält zu dem Bischof Ketteler oder Martin, so verhält sich bei den preußischen Protestanten Schleiermacher zu Hengstenberg und Stahl. Der theologische Unterricht an den preußischen Universitäten hat deshalb geleistet, was die Knabenseminare katholischer Bischöfe zu Wege gebracht haben. Auf allen Synoden, in den Pastoralconferenzen, in den Consistorien sind es die „Jungen“, welche auf Vernunft und Wissenschaft wie auf überwundene Standpunkte hinabblicken und bemüht sind, die Verbindung zwischen Religion und Leben zu zersetzen, indem sie mit den Reagentien einer stets bereiten Verfolgungssucht ein dogmatisches Präparat herstellen, welches sie die „reine lutheranische Lehre“ nennen.

Unter diesen Geisteszwergen ragt, einem anderen Zeitalter angehörend, Sydow’s hohe Priestergestalt mächtig empor. Wer dem Greise zufällig in den Straßen begegnet und die Gesichtszüge der Straßenwanderer mit Aufmerksamkeit und Theilnahme beobachtet, bleibt sicherlich einen Augenblick stehen, um sich noch einmal umzuschauen nach dem Bilde, das ihm in Sydow entgegentrat. Ebensowenig vergessen ihn diejenigen, die seine klangvoll tiefe Stimme reden hörten. Wofür er zu halten ist, wird der nicht errathen, der ihm zum ersten Mal begegnet. Es fehlt ihm ganz und gar, was wir das „Pastorenwesen“ nennen möchten, der moderne Stempel des consistorialen Typus, jene Selbstgerechtigkeit, welche in Blick und Geberde, in Tracht und Rede theologischen Sauerstoff ausathmet.

Sydow ist am 23. November 1800 in Charlottenburg geboren. Nach beendigten Universitätsstudien am 1. März 1822 als Repetent beim Berliner Cadettenhaus angestellt, bestand er [84] 1827 vor dem Consistorium der Provinz Brandenburg das erste theologische Examen mit dem Prädicat „vorzüglich gut“, in Rücksicht worauf er von der zweiten theologischen Prüfung entbunden ward. Ein Jahr später erhielt er die Stelle als Prediger am Cadettenhause. Schleiermacher und Neander waren ihm Lehrer, Vorbilder und Freunde. Nach weiteren acht Jahren ward er 1836 als Hof- und Garnisonprediger nach Potsdam versetzt. Endlich trat er 1846 in diejenige Stellung, aus welcher ihn soeben das Consistorium vertreibt. Vom Berliner Magistrat berufen, erhielt er die Parochie der „Neuen Kirche“. Schon vorher war er durch das Vertrauen Friedrich Wilhelm’s des Vierten ausgezeichnet und als Mitglied einer Sachverständigen-Commission nach Schottland entsendet worden, um über den dortigen religiösen Zustand und die Bemühungen der anglikanischen Kirche um Erbauung von Kirchen und Errichtung geistlicher Stellen Kenntniß zu nehmen.

Dr. Sydow.

Ob er damals den Erwartungen des Königs entsprach? Kaum! Denn er faßte seine Erfahrungen in dem Satze zusammen, daß mit dem Kirchenbau zu warten wäre und es zunächst darauf ankomme, eine angemessene Kirchenverfassung herzustellen. Wirklich erhielt Sydow bald darauf Gelegenheit, seine Grundsätze in kirchenpolitischer Beziehung zu bethätigen. Er ward 1844 zur brandenburgischen Provinzialsynode abgeordnet und nahm an den wichtigen, leider erfolglosen Verhandlungen der Generalsynode von 1846 Theil. Hier gehörte er einer Commission an, welche die Aufgabe hatte, über die Verpflichtung der Geistlichen auf die Bekenntnißschriften zu berichten. Damals war die Ueberzeugung allgemein verbreitet, daß die Verpflichtung auf die Bekenntnisse im freien Sinne aufzufassen und auszudrücken sei, auch ging Sydow in der Geltendmachung dieses Grundsatzes etwas weiter als seine Gesinnungsgenossen.

Den Wendepunkt in Sydow’s äußerem Leben bezeichnet das Jahr 1848. In die preußische Verfassung ward der Grundsatz der Selbständigkeit und Freiheit der Kirche eingetragen. Aber in der Nähe des Hofes und in der unmittelbaren Umgebung des Königs nistete sich eine verderbliche Rechtgläubigkeit ein, welche lehrte, daß die Kirche den Staat aus seiner Erniedrigung erretten müsse, daß die königliche Gewalt nicht aus Gewohnheit, Geschichte, Vernunft und Verfassung, sondern aus dem mystischen Dunkel himmlischer Berufung „von Gottes Gnaden“ allein abstamme und deswegen an menschliche Satzungen nicht gebunden werden könne, daß die lebenden Geschlechter vor allem Buße zu thun hätten für den politischen Sündenfall im Jahre der Schande 1848. Friedrich Wilhelm der Vierte ward durch seine Hofgeistlichkeit dem Verständnisse seiner Zeit mehr und mehr entfremdet. Ueberall entstand jenes Einverständniß zwischen den Höfen und der Geistlichkeit, welches man ein Bündniß zwischen Altar und militärischem Standrecht nennen könnte. Die Staatsregierungen verfielen in Frömmelei; die Kirche ward von politischen Machtgelüsten erfaßt.

Der ehemalige Prediger der Cadetten und der Officiere, der Gewissensberather des Königs, stand am 22. März 1848 am Grabe Derer, die auf den Barricaden in Berlin gefallen, auf den Straßen verunglückt oder wehrlos niedergemacht worden waren. Vor jenen Särgen, die Friedrich Wilhelm der Vierte entblößten Hauptes voraustragen sah, die damals die Geistlichen aller Confessionen in brüderlicher Eintracht umstanden, hielt Sydow eine die Gemüther tief ergreifende Leichenrede. Er mußte aussprechen, daß der Vorhang vor dem Tempel des preußischen Absolutismus zerrissen war. In dem Urtheile des Consistoriums, welches aller Wahrscheinlichkeit nach auch von dem obersten Kirchenherrn, dem König, gelesen werden wird, sind in leicht erkennbarer Absicht auch diese Erinnerungen aus Sydow’s Leben berichtet worden: „In dem Inhalte und in der Fassung wohlüberlegter Rede konnte er aussprechen, daß sie, welche im Straßenkampfe gegen die Obrigkeit und den Landesherrn den Tod gefunden hatten, gefallen sind für die Zukunft eines in Gottesfurcht, Verstand und Sitte zur Freiheit gereiften Volkes, daß sie mit ihrem Blute uns, den Ueberlebenden, die erhabensten Güter versiegelt haben, für die das Leben des Menschen kein zu hoher Preis ist.“

Sydow stand damals auf der Höhe der Beliebtheit. Aus einem Hofprediger war er ein Volksredner geworden. Aber wie er die Gunst eines Königs dahingab, um die Todten des Volkes zu ehren, so war er auch innerlich völlig entfernt davon, um die Gunst der Menge zu buhlen. Zwar ward er in die Nationalversammlung gewählt, um die preußische Verfassung mit der Krone zu vereinbaren. Seine politische Wirksamkeit war indessen weder von längerer Dauer noch von größerer Bedeutung. Er schied bald vom politischen Kampfplatze; denn er erkannte bald, daß seine milde, stets zur Versöhnung geneigte Natur keinen Platz fand in der Kluft, die sich damals aufthat zwischen einem auf die Revolution ständig zählenden Radicalismus und einer der Finsterniß zugewandten Reaction. Sydow war frei von jener Eitelkeit, eine politische Rolle spielen zu wollen, und hat sich sicherlich manche Enttäuschung erspart, als er sich in der Erkenntnis seiner selbst auf andere Thätigkeitsgebiete zurückzog.

Was Sydow seit 1850 gewirkt hat, ist nicht leicht zusammenzufassen. In der Kürze dies: Er fehlte bei keiner Gelegenheit, wenn es galt, die der evangelischen Kirche vom König verheißenen und in die Verfassung eingetragenen Selbstständigkeitsrechte zu fordern, den Feinden der evangelischen Religion entgegenzutreten und die Regierung von dem Wege abzumahnen, den sie 1850 mit der Einsetzung des Oberkirchenrathes beschritten hatte. Wie viele ehemals freisinnige Geistliche verstummten oder fielen ab, als 1850 der Sieg der kirchlichen und politischen Reaction in Berlin entschieden war! Es kam die Zeit, in der man Schleiermacher verhöhnte und die menschliche Vernunft als sogenannten „Aufkläricht“ verspottete. In solcher Zeit auf einem anscheinend hoffnungslosen Posten ausharren, ist die That des Leidens. In Verbindung mit Jonas, Krause, Eltester und einigen anderen wackeren Männern hielt Sydow die Fahne der Gewissensfreiheit hoch empor. Freudig theilte er den Aufschwung, den das Regentschaftsprogramm 1858 hervorrief, bis dann nochmals jene fast unbegreifliche kirchliche Umwendung eintrat, die sich an den

[85] 

Burg Eltz.
Nach der Natur aufgenommen von R. Cronau.

[86] Namen des Herrn von Mühler knüpft. Selbst das Consistorium erkennt an, daß Sydow sich mit besonderer Hingebung und Treue dem Gustav-Adolphs-Vereine gewidmet habe.

Dieselben Männer, die Sydow absetzten, sagen in ihren Urtheilsgründen: „Dr. Sydow beruft sich auf die vielen ehrenden Zeugnisse der Liebe, der Zustimmung und des Vertrauens, welche ihm auch nach der Veröffentlichung seines Vortrags zugegangen sind. Es soll dies nicht bezweifelt, vielmehr anerkannt werden, daß er durch sein freundliches, heiter-gemüthliches und wohlwollendes Wesen, seine vielseitige humanistische und auf das Sittliche gerichtete Bildung, bei einer reichen natürlichen Begabung, welche er nur nicht zu theologischen Studien genügend verwendet hat (obwohl die Facultät von Jena ihm die theologische Doctorwürde verlieh!), und ebenso durch seinen rechtschaffenen, anständigen und mit würdiger Repräsentation geführten Wandel sich in ausgedehnten Lebenskreisen große persönliche Achtung und herzliche und dankbare Zuneigung erworben hat. Diese guten und liebenswerthen Eigenschaften müssen für ihn die menschliche Theilnahme kräftig erregen; sie reichen aber nicht aus und bestimmen nicht die Befähigung und Würdigkeit zum geistlichen Amte in der evangelischen Kirche.“

Weswegen ist nun Sydow abgesetzt worden? Weil er, außerhalb seiner Gemeinde, am 12. Januar 1872 im Saale des Berliner Rathhauses im Berliner Protestantenvereine, zu dessen Vorstandsmitgliedern er gehört, einen Vortrag über die wunderbare Geburt Christi gehalten und darin gegen die nach der Meinung des Consistoriums fundamentale Wahrheit verstoßen hat, welche in den Worten des Glaubensbekenntnisses ausgedrückt ist: „Empfangen vom heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria.“ Sydow suchte in diesem Vortrage aus der Schrift selbst nachzuweisen, daß die jüdische Vorstellung der Gottessohnschaft oder Messianität eine völlig andere gewesen sei als die später aufgekommene christliche Lehre, die Jesus eine Person in der Trinität sein läßt, und daß im Neuen Testamente selbst an den entscheidenden Stellen Jesus als Joseph’s Sohn bezeichnet werde, also auch in natürlicher Ordnung der Dinge entstanden sei, wobei seine einzigartige Begabung allerdings feststehe. Sydow bezeichnet sich selbst als Monarchianer, d. h. als einen Theologen, der an strenger Einheit Gottes festhält und die erst spät abgeschlossene, Jahrhunderte hindurch streitig gewesene Lehre von der Dreieinigkeit verwirft.

Die Aufregung, welche dieser Vortrag hervorrief, war sehr bedeutend. Alle freisinnigen Protestanten in Berlin waren freudig bewegt durch die entschiedene Offenheit, welche in Sydow’s Erklärungen lag; die strenggläubigen zeterten in der „Kreuzzeitung“ und in den theologischen Fachzeitschriften; sie waren der Zuversicht, daß ihnen ein Schlachtopfer dargebracht werden müsse.

Am 14. März 1872 erfolgte Sydow’s Vernehmung vor dem Consistorium, wobei theils der Vorsitzende, theils der Generalsuperintendent Dr. Brückner als Inquirenten thätig waren. Die Fragen, auf welche sich der Angeschuldigte zu erklären hatte, waren diese: 1) Erkennen Sie eine Einwirkung des heiligen Geistes blos auf die menschliche, persönliche, insbesondere die sittliche Entwickelung Jesu oder auch eine solche auf seine menschliche Entstehung an? 2) In welchem Sinne bekennen Sie Christum als den Sohn des lebendigen Gottes? 3) In wie weit gestehen Sie die normative Auctorität der heiligen Schrift des Neuen Testamentes zu? 4) Wie verhalten Sie sich solchen von Ihnen bestrittenen Punkten des Glaubensbekenntnisses gegenüber in Predigt und Confirmandenunterricht?

Sydow hält in seinen Antworten an dem hohen Bilde der Persönlichkeit Jesu fest, beharrt aber in seinen Ausführungen bei seiner Ueberzeugung von der menschlichen Entstehung Christi als des Sohnes Joseph’s und der Maria. Auf den Einwurf, daß er doch das apostolische Glaubensbekenntniß in seinem Amte bekennen müsse, erwidert Sydow: „Bekennen? Ich muß es lesen“ und führt dabei weiter aus, daß der einzelne Geistliche sich derartigen Vorschriften nicht widersetzen könne. Noch weiter auf die geistvollen Auseinandersetzungen Sydow’s hier einzugehen, fehlt uns der Raum. Wir verweisen deshalb nochmals auf das Vernehmungsprotocoll, in welchem Sydow’s Antworten niedergelegt sind. Es macht den Eindruck, als ob Sydow dem Consistorium Confirmandenunterricht ertheilte. Klar, bestimmt, schneidend vorwurfsvoll sind seine Antworten. Gegen den Vorwurf, das Ordinationsgelübde gebrochen zu haben, sagt er würdevoll:

„Als ich mich durch das Ordinationsgelübde verpflichtet habe, bei meinem Amtsantritte, bestanden andere Auffassungen. Daß jeweilig Sie einen andern Standpunkt einnehmen, kann aber in der Sache nichts ändern. Auch ich hätte mich den Veränderungen anbequemen können, wenn mich Orden und äußere Vortheile gelockt hätten. Aber Ueberzeugung und Treue haben mir eine Aenderung meines Standpunktes unmöglich gemacht. Ich habe die Ueberzeugung, daß die evangelische Kirche seit einem Menschenalter mißregiert wird.“

Das Urtheil des Consistoriums spricht die Absetzung deßwegen aus, weil Sydow durch öffentliche Angriffe gegen die Grundlagen der christlichen Lehre, wie sie in der heiligen Schrift geoffenbart und in den allgemeinen christlichen Glaubensbekenntnissen, sowie in der Augsburgischen Confession der evangelischen Kirche bezeugt ist, seine Amtspflichten als evangelischer Geistlicher wesentlich und schwer verletzt hat.

Es ist berechtigt, zu fragen, wer die Richter Sydow’s gewesen sind. Nach glaubhaften widerspruchslos gebliebenen Mittheilungen der öffentlichen Blätter haben vier Mitglieder des Consistoriums für Freisprechung gestimmt; es waren dies die beiden wissenschaftlich hervorragenden und die beiden juristisch gebildeten Mitglieder: Probst Dr. Brückner, Professor Dr. Semisch, Graf von Unruh, Consistorialrath Schmidt. Mit einer Stimme Mehrheit verurtheilten fünf Beisitzer den Angeklagten, nachdem ein Versuch, ihn zur Emeritirung zu bewegen, an Sydow’s Festigkeit gescheitert war.

Diese fünf Mitglieder verdienen der völligen Unbekanntschaft entrissen zu werden, der sie sich bisher erfreut haben. Der Präsident des Consistoriums ist der Träger eines der berühmtesten Namen, der Sohn Hegel’s. Er ist so fest im Glauben, daß die Darwinsche Descendenztheorie angesichts seiner in’s Stocken gerathen muß; vergleicht man ihn seinem Vater, so muß man sagen, daß seine Abstammung zwar kein biblisches, wohl aber ein anderes Wunder ist. Zweitens: der Rede mächtig ist der Generalsuperintendent Büchsel; er fesselt die vornehme, der Buße und Gnade besonders bedürftige Berliner Welt durch seine körnige, mit munteren Anekdoten gewürzten Predigten und durch die tatentvolle Art seiner Kirchenzucht; sein Einfluß ist groß, seine Befähigung anerkannt; unter den Gegnern der freisinnigen Theologie ragt er entschieden hervor. Als Dritter erscheint Consistorialrath Bachmann. Von seinen Liebhabereien kennt man in Berlin diejenige für saftreiche Gesangbuchpoesie. Er verfaßte den Entwurf eines neuen Gesangbuches, welches die Kirchenliedermumien des siebenzehnten Jahrhunderts enthielt und die Entrüstung vieler Berliner Gemeinden hervorrief. Von zwei andern Mitgliedern der Majorität weiß man nur die Namen; es sind die beiden Prediger Stahn und Souchon.

Zwischen der Absetzung Sydow’s und dem Richterspruch gegen Twesten besteht die Aehnlichkeit, daß in beiden Fällen eine Stimme Majorität entschied und daß man die Namen der für Freisprechung Stimmenden sehr bald erfahren hat. Es ist das immer ein Zeichen, daß die Ueberzeugungen von Recht und Unrecht sich schroff gegenüberstanden und daß die Ueberstimmten die Verpflichtung fühlen, sich von der Verantwortlichkeit für das Geschehene in der Oeffentlichkeit loszusagen.

Auch dem ungerechten Richterspruch fehlt es nicht an Gesetzes-Paragraphen. Aber wenn man auch hundert Gesetzesstellen anzuführen vermöchte, sie wären nicht ausreichend, die Gewissen evangelischer Christen darüber zu beruhigen, daß ein Geistlicher nach einem musterhaft geführten Leben, im hohen Alter, seines Amtes entsetzt wird, obwohl er in seiner Gemeinde geehrt und geliebt dasteht, lediglich weil er Ueberzeugungen festgehalten hat und aussprach, die in seiner Jugend auf den Universitäten gelehrt wurden und heute in die Denkweise der zumeist Gebildeten übergegangen sind. Wenn das Christentum wirklich an Ketzergerichte, Concilienbeschlüsse, veraltete Glaubensbekenntnisse und Consistorialregierung untrennbar gebunden wäre, so würden wir glauben, daß wir dereinst noch das Grabgeläute desselben vernehmen könnten. Deutschland hat zu viel geschichtlichen Sinn und zu große Pietät für die Vergangenheit, als daß es Denjenigen, die an alterthümlichen Glaubensvorstellungen hängen, jemals die Erbauung ihrer Herzen verkümmern möchte. Aber [87] es verlangt auch, daß der Wissenschaft und der Freiheit der Gewissen in der evangelischen Kirche das volle Anerkenntniß der Gleichberechtigung zu Theil werde.

Ein Zeichen der hoffentlich zur Verjüngung führenden Krisis ist auch das Ketzergericht über Sydow; denn er hat nur ausgesprochen, was in den Gesinnungen seiner Gemeinde lebt. Es ist ein schlechthin unhaltbarer Standpunkt, den Geistlichen auf Bekenntnisse zu vereidigen, welche der ungeheuren Mehrheit innerlich fremd geworden sind. Das Consistorium hat einen Scheiterhaufen angezündet, dessen Flamme über Berlin weit hinausleuchtet. Wenn irgend etwas auf ihm verbrennt, so können es nur die Actenstöße geistlicher Behörden sein! Die Windrichtung der Zeit treibt den Qualm Denjenigen in die Gesichter, die nicht sehen wollen. Männer wie Sydow brauchen es nicht zu scheuen, von der Brandfackel kirchlicher Verfolgung beleuchtet zu werden.