Das Jahr
Ob Sonnenschein den Lenztag auch erfüllt,
Noch weht’s von Ost und jagt den feinen Staub,
Und in der Knospe zögert scheu verhüllt
Das junge Laub.
Ein Schleier weht, herum nach Westen sacht –
Es regnet warm, es regnet still und dicht
Die lange Nacht.
Aus seiner Hülle ringt vor diesem Kuß
Und an dem Morgen nach dem nächt’gen Guß
Ist Alles grün.
Verschmachten will die Welt im Sonnenbrand,
Und schlaff die Hand.
Da baut sich’s auf, gespenstisch, ohne Ton –
Geschwader jagen in die Wolkenschlacht;
Der Donner rollt und fahle Blitze lohn
Den Boden tränkt und labt der nächt’ge Graus,
Das Wiesenthal, den Hag, den busch’gen Bühl,
Und trittst am Morgen spähend du hinaus,
Ist Alles kühl.
In Wald und Feld verdrossen sich umher –
Sie gönnen deinem Blick kein Stückchen Blau
Des Himmels mehr.
Da fährt’s in kurzen Stößen in den Wust,
Da heult und tobt und braust in wilder Lust
Des Herbstes Sturm.
Zerblasen wird, was dir ein Hinderniß
Bei jedem deiner Athemzüge war –
Ist Alles klar.
Frosthart die Erde, blätterlos der Forst,
Und schneidend geht die Luft durch Mark und Bein;
Die Krähe zieht mit Hungerschrei vom Horst
Die Federflöckchen leicht und zart und irr
Und endlich schneit es rastlos, grau und lind
Und stumm und wirr.
Der Winter übers Land, wie auf Geheiß,
Und in des nächsten Morgens mattem Licht
Ist Alles weiß.
Ich sagte gerne: „Siehe da, ein Bild
Es löst und hebt sich Alles friedlich mild
Zu seiner Zeit.“
Mir fehlt der Muth, der solche Worte schreibt;
Oft bleibt der Regen und des Sturms Gebraus,
Der Schnee selbst aus.
Das aber weiß ich: Was Erlösung je
Von dumpfem Druck, von Kampf und Qual gebracht,
Von starrer Pein und wortelosem Weh,
Anmerkungen (Wikisource)
Erstmals abgedruckt in:
- Illustrirter Neue Welt-Kalender für das Jahr 1890. Hier mit dem Titel „Im Kreislauf des Jahres“.