Das Mädchen und die Schlange

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Textdaten
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Autor: Fr. Richter
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Titel: Das Mädchen und die Schlange
Untertitel:
aus: Lithauische Märchen II, in: Zeitschrift für Volkskunde, 1. Jahrgang, S. 189–190
Herausgeber: Edmund Veckenstedt
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Alfred Dörffel
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Google-USA*, Commons
Kurzbeschreibung:
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1. Das Mädchen und die Schlange.


Einst lebte eine reiche Witwe am Strande des Meeres. Die Witwe besass nur eine Tochter. Sie hatte deshalb das Kind einer Leibeigenen zu sich genommen und erzogen, damit das Mädchen alle ihre Bedürfnisse genau kennen lerne und sich später ganz ihrem Dienst widmen könne. Die Witwe ging mit dem Mädchen nicht gut um, aber dieses wuchs kräftig heran und ward von einer solchen Schönheit, dass es von allen Leuten bewundert wurde. Den Dienst verrichtete das Mädchen mit grosser Treue.

Eines Tages geschah es, dass die Witwe das Mädchen an den Strand schickte, damit es dort die Wäsche wasche. Das Mädchen lag der Arbeit fleissig ob. Plötzlich aber kam eine grosse Welle angerauscht und nahm das kostbarste Tuch der Witwe mit in das Meer. In seiner Not lief das Mädchen zur Witwe, sein Leid zu klagen, diese aber züchtete es heftig und drohte mit dem Tode, wenn das Mädchen jenes kostbare Tuch nicht wieder schaffe. Klagend ging das Mädchen an den Strand des Meeres und netzte den Sand der Düne mit seinen Thränen. Plötzlich kam eine Welle angerauscht und eine Stimme liess sich vernehmen, welche flüsternd sprach: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, willst du mich zum Manne nehmen, so will ich dir das Tuch wiedergeben.“ In ihrer Not versprach die Jungfrau alles. Kaum war das geschehen, so kam eine mächtige Welle daher, welche dicht vor dem Mädchen schäumend zusammenbrach. Als der weisse Schaum verrauscht war, lag das kostbare Tuch zu ihren Füssen. Die Jungfrau trocknete dasselbe in der Sonne, dann brachte sie es ihrer Herrin.

Als der Abend hereingebrochen war, entstieg dem Meere eine gewaltige Schlange. Die Schlange näherte sich dem Hause, in welchem die Jungfrau wohnte und rief vor ihrer Thür: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, öffne die Thür. Hast du vergessen, was du versprochen?“ Schnell öffnete die Jungfrau die Thür und die Schlange kam zu ihr in das Zimmer. „Liebes Mädchen, liebes Mädchen“, sprach die Schlange, „gieb mir zu essen, denn ich bin sehr hungrig.“ Schnell holte das Mädchen Milch und Brot herbei. Die Schlange liess es sich gut schmecken.

[190] Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen und die Schlange sprach, als sie sich gesättigt hatte: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, trag’ mich in das Bett.“ Kaum war dies geschehen, so sprach die Schlange wieder: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, es ist so kalt hier im Bett, erwärme mich, du bist doch dessen eingedenk, was du mir am Strande des Meeres versprochen hast, als du meine Hilfe annahmst!?“ Als die Jungfrau an ihr Versprechen gemahnt wurde, blieb ihr nichts übrig, als dem Verlangen der Schlange nachzukommmen. Voll Entsetzen suchte sie die Schlange zu erwärmen. Diese schlief bald ein, sie selbst aber konnte vor Angst und Abscheu kein Auge schliessen.

Endlich krähte der Hahn und verkündete die Ankunft des Morgens. Indem erwachte auch die Schlange und sprach: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, der Morgen ist genaht, stehe auf und zünde Feuer im Ofen an, es wird kalt sein, wenn ich das Bett verlasse“. Die Jungfrau sprang voll Freude aus dem Bett und in kurzer Zeit loderte ein helles Feuer im Ofen. Sobald der Glanz des Feuers im Zimmer aufleuchtete, sprach die Schlange: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, nimm mich und wirf mich in das Feuer.“ Mit einem lauten Freudenschrei schleuderte das Mädchen mit aller Kraft die Schlange in die lodernde Glut; aber in demselben Augenblick erscholl ein furchtbarer Krach, der Ofen brach auseinander und vor dem erschrockenen Mädchen stand ein schöner, blühender Jüngling in kostbarer, reichgeschmückter Kleidung. Der Jüngling sprach: „Schönes Mädchen, du hast mich erlöst. Ich bin ein Prinz, welcher verzaubert war, dir danke ich meine Erlösung, fortan werde ich König sein. Mein Schloss steht mitten im Meere, ich will dich zu meiner Gemahlin erheben und du wirst fortan Königin des Meeres sein.“

Die Jungfrau folgte ihrem künftigen Gemahl freudig zur Kapelle, in welcher die Trauung sogleich vollzogen ward. Darauf forderte der junge König seine Gemahlin auf, von der Witwe und deren Tochter Abschied zu nehmen und ihm sogleich zu folgen; „denn“, sagte er, „die Witwe gönnt uns das Glück doch nicht, welches unsrer wartet, sie würde viel lieber ihre Tochter an deiner Stelle sehen, deshalb wollen wir eilen, dich ihren Nachstellungen zu entziehen.“

Nachdem die soeben Vermählte sich von der Witwe und ihrer Tochter verabschiedet hatte, ging sie mit ihrem Gemahl an den Strand des Meeres. Als sie dort waren, schlug der junge König mit einem Stabe in das Wasser; sogleich teilte sich dasselbe und ein trockener Pfad führte zum Schloss des Königs. Der König und seine schöne Gemahlin lebten fortan glücklich in dem prächtigen Schlosse mitten im Meere und nur einmal im Jahre, und zwar an dem Hochzeitstage, kommen sie an das Land mitten durch die Wogen des Meeres auf dem Pfade, welchen der Stab des Königs schafft, und beschenken die Bewohner des Landes mit kostbaren Gaben. Darauf kehren sie stets wieder zurück in ihr Schloss.