Das erste allgemeine deutsche Turn- und Jugendfest in Coburg
Von Arnold Schloenbach.
Während die geheimnißvollen elektrischen Drähte von Baden-Baden aus den Cabineten Europa’s die Geschicke der nächsten Zeit wenigstens insoweit verkünden, als die Diplomatie jetzt noch Geschicke bestimmen und leiten kann, wird in der freien Residenz des freiesten deutschen Landes ein Fest gefeiert, dessen Idee der Entstehung und dessen Geist der Ausführung jene Zusammenkunft in Baden-Baden hauptsächlich mit veranlaßt hat: die immer mächtiger waltende Idee von der endlich Thatsache werden sollenden Einheit des Vaterlandes; der neu und mächtig erwachte Geist der Nation, in immer größerem Bewußtsein, immer energischerem Wollen. Diese Idee, dieser Geist haben erschreckend, ermahnend, hoffentlich auch anfeuernd und kräftigend die Höfe Europa’s, namentlich aber Frankreichs und Deutschlands, bewegt und in Baden-Baden die Fürsten, in Coburg die Vertreter der deutschen männlichen Jugend zusammengeführt. Und das ist es, was unserm Feste eine so ernste, hohe, nationale Bedeutung gibt. Das ist auch die Thatsache eines moralischen Sieges, den die Nation sich errungen hat, der ihr auch wohl nicht mehr verkümmert werden kann. Von diesem nationalen Standpunkt aus betrachtet, ist unser Fest ein großer historischer Moment deutscher Geschichts-Entwickelung; es verdient daher eine genauere Beschreibung. – Zu weit würde es indeß für diese Blätter führen, wenn die Debatten und Reden hier nachgedruckt werden sollten; das sei Aufgabe eines besondern Gedenkwerkes, das die Festleiter erscheinen lassen werden; hier brauchen nur die eigentlichen Thatsachen zu gelten: zunächst die Vorlagen, um die es sich handelte, und wie dieselben zum Abschluß kamen; dann die Hauptpunkte der größeren Reden und der Geist, mit dem sie aufgenommen wurden. – Die Namen der Debattirenden [431] und Sprechenden mögen ebenfalls jenem Gedenkbuche einverleibt werden.
Am Abend des 16. Juni waren der erwählte Festpräsident, Georgii aus Eßlingen, und Kallenberg aus Stuttgart, der den ersten Anstoß zu dem Feste gegeben hatte, bereits in der letzten Sitzung des Coburger Festcomité’s anwesend und nahmen die Berichte über die Thätigkeit der 11 Ausschüsse des Comité’s dankend und anerkennend entgegen. Wohl hatte dasselbe solche Anerkennung durch ebenso umsichtige als rastlose Thätigkeit verdient, und Fürst, Behörden und Bürgerschaft hatten in Unterstützung und Forderung derselben gleichsam gewetteifert. So fanden denn die fremden Festleiter alles Nothwendige gründlich vorbereitet, und es bedurfte nur noch einer, aber auch einer sehr interessanten, ja bedeutungsvollen Verhandlung über die Ordnung des Festzuges. Zwei Vorschläge wurden debattirt: 1) Ordnung nach Städten, als Symbol allgemeiner Einheit, in Verwischung aller Landesfarben, 2) Ordnung nach der alten Stammes-Eintheilung, als Symbol einer Darstellung der natürlichen Grenzen im Vaterlande. Diese wurde mit 13 Stimmen gegen 11 angenommen. Den Schluß dieser Sitzung machte eine im Auftrage des Herzogs gegebene Mittheilung, daß derselbe, dem Rufe seiner Pflicht für das Vaterland folgend, nach Baden-Baden abgereist sei und schwerlich schon am Montag Morgen zum Callenberg zurückkehren könne; daß der Herzog aber gewiß noch zeitig genug anwesend sein werde, um die Festleiter noch begrüßen und dem Schlusse des Festes beiwohnen zu können. Es wurde daher die auf dem bekannt gewordenen Programme fixirte Turnfahrt zum Callenberg, die eine Ovation für den gastfreien Landesherrn sein sollte, von Montag Morgen auf Dienstag Morgen verlegt. Es sei hier auch noch bemerkt, daß die vier auswärtigen Leiter des Festes: Georgii, Kallenberg, Goetz aus Leipzig und Angerstein aus Berlin, im herzoglichen Residenzschlosse, als Gäste des Herzogs, Wohnung empfangen hatten.
Der Morgen des 16. Juni verkündete den ersten schönen Tag nach langer, besorgnißvoller Regenzeit, und er hielt Wort. Immer klarer und sonniger entfaltete sich der erste Tag, der uns die Gäste bringen sollte. Nachmittags drei Uhr kamen in langem, langem Eisenbahnzuge die Turner aus Schwaben, Baden und Baiern; fast gleichzeitig mit ihnen die Thüringer und Nordfranken, vom „Wald“, aus dem Lausche-, Lichte- und Saalthal; festlich empfangen vom Coburger Festcomité und Turnvereine, mit Fahne und Musik. Nun gab es den ersten Zug, hin durch die stattliche Ehrenpforte am Eingange der Stadt zur Festhalle der Reitbahn, reich geschmückt mit Wappen und Fahnen, turnerischen Emblemen, Guirlanden, Kränzen, Ampeln und Maien. Wahrlich, ein schöner, alle Herzen und Sinne anregender Empfang!
Nachdem die Angekommenen sich durch den berühmten Coburger „Stoff“, dem zu diesem Feste noch eine ganz besondere Anziehungskraft verliehen war, gestärkt hatten, wurden sie riegenweise in die Theaterhalle zur Empfangnahme der Karten und Einquartierungsbillets, dann durch die Zöglinge der Turnerschaft und deren jüngste Mitglieder in die Quartiere geführt. – Abends 7 Uhr kamen neue Turnerzüge aus Mittel- und Norddeutschland. Um 8 Uhr ging es in freien Vereinbarungen hinauf zur „Veste“, einem der schönsten, anmutvollsten Punkte Deutschlands, mit weitem Blick hinein nach Franken, Hessen und Thüringen. An ihren Mauern brachen sich einst die Kräfte des allbezwingenden Wallenstein; in ihren Mauern saß der Mann, an dessen Gewalt sich Rom brach: Luther. – Jetzt ist der merkwürdige Bau durch den herzoglichen Hofmaler und Baurath Rothbart artistisch und baulich vortrefflich und geschmackvoll restaurirt, und an diesem Festabende war der innere, architektonisch höchst malerisch sich gestaltende Hofraum mit farbigen Lampenflammen, Transparenten, Fahnen und Maien köstlich ausgeschmückt, und bot – belebt durch viel hundert Jünglinge deutscher Gaue - ein Bild seltenster und schönster Art dar. Vaterländische Gesänge schallten hinunter in das anmuthvolle Thal, dessen Höhen besäet waren von zu- und abwandelndem Publicum. Es ertönte der erste Festgruß voll deutscher Kraft und Gesinnung, und hob die schon gehobene Stimmung noch höher und freier. Bis tief hinein in die warme, klare Nacht wogte und schwellte diese Feier des Vorabends.
Am 17. früh 5 Uhr elektrisirte die Turner-Reveille Stadt und Umgebung, und wirbelte Hunderten und Hunderten zu, daß der herrliche Festtag angebrochen sei. Es war ein ganz eigenthümliches Gefühl, das durch diese Reveille in den Herzen fast Aller erweckt wurde. Um 7 Uhr die erste Festversammlung auf dem großen Markt oder Rathhausplatze. Der vortrefflich geschulte Coburger Sängerkranz, im Verein mit dem „Singsang“ des Coburger Turnvereins, an der Spitze die Triumvirn der herzoglichen Oper, sang durch die tiefe Stille laut und andachtsvoll das wohlgewählte Lied: „Dies ist der Tag des Herrn“. Eine feierliche Stimmung ergriff die lautlose Menge. Auch dies war ein echtes Sonntagsgebet, war ein Gottesdienst nationaler Andacht! – Nun brachte der Bürgermeister der Stadt, im Namen dieser, der Versammlung ein herzliches, echt vaterländisches Willkommen dar, was der Festpräsident im Namen der Turner dankend entgegennahm. – Ein Gruß für den Veteranen deutscher Turnkunst, Maßmann, und dessen Dank, dann noch ein Lied beschlossen diese Frühstunden des Festes. – Um 9 Uhr ging es zum großen Ernst der turnerischen Berathung in der Festballe. Die Anzahl der Turner hatte sich noch spät Abends vorher und Morgens um einige Hunderte vermehrr, und wahrlich, es war eine stattliche Versammlung, die sich zu den beginnenden Verhandlungen einstellte. Dieselben wurden eröffnet mit Absendung eines ehrfurchtsvollen Dank- und Festgrußes an Se. Hoheit den Herzog per Telegramm nach Baden-Baden. Nun erfolgte einstimmige Annahme der Wahl Georgii’s als Festpräsident, der sich dann Goetz aus Leipzig zum Stellvertreter und Angerstein aus Berlin zum Schriftführer erwählte, seinen Festgruß der Versammlung und der Stadt Coburg darbrachte, Telegramm-Grüße aus Graudenz, Insterburg und Thorn mittheilte und schließlich die Tagesordnung der zu berathenden Vorlagen feststellte.
Der Geist der nun folgenden vierstündigen Verhandlungen war zwar – das ist nicht zu leugnen – kein so geschlossener, Grenzen und Antipathien vergessender und absorbirender, als man nach dem Wehen und Wesen der Zeit wünschen sollte, als manche in national-idealer Erwartung und Anforderung beanspruchten; es gaben sich noch scharfe Risse innerer und äußerer Natur, sowohl in Stammes- als in Gesinnungs-Verschiedenheiten, kund; es trat bei Manchen eine beängstigende Aengstlichkeit für ein „Zuweit“ oder „Zufrüh“ und bei allen Fragen, wo es sich um Centralisation turnerischer Bestrebungen, Kräfte und Arbeiten handelte, ein energisches Gegenwirken namentlich preußischer und auch wohl sächsischer Turnervorstände hervor. Aber im Allgemeinen – also in der Hauptsache – kann man als historische Thatsache feststellen: der Geist jener Berathungen war ein echt deutscher und freisinniger, ebenso gesund und resolut, als ideal und hoffnungsstark, und war man auch nicht einig über alle Mittel, so doch im Ganzen über den Zweck: über die körperliche und geistige, freiheitliche und einigende Aus- und Heranbildung einer großen deutschen Jugendkraft zum Heile des Einen großen Vaterlandes! – Das ist als ein unschätzbarer Gewinn in den Annalen unserer Gegenwart einzutragen. – Gehen wir nun über zu den einzelnen Vorlagen der Geschäftsordnung.
1. Antrag: Einführung des Turnens in allen, namentlich auch den Volksschulen, als wesentlicher Theil des Unterrichts und der Erziehung, wurde ohne Debatte einstimmig angenommen. – Ueber das Wie solcher Einführung nach einiger Debatte folgender Beschluß: Eine von zu wählender Commission abzufassende Denkschrift, die jeder Verein seiner Regierung wie seiner Ständekammer übergibt und auch der „sechsten Großmacht“, dem Volksbewußtsein, an’s Herz legt. Sie soll zwar frei und selbstständig für sich sein, doch in den Hauptpunkten Rücksicht nehmen auf die bekannte Denkschrift des Berliner Turnvereins.
2. Förderung des Turnens auf der bisherigen Grundlage der Turnvereine: Soll – laut Beschlußfassung nach langer Debatte – geschehen: a. durch einen öffentlichen Aufruf zur Gründung neuer Turnvereine; abzufassen von der Commission für die Denkschrift; b. durch persönliches Wirken aller Vereins-Mitglieder; c. durch Feststellung eines kurzen allgemeinen Leitfadens der Turnei für sämmtliche deutsche Turnvereine, auszuarbeiten von der Commission.
3. Gründung eines allgemeinen deutschen Turnerbundes. Namentlich bei diesem höchst wichtigen Antrag kamen diejenigen Elemente zum Vorschein, die vorher leider angedeutet werden mußten. Sie bewogen denn auch wohl den Antragsteller (Kallenberg), seinen Antrag zurückzunehmen, „weil das Volk noch zu eingeschüchtert sei“. Ausdrücklich als thatsächliche Berichtigung zu dem, was über diesen Antrag factisch falsch berichtet wurde, sei noch einmal bemerkt: Ueber den Antrag wurde nicht abgestimmt: er darf also auch nicht als „abgelehnt“ bezeichnet werden. Im moralischen Sinne freilich geschah dies eclatant, thatsächlich aber nicht, weil der Antragsteller ihn zurückzog, ehe die eigentliche Abstimmung erfolgte.
4. Regelmäßige Wiederkehr des großen deutschen Turnfestes; ob alle zwei oder drei Jahre; ob zunächst im Herbst 1861 auf der Hasenhaide bei Berlin, zur Feier der fünfzigjährigen Gründung dieses Turnplatzes durch Vater Jahn, oder im Jahre 1863, zur Jubiläumsfeier der Schlacht bei Leipzig. Es wurde kein Beschluß gefaßt, sondern das Weitere den kommenden Ereignissen, dem sich herausstellenden Bedürfniß und den etwaigen speciellen Anregungen überlassen.
5. Eine gemeinsam Farbe, und zwar das Schwarzrothgold.
6. Ein gemeinsames Bundeszeichen.
7. Unterstützung hülfsbedürftiger Turner.
8. Aufnahme eines Turners in allen Vereinen ohne Eintrittsgeld und ohne Abstimmung.
9. Vermeidung von auffallendem Gebahren, absondernden Zeichen, Trachten und Formen. – Ueber diese fünf Anträge wurde kein bestimmter Beschluß gefaßt; jedem Vereine bleibe es überlassen, danach zu thun, was er für gut halte und was er dürfe. Auch hier als thatsächliche Berichtigung, das schwarzrothgold wurde nicht „abgelehnt“, wie eine Zeitung berichtet hat, sondern, wie angegeben, dem Wollen und Dürfen jedes Vereines überlassen.
10. Zuziehung und Ausbildung der Feuerwehren. Es wurde bestimmt: Turnverein und Feuerwehr sollen überall sich eng verbinden. Wo Turnvereine sind ohne Feuerwehr, sollen sie solche aus ihrer Mitte gründen, und umgekehrt.
11. Der Antrag zum Aufruf für einen allgemeinen deutschen Schützenverein wird vom Antragsteller zurückgenommen; dagegen wird das Ueben der deutschen Turnjugend in Führung der Büchsen als nothwendig anerkannt.
12. Als ein Mittel zur geistigen Anregung und Ausbildung in den Turnvereinen wird die in Leipzig bei Keil erscheinende deutsche Turnzeitung durch den Festpräsidenten empfohlen.
Soweit gingen die Vorlagen der Anträge und wurden hierauf noch diverse Mittheilungen gemacht. Nachdem nun noch zur mehrerwähnten Commission das erste und engere Festcomité erwählt worden, schloß der Festpräsident mit dankendem Gruß diese wichtige, bedeutungsvolle Sitzung des ersten Vereins deutscher Turnvereine. – Im Laufe der Unterhandlungen wurden noch Telegramm-Grüße von nahen und fernen Turnvereinen verkündet, die jedesmal einen hellen Freudenschrei durch den Ernst der Arbeit in die Gemüther warfen und immer als neues Zeichen des großen einheitlichen Geistes, der doch über Allen schwebte, begrüßt wurden. Im Laufe des Morgens waren auch noch neue Züge von Turnern einmarschirt, und so sah man um 2 Uhr auf dem schönen Schloßplatz gegen 1200 Turner, aus circa 125 Städten gesendet, sich um ihre Fahnen versammeln. Um 3 Uhr setzte sich der nach Stämmen geordnete Festzug in Bewegung. Voran die turnfähige Schuljugend Coburgs; ihr schlossen sich, charakteristisch hervortretend, circa siebzig Schüler des Knabeninstitutes von Stoy in Jena an, mit Fahnen, Trommeln und Trompeten diesen schönen Anfang belebend und Zeugniß gebend von der gesunden, kräftigen deutschen Richtung, die jenes Institut verfolgt. – Das alte Reichsbanner der Schwaben, die schwarzrothgoldne Fahne der Staufenkaiser, wehte, wie damals, auch jetzt voran. In tragischer Ironie des Schicksals folgte ihr nach das umflorte Banner des unglücklichen Schleswig-Holstein.
[432] Ebenso tragisch, wenn auch in anderer Weise, war es, daß einige Vereine keine Fahne tragen durften; so kamen sie aus dem Herzen Deutschlands, aus Sachsen, wie ein Bräutigam ohne Strauß, wie eine Braut ohne den Myrthenkranz. Die Turner ohne ihre Fahne! Wahrlich, diese fehlenden Fahnen sprachen ebenso bedeutungsvoll zum deutschen Reiche, wie das schwarzumflorte Banner Schleswig-Holsteins, wie das alte Reichsbanner des einigmächtigen Schwarzrothgold der Schwaben. Doch der Anblick der gewaltigen Kette kräftig-kühner deutscher Jünglinge, durchflochten mit dem köstlichen Schmucke festlich bekleideter schöner Jungfrauen, beschattet von manchem theuern Banner, fröhlich singend und die reichgeschmückte Stadt nach allen Seiten hin grüßend unter dem Rauschen der Musik: das Alles mußte bald jede trübe Stimmung zu stolzer Freude und starker Hoffnung umwandeln. – Auf dem schönsten Turnplatze, der wohl in Deutschland zu finden ist, ebenso geschmackvoll ausgeschmückt als praktisch und tüchtig zum Turnen vieler Hunderte eingerichtet, empfing ein Publicum von Tausenden den gewaltigen Festzug. Die Sänger eröffneten das Fest mit einem turnerischen Gesange; dann begrüßte der Sprecher des Coburger Turnvereins die Versammlung mit gesunden, echt deutschen Worten; noch ein Gesang, und nun begann das Turnen. Da hätten denn Alle wohl hundert Augen haben mögen, um die Menge der Gruppen verschiedenartigster Turnspiele zu sehen. Was ließen sich da für Bilder entwerfen! Der Buchstabe kann sie nicht beschreiben. Nur so viel sei gesagt: man sah die Turnerei auf einer hohen Stufe allgemeinster Ausbildung. Am Reck und in gründlicher Bildung einer strengen Schule trug Leipzig unbestritten den Sieg davon. – Norddeutschland vertrat hauptsächlich die Kraft, Süddeutschland die Gewandtheit. – Nach dem letzten Spiele – dem höchst interessanten Ringen – betrat der Festpräsident Georgii die hoch emporragende Rednerbühne, darüber hin die grünumschmückte schwarzrothgoldne Fahne rauschte. Er theilte zuerst den Dank und Gruß des Herzogs mit, per Telegramm der deutschen Turnei in Coburg eingesandt. Dann folgten noch eine Menge eingegangene Telegramm-Grüße, manche von den fernsten Enden Deutschlands hergeblitzt. Schön und tüchtig war, was der Festredner nun sprach; aber noch schöner und tüchtiger das, was er nicht sprach, sondern schließlich nur andeutete mit der Bitte, daß ein Jeder sein Haupt entblößen und an das Vaterland denken und dabei das denken möge, was er im Herzen trage. Da standen nun Tausende mit andachtsvoll entblößtem Haupte, und wir wollen hoffen, ja glauben, daß die Meisten von ihnen das dachten, was dem Vaterlande einst noch Heil bringen wird. – Die feierliche Stille wurde unterbrochen durch ein unwillkürlich sich bahnbrechendes Hoch auf den Festredner. Er lehnte es ab und rief die Jungfrauen auf zur Bekränzung der Turnerfahnen, mit der Anordnung, daß der fahnenlose Leipziger Turnwart den ersten Kranz persönlich empfangen solle. Und so geschah es: alle Fahnenträger bildeten einen Kreis, in dessen Mitte die Jungfrauen mit ihren Eichenkränzen standen, sie senkten ihre Fahnen den Jungfrauen zu, und im frischen Spiel der Winde rauschte nun oben über jeder Fahne die schöne deutsche Gabe des herrlichen Eichengrüns. Nun ein Gruß an die Jungfrauen Coburgs – ein Gruß an die Jungfrauen Deutschlands – dann ging es in festlichem Zuge frisch, fromm, fröhlich und frei zur Stadt zurück, zur Festhalle, wo die Fahnen aufgestellt wurden, wo ein Turner im Namen der Jungfrauen für die ihnen erwiesenen Ehren dankte und von wo aus jeder Fahnenträger seine Kranzspenderin nach Hause geleitete. – Manch liebes Wort mag dabei gesprochen, vielleicht manches Herz dabei ausgetauscht sein!
Mit einbrechendem Abend kehrten die Turner zurück zum erleuchteten Turnplatz, wo mit Sang und Trank und „ungeheurer Heiterkeit“ dieser denkwürdige Festtag beschlossen wurde. Der zweite Festtag begann Morgens 7 Uhr mit einer Feuerwehrprobe der Coburger Feuerwehr am Rathhaus; ihr folgte eine Schwimmübung unter dem neu erbauten, sehr schön eingerichteten Schwimmhaus. Um 11 Uhr Turnfahrt über die Veste und den dichtbewaldeten Bausenberg in das reizende, parkähnliche Thal der Rosenau, auf dessen weitem, schwellendem Wiesengrund gelagert, gesungen, gesprochen, in Freiübungen aller Art geturnt und manch neuer Telegrammgruß aus dem deutschen Reiche bekannt gemacht wurde. Zu einer wahrhaft ergreifenden Feier gab ein tiefwehmüthiger Brief aus Schleswig-Holstein Veranlassung: die – mit den deutschen Brüdern dieses unglücklichen Landes trauernden – Turner rissen in schmerzlichster Begeisterung ihr theuerstes Symbol, ihre Preisbänder und Embleme, von der hochschwellenden Brust und schmückten damit die schwarzumflorte Fahne und die Brust ihres bis zu erschütternden Thränen gerührten Trägers. Da weinten Viele mit ihm; heilige, echte Mannesthränen waren es, und auf die geflügelte Anrede eines Sprechers traten Alle zusammen mit entblößtem Haupte zu einem stummen Gebet, zu einem elektrisch zündenden Händedruck, zu dem begeisterten Schwur: wegzunehmen die Schmach, die auf dem abgerissenen deutschen Lande liege. Mögen die Geister der Zeit diesen Schwur gehört und ihn hingetragen haben durch alle Gaue des Vaterlandes!
Eine Fortsetzung dieser kurzen, aber denkwürdigen Feier fand Abends nach erfolgter Rückkehr in der Festhalle statt, wie denn überhaupt diese letzte allgemeine Versammlung der Turner moralisch genommen die bedeutungsvollste war; nach manchem befeuernden Lied und Spruch trat der Fahnenträger aus Schleswig-Holstein auf die Tribüne und berichtete mit schmerzlich bewegter Stimme, daß den Turnern ihres Landes keine Fahne erlaubt sei; daß sie erst im großen Vaterlande eine solche angenommen und eingeweiht hätten: sie sei ihnen durch dieses Fest ein Heiligthum geworden. Doch dieses Heiligthum würde ihnen jedenfalls beim Eintritt in die Heimath abgenommen werden; deshalb wollten sie es in Coburg zurücklassen, als Pfand der Treue. Hoch auf schwoll es durch alle Herzen: ehrfurchtsvoll wurde die beflorte Fahne auf die Tribüne gebracht; sie solle, so wurde bestellt, aufgepflanzt werden neben den Triumphzeichen von Eckernförde auf der Coburger Veste, bis sie hingetragen werden dürfe von der deutschen Wehrkraft zu dem befreiten Lande. Ein unendlich wehmuthsvoller Jubel durchdrang Alle; mit nie gehörter Kraft und Begeisterung wurde „Schleswig-Holstein meerumschlungen“ gesungen; dann in Mützen und Hüten eingesammelt für die Vertriebenen und Nothleidenden des armen Landes; an 200 fl. waren in wenigen Minuten zusammen. Wurde nun auch wohl Manchem zu viel von Schleswig-Holstein gesprochen, so muß das von ganz anderer Seite betrachtet werden, gleichsam symbolisch! Schleswig-Holstein war der Ausdruck für noch viele andere zornige Schmerzen, die aber nicht genannt werden durften und in Schleswig-Holstein ihren symbolischen Ausdruck fanden. Sehr merkwürdig und bedeutungsvoll war auch ein Gruß an die deutschen Flüchtlinge in der Schweiz, in England und Amerika! – Wie ein beängstigendes und doch befreiendes, reinigendes Gewitter fuhr er herab von der Rednerbühne in die Menge und – wir dürfen als historisch getreuer Berichterstatter es nicht verschweigen – zündete mächtig, erweckte vielhundertfachen, donnernden Wiederhall. Zwar fehlte es auch nicht an Manchen, die solchem Drange des Augenblicks entgegenwirken wollten, es für Pflicht hielten, dies zu thun, und im engeren Kreise der Turnvertreter platzten die Geister prall auf einander. Doch im Rauschen deutscher Lieder verklangen bald alle Dissonanzen, schlugen alle Herzen wieder zusammen in dem Einen Schlag für das Eine Vaterland, und ein Jeder fühlte, das erste große deutsche Turnfest habe in seinem Haupttheile einen gewaltigen Abschluß gehabt.
Wohl fuhren am dritten Tage, Dienstag, einige hundert Turngäste heim, doch blieb noch ein Stamm von mehrern Hunderten zurück, die trotz der vorigen anstrengenden Tage mit neuer, frischer Kraft unter Liedersang, Trompetenklang und Fahnenwehen eine Turnfahrt zum herzoglichen Sommerschloß Callenberg unternahmen. Das romantisch gelegene, ebenso die herrlichsten Waldpartien, als die weiteste Fernsicht darbietende, neuester Zeit charakteristisch und geschmackvoll vergrößerte und restaurirte Schloß wurde jubelnd begrüßt, und durch das Rauschen des Waldes klang manch altes Turnerlied, manch hoffnungstrunkenes „Gut Heil!“ Der Rückzug zur Stadt wurde ein höchst merkwürdiges Kriegsspiel; die Turner theilten sich in zwei Heere, das eine hatte als Losungswort „Coburg“, das andere „Deutschland“. Coburg zog zuerst rasch vorwärts und verschanzte sich auf einer Anhöhe hinter einem Graben. Hier wurde es von Deutschland angegriffen und nach hartnäckigem Kampfe vertrieben. Nun zog Deutschland sich rasch zurück und war bald dem verfolgenden Coburg verschwunden. Es blieb ihm verschwunden bis an die erste Brücke zur Stadt. Diese hatte Deutschland mit gewaltigem Material von einem naheliegenden Bauplatz verbarricadirt, und Coburg mußte diese Barricade erstürmen, was ihm denn auch nach tapferer Gegenwehr Deutschlands gelang. Fassen wir dieses Spiel symbolisch zusammen, so möge uns daraus der ernste Gedanke entgegentreten: daß Deutschland nicht besiegt werden wird, wenn Coburg an seiner Spitze steht. Die bald wieder lustig und liebevoll vereinten Heere Coburg und Deutschland richteten nun ihren Marsch zum Festplatz zu einem gemeinschaftlichen Essen, belebt durch Musik, Gesang, Toaste, angeregt durch Vortrag eines Briefes von Arndt an Maßmann, zwar vor circa zwanzig Jahren geschrieben, aber für den Augenblick durchaus passend. Großer Jubel erscholl nach der Anzeige, daß der Herzog heute zurückkehren, um 1/28 die Turner auf dem Schloßplatz sehen und die Deputirten der Städte bei sich empfangen, auch Abends den großen Ball im Theater besuchen wolle. Nun noch eine lustige Debatte über die Frage: ob die Turner zu diesem Balle Glacehandschuhe tragen müßten? Sie schloß mit Freistellung dieser Frage an das Belieben jedes Turners, und so ging Alles fröhlich auseinander. Um 1/28 zogen die Turner von der Festhalle aus über den Schloßplatz, an dem Fenster vorbei, auf dessen Balcon der Herzog und die Herzogin standen, gütig dankend den vielhundertfach hinaufschallenden Hochs und dem flatternden Senken der Turnerfahnen. Als der Zug vorüber war, empfing der Herzog in seinem Zimmer die Deputirten der Städte, in deren Namen der Festpräsident ihn mit echt patriotischen, echt deutschen Worten begrüßte. Und echt patriotisch, echt deutsch nahm der Herzog sie auf, erwiderte er dieselben, wünschte er der deutschen Turnei zum Heile des Vaterlandes alles Gedeihen, versprach er ihr für immer seinen fürstlichen Schutz. – An solch erstarkenden, hoffnungsreichen Schluß des Festes – würdig desselben – knüpfte sich nun der lustige, schwebende Schluß des Balles im Theater. Der weite Raum faßte kaum die Zahl der Gäste. Der höchste unter diesen, der Herzog, erschien bald und sprach lange mit jedem einzelnen der Deputirten. „Coburg und Deutschland“, diesem Dioskurenpaare brachte jeder abreisende Turner mit Herz und Mund ein dreifaches „Gut Heil!“ Und mit solchem Gut Heil schließen wir den Bericht über eines der schönsten Feste, das Deutschland seit vielen, vielen Jahren gefeiert hat, feiern durfte. Und wie es nachklingen wird fröhlich und feierlich im Herzen jedes echten Turners bis zu seines Lebens Ende, so mög’ es auch als eine That Thaten zeugen für das einige Vaterland!