Der Achensee
Der Achensee.
Das schöne Land Tirol ist arm an Seen. Wohl liegt hoch droben in den entlegensten Thälern mancher felsumrandete kleine Wasserspiegel, in geisterhafter Stille, umstarrt von kahlen Felsmauern, von Schutthalden und bleichen Schneefeldern. Aber von größeren Binnenwassern sind nur zwei vorhanden: im Süden bespült auf eine kurze Küstenstrecke, gegen die lombardische Ebene hinaus, der Gardasee die Grenze Tirols, und im Norden, nahe der bayerischen Grenze, liegt der Achensee. Dafür hat die Natur diese beiden Wasser mit landschaftlichen Reizen ausgestattet, welche sie hinter den berühmtesten schweizer Seen nicht zurücktreten lassen.
Der Achensee bot sich, ehe im Sommer dieses Jahres die neue Zahnradbahn von Jenbach im Unterinnthal aus an seine Ufer geführt ward, als ein prächtiges Eingangsthor für die von Norden her nach Tirol einschwärmenden Alpenwanderer dar. In Zukunft werden wohl die meisten, die ihn sehen wollen, sich von dem keuchenden Dampfroß den Jenbacher Berg hinauf und wieder hinunter ziehen lassen. Denn der Weg von Norden her, vom Tegernsee bis an den Achensee, ist weit und führt durch einförmige Waldthäler. Ungleich großartiger aber ist dafür der Eindruck, den wir vom See erhalten, wenn wir zuerst sieben Stunden lang durch diese Waldthäler auf staubiger Straße hingewandert sind und dann den wunderbar blauen Seespiegel begrüßen, dessen riesenhafte Bergumwallung um so großartiger wird, je mehr man sich seinem Südende nähert. Es giebt so auch in den Alpen manche stiefmütterlich von der Natur behandelte Landschaft, in welcher die Berge nicht so formenreich, die Wasser nicht so lebendig, die Thäler nicht so mannigfach gegliedert sind, der Gegensatz von starrem Fels und üppigem Pflanzenkleide nicht so malerisch ist wie anderwärts. Zu diesen landschaftlichen Stiefkindern gehört auch jene Thalweitung, die von Tegernsee aus nach dem Achensee leitet. Wer sie einmal zu Fuße durchwandert hat, thut das nicht zum zweiten Male; es müßte denn sein, daß er als Kulturhistoriker unterwegs ganz ausnehmend interessante Menschen zu beobachten Gelegenheit hatte. Von Landschaft aber finden wir hier nichts, als einförmigen grünen Bergwald, über welchen nur ab und zu in beträchtlicher Ferne ein höheres Felshaupt hereinschaut, um bald wieder zu verschwinden. Auch die Wasser, die hier thalwärts fließen, erscheinen zahm und friedlich für den, der an die furchtbar tosenden Gletscherbäche des Oetzthals oder der Tauernthäler sich erinnert.
So erreicht der von Norden her kommende Wanderer fast etwas ermüdet und unzufrieden das stundenlange Dorf Achenkirchen oder Achenthal, welches sich fast bis an den See hinzieht. Es liegt in flachem Thalboden, der unzweifelhaft früher auch See gewesen ist, im Lauf undenklich langer Zeiträume aber trockengelegt ward. Im Osten über dem Dorfe baut sich der gewaltig breite Bergrücken des „Unnütz“ auf, von dem der launige altbayerische Dichter Kobell einst sang:
„Und waar an jeder Lump so groß,
Als wie der Unnütz is,
Sie stehletn vom Himmi d’ Stern
Und z’letzt gar ’s Paradies.“
Trotz seines verdächtigen Namens aber hat sich dieser Unnütz doch den Ruf einer vorzüglichen und leicht erreichbaren Aussichtswarte erobert.
Wer nun das Dorf Achenkirchen auch noch durchwandert, steht bald am Ufer des Sees. Hier, an seiner Nordspitze, ahnt man noch wenig von seiner ganzen Schönheit; da ist er wie jene verschlossenen Menschen, die ihre ganze Liebenswürdigkeit nicht schon bei der ersten oberflächlichen Bekanntschaft zeigen, sondern gründlicher genommen sein wollen. Nur eins kann er auch hier nicht verbergen: die unvergleichliche azurne Farbe und Klarheit seiner Fluth. Das ist ein Blaugrün von so zauberhaftem Schimmer, daß man meinen möchte, der Seegrund sei eine riesige, hohl geschliffene Krystallschale, unter welcher ein wolkenloser Himmel ausgebreitet liege. Und doch ist’s bloß einfaches Kalkgeröll, das diesen Seegrund bildet, wie ja die Berge, die den See umsäumen, nichts sind, als weißgraues Kalkgestein, an dessen Steilhängen schwarzgrüne Fichtenwaldung niedersteigt.
Neun Kilometer lang und etwa einen Kilometer breit erstreckt sich der See von Nord nach Süd in enger Thalspalte. Zeiträume, die dem armen menschlichen Gedanken als unermeßlich erscheinen, sind vergangen, seit diese Thalspalte aufgerissen ward, damals, als unterirdische Mächte den Zug der nördlichen Kalkalpen aus der berstenden Erdrinde herauftrieben. Zuerst warfen sich die Wasser, die von den Bergen in diese Spalte stürzten, wohl schäumend in das tiefere Innthal hinab. Dann aber kamen die Jahrtausende der Eiszeit; hoch aus den wachsenden Schneelandschaften Graubündens wälzte sich der gewaltige Inngletscher. Und wie dieser Gletscher, als ein 4000 Fuß tiefer und meilenbreiter gefrorener Strom durch das Innthal herabrückte, schob er mit seiner frostigen Flanke einen riesigen Schuttwall gegen jene Thalspalte hin. Durch diesen Schuttwall ward ihr südlicher Ausgang versperrt, so daß die Gewässer sich nach und nach zum See aufstauten und endlich nach Norden hin einen Abfluß suchen mußten. So mag der Achensee entstanden sein, und so erklärt sich’s, daß sein Wasser, obwohl sein südliches Ufer kaum anderthalb Stunden vom Innstrom entfernt ist, doch nicht nach diesem abfließt, sondern nach der weit nordwärts strömenden Isar. Man sagt übrigens, ein Theil seiner Gewässer sickere noch durch jenen Schuttwall, um in Gestalt von starken Quellen gegen das Innthal hervorzubrechen.
Anders als der gedankenschwere Gang der Naturforschung erklärt freilich träumende Volkssage, wie der See entstanden sei. Vor undenklich langen Zeiten, sagt sie, seien da, wo jetzt die Seefluth rauscht, grüne Felder gewesen, Getreideland und sonnige Wohnstätten. Die Menschen aber, die hier hausten, seien übermüthig und stolz geworden in ihrem Reichthume. Und als eines Abends ein Mann mit langem Bart und wallendem Mantel daher kam, um Obdach für seine müden Glieder bittend, habe man ihm von Haus zu Haus die Rast verweigert und ihn zuletzt mit Hunden in die Nacht hinaus gehetzt. Da sei er hinaufgestiegen ins Steingeklüft des Hochgebirgs, um sein Haupt dort in Felsen zu betten. Aber über die herzlosen Thalwohner kam in derselben Nacht noch ein grausiges Strafgericht; die Berge barsten und spieen Wasserströme aus, und als die Morgensonne ins Thal glänzte, waren Dorf und Gehöft versunken; hoch darüber rauschte die Welle des Achensees.
Allmählich wird wohl auch diese Sage verklingen, wie so viele andere. Sie ist undeutlich geworden im Lauf der Jahrhunderte, da sie von Geschlecht zu Geschlecht schwankend wandern mußte, wandern wie der alte nächtliche Wandersmann, dessen irre Nebelgestalt wohl an Wodan, den alten Heidengott, erinnern mag. Es ist eine von jenen Sagen, die sich in wenig veränderter Form bei allen Völkern und in allen Zeiten bilden. Sie bewohnen den Erdkreis als lustige Geschöpfe der Völkerphantasie; sie schwinden aus den Städten; vor dem hastenden Lärm des Jahrhunderts und vor der entschleiernden Arbeit des Gedankens flüchten sie in die einsamsten Landschaften, wo sie noch bei Hirten und Köhlern eine Heimstatt finden. Wie lange – und auch diese wird ihnen genommen!
Frühere Alpenforscher gaben dem Achensee die ungeheure Tiefe von etwa 800 Metern, ohne zu bedenken, welch’ ein fürchterliches Loch sie damit in den Boden des Landes Tirol rissen. Neuere Messungen haben diese Tiefe auf etwa 130 Meter zurückgeführt, was immerhin noch anständig genug erscheint. Dabei ist er durchaus Gebirgssee. An seiner Ostseite flankiren ihn der breite Rücken des Unnütz und südlicher die Berggruppe des Hoch-Iss und Sonnwendjochs; an der Westseite der Seekar und Rabenspitz und südlicher die breite Felswand des Stanser Joches. Die Gehänge dieser über 2000 Meter hohen Berge fallen so steil nach dem See zu ab, daß der größte Theil seines westlichen Ufers wegen deren Steilheit völlig ungangbar ist. Am östlichen Ufer führt zwar die Straße entlang, sie mußte aber stellenweise in jäh abschießende Kalkwände gesprengt oder auf Pfählen in den See hinaus gebaut werden.
Obwohl sein Abfluß, die Ache oder Walchen, nach Bayern hinaus strömt, ist der Achensee doch von Tirol aus besiedelt worden. Warum, das begreift sich leicht, wenn man erwägt, wie lang und finster der Weg von Bayern und wie kurzweilig und anmuthig der aus dem Innthal herauf ist. So alt auch der Verkehr zwischen [765] Tegernsee und Achensee sein mag, zu solch’ internationaler Bedeutung konnte die Straße sich doch nie aufschwingen wie die Straßenzüge von Mittenwald oder über den Fernpaß nach Tirol. Dafür haben die Anwohner des Achensees, im Gegensatze zu denen anderer Bergwasser, frühzeitig gelernt, sich der Segel bei ihrer Schiffahrt zu bedienen; und schon vor Jahrzehnten, als es noch keine Eisenbahnen in Tirol und kein Dampfboot auf dem Achensee gab, konnte der Bergwanderer, der zu Fuße – denn einen Omnibus kannte man damals noch nicht an diesen Ufern – daherkam, von einem frischen Tirolermädchen in einem schaukelnden Segelboot über den See hin gesteuert werden. Keine Bequemlichkeit der Gegenwart, kein Dampfer und keine Zahnradbahn vermögen die poetische Einsamkeit und Stille zu ersetzen, in welchen der See und seine Ufer damals lagen.
Heute ist der Achensee vollständig zum internationalen Touristenschaustück geworden. Der Vergnügungsreisende, der das Innthal auf Dampfesflügeln durcheilt, nimmt ihn mit, was ihn nur einen Abstecher von etwa drittehalb Stunden kostet. Dann kann man mit dem nächsten Zuge wieder weiter eilen. Moderner Unternehmungsgeist hat natürlich nicht nur die Verkehrsmittel verbessert, sondern auch die Wirthshäuser um den See herum vermehrt und umgestaltet. Wer vor einem Vierteljahrhundert zu Fuß daher gepilgert kam, pflegte zumeist bei der preiswürdigen „Scholastika“ Einkehr zu halten, am nördlichen Ende des Sees. Die Scholastika – „Laschtika“ heißen sie die Achenthaler Bauern – ist eine blühende Gastwirtschaft. Am Anfange des Jahrhunderts war sie Eigenthum des im tiroler Freiheitskampfe berühmt gewordenen Anton Aschbacher. Von ihm übernahm das Anwesen seine Nichte Scholastika, die dem Hause den Namen gab und bis an ihr Ende im Jahre 1881 (vergl. „Gartenlaube“ 1881, Nr. 6) in ganz Tirol als wackere Herbergsmutter hochgeschätzt war. Wenn nun auch das Haus dem Zeitgeiste entsprechend sich erweitert und verschönert hat, so sind doch die Nachfolgerinnen der ersten Scholastika den alten guten tiroler Ueberlieferungen treu geblieben, thun kein Wasser in den Wein und schreiben den Gästen nicht mehr auf, als recht und billig ist.
Etwas südlicher, auch an der Straße, auf einem Fleckchen grünen Landes, das durch die Bergwasser hier angeschwemmt ward, liegt wieder eine Ansiedelung: schmucke Holzbauten mit zierlich geschnitzten Altanen und Veranden, laubumrankt. Das ist der schnell berühmt gewordene „Seehof“. Ihn hat die aus dem Zillerthale stammende Volkssängerfamilie Rainer sich ersungen und erjodelt während der Sängerfahrten, welche sie viele Jahre lang in die Städte Deutschlands und Oesterreichs unternahm. Der Seehof ist ein Hotel für jene Reisenden, welche lieber fahren als zu Fuße gehen, mit dem Trinkgelde nicht knausern und reichbesetzte Tafeln mit mannigfachen Weinkarten höher schätzen als ländliche Stille und Einsamkeit. Aber auch für anderweitige Genüsse hat die unternehmungslustige Sängerfamilie gesorgt, denn in dem zum Seehof gehörigen Kaffeehause, das in den See hinausgebaut ist, geht’s an Sommerabenden lustig zu; die Sängerfamilie hat trotz ihres Hotelbesitzes das Singen nicht verlernt, da wird gesungen und gejodelt, Zither gespielt und getanzt. Und die nordländischen Reisenden, welche dabei sitzen, sind entzückt über dieses „tiroler Volksthum“, welches die schlauen Sänger ihnen so nett und so gemüthlich zubereitet haben, und singen nach Möglichkeit mit: „Duliäh, Duliäh!“
Ernsthafter, aber landschaftlich weit schöner ist’s in der Pertisau. Das ist ein breiter, goldgrüner Grasfleck, eigentlich ein großer Schuttkegel, den die wilden Bergwasser des Karwendelgebirgs am südwestlichen Seeufer zwischen die Bergriesen eingeschwemmt haben. Auf diesem Grasboden steht eine Ortschaft, welche fast nur aus Wirthshäusern besteht. Nackt und grausig schauen einzelne Hochgipfel des Karwendelgebirges auf das paradiesische Fleckchen herab. Hier, am Ufer der Pertisau, ist der See unvergleichlich schön; an Sommerabenden versprüht die Natur hier einen Farbenzauber, als sei das ganze Landschaftsbild aus buntschillernden Edelsteinen zusammengesetzt. Der türkisblaue See, in welchem die Lichtreize der Oberwelt sich zauberhaft spiegeln, die rothglühenden Schrofen des Sonnwendjochs, das so nahe gegenüberliegt, als wollte es wie ein riesiges Dach sich auf den See niedersenken; die schwarzgrünen Wälder an den Berghängen; die von duftigem Violett überflogenen, an den Kanten goldig gesäumten Kalkspitzen des Karwendelgebirges, die aus dem Falzthurnthal herüberwinken – all das zusammen giebt eine fast berauschende Harmonie von landschaftlichen Eindrücken.
Die Pertisau muß eine uralte Ansiedelung sein. Wenige Plätze im ganzen Hochgebirge konnten den kühnen Siedlern, welche zuerst an die Seitenthäler des Innthals eindrangen, um sich Wohnstätten aufzusuchen, einladender erscheinen als dieser felsummauerte und fluthumrauschte Erdenwinkel. Auch der Name, so seltsam klingend, muthet uns tausendjährig an – ist’s doch die alte Heidengöttin Perchta, auf welche die „Perchtens-Aue“ zurückgeführt wird.
Das Heidenthum ist freilich frühzeitig verschwunden. Denn schon im 12. Jahrhundert schenkten die zu Schlitters im Zillerthal seßhaften Herren Dietrich und Gerwin, denen dazumal die Landschaft gehörte, den ganzen Achensee sammt der Pertisau an das Benediktinerstift zu Sankt Georgenberg. Die Mönche von Sankt Georgen zogen sich aus der mühseligen und einsamen Bergeshöhe, in welcher ihr Klösterlein lag, später herab nach dem im Innthale unweit Jenbach sichtbaren Kloster Fiecht; und diesem gehört der Achensee und das Besitzthum zu Pertisau noch jetzt. Außer den Mönchen von Fiecht, welche hier in der Sommerfrische sich beschaulichem Treiben hingaben, wußten aber auch weltliche Fürsten die unvergleichliche Schönheit des Ortes und die wildreichen Jagdgründe der Umgebung zu schätzen. Erzherzog Sigismund ließ im 15. Jahrhundert ein hölzernes Jagdschlößchen hier erbauen, und sein Nachfolger in Tirol, der ritterliche Kaiser Maximilian, pflegte des Weidwerks am liebsten in der schönen Bergeinsamkeit zwischen dem Achensee und der Martinswand. [766] Einmal, im Jahre 1501, empfing er sogar spanische und venetianische Gesandte zu Pertisau und lud sie an eine Tafel, die bloß mit Achenseefischen besetzt war. Auch später erhielt sich der Achensee in der Gunst der Herrscher von Tirol, und eine Tochter Ferdinands I., die als vormalige Königin von Polen ihren Witwensitz im Innthale aufgeschlagen hatte, kam zuweilen den Jenbacher Berg heraufgeritten, um sich dann in zierlichem Nachen auf dem See zu schaukeln und ihre Angelschnur in die blaue Tiefe zu senken. Was sie wohl dabei geträumt haben mag, die einsam schwärmende Königin?
Lebhafter und fröhlicher ward es wieder in der Pertisau, als Erzherzog Ferdinand, der schönen Philippine Welser jagdfroher Gemahl, das alte Holzhäuschen durch ein schönes Jagdschloß ersetzte, dessen Räume mit Weidmannstrophäen reich ausgestattet waren. Das Jagdschloß erweiterte sich zum „Fürstenhause“; ein venetiamscher Schiffbaumeister ward berufen, der den See mit reichgeschmückten Fahrzeugen ausstattete; prächtige Reiterzüge bewegten sich den Jenbacher Berg herauf und von den Ufern des Sees erscholl Rossegestampf, Rüdengebell, Hörnerklang und Weidmannsruf bis weit in die Felsthäler hinein.
Dann, als die schöne Welserin und ihr fürstlicher Gemahl gestorben waren, versank der See wieder in mehrhundertjährige Stille. Nur mit den Mönchen von Fiecht, die etwa zur Stärkung ihrer Gesundheit heraufpilgerten, kamen ab und zu Innsbrucker Gäste herauf, denen in den Sommermonaten die Luft des Innthales zu heiß und schwer ward und die hier in der Pertisau in frischerer Bergluft rasten mochten.
Das vornehmste und älteste Gasthaus der Pertisau, das „Fürstenhaus“, ist noch eine Domäne des Klosters Fiecht. Des Klosters Verwalterin, die „Veronika“, übt hier eine unumschränkte patriarchalische Herrschaft. Man merkt, daß man unter dem Krummstabe lebt; ein würdevoller Ernst durchweht das Haus, übermüthiges Lärmen ist durch die Ueberlieferung verpönt, an Freitagen wird gefastet. Wer sich der Sitte des Hauses nicht fügen will, der erhält, ohne daß es ihm eigentlich gesagt wird, von selbst den Eindruck, daß er überflüssig sei und gehen könne, etwa nach dem Seehof hinüber, wo er genug „Tradeldio“ und „Holdrio“ haben kann.
Die Pertisau ist auch der beste Platz am See für wanderlustige Menschen. Wer einen hochinteressanten Spaziergang von ein paar Stunden unternehmen will, geht den „Mariensteig“ entlang, welcher über die Felswände des Westufers hinwegklettert und bis zum Nordende des Sees führt. Man kommt dabei über die „Gaisalm“, die auf winzigem Rasenfleckchen unter den Steilwänden des Seekars liegt. Wer aber weiter hinan will, in die Wildniß des Hochgebirgs, den lockt die unmittelbar über der Pertisau aufragende Rabenspitze und ihre Nachbarin, die Seekarspitze. Mannigfaltiger sind die Bergpfade auf dem mächtigen Sonnwendjoch, welches gerade gegenüber der Pertisau aus dem See aufsteigt. Es ist kein einzelner Berg, sondern ein ganzer Gebirgsstock, reich an den verschiedenartigsten Bildern, welche die Hochgebirgswelt zu bieten vermag: an Schluchten und Gräben, grünen Matten und öden Hochflächen, Steilwänden, Waldterrassen, unheimlichen Seespiegeln und schauerlichen Trümmerfeldern. Weithin in den Ortschaften des ganzen Unterinnthals ist dieser stolze Berg sichtbar; das möchte wohl dazu führen, daß, wie sein Name sagt, schon in alter Heidenzeit auf ihm die Sonnwendfeier abgehalten ward.
Droben unter den Felszinnen dieses Berges, auf klippiger Hochfläche, liegt in todtenstiller Einsamkeit der Irdeiner See; dessen Namen die grübelnde Forschung von der Göttin Erda, der nordischen Hertha, herleitet. Seltsame Mär umspinnt diesen See, seine Fische sollen goldene Zähne haben und Gold im Leibe tragen. Dort sprudelt auch ein „Goldbründel“ aus dem Fels und eine Zaubergrotte birgt verwunschene Schätze. Von diesen Schätzen schenkte einst ein gespenstiges Bergfräulein einem armen Hirtenbuben so viel, daß er in Steinberg, am Fuß des Sonnwendjochs, einen stattlichen Bauernhof erbauen konnte. Der Hof steht heute noch. Der Irdeiner See aber und seine Geister können nicht bloß Segen spenden, sondern haben auch grausige Macht. In der Sonnwendnacht, heißt es, brülle der See, daß man ihn bis ins Zillerthal und nach Brandenberg hört; und eigene Messen, die im Kloster zu Mariathal gestiftet wurden, sollen verhindern, daß er über seine Ufer steige und als verheerende Sündfluth ins Innthal niederbreche.
Weit wilder als die Ostumwallung des Achensees sind jene Berglandschaften, die sich westwärts von dem grünen Gelände der Pertisau erschließen. Drei Thäler ziehen nach der Pertisau herab: das Tristenauthal, das Falzthurnthal und das Gernthal. Während aber das erste bald unter den Wänden des Tristkogl zu Ende geht, führen die beiden andern den rüstigen Fußwanderer weit nach Westen in jene ausgedehnte Gruppe der Nordkalkalpen, die sich unter dem Namen des „Karwendelgebirgs“ zwischen dem Achenthale und dem Scharnitzpaß aufbaut. Da gilt es vielstündiges Wandern über grüne Alpenmatten und stille Jochsteige; dann aber eröffnet sich dem Naturfreunde ein Gebiet von schauerlicher Großartigkeit. Ueber unbeschreiblich einsame Thalwinkel, in welchen grüne Ahornhaine rauschen, ragen Bergketten mit riesenhaften Gipfeln, weißgrau und kahl steigen sie empor als seltsam geformte Zinken und Hörner. Unter den Steilabstützen des „Hochglück“ und „Grubenkarspitz“ flimmert blaues Gletschereis und fern, fern verhallt der Lärm des Jahrhunderts.
Aber zurück nach unserem See!
Eine halbe Stunde südöstlich von Pertisau, am Südende des Achensees, liegt das freundliche Gasthaus zum „Seespitz“ und die Endstation der Achenseebahn. Diese kleine Eisenbahn, wie ein Werk aus „Tausend und eine Nacht“ in der unvergleichlich kurzen Zeit vom November 1888 bis zum April 1889 erbaut, verbindet den See mit der Station Jenbach um Innthale. Vom Seeufer führt sie zuerst als gewöhnliches Schienengeleise nach den Stationen Maurach und Eben, die beide noch über dem Spiegel des Achensees liegen. Maurach ist ein reizend gelegenes Dörfchen, mit braunen Holzhäusern, überragt vom Gewände des Sonnwendjochs, über welches der Talfazer Wasserfall herabstäubt. Die nächste Station Eben steht auf der Scheide zwischen der Landschaft des Achensees und jener des Innthales. Weit hinaus winkt das rothe Thurmdach. Hier ruhen die Gebeine der heiligen Notburga. Diese fromme Magd, die Schutzheilige des weiblichen Hausgesindes in ganz Süddeutschland, lebte im 13. Jahrhundert als Dienerin auf dem Rottenburger Schlosse, dessen Ruinen heute noch ins Innthal hinab schauen. Wie die heilige Elisabeth in Thüringen speiste die tugendhafte Notburga die Armen, indem sie ihnen heimlicherweise gab, was sie sich vom Munde abgespart hatte. Darüber erzürnte sich Ottilie, die Burgfrau von Rottenburg, und sie trieb die mildthätige Magd aus dem Schlosse. Nun trat Notburga bei einem Bauern in Dienst, und mit ihr zog Segen und Wohlstand in den Hof. Hier that sie auch ihr schönstes Wunder. An einem Sommertage, als bei sinkender Sonne die Feierabendglocke klang, betete sie und wollte dann vom Felde heim. Der Bauer, dem der Garben noch nicht genug auf dem Felde lagen, ward unmuthig und befahl ihr, weiter zu arbeiten. Da sagte sie lächelnd: „Es ist Feierabend!“ Mit diesen Worten warf sie ihre Sichel in die Luft, und siehe da – die Sichel blieb an einem Sonnenstrahle hängen, der vom sinkenden Tagesgestirn her über die Felder sich spann. Es scheint, daß der Bauer seit jener Zeit aufhörte, die Arbeitsstunden über Gebühr zu verlängern. Die Sage berichtet weiter, daß in seinem Hause Wohlstand und Glück verblieben und sich mehrten, während auf dem Schlosse der Rottenburger alles zurückging. Spät erst kam die strenge Ottilie auf den Gedanken, Notburga zurückzurufen und um Verzeihung zu bitten. Und Notburga kam und verzieh, und von derselben Stunde an kehrte das Glück der Rottenburger zurück. Als die Heilige aber zu sterben kam, sollen Engel ihre Seele sichtbarlich gen Himmel getragen haben. Vorher hatte sie bestimmt, man solle ihre irdischen Reste auf einen mit zwei Stieren bespannten Wagen legen und sie dort begraben, wohin sie die Stiere ohne Lenker fahren würden. So geschah’s, und die Thiere führten den Wagen über den Inn und hinauf nach Eben zu einer kleinen Kapelle. Hier ward Notburga begraben. Als an ihrer Ruhestätte mit der Zeit sich mannigfache Wunder begaben, wurde sie allmählich als Heilige verehrt und anstatt der kleinen Kapelle ward eine schöne Wallfahrtskirche erbaut, vielbesucht von frommen Betern. Gern vergönnt man dem reizenden Platze das Heiligthum, obgleich hier nicht verschwiegen werden darf, daß man auch im Schwabenlande sich rühmt, eine Grabstätte der heiligen Notburga zu besitzen; nur ist die schwäbische Notburga keine niedriggeborene Magd, sondern ein Königskind. Welche von den beiden heiligen Mädchen aber die richtige sei, können wir hier ununtersucht lassen. Nur das sei noch erwähnt, daß manche Züge aus [767] dem Leben der tirolischen Notburga den Forscher an uraltes Heidenthum erinnern und an die dunkle Göttin, deren Schatten noch über die Felszinnen des Sonnwendjochs und über die stillen Wasser des Irdeiner Sees hingeistert.
Wir sind von Pertisau zu Fuße nach Eben gewandert, in der Hoffnung, die Wallfahrtskirche beschauen zu können. Es ist ein strahlender heißer Sonntagmorgen. Blendendweiß steht die Kirche da, gefüllt mit Andächtigen; aus dem Portale hört man jedes Wort des Predigers. Wir mögen das Landvolk in seiner Andacht nicht stören; darum verzichten wir auf den Eintritt. Seltsam aber wird unsere Aufmerksamkeit erregt durch eine einsame Mädchengestalt in Landestracht, die außen am Portale lehnt, in Gebet versunken, mit staubigen Schuhen. Unter dem großen Hute hervor schaut ein müdes trauriges Gesichtchen, das in Kummer und Reue die Welt anzuklagen scheint.
Ergriffen wenden wir uns seitab nach den Bänken einer kleinen Weinschänke, die unter wohligem Schatten nahe bei der Wallfahrtskirche stehen. Und wie wir die Kellnerin fragen, warum wohl jene blasse Wallfahrerin nicht in die Kirche eintrete, sondern draußen bete, meint sie nach einem flüchtigen Blick hinüber: „’s wird wohl was verschuld’t haben, das arme Ding, daß es sich nit einitraut!“
Ein Rauchwölkchen, vom Achensee her gleitend, mahnt uns an den Aufbruch zur Bahn. In Eben beginnt der Eisenweg jäh nach dem Innthale sich zu senken; hier reichen die gewöhnlichen Schienen nicht mehr aus; auf gezahnter Stahlstange klettert die Lokomotive, mit einem Zackenrade in ihren Weg sich einklammernd, in die Tiefe. Noch einen Blick zurück nach dem Spiegel des Achensees und nach der einsamen Beterin an der Wallfahrtskirche – dann hat uns der Wagen aufgenommen. An den Häusern von Fischl geht’s vorüber, wo sich der Blick nach der weiten schimmernden Tiefe des Innthals aufthut, nach dem blauduftigen Zacken des Kaisergebirgs im fernen Nordosten, und nach den silberglänzenden Schneegipfeln des Zillerthals im Süden. Gerade unter dem Schienenwege wird das schimmernde Band des Innstroms sichtbar mit den alten Ritterburgen, welche dem Eingang des Zillerthals umlagern. Ueber dem Thurm und den Dächern von Jenbach aber erschließt sich nun auch der westliche Theil der Landschaft: das stolze Schloß Tratzberg, das einst so silberreiche Bergwerkstädtchen Schwaz und weit im Südwesten, wie ein leuchtendes Märchen über dem Thalschlusse hängend, die Gletscher der Stubayer Alpen. Und während das Auge trunken in dieser Landschaft schwelgt, klettert unermüdlich das eiserne Zackenrad in seiner hastigen Arbeit an der Station Burgeck vorüber und an dem ansehnlichen und rührigen Dorfe Jenbach, um unmittelbar neben der Station der Innthalbahn anzuhalten. Und nun pfeifen die Lotomotiven wieder, lange Wagenzüge rollen heran; internationales Reisetreiben umschwirrt uns. Wir sind wieder auf der Weltverkehrsstraße, die uns entweder nach Norden hinausführt ins bayerische Flachland oder südwärts und westwärts, wo der Sonnenstrahl auf ewigen Schneefeldern liegt.