Der Curort Meran

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Textdaten
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Autor: O. B.
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Titel: Der Curort Meran
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 443-446
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[443]

Aus den Tyroler Bergen.

Nr. 1. Der Curort Meran.

Es giebt einen gewissen Grad von Naturschönheit, der auf das Gemüth feinfühlender, gebildeter Seelen einen Eindruck macht, als ob hier der Heimathsboden all ihrer stillen Träume, ihrer phantastischen Vorstellungen und idealsten Wünsche gefunden wäre. Gegenden, wo diese seltene Empfindung herrschend wird, zeichnen sich nicht sowohl durch imposante Formen und kühne Naturphänomene, als durch ein harmonisches inniges Zusammenwirken all ihrer Einzelheiten aus.

Als ein solcher Urboden sehnsüchtiger Naturträume erscheint dem Reisenden Meran. Es ist ohne den farbenreichen Pinsel des Malers schwierig, von einer merkwürdigen Gegend ein anschauliches Panorama zu entrollen. Während der Maler alle Eindrücke neben einander stellen und mit einem Male dem Auge faßlich machen kann, vermag das Wort nur nach einander im Geiste des Lesers Vorstellungen zu erwecken, welche endlich das Gesammtgemälde zusammenbauen. Der einzige Vortheil ist, daß die erzählende Schilderung, weil sie die leiblichen Augen und ihre optischen Gesetze nicht zu berücksichtigen braucht, auch hinter die Büsche schauen, durch die Berge bis in die Nebenthäler hindurchblicken, mit einem Wort, um die Ecke sehen kann.

Unter allen Thälern der gesammten Alpenwelt zeichnen sich vorzüglich vier durch die Länge und Bedeutung ihres geschlossenen Bergcharakters aus: das Rhonethal, das Rheinthal, das Innthal und das Etschthal. Während das Innthal von keinem andern an Größe und Gewaltigkeit erreicht wird, da es sich im ungeheuersten Landschaftswechsel von Silva Plana in Graubünden bis dicht vor Rosenheim in Baiern dahin zieht: bietet das Etschthal die größten Gegensätze durch seine klimatischen Verhältnisse. Hierin steht es einzig da, denn noch unter dem Namen des oberen Vintschgau bei Reschen beginnend und ganz von der eisigen Düsterkeit einer nordischen Gletscherwelt im höchsten Styl umgeben, von der gigantischen Nachbarschaft des Ortler und der Laaser Ferner überragt und durch die steilen Vorberge der Oetzthaler Gletscherwelt eingeengt, geht es allmählich bei Mals in die mittlere Alpentemperatur des unteren Vintschgaus über, fällt dann bei der Töll in einen warmen, sonnigen Bergkessel hinab und erstreckt sich von hier aus unter dem wirklichen formellen Namen „Etschthal“, den Lauf von Mitternacht nach Mittag richtend, über Botzen, Trient, Roveredo und die Chiusa bis nach Verona. Wer die Etsch von [444] ihrer Quelle im öden kalten Rahenthal bis zu den Lorbeer- und Cypressenhügeln des Giardino Ginsti bei Verona verfolgt, dessen Sinne haben fast alle Klimata Europa’s kennen gelernt.

Jener geschützte warme Kessel nun, den ich vorhin erwähnte, und in welchen die Etsch von der Töll aus sich hinabsenkt, ist das eigentliche Thal von Meran. Ein wahrhaft bedeutungsvoller Punkt, wie er sich unter so günstiger Situation nirgend weiter auffinden läßt. Wie eigentlich auch Botzen nicht direct an der Etsch, sondern seitwärts am Zusammenfluß der Talfer und des Eisack liegt, so werden auch die Gärten Merans nicht von der Etsch, vielmehr von der reißenden Passer bespült, welche eine Viertelstunde oberhalb der Stadt in die Etsch mündet. Betrachten wir das Panorama.

Wir überschreiten den hohen gewölbten steinernen Brückensteg, welcher über die Passer führt, und ersteigen den kleinen Hügel, auf dem das Dorf Obermais liegt, ganz nahe als Vorort an Meran grenzend. Es ist der Standpunkt, von dem unser beigefügtes Bild aufgenommen ist. Im Norden steigt mit imposanter Kühnheit und in sonnenblendender Felsenpracht eine zackige, aber dabei doch graziös wellenförmige Gebirgsgruppe empor. Ihre höchsten Kanten sind fast das ganze Jahr hindurch mit blitzendem Schnee gesäumt, denn dieser mächtige Bergstock, der einen weiten flachgestreckten Bogen, nordöstlich vom Eingang in das Passeyerthal bis nordwestlich weit in das untere Vintschgau nach Partschius hinein bildet, erhebt sich durchschnittlich 8000 Fuß über die Meraner Thalsohle. Diese selbst liegt nur 900 Fuß über dem Meere, eine verhältnismäßig große Tieflage am Fuße der Hochalpen, die viel zur Wärme des Klimas beiträgt.

Jene herrliche Bergreihe, am Fuße blühend und prangend mit Obst-, Nuß- und zahmen Kastanienwaldungen bestanden, während sich höher hinauf Tannen anschließen, von den Gipfeln der kahlen Urgebirge, Mutspitz, Redelspitz, Tschigat (Tschegot), Zielspitz und Sonnenberg überragt, bilden die gewaltigen Vorsprünge der Oetzthaler Ferner. Sie schützen das Meraner Thal gegen Norden vor dem rauhen Andrang der Luft und geben einen wahren Heerd für die zurückprallende Mittagssonne. Die Rebe gedeiht an dieser Berglehne in üppiger Fülle. Die besten Trauben bringt sie am Küchelberg, einem niedrigen, das heißt immer doch 1200 Fuß dicht über dem Städtchen Meran aufsteigenden Vorhügel, der sich wahrscheinlich durch einen vorgeschichtlichen Bergsturz von den Wänden der Mutspitz herabgesenkt hat. Er trägt auf seinem hinteren Rücken fruchtbare, wasserdurchrieselte Wiesen und Baumfelder und das Dorf Tyrol. Weiterhin überblickt man am Fuße dieser eben beschriebenen stilvollen Berggruppe, mehr oder minder im Grunde oder auf mäßiger Höhe, zwischen Weingärten aufgebaut, noch die Oertchen Grätsch, Steinach, Algund, Plars, Töll und Partschins.

Dies ist also der Blick nach Nord-Nord-West, Nord-West und Westen bis in das Vintschgau hinein, dessen Krümmung vom vorspringenden Sonnenberg so ziemlich geschlossen wird. Die untere Fläche dieses Thalwinkels von Meran zwischen der Stadt und der Töll präsentirt sich als ein schwimmendes Wiesenmeer, von einzelnen Bauerngehöften geschmückt und mit reichen Plantagen von Obstbäumen und Weiden an den zahlreichen Bewässerungsbächen und Rinnen durchzogen. Die jungen Weiden werden in ihren biegsamen Zweigen zum Anbinden der Weinreben benutzt; die Obstbäume sind meistens Apfelbäume mit jenen europäisch berühmten Aepfelsorten, welche als Maschausker (Borsdorfer), Lederäpfel (eine besonders schöne Reinettenart), Taffetäpfel und besonders weiße und rothe Rosmarin die Desserttafeln aller nordeuropäischen Gastmähler zieren.

Wendet man sich nun nach Süden, so schaut man das eigentliche Etschthal entlang, nach Botzen zu. Der waldige, kuppelförmige Marlinger Berg nimmt die Ecke ein, an welcher dieses Thal in das Vintschgau einbiegt. Die Berge von Ulten, der Hoch-Laugen und die Mendelspitz (La Mendola) setzen die westliche Einfriedung des Botzener Thales weiter fort. In tiefem blaugrünem Sonnenduft, wie auf Glas gemalte durchsichtige Gebilde, liegen sie im Mittagsbeleuchtung entzückend vor dem Beschauer. Nur die Mendelspitz, welche diese Bergreihe schließt, in der Gegend von Kaltern, fällt als röthliches Dolomitgebirge mit ihrer hellen Felsenwand steil in’s Thal hinab, in scharf markirter Form. Ganz im Süd-Süd-Westen, wohl in einer Entfernung von zwölf Stunden, ist die Aussicht von einem lichtblauen Gebirgszug Welschtyrols geschlossen.

Die andere östliche Seite des Etschthals wird von einem bewachsenen, nur in einzelnen röthlich gelben und rothvioletten Felswänden kahlen Porphyrgebirge eingefaßt. Es ist der Zug des Freiberges, der sich vom Iffinger bis nach Botzen in abwechselnden, mäßigen Formationen erstreckt. In dem Etschthal, gleichfalls wiesengrün und baumdurchwachsen, fallen besonders freundlich auf die Ortschaften Untermais, am Fuße des Hügels, auf dem wir stehen; Marling, mit ausgezeichnetem Glockengeläut, auf einem kleinen Vorsprung des Marlinger Berges; die Geschwisterdörfer Lana, Völlan und Tifens. Alles trägt einen blühenden, lachenden Charakter und einen Farbenschmelz der Vegetation, der zwischen dem italienischen und deutschen die Mitte hält; tiefes Grün, mannigfaltige südliche Früchte, aber hoher, mächtiger Baumwuchs und Grasflächen, wie sie nur dem Norden eigenthümlich sind.

Dreht man sich nun direct nach Norden hin, so daß der Panoramakreis um die ganze Windrose beschrieben ist, so sieht man zwischen der links (westlich) gelegenen circa 8000 Fuß hohen Mutspitz mit dem vorspringenden Fußgestell des Küchelberges und dem rechts (östlich) gelegenen etwas höheren, gespaltenen Felskegel des Iffingerberges den Eingang in das Passeyrthal, welches durch den großen patriotischen Bauernhelden Andreas Hofer für alle Verehrer des vaterländischen Opfermuthes, für alle Bekenner dieser höchsten Pflicht so berühmt geworden ist. Man kann dieses Thal insofern ganz entlang schauen, als man den Schluß desselben, den blauviolett-grünen Bergrücken des Jausenpasses (mons Jovis) hinter St. Leonhard übersieht. Zugleich erblickt man die Dörfer Schönna, Kains und Riffian.

Was aber zunächst als romantischer Punkt des Vorgrundes, nahe am Eingänge des Passeyrthals in das Meraner, dem Auge auffällt, ist die alte Ruine der Zenoburg, deren noch ziemlich erhaltenes Gemäuer, epheuumrankt und mit Bäumen verwachsen, auf einem senkrechten Felsvorsprung sich zu pittoresker Decoration der Thalmündung erhebt. Am Fuße braust die Passer zwischen Steinblöcken im ausgewühlten Bett tosend daher. Es ist ein wilder gefährlicher Alpenbach, dessen jäh aufbäumende Fluthen oft schon die Mauern Merans bedenklich beschädigt haben. Aber er versorgt auch die Meraner mit Brennmaterial, denn das Holz, das im Passeyrthal in übergroßer Menge, oft von sehr unzurechnungsfähigen Händen, geschlagen wird, flößt die Passer im Frühjahr nach Meran, wo es an einem Wehr aufgefangen und auf einem dazu bestimmten Holzanger aufgestellt, vermessen und verrechnet, einen trüben Anblick für alle Diejenigen gewährt, welche die klimatischen und ökonomischen Verschlechterungen durch eine unverständige Entholzung schützender Gebirgsabhänge kennen gelernt haben. Die Passer windet sich bei ihrem Austritt aus Passeyr in einem stumpfen Bogen nach Westen hinüber, und zwischen ihrem Uferrand und dem schon erwähnten Küchelberg ist im Mittelalter, nicht zur Römerzeit, das Städtchen Meran erbaut[1], welches nach Obermais zu, am Rande des Wassers, jenen Theil mit an sich geschlossen hat, der eigentlich Steinach heißt.

Obermais, auf dem Hügel unseres Standpunktes, ein zwischen Weingärten, Maisfeldern und Obstbäumen freundlich gelegenes und mit zahlreichen mittelalterlichen Villen, Schlößchen und kleinen Burgen malerisch decorirtes Dorf, hängt auf seinem schrägen Abhang eigentlich mit Untermais zusammen. Jenes Untermais ist die Stätte, welche ein wichtiger Punkt für die Geschichte und antike Literatur werden könnte; von hier aus ließe sich Vieles aufklären, was bis jetzt dunkel war und dunkel bleiben wird. Unter diesem lachenden Dorfe Obermais nämlich liegt – eine alte Römerstadt begraben. Hier stand die von Drusus gegründete Mansio Maja, das alte Castrum majense, ein wichtiger Punkt für das damalige Alpengebiet und allen Vermuthungen zu Folge ein stattlicher Ort.

Vornehme Römer, denen die eroberten märchenhaften Alpenlande etwas Neues waren und die nach dem Gardasee (Bennacus Lacus) und nach anderen Gegenden zum Lustaufenthalt zogen, um der drückenden ungesunden Sommerluft Roms zu entfliehen, werden auch nicht verfehlt haben, in Maja ein Tusculum aufzuschlagen. Schätzte man doch schon damals das herrliche Klima und das Gedeihen des Weinstocks im Etschgrund und am Küchelberg.

Auf welche Weise nun ging diese römische Niederlassung zu Grunde? Noch ist es nicht gelungen, das Jahr zu ermitteln, in welchem sich jene schreckliche Katastrophe zugetragen; sicher ist aber, daß dieses Naturereignis zwischen 800–850 nach Chr. Geb. eintrat. Es geschah nämlich ein ungeheurer Bergbruch, der den ganzen Vorberg des Iffinger, dadurch das jetzige Raisthal bildend, herabstürzte [445] und Maja ohne Rettung begrub. Die Schuttmassen waren unbeschreiblich, denn sie liegen bei Labers (in Obermais) 250 Fuß hoch und erstrecken sich herabsenkend bis nach Meran in einer Ausdehnung von 1200 Klaftern. Die Passer, welche früher bei St. Valentin, nahe am Freiberg, entlang geflossen war, wurde durch diese Verschüttung mit begraben und im Passeyrthal eingeengt. Hier einen mächtigen See aufstauend, fand sie endlich an der niedrigsten Stelle, am Felsen von Zenoberg, einen Durchbruch und bildete allmählich ihr heutiges Rinnsal. Die gewaltigen Felsblöcke waren bis zu der Stelle gerollt, auf welcher jetzt Meran steht, denn noch findet man im oberen Theile desselben, in Steinach, diese Findlinge vom Iffinger in den Fundamenten und Gartenmauern mit eingebaut. Einige Zeit darauf, vielleicht achtzig bis hundert Jahre, erscheint auf der tragischen Grabstätte des römischen Maja das Dorf


Meran.


Mais. Etwa um das Jahr 1000 aber erfolgte eine zweite Verschüttung, „Uebermurung“ in der Gebirgssprache genannt, welche bei Nacht eintrat und Mais 6–20 Fuß tief begrub. Endlich ist eine dritte, bei der der Sage nach die meisten Einwohner gerettet wurden, da sie sich auf einem Kreuzgang nach Lana befanden, wohl in die Zeit von 1350 zu setzen.

Diese letzteren Verschüttungen sind für die Geschichte wenig wichtig; gelänge es aber, durch einen Stollen mit richtig dirigirten Seitengängen wesentliche Gebäude des alten Maja wieder aufzufinden und besonders das alte Archiv, so würde man, da nichts gerettet werden konnte, nicht blos vielerlei Schätze und werthvolle Alterthümer, nein, man würde wahrscheinlich auch die uns fehlenden Werke wichtiger Classiker, z. B. des Tacitus, wiedergewinnen. Welcher Triumph für die Wissenschaft! Welches neue Licht für ewig dunkele historische Perioden!

Doch wir eilen, da unsere Rundsicht vollendet ist, von der Vergangenheit und von dem Hügel des schönen Mais hinweg und steigen nach Meran hinab. Es ist an und für sich ein altes, etwas finsteres Städtchen von circa 4000 Einwohnern, hauptsächlich nur von zwei Straßen, dem Rennweg und den „Lauben“, gebildet. Die letzteren, den Ort der Länge nach durchschneidend, sind in der Mittagsgluth und bei Regentagen als Promenade zu benutzen, da sie durch ihren trockenen Breterfußboden und durch ihre steingewölbte Decke der Häuser, unter denen sie entlang führen, gegen Feuchtigkeit von unten und Wetterlaunen von oben Schutz gewähren. Hier findet auch der sehr mangelhafte Obst- und Gemüseverkauf statt, dessen sich der Fremde in Meran zu erfreuen hat. Ich sage, der sehr mangelhafte, und bin darüber Rechenschaft schuldig. Der Meraner Bauer, bequem, vorurtheilsvoll, am Alten hängend und jedem Fortschritt abgeneigt, beschäftigt sich gar nicht mit feinerer Gemüsezucht, so theuer ihm auch die vielen Fremden, die hier eigene Küche führen und oft nichts zu kochen haben, diese Producte bezahlen würden. Was die Händlerinnen feil bieten, ist größtentheils sehr geringe Waare. Drei Obstgattungen giebt es aber, die hier und überhaupt im ganzen südlichen Etschthal köstlich sind: Wein, Feigen und Pfirsich. Unter den Meraner Trauben zeichnet sich die gewöhnlichste, eine blauschwarze Traube, ausnahmsweise von 2 – 3 Pfund Gewicht und mit einer grossen weichen, fleischig saftreichen Beere, am meisten aus. Sie heisst Vernatsch (wahrscheinlich von Veronaccia, Veroneser) und ist dicht unter der dicken Schale am süssesten. Obgleich sie eigentlich wenig Aroma hat, so übt doch der angenehme volle Fruchtgesckmack einen unwiderstehlichen Reiz.

Da die vielen Fremden (etwa 6–800 im Jahresdurchschnitt), welche Herbst, Winter und Frühjahr in Meran zubringen, entweder für ihre kranke Brust die Luft- oder Ziegenmolkencur, oder als Unterleibsleidende die Traubencur gebrauchen, so ist für die Letztern jener reizende Geschmack des Meraner Weins ein wahres Glück. Er erleichtert ihnen die Pein dieser Heilmethode, da sie auch mit sehr vorzüglichen weißen Trauben (einer Art Malvasier und Gutedel) wechseln können. Es giebt nämlich Traubencurpatienten, die [446] aus eigener Unkenntnis; oder aus der ihres Hausarztes täglich 5–10 Pfund Weinbeeren verspeisen und sich dabei wundern, daß sie so matt, so appetitlos sind und keinen Bissen anderer Speise mehr genießen mögen, die ihrem Körper Kraft und ihrem Gehirn Nahrung und Verstand gäbe. Später wundern sie sich noch mehr, wenn sie erst einsehen, wie durch dieses Uebermaß ihr Verdauungsapparat und ihr ganzer Organismus auf Jahr und Tag verdorben sind.

Einen höchst überraschenden, poetischen Anblick gewährt hier die Art des Weinbaues. Nicht wie am Rhein und in Frankreich werden die Reben an einzelnen Stöcken gezogen, kriechen auch nicht, wie in Calabrien, Sicilien und Griechenland, am heißen Boden dahin, sondern der Meraner Landmann baut für sie eigene Laubengänge aus Holzgerüsten, wobei ihm das Holz der zahmen Kastanie zum Einpfählen in die Erde wegen seines Widerstandes gegen die Fäulniß am liebsten ist. Unter diesen grünen lebendigen Weinlauben kann man im kühlen Schatten entlang gehen und sich an dem Anblick der herrlichen Früchte laben. Dieses Vergnügen kostet nur einige Kreuzer, denn zu all den Zeiten, wo sich Obst und Wein der Reife nähern, wird der Lustwandelnde hier von einer höchst abenteuerlichen Gestalt, mehr einem indianischen „Medicinmann“ als einem Europäer ähnlich, um „oan Tobakkroeuzer“ angehalten. Dieser Mensch, genannt der Saltner (Saldner, wahrscheinlich von Söldner herzuleiten), welcher von seinem Standpunkt aus alle Wege beobachtet, die von Spaziergängern betreten und von Spitzbuben gemieden werden, hat zu den Ersteren wegen des Tabakkreuzers, der häufig in einem Sechskreuzerstück besteht, eine ganz besondere Zuneigung. Er trägt eine curios gestaltete lederne Jacke und dito Hose, in der Hand, wie ein mittelalterlicher Flurschütz, eine mächtige Hellebarde und auf dem Kopfe einen dreikantigen Hut, der mit Gemsbärten, Eulenflügeln, Eichhornschwänzen, von der schwarzen und rothen Gattung, und bunten Bändern abenteuerlich geschmückt ist.

Von dem Wein von Meran, unter dessen Laubengängen zugleich wegen der Fruchtbarkeit des Bodens und Klimas noch allerlei Feldfrüchte, vorzüglich türkischer Weizen (Mais, „Kukerutz“), unvergleichlich wohlschmeckende Bohnen (Fisolen) und Plentenkorn (eine nahrhafte Haidegrütze, die ein graues Mehl zu täglichen Speckknödeln liefert) gebaut werden, wird ein fabelhaftes Quantum in Meran selbst verbraucht; in einer kleinen Haushaltung mit zwei Dienstleuten und einem zeitweisen Tagelöhner 20 – 24 Ihren (die Ihre zu 54 Tyroler Maß berechnet), in einer großen 50 –100! denn die Magd bekommt täglich ein halbes Maß, der Knecht ein Maß, bei allen anstrengenden Arbeiten, beim Heumachen, „Wimmen“ (Weinlesen), Bewässern jedoch drei. Wenn man dazu im Uebrigen eine reichliche, ja fette Kost und den Umstand rechnet, daß wegen der vielen Feiertage auf drei Jahre gerade ein volles Faulenzerjahr kommt; ja wenn man ferner bedenkt, daß ein Bauer, dessen Gut etwa 25,000 Gulden werth ist (beispielsweise der Hallbauer unter der Ruine Fragsburg, wohin so viele Fremde lustwandeln) zwölf Dienstleute hält, so kann man begreifen, daß hier der Eigenthümer von seinen Arbeitern gemüthlich „aufgezehrt“ würde, wenn der Himmel nicht durch die unglaubliche Tragkraft des Bodens Nachsicht gegen die unvortheilhaften Sitten und Übeln Gewohnheiten übte.

Trefflich aber sieht dieser Meraner Bauer aus. Es ist der Kern Südtyrols, der schwerere Bruder des kühnen Passeyrers, der sichere Schütze und todesmuthige hartnäckige Kämpfer des Befreiungskrieges von 1809, der, wenn sein Stutzen zertrümmert war, durch seinen Faustschlag den französischen Tschako mit sammt dem Schädel darunter zerschmetterte. Selbst die im Raufen so verwegenen bairischen Gebirgstruppen konnten dieser entfesselten Riesenkraft nicht Stand halten. Ein großer starker Männerschlag tritt uns entgegen. So wenig diese Bauern auch noch mit der früheren Begeisterung am österreichischen Regime hangen, so sehr halten sie doch auf ihr Nationalcostüm. Es ist wohl das auffallendste und dabei kleidsamste in den Alpen: sie tragen mit rother Naht geschmückte flache Schnallenschuhe, hellblaue oder eigentlich weiße Strümpfe; die Kniee sind bloß, die Beinkleider von schwarzem Leder; die braune Jacke, von starkem Lodentuch mit spannlangem Schooßlatz ringsum, hat vorn spitze Aufschläge von scharlachrothem Tuch; ein ebenso rothes Leibchen wird von grünen Hosenträgern mit einem Querband auf der Brust desto lebhafter hervorgehoben, und ein breiter, schön gestickter Ledergürtel schließt die Hüften, man möchte sagen, kugelfest ein. Mit der Tracht der Hüte ist in letzter Zeit eine Veränderung vorgegangen. Noch 1844 fand ich sehr breitkrempige, gegen die Sonne schützende Filzhüte mit niedrigem Kopf. Die verheiratheten Männer trugen sie schwarz, die Bursche grasgrün, natürlich mit Bändern und Sträußchen geschmückt. Jetzt trägt man eine Mittelgattung, der Rand halb so breit wie früher, der Kopf höher und etwas zugespitzt, doch beides nicht so stark wie bei den Inn- und Zillerthalern. Die alte Art erschien charaktervoller, die neuere ist flotter.

Das Nationalcostüm der Frauen hat sich sehr verloren, wenn ihnen auch eigentlich rothe Strümpfe, ein dunkler rothgeränderter Rock, ein seidenes, im Nacken, nicht unterm Hals, zugeknüpftes Tüchelchen, weiße Schürzen und schwarze Spitzhauben zukommen. Obgleich der Meraner Bauer im Grunde gutherzig und trotz seiner schweigsamen Bequemlichkeit von Natur sogar aufgeweckt ist, so wird es doch wegen einer gewissen mißtrauischen Scheu vor „Stadtherren“ dem Fremden schwer, mit ihm zu verkehren. Dazu kommt ein unendlich starker Dialekt. Und dennoch ist dieser Verkehr nöthig, wenn sich der Gast hier wirklich heimisch fühlen soll. In Bezug auf öffentliche Kaffeegärten und Restaurationen an schönen Punkten sieht es mit der Meraner Speculation noch sehr bescheiden aus. Der Fremde sehnt sich vor Allem nach Naturgenuß, verbunden mit leiblicher Stärkung außerhalb der Stadt. Da wandelt er denn zu Esel oder zu Fuß in anderthalb Stunden nach Schloß Tyrol, wo früher die Landeshauptleute der Grafschaft Tyrol residirten, während man von der Gründung dieser alten, im Innern wenig sehenswerthen Burg nichts Bestimmtes weiß. Desto wunderbarer ist die Aussicht über die Ruine Brunnenburg hinab, das sonnenbeleuchtete, blauduftige Etschthal entlang. Unten im Wiesengrund liegt die alte Burg Forst mit einem Brauhausgarten in der Nähe, in welchem alle Nichtkenner sich an einem für sie sehr angemessenen Biere laben.

In gleicher Entfernung wie Tyrol gelangt man auf einem kleinen Vorsprung des Marlinger Berges zu der noch sehr wohlerhaltenen Burg Lebenberg. Man sieht, wie köstliche Früchte hier der Citronenbaum trägt, wenn er auch im Winter zuweilen tüchtig leidet, labt sich an den prachtvollen Blüthen des Granatbaumes und genießt die Landschaft von einer andern Seite. Das Thal nach Italien zu liegt im Sonnengold duftig verhüllt, gegenüber die Höhen des Freibergs mit der hohen Fragsburg und hoch oben das alte Kirchlein St. Katharina in der Schart, vor dem Dorfe Hafling Wacht haltend. Nordöstlich an den Felswänden des Iffinger und des 10,000 Fuß hohen Hirzer blitzen die Sonnenstrahlen in gelbem Lichte. Anders wieder ist das Gemälde von Rametz aus, über St. Valentin, wo Lorbeer duften, Mandelbäume ihre rauhhaarigen Aprikosenfrüchte tragen und die große saftige Maulbeere von allen Arten den Gaumen erfrischt. Anders zeigt sich das ewig wandelnde Bild vom Schlosse Rubein in Mais mit seinen dunkeln Cypressen, und wer endlich nach Gain (Goyn) am Raisthal hinauf steigt und aus dem alten Burgerker blickt, wird sich immer wieder in ein neues Paradies versetzt glauben. Hat er es aber gelernt, mit dem Landmann ein wenig zu verkehren, oder begleitet ihn ein gefälliger Bewohner Merans, so wird er überall ein Bauerngut finden, in dessen Weinberg sich ihm ein gastlicher Tisch mit Kaffee, halbgeschlagenem Rahm („Maibutter“, die man mit Zucker tellerweis ißt), Nüssen, Kastanien, Wein, Feigen und sonstigen Früchten schönster Art für ein geringes Geld bedeckt.

So restaurirt man sich, wie man es nirgend sonst haben kann, auf wahrhaft poetische Weise, und will der Fremde noch außerdem in dieser nicht theuren Gegend praktisch wohnen, so wird er wohl thun, in der wärmern Jahreszeit das luftfrische Obermais, in der kühleren Zeit unten in der Stadt die Mittagsgegend an dem schönen Damm der Wassermauer oder die Häuser an und vor dem Vintschgauerthor zu wählen.

Was an historischen Ueberlieferungen, Sagen, Sitten und Culturzuständen von Interesse ist, wird sich ergänzend herausstellen, wenn ich es wagen darf, den nachsichtigen Lesern auch andere Punkte Südtyrols und des Etschthals zu schildern. Der überreiche Stoff gestattete für diesen Raum über Meran nur eine Skizze.

O. B.



  1. Die erste Urkunde datirt vom Jahre 1239; erst 1320 erscheint Meran als Stadt („civitas“).