Der Dichter der Arbeit

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Dichter der „Arbeit“
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 340
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1893
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[340] Der Dichter der „Arbeit“. Der russische Dichter Graf Tolstoi, der Verfasser der Romane „Anna Karenina“ und „Krieg und Frieden“, ist mit einer Lehre aufgetreten, welche der Menschheit neues Hell bringen soll. Im Jahre 1885 kam ihm ein kleines Manuskript vor Augen, in welchem ein fünfundsechzigjähriger Bauer, Timotheus Bondereff, die neue Hellswahrheit verkündigt: eine Verherrlichung der Arbeit und zwar der physischen Handarbeit, „der Arbeit des Brotes, wie er sie nennt, und der Bauern, welche solche Arbeit vollbringen. „Ich habe,“ sagt Bondereff, „gerechten Anspruch, mich auf denselben Lehnstuhl zu setzen, auf dem ein General Platz nimmt. Ja was sage ich, auf denselben? Nein, der General muß vor mir stehen bleiben; denn er verzehrt das Brot meiner Arbeit, nicht ich das der seinen.“ An einer andern Stelle sagt er: „Ich werde meinem Sohne in meinem Testament befehlen, mich nicht auf dem Kirchhof zu beerdigen, sondern in dem Boden, der, durch meine Arme umgewühlt, mir das tägliche Brot gab. Ich werde ihn bitten, mein Grab nicht mit Sand anzufüllen, sondern mit fruchtbarer Erde und jedes Jahr von neuem auf dieser Stelle das nährende Getreide zu säen.“

Dieser Lehre von der Arbeit des Brotes, die nach Bondereff auch eine religiöse Bedeutung hat und alle Tugenden einschließt, hat sich nun Graf Tolstoi angeschlossen, welcher 1888 das Werk Bondereffs mit einer Vorrede herausgab, nachdem er schon zwei Bücher von gleicher Tendenz, „Was ist zu thun?“ und „Das Leben“, verfaßt hatte. Ja, wie eifrig er schon früher den gleichen Weg verfolgte, beweist die Thatsache, daß sein Palast in Moskau das Schild trug: „Tolstoi, Schuhmacher“, ein Schild, das später auf Befehl des Czaren, dessen Mißfallen es erregt hatte, fortgenommen wurde. Der Graf hatte kein Bedenken gehabt, sein Wappenschild durch das Schild des Handwerkers zu ersetzen. Auch Tolstoi ist ein Apostel der Arbeit.

„Zieht aufs Land,“ ruft er, „flieht die ewige Orgie der Städte; arbeitet mit den Arbeitern, verdient euer Geld wie sie! Litteratur, Kunst und Wissen darf sonst keine Rolle spielen; alles ist nur für das Volk da.“ Diese Lehren enthalten im Grunde nichts Neues. Tolstoi ist der russische Rousseau; er predigt die Rückkehr zur Einfachheit der Natur, nur daß der Franzose wohl mehr an paradiesische Zustände dachte, während der Russe zur Losung das Wort nimmt: „Im Schweiße des Angesichts sollst du dein Brot essen“, also in der Vertreibung aus dem Paradiese erst das beginnende Hell der Menschheit erblickt. Die inneren Zustände Rußlands mögen solche Träumereierl rechtfertigen; da herrscht ja in unbegrenzten Landstrichen nur der Ackerbau. Doch die reichgegliederte Kultur in den Ländern des Westens, wie sie der Fortschritt der Weltgeschichte entwickelt hat, zurückschrauben zu wollen zu jenen anfänglichen Urzuständen einer patriarchaischen Zeit, das ist, so prosaisch und praktisch dies klingen mag, doch eine in den Lüsten schwebende Schwärmerei. †