Der Dråk (Drache)
Ein Knecht und eine Magd, welche bei einem reichen Bauer dienten, der auf einem Dorfe wohnte, nicht weit von Magdeburg, hatten schon längst ihre Betrachtung darüber gehabt, wo des mittags immer das schöne Essen herkam. Die Bäuerin liess nämlich das Mädchen keinen Sonntag in die Küche kommen, um dort Feuer anzumachen oder ihr beim Kochen zu helfen. Der Knecht sah auch nicht, dass der Schornstein rauchte, und doch war das Essen immer zur rechten Zeit auf dem Tisch, wenn die Kirche aus war, ob nun der Bauer und die Bäuerin in der Kirche gewesen waren oder nicht. Da beschloss denn der Knecht, der Sache auf den Grund zu kommen, und dazu sollte ihm das Mädchen behilflich sein. Er sagte also am nächsten Sonntag bei dem Frühstück, dass er in die Kirche gehen wolle. Einige Tage zuvor hatte aber die Magd in der Küche ein Fass ausräumen und dann umstülpen müssen, so dass der Boden des Fasses nach oben stand. Die Bäuerin hatte nicht weiter auf das Fass geachtet und so stand denn dasselbe am Sonntag noch ruhig da an Ort und Stelle. Als der Knecht gesagt hatte, dass er in die Kirche gehen wolle, meinte das Mädchen, sie wolle auch in die Kirche gehen und sich dazu anziehen. Darauf stand sie auf, ging aber nicht auf den Boden in ihre Kammer, sondern huschte heimlich in die Küche. Alsobald stand auch der Knecht auf, und als er im Flur an der Küche vorbeikam, stahl er sich heimlich hinein. Die Magd stand schon bereit und stülpte sofort das Fass über den Knecht, welcher sich niedergeduckt hatte, dann schlüpfte sie wieder aus der Küche und ging auf den Boden, zog sich an und begab sich in die Kirche.
Die Glocken hatten längst geläutet, das Haus war leer, denn auch der Bauer war in die Kirche gegangen, und noch immer sass der Knecht ruhig unter seinem Fasse. Endlich hörte er, dass jemand in die Küche kam. Er dachte sich gleich, das werde die Bäuerin sein, und so war es auch, wie er bald merken sollte. Erst hörte er nämlich, wie mit [74] einer grossen Schüssel hantiert wurde, dann trat die Frau an den Herd und rief den Schornstein hinauf:
„Dråk, kelkse.“
Da antwortete eine Stimme von oben den Schornstein herunter:
„Hä kickt.“
Darauf rief die Bäuerin wieder nach oben hinauf:
„Dråk, kelkse.“
Aber der Drache rief wieder von oben herunter:
„Hä kickt.“
Da wurde die Frau ärgerlich und rief scheltend hinauf: „Ach watt, et is jo keener hier; wat Du man wilt. Et sind jo alle nå de Kirche. Maak fix un kelkse. Die Kirche is balle ut, wenn se kåmen, denn willen se ok äten, un ick häbbe keen Fier. Kelkse man, die Schettel steiht unnen.“
Alsobald kamen die Klump- und Speckstücke den Schornstein nur immer so herunter gepoltert in die Schüssel hinein, wie der Knecht an der Art des Geräusches und an dem Geruch merkte, welcher bis zu ihm unter die Tonne drang.
Endlich rief die Bäuerin:
„Et ist guet, de Schettel is vull.“
Darauf wurde alles still und die Bäuerin ging mit ihrer Schüssel fort.
Der Knecht kroch alsobald unter seinem Fass hervor und schlüpfte in den Stall. Als die Kirche aus war, machte er sich auf dem Hof zu schaffen und that so, als ob er eben aus der Kirche gekommen sei. Dann rief ihn die Magd zum Essen.
Richtig stand die Schüssel mit Klump und Speck auf dem Tisch. So schön das Essen nun auch aussah und roch, so widerstand es doch dem Knecht zuzulangen. Die Bäuerin wunderte sich darüber und fragte ihn, warum er nicht zulange. Nun konnte aber der Knecht nicht mehr an sich halten und rief:
„Ei pfui Deuwel, det frät Ji man silwst,
Der Dråk het den Klump und den Speck utekelkst.“
Da merkte die Bäuerin, dass der Drache doch recht gehabt habe, als er gerufen hatte: „Hä kiekt.“ Sie liess sich zwar an dem Tage nichts merken, aber schon den folgenden Tag lohnte sie den Knecht ab. Aber auch die Magd mochte nicht auf dem Gehöft bleiben, denn der Knecht hatte ihr alles erzählt. Sie kündigte und nahm einen andern Dienst an.