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Der Genialsten Einer

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Textdaten
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Autor: La Mara
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Titel: Der Genialsten Einer
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aus: Die Gartenlaube, Heft 38, S. 630–632
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Der Genialsten Einer.
Von La Mara.

Ja, der genialsten Einer unter den mitlebenden jüngeren Künstlern ist aus dem Leben gegangen. Vor der Zeit, in der Blüthe der Manneskraft, fast ein Jüngling noch in der äußern Erscheinung ward uns Karl Tausig durch ein neidisches Schicksal entrissen. Dem unfehlbaren Virtuosen, wie die Geschichte der Kunst außer dem einzigen Liszt keinen größern kennt, dem feinsinnigen Interpreten der verschiedensten Meister und Epochen, dem unermüdlichen Lehrer und Förderer der Tonkunst, ihm ward ein karges Maß irdischen Daseins gesetzt und eine frühzeitige Ruhe beschieden, noch bevor er sein Tagewerk vollenden durfte. Sollten wir darob nicht klagen? Wohl ist die Schule des Meisters, an dessen Größe die seine sich emporgerankt, nicht an diese eitle Erscheinung gebunden. Noch haben wir Bülow, Bronsart, Sophie Menter und Andere, die die Errungenschaften seiner Virtuosität auch kommenden Zeiten zu übermitteln berufen sind; aber der Geist seines großen Lehrers war am reinsten auf ihn übergegangen, dessen wahlverwandtester Jünger er schien. Polnisches Blut, wie es heiß in seinen Adern strömte, steht ungarischer Art nicht allzu fern. An Leidenschaft und dämonischer Kraft glich Tausig seinem Meister am ehesten, wenn ihm auch dessen Idealität, der wundersame Zauber seiner Menschlichen und künstlerischen Individualität fremd geblieben. Hätte man jemals an einen Erben Liszt’s denken können, so hätte Tausig gegründetere Ansprüche als je ein Anderer auf solch stolze Erbschaft gehabt. Von dem Knaben schon hatte der Meister das große Wort gesprochen: „Er soll auf meine Schultern treten“ – doch es ist dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen!

Nicht aber die müßige Hoffnung, daß er uns Liszt, den für die Oeffentlichkeit verstummten souveränen Beherrscher des Claviers, ersetzen könnte, ist uns mit seinem Tode verloren gegangen. Wir meinen, daß die Natur nur einmal und nicht wieder gleich verschwenderisch spendet; auch trug sich Tausig selber nicht mit so stolzen Plänen, und an ein Erreichen des Höchsten hat er niemals gedacht. „Er ist ein Riese, wir sind nur Menschen,“ sagte er selber im Hinblick auf Liszt noch an jenem letzten Abend, den er in leidlicher Gesundheit hienieden noch verleben durfte, in dem geselligen Kreise, der sich Liszt’s Anwesenheit zu Ehren in Leipzig versammelt hatte. Er war erfüllt von der Bedeutung Dessen, deß Lehre und Beispiel er nächst dem Segen von oben nahezu Alles dankte, was er erreicht, und dessen Hand ihn mit wahrhaft väterlicher Fürsorge geleitet bis zur Via triumphalis seines kurzen Künstlerlebens. So war auch seine letzte That auf Erden noch ein Act der Liebe für den Meister. Um ihn vor der Abreise aus Deutschland noch einmal zu sehen und die von ihm aufgeführten Kirchenwerke zu hören, war er trotz Unwohlseins nach Leipzig gekommen. Er kam, um hier zu sterben.

Am 4. November 1841 ist Karl Friedrich Tausig zu Warschau geboren. Dort genoß sein Vater, Aloys Tausig, den Ruf eines ebenso trefflichen Pianisten als Musiklehrers; er leitete den ersten Unterricht seines Sohnes in der Tonkunst. Still und geräuschlos entfaltete sich dessen wahrhaft phänomenale Begabung; und nichts von Alledem verlautete, was man sich sonst von Wunderkindern erzählt. Ein wohlthätiger Zweck nur führte den neunjährigen Knaben ein einziges Mal in den Concertsaal; was er dort producirte, war das Resultat bereits fünfjähriger Studien. Er hatte sein vierzehntes Jahr erreicht, da brachte ihn sein Vater nach Weimar zu Liszt, um seine weitere Ausbildung in dessen vielvermögende Hände zu legen. Beim ersten Anhören schon erstaunte der Meister über dies außerordentliche Talent, denn die geistigen Schwingen regten sich schon gewaltig in dem schwächlich aussehenden Knaben, der sich bald zu stolzem Flug emporheben sollte.

Doch trug Liszt Bedenken, seinen weitern Unterricht zu übernehmen, und beschied den Vater ablehnend mit dem Bemerken, daß bei einer solch riesigen Organisation die freie selbstständige Entwicklung ohne Lehrer die fruchtbarste sei. Indeß bestand Karl selbst darauf, bei Liszt zu verbleiben. Er studirte übermäßig und legte, unter Vorbildnahme der Universalität seines Meisters, den Grund zu seiner umfassenden allgemeinen Bildung. Ohne Neigung für die Geselligkeit, in der er sich bis an sein frühes Ende gleich blieb, verhielt er sich meist zurückgezogen in Weimar, zufolge des ihm eigenen scharf ironischen Humors nur manchmal in kleine Händel verwickelt und darum während seiner Jünglingsjahre nicht eben sehr beliebt und gern gesehen. Nur Liszt blieb ihm immerdar ein milder wohlgeneigter Freund, wiewohl er nicht selten der allzu großen Nachsicht gegen den übermüthigen Schüler beschuldigt wurde. „Ich konnte wohl nicht anders und liebte ihn von Herzen,“ sagt er selbst von ihm, und neidisch räumte man dem kleinen Karl Tausig das Vorrecht ein, das enfant gâté der Altenburg zu sein.

Auf den öfteren Reisen, zu denen Liszt durch die Aufführung seiner Werke veranlaßt wurde, durfte er ihn begleiten, so nach [631] Dresden, Leipzig, Berlin, Prag, Wien. In letzterem Orte wählte er sich später seinen Wohnort, als, nach vier Jahren eifrigsten Lernens, der Ausspruch seines Lehrers ihn für geschickt erklärt hatte, nun selbstständig um den Preis des Ruhmes zu werben.

Er hatte sich zuerst nach Dresden gewandt, wohin auch sein Vater übersiedelte und wo die Fürsorge einiger Freunde ihm ein erstes Concert in engerem Kreise vorbereitete. Dann begab er sich nach Wien, wo ihm das Glück entschieden ungünstig war. Er versuchte die in Weimar gewonnenen Kunstanschauungen fruchtbar werden zu lassen und arrangirte mehrere Orchesterconcerte, in denen die von ihm dirigirte Hofoperncapelle einige symphonische Dichtungen seines Meisters, wie Werke Wagner’s und Berlioz’, zur Aufführung brachte. Aber der Boden Wiens war noch nicht genügend vorbereitet zur Aufnahme derselben; sein Vorhaben mißlang, und von der Kritik auf das Bitterste angegriffen, zog er sich zurück, hierin nur einen Anlaß zu größerer Vertiefung erblickend und weiteren Studien in ernstester Weise nachlebend. Denn er war streng gegen sich selbst und niemals that er sich genug, so unermüdlich er strebte. Der Zwiespalt zwischen Wollen und Können, zwischen Ideal und Wirklichkeit, die Kluft, die ihn von seinem Ziele trennte, sie machten ihn tief traurig und unglücklich und nährten die Melancholie, zu der sein Wesen ohnehin neigte. „Wie oft in Stunden der innigen Mittheilung,“ sagt der ihm nahestehende Freund Davidson in dem schönen Nachruf, den er ihm gewidmet, „gab er der Verzweiflung Ausdruck, jenes Ziel, das einzig des Lebens und Strebens werth sei, niemals erreichen zu können, und wenn dann begütigende Freundesworte ihn darauf hinwiesen, daß gerade dies Immerhöherstreben, dies Sichselbstungenügen die Gewähr dafür biete, daß er das Mögliche erreichen werde, daß alles menschliche Vermögen, selbst das höchste, seine Grenze finde, dann lächelte er bitter und erwiderte, daß nicht die Grenze menschlichen Könnens überhaupt, sondern die seines Könnens ihn bekümmere. Er war unerbittlich gegen sich und, bei allem Stolz für die Sache, bescheiden für seine Person. Wem er anders erschien, der kannte ihn nicht.“

Künstlerische Vollendung freilich wird nicht ohne Kampf und Mühen gewonnen und die reichen Früchte fallen Keinem in den Schooß, der sie nicht mit Fleiß und Sorgfalt gezeitigt. Deß ist auch Karl Tausig’s Leben Zeuge. In Sturm und Drang begann seine Künstlerlaufbahn, und in ernster Arbeit nur gelang es ihm, sich emporzuringen zu der Ruhe und Klarheit, die seine späteren Leistungen kennzeichnen. Denn nicht wie andere reproducirende Künstler ging er von jener akademischen Objectivität aus, wie sie die ältere Schule lehrte und ausbildete, die, gleichgültig gegen die Individualität des Interpreten, von der Wiedergabe des Kunstwerks wenig mehr als einen typischen traditionellen Abdruck desselben forderte. Er ist vielmehr den entgegengesetzten Weg gegangen. Mehr, als es sich mit unseren Ansichten von gereiftem Künstlerthume verträgt, ließ er früher sein eigenes Selbst in den Vordergrund treten; wild und ungezügelt durchloderte das ihm innewohnende Feuer die durch ihn zur Anschauung gebrachten Schöpfungen und zeigte sie in einem neuen, fremdartigen Lichte. Erst ist dem Maße, als sich sein künstlerisches Wesen und Bewußtsein klärte, milderte sich jene gewisse Willkürlichkeit seiner Auffassung, drängte er sein Selbst hinter dem Kunstwerk, das Mittel hinter dem Zweck zurück. Was mag es ihn gekostet haben, dies heißblütige Selbst zu überwinden und niederzukämpfen fast bis zur künstlerischen Selbstverleugnung, wie er sie in seinen letzten Jahren übte! Auf ein geringeres Maß ist die individuelle Mitgabe und Auslegung des darzustellenden Kunstwerkes wohl selten beschränkt worden. Ließ er doch in dieser Beziehung selbst den leidenschaftslosen Hans von Bülow hinter sich, dessen kühl reflectirender Natur die seinige zuvor als völliger Antipode gegenübergestanden.

Wie aber seine frühere Subjectivität, als ein Uebermaß unbezähmten persönlichsten Empfindens, vielfältigem Tadel begegnete, so erfuhr auch seine nachmalige Objectivität, als ein Uebermaß von Kunst und Gleichgültigkeit gegen die vermittelten Kunstgestaltungen, den gleichen Widerspruch. Er, der selber eine scheinbar unerschütterliche Ruhe bewahrte, indeß er die Seelen seiner Zuhörer in tiefste Erregung versetzte, durfte wohl lächeln über den Vorwurf der Kühle, eingedenk des heißen Kampfes und der schwer errungenen Selbstbeherrschung, deren Preis diese äußere Ruhe war. Denn nicht Willkür, sondern bewußte künstlerische Absicht, das Resultat innerer Erfahrung, war die Wandlung seiner Darstellungsweise. Weil er es als das seiner Begabung angenehmste erkannte, verfolgte er dies Ziel, weit abseits von der genial selbstschöpferischen Reproductionsart Liszt’s, die er wohl als die höhere, inspirirtere erkannte, der er jedoch seine Kraft nicht gewachsen fühlte. Jene harmonische Lösung der Gegensätze von Subjectivität und Objectivität, die Vermählung des eigenen Ichs mit dem außer ihm stehenden, die, als Ideal aller reproducirenden Kunst, sich in Liszt erreicht zeigt, mußte Tausig’s Streben unerreichbar bleiben. Darum antwortete er den Fragen der Freunde, warum er bei seiner Bewunderung für den Meister nicht denselben Weg eingeschlagen habe, stets abweichend, daß seine Art und Weise ihn auf den entgegengesetzten hinweise und daß er suchen müsse, sich in seiner Eigenart zu vollenden.

Wir wissen, mit welch peinlicher Gewissenhaftigkeit er dies gethan, allzeit den eigenen Kräften mißtrauend, nimmer mit sich zufrieden, und, ob auch Tausende durch die Vollendung seiner künstlerischen Leistungen mit Begeisterung erfüllend, niemals glücklich im tiefsten Innern.

Schopenhauer’s Lebensanschauung, die er sich früh zu eigen gemacht hatte,“ sagt der Freund, dessen wir bereits gedachten, „trug nicht dazu bei, die Harmonie seines Wesens herzustellen. In hohem Maße suchte er das Aufsichselbstgestelltsein dieses Philosophen für sich praktisch werden zu lassen; aber ein Künstler und vor allen Dingen ein Virtuos ist kein Gelehrter, der sich aus der Welt und aus dem Leben in seine Klause zurückziehen darf. Er soll auf Markt und Straßen Kunde geben von Dem, was ihm aufgegangen, und nach außen auf Andere wirken. Das gab seinem Wesen einen Zwiespalt, dessen Ausgleich vielleicht erst spätere Jahre bewirkt hätten. In letzter Zeit stieg er zu der Quelle hinauf und wandte sich dem Meister deutscher Philosophie, dem Mann des kategorischen Imperativs, Kant, zu. Ueberhaupt war Tausig’s Erholung Abwechselung in der Thätigkeit. Nicht mit dilettantischem Enthusiasmus, sondern in ernster, tiefer Arbeit studirte er Naturwissenschaften, Mathematik. Seine Belesenheit in der deutschen und namentlich auch französischen schönen Literatur war erstaunlich, denn er las niemals blos um sich zu unterhalten. Als Schachspieler stand er unter Denen, die dies geistvolle Spiel nicht berufsmäßig treiben, wohl mit in erster Reihe.“

Indessen begünstigten leider auch Tausig’s äußere Verhältnisse seinen Hang zu ernster, ja trüber Lebensauffassung, und den ihm in früheren Jugendjahren eigenen Uebermuth hatte die harte Hand der Erfahrung längst abgestreift. Der Versuch, sich ein häusliches Glück zu gründen, scheiterte. Das Glück floh ihn in den kurzen Tagen seiner Ehe und einem flüchtigen Besitz der von ihm erwählten Gattin folgte eine lange Trennung, die sein früher Tod nun zu einer ewigen gemacht hat.

Ebenso waren seine künstlerischen Unternehmungen anfangs keineswegs gesegnet. Dresden und selbst das musikalisch so empfängliche Wien verhielten sich ihm gegenüber spröde und gleichgültig. Er mußte in mißlichen Verhältnissen ausdauern, bis des ihm befreundeten Bülow Mahnung, weiter zu ziehen und in Berlin sein Heil zu versuchen, ihn zuerst nach der nordischen Metropole führte. Eine Reihe von Concerten, mit denen er sich daselbst vorstellte, und deren erstes im December 1865 stattfand, wurde für sein künftiges Leben entscheidend. Von jetzt ab begann Tausig die Früchte treuer und unablässiger Arbeit endlich zu ernten.

Mehr und mehr gewann er sich die Sympathien des ist Sachen der Kunst als frostig geltenden Berliner Publicums, und die offene Feindseligkeit der Kritik verwandelte sich allmählich in die ungetheilte Anerkennung selbst Derer, deren Ansichten und Ueberzeugungen in völlig anderem Boden wurzelten. Darin erblickte er eine wahrhafte Freude und innere Genugthuung, so wenig er sonst jemals um Gunst und Beifall oder Geld zu buhlen pflegte. Denn nie konnte er sich entschließen, dem trivialen Geschmack der Menge die geringste Concession zu machen. Weder seine Programme noch die ganze Art seines Spiels gingen darauf aus, durch den Glanz bloßer Virtuosität zu blenden. Die Meister, deren Clavierwerke er vorzugsweise und fast ausschließlich spielte: Scarlatti, Bach, Beethoven, Schumann, Chopin, Liszt, sind am wenigsten geeignet, den seichten Bedürfnissen Jener zu genügen, die in der Kunst nicht mehr und Höheres denn flüchtige Unterhaltung suchen.

Berlin gründete den Weltruf des Künstlers, und dankbar erwählte derselbe es dafür zu seinem Wohnsitz. König Wilhelm [632] ernannte ihn im Kriegsjahr 1866 zu seinem Hofpianisten; er war der Liebling der hohen Aristokratie und fand in ihren Kreisen manche seiner begabtesten Schüler. Nie ward man müde, seine klaren, feinsinnigen Interpretationen, die elastische Kraft und Zartheit seines Anschlags, die Unfehlbarkeit seiner aller Schwierigkeiten spottenden Technik, seine Kunst der Nüancirung, die ihn für Alles den richtigen Ausdruck finden ließ, zu bewundern; ein jedes der von ihm angekündigten Concerte war im voraus eines in allen Beziehungen glänzenden Lohnes sicher.

Im October 1866 vermehrte Tausig die Kunstanstalten der preußischen Residenz um eine Schule für höheres Clavierspiel, an der er zu Nutz und Frommen seiner Kunst als Lehrer wirkte und eine Anzahl tüchtiger Schüler und Schülerinnen bildete. Von Berlin aus auch unternahm er seine kleineren und größeren Wanderungen in die Welt hinaus. Er concertirte 1866 in Hamburg, Dänemark, Schweden, 1867 in Leipzig, wo er im Gewandhause größten Beifall erzielte und später wiederholt auftrat, 1868 in Holland. Auch Ungarn und die Türkei waren Zeugen seiner Triumphe, wogegen er die Schweiz, Frankreich und England nur als genießender, nicht aber als spendender Künstler durchreiste.

Im Interesse Anderer immer gern thätig, verschmähte Tausig doch für seine eigene Person jede Art von Reclame, wie sich selbst die besseren Künstler deren nicht selten bedienen. Der strenge Maßstab, den er an jegliche seiner Leistungen legte und der sich beispielsweise darin kundgab, daß er eine Einladung der Leipziger Gewandhausdirection zur Mitwirkung in einem ihrer Concerte noch unlängst ablehnte, weil er (dessen Gedächtniß bekanntlich fast die gesammte Clavierliteratur umfaßte) augenblicklich „nichts fertig habe, was er spielen könne“ – dieser strenge Maßstab bedingte auch seine sich steigernden Anforderungen gegenüber seinen schöpferischen Arbeiten.

Auch seinem Entwickelungsgange als Componist fehlte nicht die Sturm- und Drangperiode, die er als Virtuos durchleben mußte, und die nur Wenigen erspart bleibt, in denen der Genius den göttlichen Funken entzündet. Viel Ungleichmäßiges, Ungeklärtes findet sich in seinen früheren Erzeugnissen, das ist gewiß, obschon sie genialer Züge keineswegs entbehren. Er selbst verwarf dieselben auch und betrachtete sein bisheriges Leben nur als Vorbereitung für eine umfangreiche productive Thätigkeit. Vier Concert-Etuden, die im vergangenen Winter entstanden, bezeichnete er als seine ersten selbstständigen Compositionen und veröffentlichte sie als Opus 1, hiermit Alles negirend, was er im Lauf von elf Jahren von eigenen Clavirwerken, wie von Bearbeitungen fremder Schöpfungen herausgegeben hatte. Unter Letzteren gerade aber findet sich viel Werthvolles. So seine Uebertragungen der Beethoven’schen Quartette für Clavier, die Liszt als meisterhaft anerkannt, desgleichen der Toccata und Fuge von Bach (D-moll) und der Märsche von Schubert. So auch die „Nouvelles soirées de Vienne“ nach Liszt, die drei Paraphrasen über Tristan und Isolde, zwei andere über die Walküre, wie der Clavierauszug der Meistersinger und des Kaisermarsches von Wagner. Zu Gunsten der Pianisten und als dankbarer Verlagsartikel dürfte sich auch das baldige Erscheinen seiner Bearbeitung des zweiten Concertes von Chopin (E-moll) empfehlen, die Liszt als vollständigst gelungen und ebenso maß- wie stil- und effectvoll rühmt. Tausig selbst brachte sie während des letzten Winters in Leipzig zu Gehör; doch erregte sie auf dem musikalisch streng conservativen Boden Opposition, weil sie der Physiognomie des Originals hier und da einen veränderten Ausdruck gab.

Im Uebrigen entzog er sich in letzter Zeit mehr denn sonst der Oeffentlichkeit; tief verstimmt durch den Krieg, verstand er sich nur dazu, in einigen Wohlthätigkeitsconcerten mitzuwirken. Ohnedies von natürlicher Reizbarkeit und keineswegs starker Organisation, in Folge jahrelanger unmäßiger Ueberanspannung der Nerven und namentlich der Gedächtnißkraft, überanstrengt, fühlte er sich im Beginn dieses Sommers sehr angegriffen und klagte über ein schleichendes Unwohlsein, das ihn zum Arbeiten unfähig mache. Ein rheumatisches Leiden, das ihn noch zudem befiel, bestimmte ihn zu dem Entschluß, in Ragaz in der Schweiz Genesung zu suchen, das ihm schon früher heilbringend gewesen war. In Begleitung zweier ihm befreundeter Damen, der Gräfin Krockow und Frau v. Moukhanoff-Nesselrode, gedachte er sich des dortigen Aufenthaltes zu erfreuen; zuvor aber wollte er in Leipzig noch einmal mit dem Meister zusammentreffen, dem er seit seinen Lehr- und Knabenjahren mit glühender Verehrung und Dankbarkeit ergeben war. Nur wenige Mal, im Frühjahr 1861 in Paris und gelegentlich der Weimarer Tonkünstlerversammlung, wie im Mai 1870 beim dortigen Beethovenfest, hatten sie einander wiedergesehen, seit der große Lehrer seinen Schüler einst mit seinen Segenssprüchen entlassen.

Nun drängte es den Letzteren noch einmal in Jenes Nähe. Er brach einen Landaufenthalt bei Dresden im Hause der Gräfin Krockow kurz ab und traf am 2. Juli während eines vom Riedel’schen Gesangverein veranstalteten Kirchenconcerts noch rechtzeitig ein, um die zwei von Liszt aufgeführten Werke zu hören. Mit Wärme äußerte er sich über den durch dieselben empfangenen Eindruck zu uns, seinen Nachbarn, als wir am Abend in heiterer Tafelrunde beisammen saßen. Den materiellen Genüssen der Tafel gegenüber zwar verhielt er sich gänzlich abgeneigt, diese seine Enthaltsamkeit durch körperliches Unbehagen motivirend. Doch zeigte er sich, wenn auch nicht allzu gesprächig, doch angeregt und liebenswürdig, weit entfernt von dem anspruchsvollen Wesen, das man ihm sehr mit Unrecht nachgesagt. Vor Jahren schon waren wir ihm begegnet, als er, ein Knabe noch, bei Liszt in Weimar studirte und bereits damals Alle, die ihn hörten, ob seiner Fertigkeit in Staunen versetzte. Wir hatten uns oftmals seitdem seiner gereiften Künstlerschaft erfreut, nun fanden wir uns noch einmal ihm persönlich nahe.

Es war das letzte Mal, daß er sich im Leben noch fröhlicher Geselligkeit erfreute! Der nächste Morgen schon warf ihn auf das Krankenlager, von dem er sich nicht wieder erheben sollte. Mit all seinen Kräften widerstrebte er der Krankheit, aber endlich bezwang sie ihn doch. Wenige Tage später nach Ausbruch des Typhus auf Andrängen des Arztes in das Leipziger Krankenhaus gebracht, erbat er telegraphisch die Gegenwart der Freundinnen, mit denen er die Freuden der Reise zu theilen gehofft hatte. Ihre treue Sorgfalt hielt Wacht an seinem Bett und sie, die verständnißvollen Gönnerinnen seiner Kunst im Leben, erleichterten ihm nun auch die Qual seiner letzten Stunden. Der Gedanke an die Kunst aber verließ ihn noch jetzt nicht und seine Phantasien waren ein wüstes musikalisches Durcheinander. „Wagner ist todt, Bülow ist todt und Liszt hat ein schweres Unglück betroffen!“ rief er unter Anderm der Gräfin Krockow zu, die ihn nur mit Mühe zu beruhigen vermochte. Er sah seinen Tod voraus und klagte, daß er so früh schon sterben müsse, da er doch so gern noch leben und seine Aufgabe erfüllen möchte. Aller Trost und Zuspruch ließ ihn ungläubig; er schüttelte den Kopf, fühlend, daß seine Stunde gekommen.

Die Hoffnung der Aerzte auf einen günstigen Ausgang der Krankheit schwand plötzlich, nachdem am 15. Juli eine unerwartete Veränderung im Zustand des Kranken eintrat. Sie erkannten, daß alles menschliche Vermögen hier eitel sei. Seine bisherige Aufgeregtheit wich einer dumpfen Theilnahmlosigkeit. Die Blumen und Grüße, die ihm fernher von schöner Hand gesandt wurden, kamen zu spät, um ihn hienieden noch zu erfreuen. Ruhe, tiefe Stille war sein einzig Begehr. Seine letzte Kraft war der Beobachtung seiner Krankheit zugewandt, und die Bitte, ihm den Thermometer zu reichen, mit dem er die Höhe seines Fiebers maß, war das letzte Wort, das die Umherstehenden von seinen Lippen vernahmen. Dann verloren sich seine Worte in dem unverständlichen Lallen eines Sterbenden. In vollem Bewußtsein schied er aus dem Leben, und in der vierten Morgenstunde des 17. Juli war der letzte Kampf ausgekämpft.

Das Schicksal hat gewollt, daß er in Leipzig sterben sollte, für das er, vielleicht in Vorahnung seines baldigen Endes, geringe Sympathien hegte. Freunde, die von Berlin herbeigeeilt waren, empfingen seine irdische Hülle und geleiteten sie zurück nach der einstigen Stätte seiner Wirksamkeit. Dort bettete man ihn am Vormittag des 21. Juli unter den Klängen des Beethoven’schen Trauermarsches, von Donner und Blitzen begleitet, in sein frühes Grab.

Wir aber stehen trauernd an dem frischen Hügel, der ihn deckt, das vorzeitige Ende eines Künstlerdaseins beklagend, das so reich begnadet schien von der Natur und das ein höherer Wille doch still stehen hieß, noch bevor es sich ausleben und vollenden durfte. Der reifen Frucht dachten wir uns zu freuen und müssen uns nun genügen lassen, nur ihre Blüthen geschaut zu haben!