Der Kommissionsrath

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Autor: Rudolph Lindau
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Titel: Der Kommissionsrath
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 11, 12, S. 344, 346–348, 372, 374–375, 378–380
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1892
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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[344]

Der Kommissionsrath.

Novelle von Rudolph Lindau.


Auf dem Marktplatz der kleinen norddeutschen Stadt N. stand ein altes Haus, das Herr Konstantin Stevenhagen seit fünfundfünfzig Jahren, das heißt seit dem Tage seiner Geburt, bewohnte. Das lange einstöckige Gebäude war durch einen breiten, niedrigen Thorweg in zwei gleiche Theile getheilt. Auf der einen Seite hauste Herr Stevenhagen mit seiner Ehegenossin, einer kleinen behäbigen, würdigen Frau, die nur um wenige Jahre jünger war als er, den andern Theil des Wohnhauses nahm ein offener Laden ein; außerdem befanden sich dort das Comptoir und das Lager des alten Geschäfts „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“. Der einzige Inhaber dieser achtungswerthen Firma war Herr Konstantin, Enkel des alten Samuel Stevenhagen, der das heute noch fast unverändert fortbestehende Geschäft ausgangs des vorigen Jahrhunderts gegründet hatte.

Herr Konstantin Stevenhagen war ein untersetzter, breitschulteriger Mann mit kahlem Kopfe und glattrasiertem, rundem Gesicht, in dem ein Paar klarer, blauer Augen vertrauenerweckend, mit freundlicher, sicherer Würde in die Welt hinausblickte. Er stand in wohlverdientem hohen Ansehen bei seinen Mitbürgern und hatte seine innige Freude an der geachteten Stellung, die er einnahm, denn er gab mehr, als er es wohl selbst wußte, auf äußeren Schein. Er war in streng konservativen Gesinnungen erzogen worden, und seine Achtung vor der „hohen Obrigkeit“ und vor allem, was von nah oder fern damit in Verbindung stand, war ihm eine zweite Religion, die niemals durch einen Zweifel erschüttert worden war. Im Znsammenhang damit hegte er eine tiefe Verehrung für Titel, Orden und überhaupt für alle Auszeichnungen, welche von der Regierung verliehen werden. Als ein fester Freund des Althergebrachten betrachtete er Neuerungen mit Mißtrauen und beglückwünschte sich oftmals, einen Ort zu bewohnen, den Eisenbahnen und Gasanlagen bisher noch verschont hatten. Die Telegraphenstation der kleinen Stadt hatte für ihn etwas Unheimliches, aber da sie unter der Leitung eines königlichen Beamten, des Herrn Postmeisters, stand, so kam nie ein Wort des Tadels gegen diese Einrichtung über seine Lippen.

Herr Konstantin Stevenhagen handelte mit Zeugstoffen und ähnlichem; „Tuch-, Wolle- und Wirkwaren-Geschäft“ stand auf dem alten gelben Schilde über dem Thorweg. Vor dem Ladentisch erschienen die Frauen des Städtchens und kauften, was sie an Stoffen zu den Anzügen für sich selbst und für die Ihrigen gebrauchten, ohne viel zu feilschen, da Herrn Stevenhagens „Solidität“ über jeden Zweifel erhaben war; und hinter dem Ladentisch stand, wenn Frau Mathilde ihn nicht ablöste, was aber nur selten vorkam, Herr Konstantin Stevenhagen in eigener Person, mit würdevollem Lächeln und zuvorkommender Freundlichkeit, die oftgebrauchte Feder hinter dem Ohre – denn er borgte der ganzen Stadt – die Elle in der Hand und mit Engelsgeduld den endlosen Auseinandersetzungen folgend, die in den meisten Fällen einem jeden, selbst dem unbedeutendsten Einkauf vorangingen. Er war deswegen auch bei den Frauen des Ortes besonders beliebt und seine Kundschaft eine so treue und verhältnißmäßig ausgebreitete, daß er das hübsche Vermögen, das er von seinem Großvater und Vater ererbt, noch recht erheblich vermehrt hatte, so daß er in seiner Heimath für einen sehr reichen Mann galt und auch an einem größeren Orte mit Recht hätte für wohlhabend gehalten werden dürfen.

Herrn Konstantin Stevenhagens einziges Kind, seine Tochter Agathe, hatte sich vor zehn Jahren mit dem Bäckermeister Mertens, ebenfalls einem angesehenen und wohlhabenden Manne, verheirathet. In dieser Ehe waren zwei Kinder geboren worden, die auf Wunsch des Großvaters die schönen Namen Anastasius und Thusnelda erhalten hatten. Es waren ein paar blonde, helläugige, dralle Kinder – „Borsdorfer Aepfelchen" nannte sie der alte Doktor Nehring, dessen Lieblinge sie waren, obgleich sie ihm nie etwas zu thun gegeben hatten. Sie waren die Freude und der Stolz des Großvaters. Anastasius war seit seiner Geburt dazu bestimmt, das Geschäft „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“ zu erben; über Thusneldas Zukunft hatte man noch keine Bestimmung getroffen.

Die Familie Stevenhagen stand in stetem und ganz regelmäßigem Verkehr mit der Familie Mertens. Die Eltern speisten einmal in der Woche bei dem Bäckermeister und seiner Frau, und diese sowie die beiden „Borsdorfer Aepfelchen“ waren jeden Sonntag bei Herrn Stevenhagen zu Tisch eingeladen. Aber auch für die übrigbleibenden fünf freien Abende in der Woche war in regelmäßiger Weise gesorgt: es gab einen Kegelabend, ferner einen l’Hombreabend, die Herrn Stevenhagen gewöhnlich von seinem Hause entfernten, während Frau Mathilde dann zu ihrer Tochter oder in ein Kränzchen ging; zwei Abende waren der Buchführung und Handelskorrespondenz gewidmet, denn am Tage fand Herr Konstantin nur selten Zeit, ruhig schreiben zu können; den letzten, einzig unbesetzten Abend verbrachte er in Gesellschaft seiner guten Frau, mit der er seit dreißig Jahren in der glücklichsten Ehe lebte und die in Liebe und Verehrung zu „ihrem Konstantin“ emporblickte.

An diesen der Häuslichkeit gewidmeten Abenden pflegte Herr Stevenhagen oftmals zu sagen: „Weißt Du, liebe Thilde, die Abende, die ich mit Dir allein verbringe, so daß ich eine vernünftige Unterhaltung über die Kinder und das Geschäft mit Dir haben kann, die sind mir doch die liebsten.“ Aber wenn zufälligerweise einmal die Partie Kegel oder l’Hombre ausfiel, dann wurde es Herrn Konstantin doch augenscheinlich schwer, über die Zeit, die er nun dem Zusammensein mit seiner Frau hätte widmen können, hinwegzukommen, und nicht selten legte er sich an solchen Tagen eine Stunde früher als gewöhnlich, nämlich um neun Uhr, zu Bett.

Die Eintheilung der Wochen- und Sonntage war in dem Stevenhagenschen Hause eine so regelmäßige, daß man eine Uhr danach hätte stellen können: genau zur selben Minute wurde jeden Tag der Laden geöffnet oder geschlossen, und mit gleicher Pünktlichkeit wurden die Mahlzeiten eingehalten und der Sonntag durch regelmäßigen Kirchenbesuch geheiligt.

Der Herr Pastor und der Herr Doktor gehörten zu den guten Freunden des Herrn Konstantin und zu seiner „Partie". Er hatte für beide als für studierte Männer große Hochachtung und eignete sich ihre Meinungen über Tagesfragen wie Glaubensartikel an, die er gegebenenfalls hartnäckig zu vertheidigen wußte; doch erblickte er in ihnen – Kindern des Städtchens, mit denen er die Klippschule besucht hatte und sich duzte – Gleichgestellte, in deren Gesellschaft er sich keinen Zwang aufzuerlegen brauchte. Auch der Postmeister, der vierte Genosse am l’Hombretisch [346] und in der Kegelbahn, war nicht imstande, ihn einzuschüchtern, wennschon er sich auf seine amtliche Stellung als Vorgesetzter eines Postsekretärs wohl etwas zu gute thun konnte. – Aber erdrückend wirkte auf den würdigen Inhaber der Firma „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“ die Person des Herrn Landraths, obwohl dieser ein sehr jovialer Herr war, der sich, wenn die Gelegenheit es mit sich brachte, mit großem Vergnügen an der Partie betheiligte und es ganz in der Ordnung gefunden haben würde, wenn Herr Konstantin etwas von den ehrfurchtsvollen Förmlichkeiten hätte aufgeben wollen, mit denen er dem Landrath, wo immer er mit ihm zusammentraf, entgegentrat.

Der Landrath war aus einer altadeligen Familie; sein Name und die Thaten seiner Vorfahren spielten eine gewisse Rolle in der Geschichte des Städtchens, und außerdem war er ein hoher Beamter, dem es schon verschiedene Male im Leben vergönnt gewesen war, sich der Person des „Allerhöchsten Herrn“, des Königs, nähern zu dürfen. Ein solcher Mann durfte Konstantin Stevenhagen nach Gefallen freundlich oder zurückhaltend behandeln, des letzteren Pflicht aber blieb es unter allen Umständen, niemals die Achtung aus den Augen zu verlieren, die er dem Herrn Landrath als dem Nachkommen eines alten Geschlechts und dem höchsten ihm bekannten Vertreter der Regierung und der Person des Königs schuldete.

Mit den anderen Honoratioren des Ortes verkehrte Herr Stevenhagen nur sehr wenig und mit keinem auf vertraulichem Fuße. Einige von ihnen waren „Zugezogene“, die für ihn Fremde geblieben waren, obgleich sie schon seit zwanzig oder mehr Jahren im Städtchen wohnen mochten; andere gefielen ihm nicht wegen politischer oder religiöser Freisinnigkeit oder weil sie sich hie und da nicht abgeneigt gezeigt hatten, mit Herrn Stevenhagen scherzen zu wollen, wofür er durchaus kein Verständniß hatte. Ihm genügte der kleine Kreis guter Menschen, in dem er lebte, und eine Vergrößerung desselben würde ihn sicherlich eher in Verlegenheit gesetzt als erfreut haben.

Eines Tages, als der Herr Landrath bei dem Doktor speiste, mit dem er zusammen studiert hatte und der sein guter Freund geblieben und sein Hausarzt geworden war, sagte Nehring beim Nachtisch zu seinem Gaste:

„Da fällt mir ein, daß wir im nächsten Monat Stevenhagen gratulieren müssen.“

„Gratulieren? Wozu.“

„Er begeht dann die hundertjährige Feier des Bestehens seines Handelshauses, das ist eine große Sache für den Mann, denn er blickt mit Stolz auf die durch ein Jahrhundert bewährte Rechtschaffenheit seiner Familie zurück.“

„Da hat der Mann ganz recht, und natürlich müssen wir ihm gratulieren. Aber könnte man ihm nicht sonst noch etwas Angenehmes bieten?“

Dem Doktor kam die Frage nicht überraschend; er hatte sich im Gegentheil sorgfältig darauf vorbereitet, wie er dies zu thun pflegte, wenn es galt, anderen eine Freude zu machen.

„Ja,“ antwortete er auf die Frage des Landraths, „ich habe mir das schon überlegt und wollte Dir zur Erwägung geben, ob man nicht für unseren Stevenhagen irgend eine königliche Auszeichnung erwirken könnte. Er hat es verdient durch seine anständigen Gesinnungen, durch seinen untadelhaften Lebenswandel, und es würde einen guten Eindruck in der Stadt machen, wo er allgemein beliebt ist.“

„Du meinst einen Orden?“

„Ja, einen Orden oder irgend einen Titel.“

„Ein Orden ginge wohl schon; aber welchen Titel könnte man ihm geben? Zum ‚Kommerzienrath‘ ist er doch zu klein, und etwas anderes wüßte ich nicht für ihn.“

„Verschaffe ihm den ‚Kommissionsrath‘, wenn Du ihn glücklich machen willst.“

„Den ‚Kommissionsrath‘?“ fragte der Landrath gedehnt. „Giebt es wirklich noch Menschen, denen das Freude macht?“

„Nun natürlich giebt es solche Leute, und ich stehe Dir dafür – Stevenhagen ist einer von ihnen.“

„Hm,“ meinte der Landrath, „ich will mir die Sache überlegen.“

Das genügte dem Doktor. Er kannte seinen Landrath als einen Mann aus demselben guten Stoffe, aus dem er selbst gemacht war, und wußte bestimmt, sein Freund werde nichts Eiligeres zu thun haben, als einen Bericht aufzusetzen, um die Ernennung Herrn Konstantin Stevenhagens zum Kommissionsrath aufs wärmste zu befürworten.

„Du darfst natürlich nicht von der Sache sprechen, bis sie fix und fertig ist,“ sagte der Landrath, „denn ich kann nicht wissen, wie man bei der Regierung mein Gesuch aufnehmen wird.“

„Ich spreche mit niemand von der Sache, bevor Du mir nicht sagen kannst, daß sie zum guten Ende geführt worden ist; und selbst dann noch nicht, damit Du für Deine Bemühungen die Freude haben kannst, Stevenhagen durch seine Ernennung zu überraschen.“ – –

Einige Wochen später konnte man an dem Thorweg des Stevenhagenschen Hauses auf einem großen Papierbogen in der schönen runden Schrift des Besitzers lesen: „Dieser Laden bleibt morgen wegen einer besonderen Feier geschlossen“; und am nächsten Tage meldeten sich, von früher Stunde an, zahlreiche Einwohner des Städtchens bei Herrn Stevenhagen, um ihm zu dem hundertjährigen Bestehen seines Geschäftes zu gratulieren und ihm zu wünschen, er selbst möge demselben noch während vieler Jahre in ungetrübter Gesundheit und Frische vorstehen.

Die Glückwünschenden – die ersten nach Frau Mathilde waren die „Borsdofer Aepfelchen“ gewesen, die ein vom Herrn Pastor verfaßtes schönes Gedicht hergesagt hatten, durch das der Jubilar bis zu Thränen gerührt worden war – wurden von dem festlich gekleideten Hausherrn und seiner Ehehälfte in der „guten Stube“ empfangen, wo Wein und Kuchen – letzterer von Frau Bäckermeister Mertens mit besonderer Liebe hergerichtet – aufgestellt waren. Als die Mittagstunde nahte, war das Zimmer mit einigen zwanzig Gästen, darunter dem Pastor, dem Doktor und dem Postmeister, gefüllt.

Da hielt ein von zwei kräftigen Pferden gezogener herrschaftlicher Wagen vor der Thür: der Wagen des Herrn Landraths. Jedes Kind im Städtchen kannte ihn, und sogleich erscholl im Zimmer von verschiedenen Seiten der Ruf: „Herr von Salwitz! Der Herr Landrath!“

Herrn Konstantin Stevenhagen stieg das Blut ins Gesicht vor freudiger Erregung, und er eilte der Thür zu, um dem hohen Gaste seinen Willkomm zu bieten.

Landrath von Salwitz, ein rüstiger, lebhafter Mann, war bereits aus dem Wagen gesprungen und kam dem Jubilar auf der Thürschwelle entgegen.

„Nun, lieber Stevenhagen,“ sagte er, „ich darf heute natürlich nicht bei Ihnen fehlen: meine allerherzlichsten Glückwünsche!“ und er ergriff Stevenhagens Hand und schüttelte sie kräftig.

„Der Herr Landrath sind in der That zu gütig.“

„Aber durchaus nicht. Es macht mir selbst die größte Freude. – Auch Ihnen, liebe Frau Stevenhagen, meine besten Gratulationen! Möchten Sie und Ihr Mann noch recht lange Jahre in Frieden, Gesundheit und Ehren leben und an Ihren Kindern und Kindeskindern nur Gutes und Freudiges erfahren!“

Darauf trat der Landrath in die Mitte des Zimmers, wohin ihm Herr und Frau Stevenhagen mit tiefen Verbeugungen, dankbar lächelnd, folgten, und dort blieb er stehen und räusperte sich vernehmbar, so daß jedermann erkennen konnte, er habe noch etwas Besonderes zu sagen und würde das nun thun.

„Lieber Herr Stevenhagen,“ begann er, „ich habe es für meine Pflicht als Landrath gehalten, an die Regierung zu berichten, daß einer der angesehensten Bürger unserer guten Stadt heute das seltene Fest der hundertjährigen Feier des Bestehens seines Geschäftes begeht. Ich habe mit Vergnügen diese Gelegenheit wahrgenommen, um meine gute Meinung über Sie als über einen loyalen Unterthanen, einen treuen Patrioten, einen ehrenfesten, angesehenen Bürger und Familienvater unverhohlen auszusprechen. Es ist darüber Seiner Majestät dem König Vortrag gehalten worden, Allerhöchstwelcher darauf zu verfügen geruht hat, daß Ihnen an diesem Ehrentag auch ein Beweis seiner Huld zu theil werden solle. Und so ist mir der ehrenvolle und erfreuliche Auftrag geworden, Ihnen einen Allerhöchsten Gnadenbeweis zu überbringen."

Er zog ein großes Couvert hervor, das er bis dahin unter dem zugeknöpften Rock verborgen gehalten hatte, und überreichte es dem Jubilar mit den Worten: „Herr Kommissionsrath Stevenhagen, empfangen Sie von mir als dem ersten herzliche Glückwünsche zu Ihrer Ernennung!“

Ein Murmeln der Ueberraschung ging durch die kleine Versammlung. [347] Außer dem Pastor, dem Doktor. und dem Postmeister, die in das Geheimniß eingeweiht waren, hatte noch niemand so recht verstanden, worum es sich handelte, am wenigsten Konstantin Stevenhagen. Mit zitternden Händen ergriff er den Umschlag, öffnete ihn, entfaltete einen großen Bogen und las die wenigen Zeilen, die ihm seine Ernennung zum „Königlichen Kommissionsrath“ mittheilten.

Es war zu viel, zu unerwartetes Glück für den kleinen bescheidenen Mann; es flimmerte ihm vor den Augen und er taumelte einen Schritt zurück. Ein Glas Wasser, das der Doktor ihm reichte, brachte ihn jedoch sogleich wieder zu sich, und nun suchte er stammelnd und erröthend nach Worten, um dem Herrn Landrath seine Freude, seinen tiefgefühlten Dank für die ihm erwiesene „unverdiente Gnade“ auszusprechen.

Der gute Landrath aber wollte davon nichts hören, sondern antwortete immer nur: „Sie schulden mir keinen Dank; Sie haben nur erhalten, was Sie verdienen; ich gratuliere, Herr Kommissionsrath, ich gratuliere!“

Nun drängten sich auch die anderen Anwesenden herbei, um den neuernannten Würdenträger zu beglückwünschen. Frau Mathilde und Frau Agathe umarmten den Glücklichen unter Thränen; auch der Doktor und der Landrath konnten ihre Rührung ob der innigen und harmlosen Freude, deren Urheber sie waren, kaum verbergen, und jeder suchte durch Worte und Mienen seine herzliche Theilnahme an dem frohen Ereigniß kundzugeben. – Es war ein schöner, großer Augenblick in Herrn Stevenhagens ruhigem Leben!

Während des ganzen Tages blieb das Festhaus mit Glückwünschenden gefüllt. Viele von denjenigen, die schon am Morgen erschienen waren, hielten es für ihre Pflicht, sich ein zweites Mal zu zeigen, um ihre Freude über die hohe Auszeichnung auszusprechen, die Herrn Stevenhagen zu theil geworden war; andere, entferntere Bekannte des Jubilars, die unter gewöhnlichen Umständen kaum daran gedacht haben würden, sich einzustellen, glaubten nicht unterlassen zu dürfen, dem neuernannten Herrn Kommissionsrath ihre Glückwünsche darzubringen; und erst in später Nachmittagstunde jenes ereignißvollen Tages befand sich Herr Konstantin Stevenhagen mit seiner treuen Mathilde allein. Er ließ sich tief aufathmend in den altmodischen großen Sorgenstuhl des Wohnzimmers fallen, legte die Hände ineinander, blickte ernst und nachdenklich vor sich hin und wiederholte mehrere Male leise: „Ja, ja – wer hätte das geglaubt!“ – Die Größe des Ereignisses hatte ihn nahezu überwältigt.

Frau Mathilde nahm die Sache erheblich ruhiger auf, aber auch sie war in hohem Maße erfreut; nicht nur wegen der großen Befriedigung, die ihr lieber Konstantin empfand, sondern weil sie selbst nicht wenig stolz darauf war, in Zukunft den Titel „Frau Rath“ führen zu dürfen.

„Was hat ein Kommissionsrath eigentlich zu thun, Alterchen?“ fragte sie.

„Das weiß ich selbst noch nicht,“ antwortete Konstantin; „aber der Doktor und der Pastor werden es mir gewiß sagen können; das sind studierte Leute, die müssen es wissen.“

„Wirst Du eine Uniform tragen?“

„Das weiß ich auch noch nicht. – Laß nur, Kind, laß nur – störe mich nicht – ich habe den Kopf so voll, daß ich gar nicht weiß, wo ich anfangen soll zu denken, und ich bin den ganzen Tag über noch nicht einen Augenblick zu mir selbst gekommen. – Weißt Du was, liebe Mathilde, ich möchte ein Viertelstündchen auf dem Wall spazieren gehen und frische Luft schöpfen, dann kehre ich zurück, und wir wollen noch einen Imbiß einnehmen, obgleich es gar nicht an der Zeit ist. Aber heute mittag bin ich kaum dazu gekommen, einen Bissen zu essen.“

„Das ist mir ganz recht,“ sagte Frau Mathilde, „geh’ nur! Unterdessen mache ich hier auch ein wenig Ordnung; es steht ja alles die Kreuz und Quer! Die Menge Leute! Ich habe ihrer so viele nicht ’mal an unserem Hochzeitstag in unserem Hause gesehen. Du kannst eine halbe Stunde bleiben und dann sollst Du einen gedeckten Tisch finden.“

Herr Stevenhagen nahm Hut und Stock, trat sinnend auf die Straße und machte sich auf den beabsichtigten Spazierweg. Eine volle Stunde später erst kam er wieder zurück, so daß Frau Mathilde ihn besorgt fragte, ob ihm etwas zugestoßen, daß er so lange ausgeblieben sei. Herr Stevenhagen antwortete zerstreut, er sei nur auf dem Wall auf und ab gegangen und habe nicht gewußt, daß es so spät geworden wäre.

Eine Fülle von Gedanken und Empfindungen hatte in seinem kleinen, an die größte Regelmäßigkeit gewöhnten Kopfe eine wahre Verwirrung angerichtet. Er war nun Beamter, königlicher Beamter – ein Rath, der einzige im Städtchen außer dem Herrn Landrath. Es war unglaublich, und doch war es so! Er konnte die ganze Sache noch nicht fassen und er mußte sich mit dem Pastor und dem Doktor aussprechen. Das sollte morgea geschehen; dann würde er wissen, was er zu thun hätte. Einstweilen schwelgte er in dem geradezu beklemmenden Gefühl, daß ihm ein großes unerwartetes Glück zugefallen sei, und daß er dieses Glück verdient haben solle – denn das hatte ihm ja der Herr Landrath wohl zwanzigmal wiederholt. Er, Konstantin Stevenhagen, mußte doch wirklich ein bedeutenderer Mann sein, als er bis dahin in seiner unbegründeten Bescheidenheit geglaubt hatte.

Er konnte bei Tische nur wenig essen und abends zum ersten Male in seinem Leben vor Aufregung nicht einschlafen. Erst gegen Morgen fand er Ruhe, und – was seit seiner Verheirathung noch nicht vorgekommen war – Frau Mathilde mußte ihn wecken, um zu sagen, es sei Zeit für ihn, sich anzuziehen; der Laden werde in einer halben Stunde geöffnet.

Der Laden? – War es denkbar, daß er, der Herr Rath, nach wie vor mit der Elle in der Hand hinter dem Ladentisch stehen sollte, um jeden, der dort eintrat, zu bedienen und dankend einige Groschen für eine halbe Elle Kattun oder Band einzukassieren?

„Ich will zunächst zu Nehring und zum Pastor gehen und mit ihnen sprechen. Paß Du nur auf den Laden auf; sonst kann es ja auch Fritz thun!“

Fritz war ein kleiner Mann von etwa vierzig Jahren, der als Buchhalter, Korrespondent und häufig auch als Verkäufer Herrn Stevenhagen seit zwanzig Jahren zur Seite stand und sich durch seine am vorhergehenden Tage erfolgte Ernennung zum Prokuristen des alten Hauses, dem er diente, ebensosehr gehoben fühlte wie sein hoher Chef durch die Verleihung des Titels eines Kommissionsraths. Fritz Mätzkow stammte aus einer Bauernfamilie; er war als ein kränkliches Kind im Städtchen erzogen und wegen „allgemeiner Körperschwäche“ vom Militärdienst befreit worden. Er besaß alle Eigenschaften, die Herr Stevenhagen von seinem Arbeitsgehilfen wünschen konnte, war still, bescheiden, grundehrlich und betrachtete das Geschäft, in dem er arbeitete, als etwas ungemein Bedeutendes und dessen Chef, Herrn Konstantin Stevenhagen, als einen hochstehenden angesehenen Mann, dem er Verehrung schuldete und bereitwilligst zollte.

„Jawohl,“ sagte Frau Mathilde, „Fritz und ich werden im Laden schon alles besorgen, geh’ nur etwas spazieren oder mache einige Besuche; das wird Dich zerstreuen.“

„Ich brauche keine Zerstreuung, liebes Kind,“ antwortete Stevenhagen würdevoll. „Ich will nur zum Doktor und Pastor gehen, um Auskunft über meine neue Stellung einzuholen.“

„Recht so – hole Dir nur Auskunft, lieber Alter!“ sagte Frau Mathilde, und Herr Stevenhagen machte sich auf den Weg, nachdem er sich angekleidet und den Morgenkaffee eine gute Stunde später als gewöhnlich eingenommen hatte; aber seit gestern ging soviel Außergewöhnliches im Hause vor, daß diese Unregelmäßigkeit, die Frau Mathilde unter anderen Umständen in Erstaunen versetzt haben würde, kaum von ihr bemerkt wurde.

Der Herr Pastor war nicht zu Hause; er war nach einem benachbarten Dorfe gefahren, um einen Amtsbruder zu besuchen. Darauf ging Herr Stevenhagen zum Doktor, der ihm im Schlafrock, eine Zeitung in der Hand, die Pfeife im Munde, entgegentrat.

Nehring war im ersten Augenblick beunruhigt, Stevenhagen zu einer Stunde zu sehen, welche dieser für gewöhnlich der geschäftlichen Thätigkeit im Verkaufsladen widmete; aber seine Besorgniß, die Aufregungen des letzten Tages möchten seinen alten Freund vielleicht krank gemacht haben, legte sich bald, als dieser ohne Umschweife sagte, er sei gekommen, um sich zu erkundigen, welcher Art die Auszeichnung eigentlich sei, die ihm gestern durch seine Ernennung zum Kommissionsrath zu theil geworden.

Der Doktor lächelte vor sich hin, aber es war ein vollständig harmloses Lächeln und es konnte Herrn Stevenhagen auch nicht von ferne der Gedanke kommen, es sei ein ironisches, und Nehring mache sich über ihn lustig. Das war auch keineswegs der Fall. Der Doktor erkannte an der Wichtigkeit, die Herr Stevenhagen dem Titel beilegte, daß er sein Ziel, dem guten Manne eine Freude zu bereiten, vollauf erreicht habe; und das gereichte ihm [348] zu inniger Befriedigung. Es gelang ihm auch, Stevenhagen, für den das Beamtenwesen ein Buch mit sieben Siegeln war, in einer längeren Rede, die keinen Anspruch auf besondere Klarheit machen konnte, auseinanderzusetzen, daß es verschiedene Klassen von Beamten im Staate gebe: aktive, zur Disposition gestellte, pensionierte, entlassene u. s. w. ... und endlich solche, denen als besondere Auszeichnung ein „Charakter“ beigelegt worden sei, ohne daß damit eigentliche amtliche Verpflichtungen verbunden wären.

„Das sind die glücklichsten von sämmtlichen Beamten,“ erklärte der Doktor, „denn sie haben alle Ehren und Vorrechte der wirklich Angestellten und keine der Lasten: weder Vorgesetzte noch Arbeiten. Und zu dieser glücklichen Klasse von Beamten gehörst auch Du!“

Stevenhagen fühlte sich immer mehr in seiner eigenen Achtung steigen.

Die Frage, welchen Rang ein Kommissionsrath auf der Stufenleiter der Beamten einnehme, wußte der Doktor, in dessen Absicht es durchaus nicht lag, Stevenhagens Meinung von der ihm verliehenen Würde zu verkleinern, dadurch zu umgehen, daß er sagte, diejenigen, denen „der Charakter“ einer Stellung verliehen worden sei, könnten nicht wie die Unteroffiziere, Lieutenants und Hauptleute genau klassifiziert werden. „Du mußt Dir genügen lassen,“ fuhr er fort, „daß Du nächst dem Landrath der einzige Rath hier bist, also gewissermaßen der Höchstgestellte nach diesem.“

„Und wie verhält es sich mit der Uniform?“ fragte Stevenhagen weiter, Mathilde erkundigte sich danach bei mir; ich konnte ihr keine Antwort geben. Habe ich das Recht, eine solche zu tragen, und wenn ‚ja‘, bei welchen Gelegenheiten würde ich sie anlegen müssen?“

Es wurde dem Doktor recht schwer, auch bei dieser Frage ernst zu bleiben. – „Uniformen werden von Civilbeamten nur bei Gelegenheiten getragen, die sich bei uns kaum darbieten können. Ja, wenn der König uns einmal besuchen würde, dann müßtest Du in zweifarbigem Tuche erscheinen. Aber bis dahin könnte der bunte Rock längst von den Motten zerfressen sein. Laß Dir vorläufig keine Uniform machen; dazu wird sich immer noch Zeit finden.“

„Habe ich einen Dankbesuch bei dem Herrn Landrath, Antrittsvisiten bei den anderen Beamten hier zu machen?“ war Stevenhagens nächste Frage.

„Selbstverständlich,“ antwortete der Doktor. „Und da ich dies voraussah, so habe ich hier noch ein unbedeutendes Geschenk für Dich, das ich Dir eigentlich heute bringen wollte, das Du aber nun gleich mitnehmen kannst.“

Er stand auf und nahm vom Schreibtisch ein kleines Paket, das er seinem Freunde überreichte und das dieser sofort öffnete, während Nehring ihn mit wohlwollender Aufmerksamkeit beobachtete. Es enthielt hundert Visitenkarten „Konstantin Stevenhagen, Königlicher Kommissionsrath.“

Die Karten waren in der Buchdruckerei des Städtchens angefertigt worden und zwar „mit Liebe“. Sie waren aus schönem Karton, Primaqualität, mit Goldschnitt und goldener Einfassung; und Name und Titel des Herrn Stevenhagen erschienen nicht etwa in den üblichen ordinären schwarzen Buchstaben, sondern in röthlich goldenen Lettern.

Der Buchdrucker hatte sich gedacht, daß man für einen Kommissionsrath etwas Außerordentliches thun müsse, und es war ihm auch gelungen, etwas ganz Außergewöhnliches zu Tage zu fördern. Karten von ähnlicher Schönheit hätte man nicht in der ganzen Provinz, ja selbst nicht in der Hauptstadt vorgefunden. Der Buchdrucker war mit Recht stolz auf das Kunstwerk und Herr Stevenhagen dadurch in hohem Grade erfreut. Der Doktor rieb sich schmunzelnd die Hände.

„Das muß ich sogleich Mathilden zeigen,“ sagte Stevenhagen, und er entfernte sich von seinem Freunde, nachdem er mit ihm verabredet hatte, daß man sich am Abend zur üblichen Stunde wieder in der Kegelbahn treffen werde.

Herr Stevenhagen erschien während des ganzen Tages nur für wenige Minuten im Laden; nothwendig war seine Anwesenheit daselbst überhaupt nicht. Fritz konnte alles besorgen. Bei Tische war er zerstreut und aß weniger als gewöhnlich; am Abend in der Kegelbahn schob er so schlecht, daß der Postmeister, der sein Partner war, ihm heftige Vorwürfe machte. Unter gewöhnlichen Umständen würde Herr Stevenhagen sich dadurch gekränkt gefühlt haben, heute hörte er es kaum.

[372] Wie der denkwürdige Tag der Ernennung, so gingen viele Tage dahin. Die Sorge um seine neue Würde nahm Herrn Stevenhagen dermaßen in Anspruch, daß er darüber alles andere mehr oder weniger vergaß und vernachlässigte. Glücklicherweise litten weder das Geschäft noch der Haushalt darunter, denen Fritz und Frau Mathilde in unveränderter Tüchtigkeit vorstanden; immerhin fing aber Frau Stevenhagen mit der Zeit an, etwas beunruhigt zu werden. – Ihr Mann war nicht mehr der alte, das zeigte sich namentlich darin, daß er mit vielen Dingen, auf die er früher gar nicht geachtet hatte, unzufrieden wurde und sich über eine Anzahl seiner Mitbürger zu beklagen begann. Er ließ einen Theil der Möbel erneuern, das Haus frisch anstreichen, er bestellte sich einen neuen Anzug, obgleich der, den er trug, noch jahrelang gute Dienste hätte leisten können. Er bemerkte, daß der Fleischermeister beim Gruße seine Mütze nur berührt, nicht abgezogen hatte; er fand es nicht in Ordnung, daß Agathe, deren Bäckerladen fünfzig Schritte von der Wohnung ihrer Eltern entfernt war, auf ihrem Hause mit bloßem Kopfe herübergelaufen kam. „Das schickt sich nicht, Agathe, das schickt sich nicht! Thu’ mir den Gefallen und setz’ den Hut auf, wenn Du auf die Straße gehst.“ Auch an den „Borsdorfer Aepfelchen“ entdeckte er plötzlich Unarten, die ihm früher nicht aufgefallen waren. Sie machten keine ordentlichen Diener, wenn sie in das Zimmer traten, und sie suchten ihre Gesellschaft am liebsten unter der verwildertsten Straßenjugend. Aber das Bedenklichste für Frau Mathilde war, daß Stevenhagen sogar aufhörte, mit dem Benehmen des Doktors zufrieden zu sein. Dieser hatte die Schrullen seines Freundes monatelang geduldig ertragen, obgleich er schon nach den ersten vier Wochen aufgehört hatte, sich darüber zu freuen; aber mit der Zeit konnte er doch nicht mehr umhin, Stevenhagen hier und da auf einige seiner Sonderbarkeiten aufmerksam zu machen. Und darüber kam es eines Tages zu einem kleinen Wortwechsel. Als Stevenhagen sich nämlich im Beisein seines alten Freundes über den unhöflichen Gruß des Fleischermeisters beklagte, sagte der Doktor, der einen Theil der Nacht am Bette eines schwerkranken Mannes verbracht hatte und übler Laune war: „Laß’ das doch! Was macht es aus, wie Kunhart Dich grüßt!“

„Mir ist es auch ganz gleichgültig, wie der ungehobelte Mensch sich benimmt,“ antwortete Stevenhagen, „aber daß es nicht in der Ordnung ist, mir einfach zuzunicken wie einem Tagelöhner oder Gesellen, das wirst Du doch selbst zugeben.“

„Nein, das gebe ich nicht zu,“ erwiderte der Doktor verdrießlich, „ich bin ebensowenig wie Du Tagelöhner oder Fleischergeselle, und mich grüßt Kunhart nicht ehrerbietiger als Dich.“

„Wenn Du Dir das gefallen läßt, so ist das Deine Sache,“ entgegnete Stevenhagen, ich lasse es mir nicht gefallen.“

„Nun dann laß’ es Dir nicht gefallen! Ich bin zu müde, um mich mit Dir über solche Lappalien zu streiten.“

Der Zwischenfall hatte keine unmittelbaren Folgen. Der Doktor fand sich am Abend zur üblichen Stunde zur Partie l’Hombre ein, und die Verstimmung, mit der Stevenhagen und er sich eine Zeitlang gegenüber gesessen hatten, ging bald vorüber. Aber Aehnliches ereignete sich bald öfter, und mit der Zeit bildete sich bei Stevenhagen eine gewisse Erbitterung gegen seinen alten Freund, während der Doktor, der Pastor und der Postmeister sich mehr als einmal darüber aussprachen, daß Stevenhagen seit seiner Ernennung zum Kommissionsrath viel von seiner alten einfachen Liebenswürdigkeit eingebüßt habe. Sie wurden dem Würdenträger gegenüber vorsichtiger und zurückhaltender in ihren Aeußerungen, und damit ging ein großer Theil der harmlosen Heiterkeit verloren, die bis vor kurzem die Zusammenkünfte der vier alten guten Spielkameraden gekennzeichnet hatte. Stevenhagen konnte sich der Erkenntniß dieser Veränderung auf die Dauer nicht verschließen; die Betrachtungen, die er darüber anstellte und auch seiner Frau mitzutheilen pflegte, waren für diese geradezu Besorgniß erregend. Er redete sich mit der Zeit ein, die Unfreundlichkeit seiner Genossen, namentlich des Doktors, beruhe auf Neid.

„Nicht gerade bösartigen scheelen Neid, liebe Mathilde, empfindet der Mann, aber glaube mir nur, er fragt sich, ob er nicht eben so gut, wie ich zum Kommissionsrath ernannt worden bin, den ‚Sanitätsrath‘ verdient hätte. Es ist ja nicht meine Schuld, daß man nicht daran gedacht hat – ich würde ihm jede Auszeichnung von ganzem Herzen gönnen. Aber daß es nicht geschehen ist, ärgert ihn, und er kann es nicht über sich gewinnen, seinen Verdruß nicht an mir auszulassen.“

Frau Mathilde hatte eine Zeitlang versucht, ihrem Konstantin solche Gedanken auszureden, doch als sie sah, daß es nichts fruchte, daß sie sich der Gefahr aussetze, mit ihrem Manne uneins zu werden, mit dem sie bis dahin in ungetrübter glücklicher Ehe gelebt hatte, da gab sie den vergeblichen Versuch auf, Frieden zu stiften, die langsam absterbenden freundschaftlichen Gefühle ihres Mannes für den Doktor wieder zu erwecken. Sie blickte nur traurig und still vor sich hin, wenn Stevenhagen in seiner lieblosen Beurtheilung immer weiter ging und sich langsam aber stetig in Einbildungen hineinredete, die schließlich zu Gefühlen verborgenen Uebelwollens, geheimer Feindschaft ausarteten. Die Folge davon war, daß, nachdem einmal eine gewisse Entfremdung zwischen den beiden einst so befreundeten Menschen eingetreten war, ihre Beziehungen schnell an Annehmlichkeit und Vertraulichkeit verloren und daß bald der eine, bald der andere sich entschuldigen ließ, an den regelmäßigen Kegel- und l’Hombrepartien nicht theilnehmen zu können. Und schließlich kam es zu einem für alle Betheiligten – die vier Mitglieder der Partie und Frau Mathilde – gleich schmerzlichen Bruche.

Der Doktor hatte eines Abends beim Kartenspiel mit einem großen Einsatz auch die Geduld verloren und dem Herrn Kommissionsrath Stevenhagen, der an jenem Abend noch anspruchsvoller erschien als gewöhnlich, kurz und bündig gesagt, er mache sich „lächerlich“; worauf der in seiner Würde tief gekränkte Mann seinen Hut genommen hatte und davongegangen war. Die Versöhnungsversuche, die am nächsten Tage gemacht wurden, [374] blieben erfolglos. Stevenhagen verlangte, der Doktor solle Abbitte thun; dieser, dessen Geduld zu Ende war und der thatsächlich kein Vergnügen mehr empfand am Umgang mit dem „eingebildeten Narren“ – wie er Herrn Stevenhagen hinter dessen Rücken zu nennen wagte – erklärte unumwunden, es falle ihm gar nicht ein, Abbitte zu leisten, ja auch nur eine Silbe von dem zurückzunehmen, was er gesagt habe. Stevenhagen habe sich lächerlich gemacht, und er, der Doktor, beharre auf seiner Behauptung. Ja, er wolle sich mit Stevenhagen übers Schnupftuch schießen, wenn er auf Genugthuung bestehe. Wenn er dagegen versprechen wolle, in Zukunft wieder ein vernünftiger Mensch zu werden, so werde er, Nehring, sich freuen, von neuem mit ihm zusammenzutreffen. Andernfalls möge Herr Konstantin Stevenhagen, Königlicher Kommissionsrath, Inhaber der hundertundeinjährigen Firma „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“, ihn ungeschoren lassen.

Damit hatten die schönen Abende des armen Stevenhagen ihr Ende erreicht. Der Pastor und der Postmeister theilten ganz und gar die Meinung des Doktors, und die drei suchten nach einem neuen vierten Manne und fanden ihn in der Person des Rentmeisters. Dieser besaß zwar nicht alle Tugenden, die seinen Vorgänger zu dessen guter Zeit so liebenswürdig gemacht hatten, aber er war frei von den Fehlern, die Stevenhagen seit seiner Ernennung zum Kommissionsrath zu einem schwer umgänglichen Menschen stempelten.

Der Kommissionsrath ertrug die Langeweile, zu der er verdammt war, nur kurze Zeit. Seit Monaten bereits regten sich in seinem tiefsten Innern Gedanken, die er bisher selbst seiner Frau gegenüber verborgen gehalten hatte. Er wollte seine Vaterstadt verlassen, wo er nicht die gebührende Anerkennung fand, wollte nach einer großen Stadt, ja er wollte nach Berlin ziehen, um dort in der Gesellschaft von Standesgenossen den Verkehr und die Achtung zu finden, auf die er berechtigten Anspruch erheben durfte. Es kostete ihn einen Entschluß, dies Frau Mathilde gegenüber auszusprechen, aber nachdem es einmal geschehen war, ging er unbekümmert um die Thränen und den Widerspruch seiner Frau, seiner Tochter und seines Schwiegersohnes dem Ziele zu, das er sich gesteckt hatte. Er berieth nicht mehr mit Frau Mathilde, wie dies früher seine Gewohnheit gewesen war, sondern erklärte einfach, was er zu thun beabsichtige und thun werde. Das Geschäft verkaufen? Nein, das wollte er nicht – er hatte es von Anfang an seinem Enkel Anastasius Mertens bestimmt, und Anastasius sollte es später bekommen. Einstweilen konnte Fritz es weiter verwalten, dessen Gehalt erhöht und dem außerdem ein kleiner Antheil an dem Gewinn des Geschäfts zugesichert werden mußte. Frau Mathilde sollte selbstverständlich mit nach Berlin ziehen. Die Wohnung, die somit leer würde, konnte theilweise unbewohnt bleiben, denn sie zu vermiethen, wäre der Stellung des Herrn Kommissionsrathes unwürdig gewesen. Fritz, mit dem Herr Stevenhagen schon gesprochen, hatte sich dankend damit einverstanden erklärt, seine eigene Wohnung aufzugeben und sich in zwei Zimmern des großen Hauses seines Chefs einzurichten. Mit Hilfe des Comptoirdieners und einer alten Dienstmagd, auf die man sich ganz verlassen durfte, konnte Fritz auf diese Weise Geschäft, Haus und Wohnung gut in Ordnung halten; nöthigenfalls war noch ein Lehrling anzunehmen, der ihm beim Verkauf behilflich sein würde. Von Zeit zu Zeit wollte Stevenhagen nach seiner Vaterstadt zurückkehren, um zu sehen, ob im Geschäft alles in Ordnung sei, und um seine Tochter und die beiden Enkelkinder zu besuchen. Frau Mathilde sollte ihren Mann auf diesen Reisen begleiten.

Eines Abends kündigte Stevenhagen seiner Frau an, er werde Ende der Woche nach Berlin fahren, um dort eine Wohnung zu miethen. Diese Nachricht versetzte die arme Frau in schmerzliche Aufregung; sie verbrachte eine schlaflose Nacht, aber sie wagte nicht, ihrem Manne zu widersprechen, da er sich für ihre Einwendungen gar nicht mehr zugänglich zeigte und bereits verschiedene Male, wenn sie ihm widersprochen hatte, so heftig und böse geworden war, daß die gute, ihr ganzes Leben lang an die beste Behandlung gewöhnte Frau Mathilde sich dadurch vollständig hatte einschüchtern lassen. Sie lief am nächsten Morgen zu ihrer Tochter und später auch zum Doktor und zum Pastor, um diesen ihr Leid zu klagen; sie fand auch allerorten Verständniß und innige Theilnahme, aber zu rathen und zu helfen wußte ihr niemand.

Am bestimmten Tage reiste Herr Stevenhagen nach Berlin ab, und eine Woche später kehrte er stolz und zufrieden zurück und kündigte seiner Frau an, er habe eine passende Wohnung gefunden, die gerade frei sei und die er so bald als möglich zu beziehen wünsche. Darauf gab er umsichtige Anleitung, das Ergebniß reifer Ueberlegungen, auf welche Weise die Uebersiedlung nach Berlin stattzufinden habe; die großen schweren alten Möbel sollten zurückbleiben, der Rest werde mehr als reichlich genügen, die kleinere Berliner Wohnung standesgemäß auszufüllen. Frau Mathilde hörte alles mit an in stummer willenloser Traurigkeit und bat nur, Stevenhagen selbst möge die Oberleitung des Umzuges übernehmen, da sie sich der Aufgabe nicht gewachsen fühle. „Natürlich werde ich das thun,“ sagte der Herr Gemahl. „Frauen verstehen von solchen Sachen nichts.“

Während der nächsten vierzehn Tage war er von früh bis spät beschäftigt, das Einpacken aller Sachen, die mit nach Berlin genommen werden sollten, und das Aufladen der Möbel und Kisten auf die großen Möbelwagen zu überwachen. Er verrichtete das nicht ohne Geschick, denn als kleiner Kaufmann, der sein Geschäft gründlich verstand und sich mit allen Zweigen desselben praktisch beschäftigt hatte, ging ihm die Arbeit, die er übernommen hatte, ordentlich und verhältnißmäßig leicht von der Hand. Frau Mathilde irrte wahrend dieser Zeit wie ein unsteter Geist im Hause umher oder saß bei ihrer Tochter und weinte.

Die Einwohner des Städtchens schüttelten die Köpfe über das thörichte Gebahren ihres Mitbürgers, der Doktor wiederholte jedem, der es hören wollte, der Königliche Herr Kommissionsrath leide an Größenwahn; aber der Doktor sowohl wie der Pastor und Postmeister waren im innersten Herzen tief bekümmert über das, was unter ihren Augen vorging. Nur Fritz bewahrte seinen Gleichmuth, ja das Gefühl der großen Verantwortlichkeit, die jetzt auf ihn geladen wurde, versetzte ihn in eine gehobene Stimmung. Er wollte sich des Vertrauens, das ihm geschenkt wurde, würdig zeigen und war unermüdlich in der Ausübung seiner zahlreichen kleinen Pflichten.

Und so kam der Tag des Umzugs und des thränenreichen Abschieds, bei dem nur Herrn Stevenhagens Augen trocken blieben. Er hatte sich eine kleine Rede erdacht, die ihm wohl sehr gefallen mußte, denn er wiederholte sie viele Male.

„So weint doch nicht, Kinder,“ sagte er, „wir gehen ja nicht nach Amerika – wir ziehen einfach nach Berlin. Ich kann mich telegraphisch von dort aus schneller mit Euch unterhalten, als wenn Ihr auf einem Dorfe eine Stunde Weges von hier wohnen würdet. Ihr seid noch Kleinstädter, aber Ihr sollt uns eines nach dem anderen in Berlin besuchen und das Leben und Treiben der großen Stadt wird Euch von Eurer Kurzsichtigkeit und Schwäche heilen. Und dann – in acht Stunden kann ich von Berlin hier sein, und wir werden Euch häufig besuchen. Also weint nicht, Kinder, und seid vernünftig!“

Etwas wie wahre Rührung kam nur über ihn, als er die „Borsdorfer Aepfelchen“ zum letzten Male vor der Abreise küßte. Allein er überwand diese Aufwallung schnell wie eine seiner Stellung unwürdige Schwäche und setzte sich stocksteif in den Wagen, in dem die schluchzende Mathilde, das thränenfeuchte Taschentuch vor den Augen, bereits Platz genommen hatte.

*  *  *

Es war so gekommen, wie der Doktor es vorhergesagt und Frau Mathilde und Agathe und auch der Bäckermeister es befürchtet hatten. Stevenhagen und seine Frau fühlten sich in Berlin unglücklich. Eine Zeitlang hatte die Einrichtung der Wohnung den beiden zu schaffen gegeben; dann hatten sie die Sehenswürdigkeiten Berlins besucht: das Aquarium, das Panoptikum und den Zoologischen Garten, und hatten sich sehr gut unterhalten; dann die Museen, in denen ihre Aufmerksamkeit schnell ermüdet war, das Zeughaus, die Kirchen, die Brücken, die bemerkenswerthen Gebäude, Denkmäler und so weiter und so weiter. Sie waren des Abends gewöhnlich so müde nach Hause gekommen, daß ihnen nicht einmal das Essen geschmeckt hatte, und dann stets frühzeitig zur Ruhe gegangen.

Nachdem die Sehenswürdigkeiten der Hauptstadt besichtigt waren, hatten unsere Freunde den Theatern, Konzerten und öffentlichen Vergnügungslokalen ihre Zeit zugewandt; aber auch diese Freude hatte bald ihr Ende erreicht, denn Stevenhagen eilte von einem [375] Orte zum anderen, als ob ihm nur knrze Zeit zur Verfügung stehe, um alles in Augenschein zu nehmen. Und nach einigen Wochen waren sie mit der ganzen Arbeit – denn eine Arbeit war es gewesen – fertig, und Berlin, soweit sie in der Lage waren, es jemals kennenzulernen, hatte keine Geheimnisse mehr für sie.

Frau Mathilde, deren Wissensdrang überhaupt ein sehr geringer war, fühlte sich immer in ihren vier Pfählen noch am wohlsten; sie hatte auch in Berlin die Gewohnheit nicht aufgeben können, sich viel um die Wirthschaft zu kümmern, was bei den neuen Dienstboten, die ihr zur Hand gingen, auch viel nothwendiger erschien als zu Hause in N. Sie war ihrem Konstantin immer bereitwillig gefolgt, wenn dieser sie angetrieben hatte, sich zum Ausgehen fertig zu machen, weil es sich darum handelte, dies oder jenes zu sehen und zu hören. Aber nun, da ihr Mann keine neuen Vorschläge mehr zu machen hatte, wandelte sie still waltend von einem Zimmer zum anderen oder saß mit einer Handarbeit auf dem Sofa, nach außen hin genügend beschäftigt, im Geiste „zu Hause“ bei ihrer Tochter und ihren Enkelkindern. Stevenhagen aber wußte sich gar nicht zu helfen. Er erhielt allwöchentlich Berichte über den Geschäftsgang, die er aufmerksam las und auf deren Beantwortung er so viel Zeit wie möglich verwandte; allein bei „Samnel Stevenhagen Söhne Nachfolger“ war alles so schön geordnet, ging alles seit so vielen Jahren so sehr in demselben Geleise, und Fritz wußte so genau, was er zu thun hatte, und stand seinen Obliegenheiten mit solchem Eifer vor, daß das Geschäft, welches früher Herrn Stevenhagen den ganzen Tag in Anspruch genommen hatte, ihn jetzt nicht länger als ein oder zwei Stunden die Woche kostete. Im übrigen war der gute Mann rathlos. Er interessierte sich für nichts, was in der politischen Welt vorging, aus dem einfachen Grunde, weil er davon nichts verstand; er hatte auch nicht gelernt, sich die Zeit mit Bücherlesen zu vertreiben. Sein Leben bis dahin war gewesen: Arbeit im Geschäft, Erholung im kleinen Kreise guter Freunde. Jetzt fehlte ihm die gewohnte Arbeit sowohl wie die Erholung – doch klagte er nicht.

Um seiner Frau die Langeweile zu verbergen, die wie ein schwerer Kummer an seiner Seele nagte, ging er am Tage viel aus, unter dem Vorwand, er wolle dies oder jenes wieder sehen, von dem er behauptete, es habe ihm besonders gefallen. Frau Mathilde theilte seinen Geschmack nicht und sagte dann gewöhnlich: „So geh’ nur lieber allein, ich habe im Hause genug zu thun“ – und er ging allein. Aber weder in das „schöne“ Panoptikum, noch in das „merkwürdige“ Aquarium, noch in den „großartigen“ Zoologischen Garten. Er ging einfach spazieren, „Unter den Linden“, in der Thiergartenstraße, in der Friedrichsstraße, in der Leipzigerstraße – und er fühlte sich in der Menge, die ihn umgab und manchmal geradezu beängstigte, vereinsamt und verlassen. Bekannte hatte er gar nicht in Berlin, nicht einmal sogenannte Geschäftsfreunde; „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“ bezogen ihren „Bedarf“ aus Stettin. Auch mit Standesgenossen war es ihm nicht gelungen, zusammenzutreffen. Die Herren Kommissionsräthe bildeten nicht ein Regiment im Staate, in dem er Soldat gewesen wäre und kameradschaftliche Beziehungen hätte anknüpfen können – Die schreckliche Langeweile hatte ihn einmal in einem Bierlokal dazu veranlaßt, sich den Adreßkalender geben zu lassen, und er hatte angefangen, darin zu lesen. Jedesmal, wenn er hinter einem Namen den Titel „Kommissionsrath“ oder „Geheimer Kommissionsrath“ gefunden hatte, war ihm der Gedanke gekommen, den einen oder den anderen dieser Herren Kollegen aufzusuchen. Aber zu wem sollte er gehen? Dieser war Schauspieldirektor, jener Rentier, ein dritter Inhaber eines Geschäfts wie er selber. Unter welchem Vorwand hätte er sich an sie wenden können? Herr Stevenhagen hatte noch niemals in seinem Leben aus eigenem Antrieb und ohne daß er durch die Verhältnisse dazu veranlaßt worden war, eine neue Bekanntschaft angeknüpft. Er hätte nicht gewußt, wie er sich bei Herrn Kommissionsrath A. oder Herrn Geheimen Kommissionsrath B. vorstellen solle, und es überkam ihn die gar nicht unbegründete Befürchtung, der eine oder andere möchte ihn vielleicht gar für einen Hochstapler halten. Denn zu der Erkenntniß war er bereits gelangt, daß der Titel, auf den er so stolz war, ihn nicht ermächtigte, bei anderen, einfach weil sie den gleichen trugen, um kollegialischen Verkehr nachzusuchen. – Einige Wochen gingen dahin, und Herr Stevenhagen wurde immer trauriger, und seine gute Frau Mathilde konnte beim besten Willen nichts thun, ihn aufzuheitern, denn ihr selbst war das Herz auch schwer; nur daß sie dank der Beschäftigung, die sie hatte, die Einsamkeit besser ertragen konnte als ihr Mann.

Die Tage wurden kürzer, die Spaziergänge nach Tische mußten eingestellt werden; Stevenhagen versuchte dem „Kneipen“ Geschmack abzugewinnen, aber es gelang ihm nicht. Er war kein Biertrinker, saß eine halbe Stunde lang über dem Kruge, den man ihm vorgesetzt hatte, beobachtete mit einer Art von Neid die benachbarten Tische, an denen so viele Leute saßen, die sich vortrefflich zu unterhalten schienen, und schlich dann traurig, wie er gekommen war, wieder nach Hause.

Da kam eine Art Rettung in der Noth: ein Brief von Fritz, der ankündigte, er sei krank, er könne im Augenblick beim besten Willen dem Geschäft nicht vorstehen und bitte Herrn Stevenhagen, einen neuen Vertreter zu ernennen oder, was noch unendlich viel besser wäre, selbst auf einige Tage zurückzukommen, denn er hoffe, daß er bald wieder in der Lage sein werde, seinen Verpflichtungen im Geschäft vollständig nachzukommen. – Ein Vertreter konnte natürlicherweise nicht ernannt werden; daran dachte Herr Stevenhagen nicht eine Sekunde. Er und Frau Mathilde packten noch am selben Tage einige Sachen zusammen und reisten nach N. zurück. Sie hatten ihre Ankunft telegraphisch angezeigt und wurden schon auf der Eisenbahnstation, die eine Stunde Weges von N. entfernt war, von Agathe und den beiden „Borsdorfer Aepfelchen“ empfangen. Das war eine Freude! Sie dauerte indessen nicht lange.

Fritz war in der That leidend, unfähig, aufzustehen; aber seine Krankheit war nicht bedenklich – er hatte die Masern und unglücklicherweise ganz gutartige, so daß das Uebel in vierzehn Tagen vollständig gehoben war und Stevenhagen nach dieser Zeit eigentlich keinen Grund mehr hatte, za Hause zu bleiben. Er war dort gelegentlich mit dem Doktor zusammengetroffen, der Fritz regelmäßig besuchte, doch die ehemaligen Freunde hatten es nicht über sich gewinnen können, mehr als einen kühlen Gruß auszutauschen; zu einer Versöhnung war es nicht gekommen.

Als Fritz wieder ganz geheilt war, fand Herr Stevenhagen noch verschiedene Vorwände, um seinen Aufenthalt im Städtchen zu verlängern; lange konnte dies jedoch nicht vorhalten, und eines Abends sagte er mit einem leisen Seufzer: „Ich glaube, liebe Mathilde, wir müssen morgen nach Berlin zurückkehren.“

Frau Mathilde fing sogleich an zu weinen, aber Stevenhagen that, als ob er es nicht sehe, nahm Hut und Stock und ging auf den Wall, wo er einen langen Spaziergang machte. Er wäre ja ebenso gern zu Hause geblieben wie seine Frau, und er hätte ebenso gut weinen können wie diese, wenn er nicht männlich gegen seine Gefühle angekämpft hätte. Aber er durfte nicht zeigen, was in ihm vorging, er durfte dem Doktor, dem Pastor und dem Postmeister nicht dea Triumph bereiten, ihn geschlagen zu sehen. Nein, lieber wollte er weiter dulden! Das war seine Pflicht; er war es sich selbst, war es dem „Kommissionsrath“ schuldig, obgleich dieser in letzter Zeit bei ihm etwas an Ansehen verloren hatte. Er gewährte seiner Frau eine Gnadenfrist von drei Tagen, und dann kehrten sie nach Berlin zurück.

Die große Stadt erschien ihnen öder als je, sie fühlten sich dort vollständig vereinsamt; das kurze Glück, welches ihnen das erneute Zusammensein mit den Kindern und den Nachbarn gewährt hatte, ließ sie ihre traurige Lage doppelt schmerzlich empfinden. Eines Tages, als Herr Stevenhagen nachdenklich am Fenster saß und auf die etwas entlegene Straße hinausblickte, in der er aus Sparsamkeitsgründen seine Wohnung genommen hatte, sah er einen Wagen nahen, der vor der Thüre Halt machte und dem, wie er bemerkte, ein langer, vornehm aussehender Herr entstieg. Gleich darauf hörte er an der Eingangsthür klingeln, und nachdem diese geöffnet worden war, trat das Mädchen in das Zimmer und überreichte ihm eine Karte, die den ihm wohlbekannten Namen seines Landraths trug. Dieser hieß, wie Steveahagen wußte, August mit Vornamen; auf der Karte stand „Harry voa Salwitz.“

„Bitte den Herrn, einzutretea,“ sagte Stevenhagea und erhob sich gleichzeitig, um dem Ankommenden entgegen zu gehen, der sich als der Neffe des befreundeten. Landraths vorstellte.

„Ich bin vorgestern von N. zurückgekommen,“ sagte er, „und soll Ihnen herzliche Grüße von meinem Onkel bringen. Er hat mir aufgetragen, Sie zu besuchen und mich nach Ihrem Befinden zu erkundigen.“

„Der Herr Landrath ist wirklich zu liebenswürdig! Ich [378] danke für gütige Nachfrage. Nun, es geht mir den Umständen nach ganz gut ... ganz gut ... Darf ich mich nach der Gesundheit Ihres Herrn Onkels erkundigen?“

Nach dieser Einleitung kam es bald zu einer angenehmen Unterhaltung. Der Neffe des Landraths, der die Gutmüthigkeit und die Artigkeit seines Onkels hatte, mochte wohl den Auftrag erhalten haben, sich nach Stevenhagen umzusehen und sich etwas um ihn zu bekümmern, denn dank den Briefen von Frau Mathilde an Agathe, ihre Tochter, war es in N. kein Geheimniß mehr, daß Herr Stevenhagen sich in Berlin nicht glücklich fühle. Jedenfalls zeigte sich Herr Harry von Salwitz bemüht, den Kommissionsrath zu unterhalten, was ihm auch vorzüglich gelang. Nach einer kleinen Weile sagte er:

„Ich werde Ihnen nächstens ’mal schreiben; wir wollen irgendwo zusammen essen und können dann den Abend miteinander verbringen; Ihre Frau Gemahlin wird sich uns natürlich anschließen. Paßt Ihnen das?“

Es paßte Herrn Stevenhagen ganz vorzüglich, und er nahm die Einladung dankend an. Als die beiden aufgestanden waren und sich langsam der Thür näherten, blieb Harry, noch immer sprechend, an einem Arbeitstisch stehen, auf dem weiter nichts lag als eine Briefmappe, die nothwendigsten Schreibmaterialien und in einer hübschen, alten Porzellanschale einige Visitenkarten – die des Herrn Kommissionsraths selbst. Harry hatte scharfe Augen, die sonderbaren Karten fielen ihm auf, und er entzifferte ohne Mühe, was darauf stand. Ein kaum merkliches Lächeln überflog seine Züge.

„Lieber Herr Stevenhagen,“ sagte er – er war mit seinem Landsmann schnell vertraut geworden – „sind das Ihre Karten?“ Und er nahm eines von den bunten Dingern in die Hand.

„Jawohl,“ antwortete der Kommissionsrath, etwas verlegen, ohne eigentlich selbst zu wissen, warum.

„Hm,“ meinte Harry, „geben Sie die lieber nicht ab. Lassen Sie sich andere Karten machen, wie alle Welt sie hier benutzt.“

„Die Karten sind ein Geschenk meines alten Freundes, des Doktors Nehring, den Sie wohl auch kennen.“

„Jawohl kenne ich ihn, den vortrefflichen alten Herrn! Ich habe ihn vorgestern noch bei meinem Onkel gesehen. Aber wissen Sie, lieber Herr Stevenhagen, der gute Doktor ist auch seit Menschengedenken nicht aus der Provinz herausgekommen und weiß nicht, wie wir hier leben. Zu Hause sind diese Karten wunderschön und ganz in der Ordnung, aber nach Berlin passen sie nicht.“

„Warum denn nicht, wenn ich fragen darf?“

„Ja, was soll ich Ihnen sagen? – Es ist nun einmal ‚Stil‘, daß vornehme Leute solche Titel, die nicht auf eine amtliche Thätigkeit hinweisen, mit ihren Orden zu Hause lassen und nur bei besonderen Gelegenheiten damit hervortreten. Setzen Sie einfach auf Ihre Karten: ‚Konstantin Stevenhagen‘, das genügt für die, die Sie kennen; und diejenigen, die Ihre Bekanntschaft erst später machen, werden auch ohne Ihren Titel auf der Karte bald genug erfahren, mit wem sie es zu thun haben.“

Darauf schüttelten sich beide noch die Hände, und Harry von Salwitz entfernte sich.

Es war gut, daß Frau Mathilde der Unterhaltung nicht beigewohnt hatte; sie würde zwar nichts gesagt haben, was ihren lieben Konstantin hätte kränken können, aber dieser würde auch ohne eine Aeußerung von ihr ihre Gedanken verstanden haben: „Also um dieses traurigen ‚Kommissionsraths‘ willen, den mein Mann, wenn er für vornehm gelten will, nicht einmal auf seine Karte setzen soll, haben wir Haus und Hof, Kind und Enkelkinder, alles, was uns lieb und nahe war, verlassen und sind nach Berlin gezogen? O Thoren, große Thoren, die wir gewesen sind!“ so würde Frau Mathilde gedacht haben, und so dachte auch Herr Konstantin Stevenhagen in seinem Innern. Er fühlte sich beschämt und wahrhaft unglücklich.

Am nächsten Tage erhielt er einen sehr freundlichen Brief von Harry von Salwitz, der ihm anzeigte, er sei in dienstlichen Angelegenheiten plötzlich von Berlin abberufen worden und werde erst in einigen Monaten dorthin zurückkehren. Er bedaure dies lebhaft, da er dadurch verhindert sei, die angenehme Bekanntschaft, die er gestern angeknüpft habe, sogleich so zu pflegen, wie er es gewünscht hätte; er werde nicht unterlassen, Herrn und Frau Stevenhagen nach seiner Rückkehr wieder aufzusuchen, und halte sich den beiden einstweilen bestens empfohlen.

Auf dem Umschlag stand einfach. „Herrn Konstantin Stevenhagen“; der artige, junge Herr hatte es nicht einmal der Mühe für werth gehalten, den kostbaren „Kommissionsrath“ mit darauf zu schreiben. Am Abend konnte Stevenhagen nur wenig essen, die Nacht verlief unruhig, am nächsten Morgen befand er sich unwohl.

„Was fehlt Dir?“ fragte Frau Mathilde besorgt.

Stevenhagen wußte darauf keine bestimmte Antwort zu geben. Es that ihm nichts weh; er fühlte sich nur müde, niedergeschlagen, der Kopf war ihm schwer. „Es wird schon vorübergehen,“ beruhigte er seine Frau.

Aber es ging nicht vorüber; Appetitmangel und Schlaflosigkeit dauerten fort, und nach wenigen Tagen erklärte Stevenhagen eines Morgens, er wolle lieber im Bette liegen bleiben. Nun bestand Frau Mathilde darauf, daß ein Arzt gerufen werde; davon wollte aber Stevenhagen nichts hören.

„Ich will keinen Berliner Arzt,“ sagte er, und nach einer Pause setzte er hinzu: „Ja, wenn wir Nehring hier hätten, das wäre etwas anderes, der kennt mich!“

Das war wie eine Erleuchtung für Frau Mathilde, und sie handelte danach. –

Als Stevenhagen am späten Nachmittag aus einem leichten Schlummer erwachte, in den er gesunken war, sah er seine gute Mathilde neben sich stehen, die ihm freundlich zulächelte und sagte. „Nun sei aber auch gut, Alterchen! Er ist da!“

„Wer?“

„Nun, Nehring natürlich. Ich habe ihn telegraphisch gerufen.“ Und ehe Herr Stevenhagen darauf antworten konnte, trat der treue, alte Freund in das Zimmer. Er näherte sich dem Bette, drückte dem Kranken die Hand und sagte schnell und in sichtbarer Erregung:

„Alles Vergangene sei vergessen, Stevenhagen! Wir sind ein halbes Jahrhundert lang als gute Freunde nebeneinander hergegangen und wollen nicht wegen einer Lappalie in unseren alten Tagen noch Feinde werden.“

„Mein guter Wilhelm,“ murmelte Stevenhagen gerührt.

Darauf begann nun der Doktor den Kranken auszufragen und zu untersuchen. Dann, während Herr Stevenhagen ihn aufmerksam und ängstlich beobachtete, sagte er:

„Die Sache ist ganz einfach: Du brauchst Luftveränderung, und zwar sofort. Die dicke, ozonarme Luft der großen Stadt verträgt sich nicht mit Deiner Konstitution und würde Dich vor der Zeit alt und gebrechlich machen und unter die Erde bringen.“

Stevenhagen hörte mit weit geöffneten Augen an, was sein wiedergefundener Freund sagte.

„Verstehst Du, Alterchen,“ sagte Mathilde, „Luftveränderung ist es, was Du brauchst.“

„Jawohl, jawohl; ich habe sehr gut verstanden!“

„Und wo sollen wir hingehen, lieber Doktor?“ fragte Frau Mathilde, „nach Heringsdorf, Norderney, in den Schwarzwald?“

„Aber liebe, gute Frau Stevenhagen, was fällt Ihnen ein?“ unterbrach sie der Doktor. „Wo, so frage ich Sie, hat sich Ihr Mann fünfundfünfzig Jahre lang wohl und munter wie ein Fisch im Wasser befunden?“

„Zu Hause,“ antwortete Mathilde schüchtern.

„Nun natürlich, zu Hause! Und was beweist das? Daß ‚zu Hause‘ der einzige Ort ist, den ein gut unterrichteter und gewissenhafter Arzt in diesem Falle in Vorschlag bringen und anempfehlen muß; alles andere wäre ein Fehler, möglicherweise ein folgenschwerer Fehler. Konstantin muß wieder nach Hause, und zwar lieber heute als morgen. Er muß um sechs Uhr morgens aufstehen, um eins zu Mittag essen, täglich eine Stunde auf dem Wall spazieren gehen, seine ‚Borsdorfer Aepfelchen‘ wieder zu sehen kriegen, von sechs bis neun Uhr abends kegeln oder l’Hombre spielen, meinetwegen auch arbeiten, und um zehn Uhr zu Bett gehen. Ich stehe dafür ein, daß ihn eine solche Lebensweise in vier Wochen an Geist und Körper wieder so kerngesund macht, wie er es sein Leben lang bis zu seiner Uebersiedlung nach Berlin gewesen ist, und wie er es noch heute sein würde, wenn er ‚zu Hause‘ geblieben wäre.“

Stevenhagen hielt es für seine Pflicht, sich etwas gegen die Ausführung dieser Verordnungen zu sträuben; aber im Herzen hatte er schon nachgegeben, und tags darauf erklärte er sich thatsächlich bereit, nach N. zurückzukehren. Frau Mathilde [379] bestand darauf, er müsse sofort vorausreisen und machte sich anheischig, den Umzug allein zu bewerkstelligen. Und vierundzwanzig Stunden später kehrte Stevenhagen dreiviertel geheilt, mit dem Doktor nach Hause zurück.

*  *  *

Es war wieder Frühling gewordeu, und Herr Konstantin Stevenhagen hatte schon seit beinahe einem halben Jahre seine alte Lebensweise wieder aufgenommen. Er ging zwar nicht mehr so regelmäßig wie früher in den Laden, wo Fritz jetzt in aller Bescheidenheit die Herrschaft führte, aber er bekümmerte sich tagsüber genügend um das Geschäft, um sich die Zeit vertreiben zu können und des Abends hatte er wie in früheren schönen Tagen seine regelmäßige Partie l’Hombre und seine regelmäßige Partie Kegel. Der Rentmeister, der eine Zeitlang seinen Platz eingenommen, hatte sich in der Gesellschaft der drei alten Herren niemals ganz heimisch gefühlt. Er hatte es sich ohne jede Empfindlichkeit gefallen lassen, wieder durch Stevenhagen ersetzt zu werden. Während der ersten zwei Abende herrschte in der Spielgesellschaft eine gewisse frostige Befangenheit, die sich namentlich in gesuchter Höflichkeit und in der Milde äußerte, mit der ein Spieler den anderen auf einen begangenen Fehler aufmerksam machte und mit der sich dieser gegen den an ihn gerichteten Vorwurf vertheidigte. Man machte eben vor dem wiedergefundenen alten Freunde noch „Umstände“ wie vor einem angesehenen Fremden; aber schon in der zweiten Woche begannen die guten Kameraden, sich in hergebrachter Weise nach einem jeden Spiele heftig zu zanken, und sehr bald war der frühere erfreuliche Zustand, der als ein Zustand andauernden Streitens bezeichnet werden konnte, in alter Herrlichkeit wieder hergestellt. Stevenhagen, von Frau und Tochter gepflegt, von den „Borsdorfer Aepfelchen“ regelmäßig besucht und in Anspruch genommen, wuchs von neuem in sein früheres Leben hinein und bekam seine rothen, festen Wangen und den freundlichen Blick seiner hellen ehrlichen Augen wieder. Doch nagte ein geheimer Kummer an ihm, ein Kummer, über den er noch mit niemand zu sprechen gewagt hatte. Allmählich wurde nämlich dem guten Manne klar, daß er sich geraume Zeit lang recht thöricht benommen hatte. Frau, Tochter, Schwiegersohn und Freunde hatten seine Thorheit monatelang geduldig und liebevoll ertragen und selbst als er in seiner Verblendung die Heimath verlassen und auf seine ganze Vergangenheit und seine besten Freunde wie auf etwas Werthloses freiwillig und anscheinend ohne jedes Bedenken verzichtet hatte – selbst da waren sie in ihrer treuen Anhänglichkeit nicht von ihm gewichen. Mathilde war ihm weinend, aber ohne ein Wort des Vorwurfs nach Berlin gefolgt und würde es bis zum Tode dort, in dem freudenlosen Leben, das er ihr geschaffen hatte, ausgehalten haben. Und der Doktor war beim ersten Rufe an Stevenhagens Lager geeilt, um sich mit ihm zu versöhnen, ihn zu heilen und nach N., zu seinem Glücke zurückzuführen. Konstantin empfand jetzt seine Thorheit wie eine Sünde, durch die er alle, die seinem Herzen nahe standen, schmerzlich verletzt habe. Und dieses schwere Vergehen wurde ihm von denen, die darunter gelitten hatten, ganz und rückhaltlos verziehen, ohne daß ein Wort des Vorwurfs über ihre Lippen gekommen wäre! Mathilde begrüßte ihn mit dem zufriedenen Lächeln aus den Tagen ihres ungetrübten Glücks, und das Andenken an die öde und traurige Berliner Zeit schien ganz aus ihrem Gedächtniß verwischt zu sein. Agathe und Mertens traten ihm mit hergebrachter Vertraulichkeit und Ehrerbietung entgegen und seine alten Spielkameraden, der Doktor an der Spitze, hatten niemals auch nur die leiseste Anspielung gemacht auf die große Thorheit im Leben Konstantin Stevenhagens, auf seine Uebersiedlung nach Berlin. Wie leicht wäre es ihnen gewesen, ihn spöttelnd „Herr Kommissionsrath“ zu nennen! Aber nein! Das Wort kam nicht über ihre Lippen, und auch der Landrath hatte aufgehört, ihn „Herr Kollege“ anzureden und wandte sich mit dem alten vertraulichen „lieber Stevenhagen“ an ihn. Es nagte an Konstantins Herzen, daß er soviel zarte Rücksichten, soviel Liebe und Freundschaft empfangen sollte, ohne sich dafür erkenntlich zu zeigen. Sein angeborener gesunder Stolz regte sich in ihm. Er fühlte sich unter einer Schuld – einer Schuld der Dankbarkeit. Er wollte sie bezahlen. Der Inhaber der Firma „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger“ mußte sich in jeder Beziehung „solvent“ zeigen.

Eines Tages, als die l’Hombrepartie im regelmäßigen Kreislauf im Stevenhagenschen Hause stattfinden sollte, wurde Frau Mathilde von ihrem Manne aufgefordert, das Abendbrot diesmal reichlicher und sorgfältiger zu veranstalten, als es bei ähnlichen Gelegenheiten Brauch war. Er selbst ging in den Keller und holte eine Anzahl Flaschen seines allerbesten Weines herauf, den er seinen Gästen nur bei besonderen Festlichkeiten vorzusetzen pflegte. Auf einen fragenden Blick Mathildens antwortete er, es handle sich um eine Ueberraschung für die Freunde; sie solle ihn nur gewähren lassen; alles werde sich im Laufe des Abends zu ihrer Befriedigung aufklären. – Und die Aufklärung kam.

Als die vier alten Spielgenossen nach beendeter Partie an dem Eßtisch Platz genommen und den aufgesetzten Speisen und Getränken behaglich zugesprochen hatten, klopfte der Wirth plötzlich an sein Glas. Man sah ihn erstaunt an, denn es verstieß gegen die zu fester Regel gewordene Gewohnheit, den gewöhnlichen Spielgesellschaften durch Toaste einen feierlichen Anstrich zu geben; aber Konstantin Stevenhagen ließ sich dadurch nicht beirren. Er hatte sich erhoben und begann mit bewegter Stimme:

„Liebe Freunde“ – und sogleich stockte er wieder. Dann, mit sichtlicher Anstrengung, fuhr er schnell und fließend fort, als sage er etwas auswendig Gelerntes her: „Es werden in den nächsten Tagen drei Jahre, da hattet Ihr Euch mit vielen anderen meiner Freunde und Bekannten in diesem Hause versammelt, um mir zu Ehren die Feier des hundertjährigen Bestehens meines Geschäftes zu begehen. Ihr waret gekommen, mir Freude zu machen, und Ihr machtet mir Freude ... und ... und ... ich habe Euch dafür schlecht gedankt.“

Reden halten war Konstantins starke Seite nicht. Die Beobachtung dieser Thatsache drängte sich ihm in diesem Augenblick zum ersten Male auf, denn er hatte noch niemals in seinem Leben den Versuch gemacht, zu „reden“. Eine große Versammlung fremder Menschen hätte ihn nicht mehr einschüchtern können als die vier Leute, seine besten Freunde und seine Frau, es thaten, sobald er sich in wohlgesetzter Rede an sie gewandt hatte. Es flimmerte ihm vor den Augen, der Schweiß trat ihm auf die Stirn – er sah zum Erbarmen aus. Das konnte keiner der Zuhörer lange Zeit ertragen, und alle empfanden es wie eine Erlösung, als Nehring, wie im Zorne, dem verlegenen Manne zurief:

„Was fällt Dir ein, Stevenhagen? Setz’ Dich, Mann, und sei still! Hast Du aber noch etwas auf dem Herzen, was Du absolut sagen willst, nun so sprich, wie wir gewohnt sind, Dich sprechen zu hören!“

Stevenhagen that sofort, wie der Doktor ihn geheißen hatte, und setzte sich nieder. Er athmete tief und erleichtert auf. „Du hast recht, Nehring,“ sagte er, „aber vergönne mir noch zwei Worte ... zu meiner Befriedigung ... Ihr verlangt kein Schuldbekenntniß von mir ...“

„Sicherlich nicht!“

„Nun ich mache auch keines; sei nur nicht so aufgeregt, Nehring! Sieh’, wie ruhig ich bin – Ihr verlangt kein Schuldbekenntniß ...“

„Nein!“

„Das weiß ich ja. Ich streite gar nicht mit Dir. So unterbrich mich doch nicht ... aber ich muß Euch sagen ... ja, was wollte ich eigeutlich sagen ...“

„Das möchte ich auch wissen!“

„Ich weiß es! Laß mich nur reden ... Ich wollte sagen ... ich wollte sagen ...“

„Du kriegst es ja doch nicht heraus,“ nnterbrach ihn der Doktor wieder, „und deshalb will ich es für Dich thun. Du willst uns sagen, daß wir Deiue guten Freunde sind.“

„Ja, das seid Ihr!“ rief Konstantin aufspringend und mit leuchtenden Augen um sich blickend. „Ihr seid meine guten treuen Freunde, denen ich für alle Beweise der Liebe und Freundschaft, die Ihr mir im Leben, namentlich aber seit einem halben Jahre gegeben habt, von ganzem Herzen dankbar bin. Das und nichts anderes wollte ich Euch sagen, und nun habe ich es endlich gesagt, obschon Nehring gethan hat, was er nur konnte, um mich daran zu verhindern.“ – – –

Seitdem sind fünf Jahre vergangen. Stevenhagen denkt noch keineswegs ans Sterben, aber er hat bereits testamentarisch bestimmt, daß die Firma des alten Hauses, auf das er stolzer als je ist, nach seinem Tode unter der Herrschaft seines Enkels, [380] Anastasius Mertens, noch einen Zusatz erhalten und sodann „Samuel Stevenhagen Söhne Nachfolger Erben“ lauten soll.

„Das ist großartig “ sagte Frau Mathilde.

„Etwas lang,“ meinte Nehring. „Einen kleinen Wechsel kann Anastasius damit gar nicht acceptieren.“

Konstantin zuckte die Achseln. „Dir ist nichts heilig!“ murmelte er.

Den „Königlichen Kommissionsrath“ hat Stevenhagen allem Anschein nach vergessen, wenigstens spricht er nie mehr davon. Die schönen Visitenkarten, die Nehring ihm vor Jahren geschenkt hat und von denen nur wenige benutzt worden sind, liegen vernachlässigt in einer nur selten geöffneten Schublade des großen Schreibtisches, an dem Stevenhagen seit einem Menscheualter Rechnungen schreibt, Bücher fuhrt, auf „ergebenste Letzte“ Bezug nimmt und „geschätzte Jüngste“ beantwortet. Auch seine Freunde und Mitbürger scheinen gar nicht mehr daran zu denken, welch hoher Auszeichnung Herr Konstantin Stevenhagen vor Jahren theilhaftig geworden ist. Sie behandeln ihn wie einen Gleichgestellten, und der „Kommissionsrath“, der vor acht Jahren in so vieler Leute Mund war, ist ohne Sang und Klang wieder aus dem Wortschatz der Einwohner von N. verschwunden. So vergeht der Glanz der Welt!