Zum Inhalt springen

Der Löwe von Halle

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor:
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Der Löwe von Halle
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 437-439
Herausgeber: Ernst Keil
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Autorenseite in der Wikisource: Heinrich Leo
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
[[Bild:|250px]]
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[437]
Der Löwe von Halle.

Auf der Straße von Halle nach Magdeburg kann man, während der größte Theil der spazierengehenden Hallenser bei dem eine gute halbe Stunde entfernten Dorfe Trotha umkehrt, fast jeden Nachmittag einen Spaziergänger seinen Weg bis zu dem wieder eine halbe Stunde entfernten einsamen Gasthofe „zum Schwan“ ausdehnen und erst da umkehren sehen. Dieser einsame, lebhaft dahinschreitende Wanderer, in welchem sich der Typus des Universitätslehrers nicht verkennen läßt, ist ein Mann, den das ganze gebildete Deutschland kennt: Heinrich Leo.

Leo ist in Rudolstadt geboren, wo sein Vater Hofprediger war, und stammt aus einer seit langer Zeit in Thüringen einheimischen Familie. Der undeutsche Name macht keine ausländische Abstammung nöthig, sondern erinnert vielmehr an die Periode der Humanisten, wo es sehr allgemeiner Gebrauch war, die Namen zu latinisiren. Der frühzeitige Tod des Vaters warf schon auf die Jugend Leo’s einen trüben Schatten, und nur nach mancherlei Bedrängnissen konnte er in Jena die Universität beziehen. Jena war damals der eigentlichste Mittelpunkt der allgemeinen deutschen Burschenschaft und Leo schloß sich derselben mit allem Feuer und Ungestüm seines Wesens an. Nach den damaligen Erfahrungen des deutschen Lebens und gemäß ihrem rein patriotischen Ursprung konnte die damalige Burschenschaft mit ihrem Wünschen und Sehnen nur auf ein deutsches Kaiserthum mit den alten Lehenfürstenthümern gerichtet sein, ohne bestimmte Begriffe über eine freie Verfassung für das Volk, und da sie dazu dem verhaßten leichtsinnigen, schnöden Franzenthume germanische Frömmigkeit gegenüberstellte, so konnte sie es wenigstens nicht verhüten, daß in einer Anzahl ihrer Mitglieder sich später auf der politischen Seite ein absolutistischer Sinn, auf der religiösen ein crasser Pietismus entfaltete, der mitunter auf den Katholicismus lossteuerte und endlich auch in diesen Hafen einlief. Auch in Leo kam bald eine solche Wandlung nach der politischen Seite hin zu Stande, mit großer Schnelligkeit, wie das seiner brausenden Natur angemessen war. Als er zur Fortsetzung seiner Studien nach Göttingen gekommen war, wirkte die dortige mehr mit aristokratischen Elementen beladene Atmosphäre alsbald in der Weise auf ihn ein, daß plötzlich der „Unsinn der Jenensischen demagogischen Theorien“ deutlich vor seinen Augen stand und er sich über die „Heilung von der demagogischen Narrheit“ glücklich pries. Dies geschah im Jahre 1819, und schon im folgenden Jahre bekundete er seine Verehrung für bestehende politische Autorität mit Einschluß etwaiger Adelsherrschaft in einer Abhandlung über die Verfassung der lombardischen Städte.

Heinrich Leo.

Wenn Leo schon in dieser Zeit als Verfechter des Katholicismus auftrat, so geschah das ohne Zweifel mehr vom Standpunkte des Politikers aus, als daß ein religiöser Antrieb dabei thätig gewesen wäre; er hatte als „Demagog“ und als Historiker genugsam in das Mittelalter geblickt, um zu wissen, daß jene Form des weltlichen Regiments, unter deren Fahne er jetzt kämpfte, keinen bessern Verbündeten finden kann als die katholische Hierarchie, wenn sie es versteht, sich diese zu befreunden und ihre Freundschaft zu erhalten.

In Erlangen, wohin sich Leo zunächst begab, um als Privatdocent der Geschichte aufzutreten, „hatte er sofort die Ehre und das Glück, von dem seichten, demagogischen Gesindel beargwohnt und als ein verhallerter Aristokrat ausgetragen zu werden“. Die Verhältnisse an der dortigen Universität befriedigten ihn so wenig, daß er dieselbe schon 1822 mit Berlin vertauschte. Bevor er sich hier habilitiren konnte, mußte er jedoch von dem trotz alledem noch immer an ihm haftenden Geruche der Demagogie durch einen besondern Gnadenact gereinigt werden. Der Minister Kamptz vollzog jenen Act, natürlich wohl mit besonderer Rücksichtnahme auf die erfolgte und bethätigte Umkehr. In Berlin kam Leo mit Hegel in nahe Berührung, ohne eigentlich Anhänger seiner Lehre zu werden, wie er denn überhaupt keine Neigung hatte sich mit Philosophie tiefer einzulassen. Natürlich wurde er aber zugleich mit vielen Hegelianern bekannt, und es wurden hier die Verbindungen angeknüpft, welche nachher den leidenschaftlichen Streit mit den „Hegelingen“ zur Folge hatten. In seinen hier herausgegebenen „Vorlesungen über die Geschichte des jüdischen Staates“ steht er noch ganz auf „unkirchlichem“ Standpunkte, und beweist sich als tüchtigen pragmatisirenden Historiker. Da das jüdische Volk im Allgemeinen und einzelne von der Kirche geheiligte Persönlichkeiten im Besondern bei einer solchen Darstellung nicht zum Besten weggekommen waren, so hat ihm diese Arbeit später, nach seiner Erleuchtung, große Zerknirschung verursacht.

Berlin in seiner ganzen Art und seinem Leben sagte Leo so wenig zu, daß er plötzlich, in dem Drange, sich aus ihm durchaus widerstrebenden Verhältnissen zu befreien, der schönen Residenz den Rücken kehrte und sich zunächst nach Leipzig begab, bald aber eine Professur in Halle antrat. Es war dies 1829. Wenn er bei seinem Auftreten in Halle noch ganz der freudige, burschikose Lebemann schien und ohne Anstoß mit Ruge, Pott, Niemeyer u. s. w. verkehrte, so wurde dies gründlich anders, als 1831 plötzlich seine noch höhere Erleuchtung eingetreten war.

Nach seiner eigenen geheimnißvollen Aussage wurde er „wunderbar aus seiner Verblendung geführt“. Näheres über den Hergang des Wunders wissen wir nicht mitzutheilen; das dazu auserwählte Rüstzeug scheint v. Gerlach gewesen zu sein, der damals das Hallische Conventikelwesen in hohen Schwung gebracht [438] hatte und mit kluger Hand leitete. Leo selbst sagt, daß die Julirevolution mit dem „grimmen Ernst“, den sie gemacht, in gewissem Grade ein Wendepunkt in seinem Leben sei. Allein es ist zu schwer zu erkennen, was von dieser Revolution ihn zur innern Einkehr getrieben haben sollte. Standen doch die Pietisten jener Zeit der Julirevolution nicht einmal so feindselig gegenüber, und die belgische Septemberrevolution hatte sich bei vielen sogar einer gewissen Gunst zu erfreuen, vielleicht wegen der Mitwirkung der Jesuiten. Die Julirevolution mag in irgend einer Weise den Boden für Gerlach’s Saat gelockert haben, aber für die unmittelbare Veranlassung der Erleuchtung Leo’s mögen wir sie nicht ansehen.

Dieser fand, einmal in den pietistischen Kreis eingetreten, natürlich fromme Brüder genug, die sich des verloren gewesenen und wiedergefundenen Schäfleins mit sonderlicher Liebe annahmen. Der frühere weltkinderliche Umgang wurde dagegen abgebrochen, und es liegt ganz in Leo’s Natur, daß er nun mit Schroffheit und Ungestüm den ehemaligen Genossen gegenüber als Verfechter seiner neugewonnenen Anschauungen auftrat.

Von den vierziger Jahren an konnte Leo ruhiger und unter mehr begünstigenden Verhältnissen seine politischen und religiösen Ansichten sich fortbilden lassen, und namentlich waren der katholisirenden Richtung jetzt förderlichere Bedingungen gegeben. Wenn er, wie wir gesehen, schon viel vom Katholicismus hielt, als er noch in der Verblendung wandelte, so ist nicht zu verwundern, daß er nach seiner Erleuchtung immer mehr für denselben erwärmt wurde. Und das konnte er nun so unverhohlen an den Tag legen, daß nicht wenige Protestanten meinten, er sei heimlich längst katholisch geworden, und daß die katholischen Propagandisten bis in die neueste Zeit große Hoffnungen auf ihn gesetzt haben.

Wir mögen an diesem Punkte bequem ein wenig inne halten, um mit Ruhe einen Blick auf Leo’s ganze Persönlichkeit zu werfen. Leo ist ein Mann von mittlerer Größe und so wohlgewachsen, daß er ohne Nachtheil für seine Erscheinung Decennien lang den historisch gewordenen blauen Frack mit gelben Knöpfen tragen konnte. Sein wohlgebildetes Gesicht wird vortheilhaft durch die schwärzlichen Haare gehoben, mit denen die dunkelbraunen Augen vollkommen harmoniren. Diese Augen geben dem ganzen Antlitz einen entschieden geistreichen Ausdruck, aber es glüht auch in ihnen der Zorn über die gesammte andersdenkende Menschheit, der nicht minder durch die leicht zusammengepreßten Lippen angedeutet wird. Der sich auf die eigene Subjectivität steifende Zorn, die Bereitschaft jede von der seinigen abweichende politische oder religiöse Meinung hitzig zu bekämpfen, erscheint uns in der That so sehr als das eigenthümlichste Wesen Leo’s, daß wir glauben möchten, er könnte gar nicht existiren als der er ist, wenn ihm alle Gelegenheit benommen wäre, mit glühendem Eifer gegen allerhand ihm gegenübertretende Elemente loszurennen. Der Subjectivismus ist so stark in ihm vorherrschend, daß er in allen seinen Kämpfen eigentlich weniger im Sinne und Geiste der Partei, die ihn zu den Ihrigen zählen konnte, gestritten hat, als nur in seinem eigenen; sich einer Partei recht eigentlich einzuordnen, wobei doch immer ein theilweises Unterordnen des eigenen Willens unter das Gesammtwollen einer Allgemeinheit vorausgesetzt werden muß, das ist ihm gar nicht möglich und er hat es auch nie gewollt. Dieses gänzliche Gestelltsein auf seinen eigenen Sinn würde auch nie zulassen, daß Leo ein wahrer Katholik sein könnte; sein ganzes Katholisiren beruht wesentlich auf seinem Zorn über den protestantischen Rationalismus, der ihn dem Gegensatze zutreibt; wenn der Katholicismus ihn wirklich mit seinen Schranken umgäbe, so würde sein hier und dort angestoßener Subjectivismus ihn sicher zu demselben Zorne gegen die ihm entgegentretenden Partien des Römerthums anreizen. Seine Zornmüthigkeit hat denn auch oftmals jene zum Theil berühmt gewordenen Ausdrücke hervorgerufen, die wohl nicht eigentlich so böse gemeint sind, wie sie sich ausnehmen: die Worte vom „skrophulösen Gesindel“, vom „frischen fröhlichen Krieg“ und andere. Verglich er doch auch in seinem Zorne die hohen Potentaten Europa’s mit faulen Karpfen, die der muntere Hecht Louis nach weisem Rathschluß der Vorsehung etwas in Bewegung setzen müßte. Seinem Wesen sind derbe Ausdrücke überhaupt zusagend, und er liebt solche auch in gewöhnlicher Rede anzuwenden.

Aus seinem eigenmüthigen Ungestüm folgt nun ganz natürlich, daß er vielfach in Inconsequenzen gerathen ist, indem er entweder ihm äußerlich entgegengebrachten Anreizungen nachstürmte, oder je von den verschiedenen Standpunkten seiner innern Entwickelung aus über alles Vorkommende, für sich selbst immer endgültig, aburtheilte. Denn er selbst ist sich seiner Inconsequenz bewußt geworden, seit er sich von der „demagogischen Narrheit“ losgemacht hat. Diese Unbeständigkeit findet selbst äußerlich ihren Ausdrunck in seiner vielmals geänderten Orthographie, die ihm stets auf dem richtigen Grunde beruhte.

Diese eigenthümliche Art Leo’s klar zu zeigen ist vielleicht nichts geeigneter, als jener gegen Ende der dreißiger Jahre mit der höchsten Leidenschaftlichkeit geführte Kampf gegen die „Hegelingen“. Hier, wo es ihm die Verfechtung der politischen und der religiösen Interessen zugleich zu gelten schien, ließ er, von seinem stürmischen Eifer hingerissen, seinem innern Drange, seinem ganzen Subjectivismus, ohne allen Rückhalt freien Lauf. Hier hat sich seine Zornmüthigkeit in ihrer ganzen Fülle offenbart. Seine Streitschrift „die Hegelingen“ ist so unerschöpflich an wilden Schimpfreden, die weit über das von den Homerischen Helden gebrauchte Maß hinausgehen, daß, wenn man nach längerer Zeit wieder und noch einmal hineinblickt, man jedesmal auf’s Neue über die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit dieses Redeschmuckes in Erstaunen geräth. Und das war eine Schrift des gereiften Mannes, nicht eines noch in unfertiger Gährung brausenden Jünglings. Wir müssen uns hierbei eine Vergleichung Leo’s mit Luther erlauben. Luther behauptete bekanntlich verschiedenen Gegnern gegenüber sehr häufig ganz Entgegengesetztes: was er zum Beispiel im Streite mit den Papisten aufs Heftigste bekämpfte, das vertheidigte er eben so leidenschaftlich, wenn er es mit „Sectirern“ und „Rotten“ zu thun hatte. Aehnliches gesteht Leo von sich selbst willig zu: daß er mancherlei sogenannte Aeußerlichkeiten der katholischen Kirche gegenüber den Protestanten (er meint natürlich nur die „strohtrockenen“ Rationalisten) vertheidige, dagegen „eifernden Katholiken“ deren Werth streitig mache. – Aber solcher Wechsel im Bejahen und Verneinen tritt bei Leo häufig auch, je nach dem augenblicklichen Bedürfniß, viel jäher ein. So hebt er z. B. irgendwo in den „Hegelingen“ hervor, daß er zu Gunsten des Katholicismus und der Jesuiten geschrieben habe, und an einer andern Stelle daselbst spricht er von einem „jesuitischen Schandsatz“, den er natürlich einem Gegner in die Schuhe schiebt. Einmal erklärt er wieder die Abstammung von jüdischem Geschlechte, die ein Gegner bei ihm gewittert zu haben meint, für etwas sehr Erhabenes und bedauert, sich ihrer nicht rühmen zu können, und anderswo weiß er drei Widersacher, die er erst mit christlichen Namen genannt hat, nicht schärfer zu treffen, als indem er sagt, sie könnten vielleicht auch „Jekef, Schmuel und Levi“ heißen.

Daß in jener Streitschrift sehr viel denuncirt wird (dabei aber das Denunciren immerfort den Gegnern vorgeworfen), daß sogar der Censurbehörde ein Wink mit ganzem Arme gegeben wird – oder eigentlich der betreffende Censor wegen Nichterkennens der hinter Hegelingischen Phrasen verborgen lauernden Gefahr für Staat und Religion denuncirt wird –, das wollen wir gern weniger Leo’s Individualität zur Last legen, als dem Einflusse der staatlichen Atmosphäre, in welcher er damals athmete, die Schuld daran beimessen – noch standen ja Menschen wie Tschoppe in Geltung! Aber das erscheint der Eigenart Leo’s ganz angemessen, daß er am Schlusse einer solchen Streitschrift sich in ein brünstiges Gebet ergießt; sein hitziger Subjectivismus läßt ihn nicht zweifeln, daß der Herrgott bei dem Gezänk mit den Hegelingen eben so tief interessirt ist wie er selbst.

Von seinen wissenschaftlichen Leistungen können wir hier nur wenig erwähnen. Hat er auch seit 1831 nur im Geiste politischer und religiöser Reaction geschrieben, so kann doch von keiner Seite her geleugnet werden, daß er in seiner Entwickelung der Verfassung der lombardischen Städte, in seiner jüdischen Geschichte – von der er sich freilich losgesagt –, dann in der Geschichte des Mittelalters, in der Geschichte der italienischen Staaten, wie in seiner Universalgeschichte Anerkennenswerthes geleistet hat. Im Interesse seiner historischen Forschungen unternahm er auch sprachliche Studien über das Altsächsische, Angelsächsische, Keltische u. a., und war hier eigentlich bahnbrechend. Freilich war das für ihn ein besonders günstiges Feld, wo er, ohne leicht auf Widerspruch zu stoßen, seinen eigenen Ansichten und Eingebungen unbeirrt nachgehen konnte.

Als Universitätslehrer hat Leo zahlreiche Zuhörer gehabt, die, durch seinen lebendigen Vortrag angezogen, sich um ihn sammelten. Aber eine historische Schule hat sich um ihn nicht gebildet. Für einen solchen Erfolg war seine Eigenthümlichkeit [439] eben wieder nicht geartet, so wenig als sie zuließ, daß er selbst ein wahrer Parteimensch wurde.

Leo’s persönlicher Charakter ist in hohem Grade achtungswerth. Der Erwerb von Geld und Ehren übt keinen Reiz auf ihn, und wenn ihm solche Ehren, wie sie für Viele das Ziel alles Strebens sind, doch vielfach zu Theil geworden sind, so sind sie ihm eben gefolgt wie der Schatten. In seinem Verhalten gegen Andere offenbart er eine hohe persönliche Gutmüthigkeit, die man in dem hitzigen, derben Kämpen bei allerlei Fehde gar nicht vermuthen sollte, und sein näherer persönlicher Verkehr hat eine bequeme, oft liebenswürdige Art. Zu erwähnen ist hier auch, daß er in der Beurtheilung wissenschaftlicher Leistungen Anderer durchaus absieht von seinen eigenen politischen und religiösen Anschauungen. In seiner langjährigen Stellung als Director der wissenschaftlichen Prüfungs-Commission in Halle hat er nie Rücksicht darauf genommen, ob ein junger Mathematiker an die Auferstehung des Fleisches glaubte, oder ein Philologe von der Nothwendigkeit des Herrenhauses überzeugt war: immer hat er unparteiisch nur die fraglichen wissenschaftlichen Leistungen in’s Auge gefaßt.

Kehren wir nun zu unserem geschichtlichen Gange zurück. Nachdem das Jahr 1847 die Erwartungen einer „historischen Entwickelung“ in Preußen so glänzend „gekrönt“ hatte, – um uns dieses ja auch neuerdings in Frankreich noch beliebten Ausdruckes zu bedienen – kam das Jahr 1848. Dagegen war jener „grimme Ernst“ von Anno Dreißig denn doch nur Spaß gewesen. Die reactionären Elemente rückten jetzt nothgedrungen näher aneinander, und auch Leo wurde enger, als ihm in manchen Beziehungen zusagte, an die Koryphäen der Reaction an der Hallischen Universität herangedrängt und mußte, mehr als er mochte, eigentlicher Parteimann werden. Darüber konnte ihn wohl der Erfolg der Reaction trösten. Er selbst stieg – wir wissen, ohne darnach zu streben – an Ehre und Ansehen: sein Name glänzte neben Gerlach und Stahl, er wurde lebenslängliches Mitglied des Herrenhauses, aber zugleich auch passiver Mitarbeiter des „Kladderadatsch“, und seine geflügelten Worte wurden weit über Deutschlands Grenzen hinausgetragen. In solchen einschlagenden Worten trat hauptsächlich seine politische Wirksamkeit in die Oeffentlichkeit, denn als Redner hat er nicht einmal im Herrenhause seine Bedeutung zu erkennen gegeben, obwohl er manche Redner unter seinen Mitlords wohl hätte überstrahlen mögen.

Ein kleines Mißgeschick betraf ihn, als er zu Anfang der sechziger Jahre in seinem katholisirenden Streben an einer von dem katholischen Grafen Cajus v. Stolberg nach Erfurt berufenen Versammlung theilgenommen hatte. Die Sache erregte Anstoß, und er wurde der Direction der wissenschaftlichen Prüfungs-Commission bei der Universität enthoben. Doch übrigens ging im Vaterlande das Meiste nach Wunsch, wenigstens konnte für manches Nichtgenehme das damals in Aussicht gestellte „innere Düppel“ reichlich entschädigen.

Da brachte das Jahr Sechsundsechzig den lange gewünschten „frischen fröhlichen Krieg“, doch leider in einer ganz anderen Richtung, als er gemeint gewesen war. Mit grimmem Ernst spielte sich rasch ein kräftiges Stück Historie ab, und gegen dieses historisch einmal Gewordene war die Theorie des Historikers ohnmächtig. Die gewaltigen, nicht so gehofften Ereignisse mußten das ganze Gebäude der Erwartungen, die Leo im Laufe der Jahrzehnte übereinander gethürmt hatte, bis auf den tiefsten Grund erschüttern, wenn nicht umstürzen. Wohl ihm, daß er nach seiner Eigenart, für sich selbst consequent bleibend, im Stande war, eine gewaltige Schwenkung, wenn nicht eine Umkehr zu machen. Es gelang ihm, sich mit der Bismarck’schen äußeren Politik auf einen verträglichen Fuß zu setzen, ja, sich mit ihr zu befreunden. Wie er als den Grundstein des Aufbaues der deutschen Nation seither den heiligen Bonifacius betrachtete, so erkannte er jetzt in Bismarck gewissermaßen den Schlußstein, der, indem sich die noch getrennten Theile des Baues, freundlich oder feindlich, gegen ihn zusammenneigen mußten, das Ganze für jetzt zusammenhält und so eine dauernde Vereinigung für die Zukunft ermöglicht. – Aber auch in der inneren Politik – welche Enttäuschung in dem Mann des „inneren Düppel“! Er stellte sich seinen Amtsgenossen gegenüber als den Vertreter des Liberalismus dar, und nun, was mit ihm an der Spitze als eine gewaltige Phalanx der Reaction erschienen war, das blieb ohne ihn und gegen ihn eine für den Liberalismus nicht mehr furchtbare, nur noch ihn behindernde und belästigende Truppe.

Härter als jene Schwenkung in der äußeren Politik mag diese Wendung in der inneren das so tüchtig gefugte Gerüst des Systems, das Leo sich mit solcher Hingabe aufgebaut, erschüttert haben, und sicher ist dieselbe nicht ohne manch’ tief einschneidendes Weh vorgegangen. Selbst das Aeußere des Mannes kann dafür zeugen. Obgleich seine Erscheinung trotz des vorgerückten Alters noch keineswegs greisenhafte Schwäche zeigt, so drückt sich doch jetzt in seinem Gesicht nicht mehr die volle frühere energische Kraft aus, sondern eine gewisse Erschlaffung hat sich darin ausgeprägt, ähnlich jener, die bei einer plötzlichen schweren Enttäuschung auf dem Antlitz des Menschen sichtbar wird. So ist denn das ungestüme und unbändige Ringen des Subjectivismus auch hier in ein Stück Tragik ausgelaufen!

Natürlich hängt sich auch an diese stark ausgeprägte Persönlichkeit die Sage an. Es werden von ihm allerhand Geschichten erzählt, die wenigstens zeigen, in welcher harmlosen Weise die Leute, welche mit Leo’s Bestrebungen nicht einverstanden waren, ihre Unzufriedenheit damit zum Ausdruck brachten. Wir wollen ein paar davon zum Schluß mittheilen.

Als einmal der König Friedrich Wilhelm der Vierte auf einer Reise Halle passiren wollte, hatte auch Leo sich ihm vorzustellen. Im Begriff seine Wohnung zu verlassen, bemerkte er zu großem Verdruß, daß die schwarz-weiße Cocarde an seinem Hute nur noch lose durch einen einzigen Faden gehalten wurde. Es war unmöglich, so zu gehen, und weibliche Hülfe mit Nadel und Faden anzurufen, das erlaubte die Zeit nicht: es war Gefahr im Verzüge. Rasch entschlossen, zündete Leo den Wachsstock an, nahm Siegellack und befestigte die Cocarde mit diesem Bindemittel, worauf er von dannen zum Bahnhof eilte. Als er sich Seiner Majestät vorstellte, gab er seinen loyalen Gesinnungen in passenden Worten Ausdruck. Der König antwortete, er sei von der Echtheit der Loyalität des Sprechers überzeugt, könne sich aber mit diesen Gesinnungen die rothe Cocarde an seinem Hut nicht zusammenreimen. Betroffen blickte Leo nach seinem Hut und sah mit Schrecken, daß die schwarz-weiße Cocarde abgefallen war und der an ihrer Stelle sitzen gebliebene runde Siegellackfleck allerdings eine von der seinigen ganz verschiedene politische Gesinnung anzuzeigen schien.

Als einmal der König Friedrich Wilhelm der Vierte Halle passirte – wie es scheint, haben viele dieser Geschichten den nämlichen Anfang, so wie die Volksmärchen gern beginnen: „Es war einmal ein König“ – stellte sich ihm auch Leo vor.

„Es freut mich, Sie zu sehen,“ sagte der König, „wiewohl ich Sie heute zum zweiten Male sehe.“

Leo äußerte etwas in Verlegenheit: „Er wisse nicht, wie er den zweiten Theil dieser huldvollen Worte zu deuten habe.“

„Jawohl,“ sagte der König, „ich habe Sie heute schon gesehen – im ‚Kladderadatsch‘.“