Der Pilger und die Sarazenin
[231]
Der Pilger und die Sarazenin.
Jüngst am Libanon in einem Kloster,
Drin ich eine kurze Reiserast hielt,
Langsam durch die kühlen Hallen wandelnd,
Blieb ich stehn vor einem alten Bilde,
Es berührte mich mit leisem Zauber
Trotz der byzantinischen Gestalten,
Denn darüber lag ein Glanz der Liebe:
Durch das Thor des Paradieses schritten
Hand in Hand versenkt und Blick in Blick auch.
„Was bedeutet dieses süße Märchen?“
Frug ich Anaklet, den Klosterbruder,
Der mich schleichend überall begleitet.
„Guter Herr, kein süßes Märchen ist es,
Sondern eine tröstliche Legende,
Auf ein altes Pergament verzeichnet
Zur Erbauung aller gläub’gen Christen.
Eine Märtrin ist die Sarazenin,
Er verschied, gesteinigt und gepeinigt,
Sie verblich, umarmend eine Schwelle!“
[232] Märchenlustig bin ich wie Scheherban,
Und ich bat den Mönch: „Erzähle, Vater,
Deinem Sohn die tröstliche Legende.“
Bruder Anaklet willfahrte sprechend:
„Einst, vor ungezählten vielen Jahren –
Das ich gründlich lernte schon als Knabe –
Zogen Pilger nach dem Grab vorüber
Ohne Rast und ohne Trunk und Speise
Scheuen Fußes an der Stadt Damaskus,
Vor der Stadt Damaskus rauscht ein Brunnen,
Wo ein Löwenkopf aus seines Maules
Tiefherabgezognen Winkeln sprudelt
Ein begehrtes köstlich kühles Wasser.
Schleierlos, die jungen warmen Augen
Fünfzehnjährig oder sechszehnjährig,
Stand am Brunnen eine Sarazenin,
Die den schlanken Krug gelassen füllte.
Mit gesenktem Haupte niederblickend,
Denn die Moslimweiber treiben Künste.
[233] (Aber überwunden hat sie Christus!)
Nur ein zarter Jüngling, fast ein Knabe
Nahte sich der jungen Sarazenin
Flehend, forderte von ihr zu trinken.
Langsam senkte sie den Krug. Er schlürfte.
Langsam hob den Krug zu Haupt sie wieder,
Wandte sie das Haupt mitsammt dem Kruge,
Schritte fühlend hinter ihren Sohlen:
„Pilger, hüte dich vor diesem Thore!
Denn es würde dir zum Thor des Todes!
Und verhaßt ist Christus in Damaskus!“
Und sie wandelt durch des Thores Wölbung,
Und sie wandelt durch die dunkeln Gassen,
Schritte fühlend hinter ihren Sohlen.
Und empor zum innern Söller steigend
Sieht sie mit den Sinnen ihres Geistes
Einen Pilger liegen auf der Schwelle,
Auf der Schwelle vor des Hauses Pforte.
Vor dem Pilger, heftig ihn zu schelten:
„Pilger, hebe dich von dieser Schwelle,
[234] Die zur Schwelle würde dir des Todes!
Will nicht schuldig sein an deinem Tode!
Alle schlügen heute dich mit Stäben,
Alle würfen heute dich mit Steinen,
Und du lägest todt in deinem Blute!
Denn verhaßt ist Christus in Damaskus!
Fremdling! Abergläub’scher! Götzendiener!
Diesen Lippen einen Kuß! Entweiche!“
Doch er weigerte sich mit dem Haupte,
Zornig wich von ihm die Sarazenin.
Vor dem Pilger, dem das Blut aus vielen
Wunden strömte, heftig ihn zu schelten:
„Weiche, Pilger! Heb’ dich, läst’ger Bettler!
Fremdling! Abergläub’scher! Götzendiener!
Und verhaßt ist Christus in Damaskus!
Will nicht schuldig sein an deinem Tode!
Waschen will ich deine rothen Striemen,
Küssen will ich deine blut’gen Wunden,
Doch er weigerte sich mit dem Haupte,
Weinend wich von ihm die Sarazenin
Und empor zum innern Söller steigend
[235] Hört sie mit den Sinnen ihres Geistes
Auf der Schwelle vor des Hauses Pforte.
Ferne blieb der Schlummer ihren Lidern,
Endlich kam der Schlummer und ein Traum kam.
Rings empor an eines Gipfels Abhang
Pilger auf zum Thor des Paradieses.
Einer klomm voran, ein heil’ger Märtrer,
Den die andern grüßten ehrerbietig.
In des Thores Wölbung stand der Heiland:
Doch der Pilger weigerte sich standhaft:
„Heiland, laß mich liegen auf der Schwelle,
Bis sie kommt die stündlich ich erwarte!
Hand in Hand versenkt und Blick in Blick auch,
Keine Sarazenin, eine Christin.
Solches träumend, stürzten ihr die Thränen
So gewaltig, daß sie drob erwachte.
Jählings springt sie auf von ihrem Lager,
Leer und blutbegossen lag die Schwelle
In des ungebornen Tages Frühlicht.
Auf die harte Schwelle kniet sie nieder,
[236] Badet sie mit unerschöpften Thränen,
Preßt sie fest, als klopft’ ein Herz im Steine,
Keines klopft, doch ihres zum Zerspringen.
Als die Füße derer wiederkehrten,
Die den Todten vor das Thor getragen,
Auf der Schwelle sahn sie eine Todte,
Auf der Schwelle lag die Sarazenin.
Keine Sarazenin, eine Christin!“
Endet’ Bruder Anaklet erbaulich.