Der Reis im deutschen Volkshaushalt
Der Reis im deutschen Volkshaushalt.
Ein neues volksthümliches Gericht wäre heute unzweifelhaft eine Wohlthat; denn es ist eine allgemein bekannte Thatsache, daß in dem Maße, wie Bildung und Gesittung zunehmen, wie demgemäß das Nervenleben mehr in den Vordergrund tritt, Abwechselung in den Speisen zu den Erfordernissen eines wirklich guten Mittagstisches gehört – gerade wie Abwechselung der Beschäftigungen gesund und frisch und kräftig erhält.
Aus diesem Gesichtspunkt muß man es ansehen, nicht aber als eine Verdrängung der Kartoffeln oder irgend eines anderen hergebrachten Volksnahrungsmittels, wenn der Reis in der Volksküche neuerdings eine breitere Stelle einzunehmen trachtet als bisher. Die Kartoffel herrscht wohl vielerwärts thatsächlich auf dem Tische der Armen, aber doch nicht von Rechtswegen und für alle Zeit uneingeschränkt. An dem Alters-Maßstabe der Nationen gemessen, ist sie ja selber noch ein Emporkömmling; denn erst gegen Ende des sechszehnten Jahrhunderts brachte der berühmte englische Seefahrer Franz Drake sie von ihrer Heimath, den Höhenzügen des westlichen Süd-Amerika, nach Europa mit, und erst im Anfang des siebenzehnten Jahrhunderts gelangte sie nach Deutschland, wo man sie keineswegs sofort zu würdigen wußte.
Die beiden großen preußischen Könige Friedrich Wilhelm der Erste und Friedrich der Zweite haben sich lange vergeblich bemüht, die Kartoffel in ihren Staaten allgemein einzuführen. Die Hungersnoth von 1745, die Theuerungen von 1771 und 1772 mußten ihnen dafür zu Hülfe komme. Seitdem freilich ist die Kartoffel in Deutschland wie anderswo zu einer Nahrungspflanze ersten Ranges geworden, und wenn eine mittellose Familie ihr Auge auf Grunderwerb richtet, so geschieht dies eigentlich nur, weil sie sich nach dem Anbau der Kartoffel sehnt. Heute noch ermöglicht in der deutschen Reichshauptstadt die Armenverwaltung einigen hundert oder tausend dürftigen Leuten, sich selbst Kartoffeln zu bauen, indem sie Land im Großen pachtet und im Kleinen etwas billiger wieder verpachtet.
Die Kartoffel lohnt den auf sie verwendeten Fleiß durch hohe Erträge und ist ein gutes Nahrungsmittel. Aber der Reis ist mindestens kein schlechteres. Wie würden sonst auch Hunderte von Millionen Menschen – man pflegt in Bausch und Bogen zu sagen: die Hälfte der lebenden Menschheit – hauptsächlich oder fast ausschließlich von Reis leben? Seiner Zusammensetzung[WS 1] nach hat er vor der Kartoffel voraus, daß er nur etwa ein Sechstel seines Gewichtes Wasser enthält, letztere aber drei Viertel. Von der Kartoffel kann der Mensch nach den sehr geschätzten Untersuchungen des Professor Voit im Physiologischen Institut zu München fast ein Zehntel nicht verwenden und scheidet es ungenützt wieder aus, vom Reis kaum ein Fünfundzwanzigstel. In dieser Hinsicht kommt Reis gleich nach dem Fleische und vor allen Bodenfrüchten. Er belästigt und spannt folglich die Verdauungskraft am wenigsten. Es giebt wohl Kartoffelbäuche, aber keine Reisbäuche. Die Massen von Reis, welche Chinesen und Hindus tagtäglich zu sich nehmen, erscheinen dem Europäer unglaublich, weil von keinem seiner heimischen Volksnahrungsmittel gleich große Beträge dem Nahrungswerthe nach fortgesetzt ohne Beeinträchtigung des Körpers genossen werden könnten. Denn das freilich ist eine Fabel, daß angestrengt arbeitende Völker oder Volksclassen irgendwo in der Welt sich mit geringer Nahrung kräftig und gesund erhielten. Sie leben auch vom Reis schwerlich irgendwo ganz allein: Fische, Bohnen oder Erbsen pflegen überall hinzuzukommen, aber der Reis kann wegen seiner ausgezeichneten Eignung für unsere Nahrungszwecke massenhafter ohne Schaden gegessen werden, als irgend ein anderes Erzeugniß des Pflanzenreiches.
Das gilt – wohlgemerkt! – vom Reis, aber darum noch nicht gerade von den Reisgerichten, welche bei uns in Deutschland hergebracht sind. Mit Milch, Zucker und Zimmt kann man ihn kaum alle Wochen, geschweige denn täglich essen; ebenso wenig mit Aepfeln oder Pflaumen gemischt. Diese Zuthaten sind es, welche bewirken, daß das Reisgericht bei allzu häufiger Wiederholung dem Geschmacke widersteht, die Verdauungsorgane angreift und für den schmaleren Beutel die Mahlzeit auch zu sehr vertheuert.
Im fernen Osten bereitet man den Reis ganz anders, einfacher, billiger, auf die Dauer zusagender und bekömmlicher zugleich. Man setzt ihn, wie Kartoffeln, lediglich mit Salz auf’s Feuer, und nach der ersten Viertelstunde läßt man ihn nicht in Wasser, sondern trocken in Wasserdämpfen garkochen. Dabei wird nicht ein weicher Brei aus ihm, wie wir ihn auf unserer Tafel zu sehen gewöhnt sind, sondern die Körner bleiben gesondert und ganz erhalten, werden nicht ausgelaugt und haben jenen kräftigeren, ich möchte sagen männlicheren und ernsteren Geschmack, der nicht so bald widersteht. Sie schmecken Einem dann, wie Brod und gute Kartoffeln, Tag für Tag. Man kann sie zu jeder Art von Fleisch als Zugabe essen, gerade wie dies gegenwärtig mit den Kartoffeln geschieht. Das specifisch orientalische Fleischgericht zum Reis ist Curry, ein Ragout von allen vorhandenen Resten Fleisch und Sauce, welches, mit etwas Curry-Paste oder -Pulver, einer feingeschnittenen Zwiebel und einer geriebenen, rohen Kartoffel angemacht, äußerst wohlschmeckend ist.
In unseren Seestädten ist dieses Gericht schon vielfach ein beliebter Table d’hôte-Gang geworden.
Wie man den zuerst mit Wasser angesetzten Reis nachher trocken weiter kocht, braucht Hausfrauen natürlich nicht erläutert zu werden. Es giebt dafür im Handel schon sogenannte Reiskocher, blaue Töpfe, in denen ein feines Sieb angebracht ist, auf welchem der Reis liegt, während darunter das Wasser sich in Dampf auflöst. Nach einer Stunde etwa wird das Sieb herausgehoben, das Wasser abgegossen und der Reis noch eine Weile zum Trocknen auf dem Herde gelassen.
Im Gegensatz zu den bei uns üblichen Reisgerichten wird der so zubereitete Reis anfänglich vielleicht dem verwöhnten Gaumen nüchtern und geschmacklos vorkommen, gerade wie Brod sich zu Kuchen verhält, oder Kartoffeln zu feineren Gemüsen. Aber bald wird man seine gesunde Wirkung spüren und ihn sich gern gefallen lassen. Wir haben dann ein stets und zu Allem passendes Gericht mehr. Die sparsam wirthschaftende Hausfrau weiß, was das [96] bedeutet. Sie wird es besonders in der ersten Hälfte des Kalenderjahres schätzen, wenn die Kartoffeln in ihrem Keller anfangen zu verderben oder auszugehen und neue entweder theuer zu kaufen oder ebenfalls nur in schlechter Qualität zu haben sind. Reis hingegen ist jahraus jahrein zu festem Preise in immer gleicher Güte vom nächsten Krämer (oder Consumverein) zu beziehen.
Er ist aber allerdings beim Krämer immer wohl noch ziemlich theuer. Dr. J.[WS 2] König in Münster, der „die Chemie der Nahrungs- und Genußmittel“ auf Grund sorgfältigen Studiums in zwei 1879 und 1880 erschienenen Bänden behandelt hat, setzt vierzig Pfennig für das Pfund als den Marktpreis seines Wohnortes an. Dabei behauptet die Kartoffel offenbar noch einen beträchtlichen Vorsprung; denn das Pfund wird in demselben Buche, von zeitlichen und örtlichen Preisschwankungen abgesehen, zu drei Pfennig Durchschnittspreis angesetzt. Allein ein Pfund Reis hat den vier- bis fünffachen Nährwerth eines Pfundes Kartoffeln, und im „Bremer Handelsblatte“ ist unlängst nach den Großhandelspreisen berechnet worden, daß es verzollt im Binnenlande kaum irgendwo mehr als fünfzehn oder sechszehn Pfennig zu kosten brauchte. Dann genügte schon eine geringe Erhöhung des Kartoffelpreises oder eine geringe Abnahme in dem Nährwerthe der Kartoffeln, um Reis ebenso wohlfeil zu machen.
Die Tabellen des Dr. König über den in Geld anzuschlagenden Nährwerth der verschiedenen gangbaren Lebensmittel belegen, was man sich ohnehin denken kann: daß der Preis eines Artikels im Kleinverkaufe sich seinem Preise im Groß- und Welthandel desto genauer anschmiegt, je regelmäßiger und massenhafter er gekauft wird, je mehr er zur Lebensnothdurft des Volks gehört. So lange er ein Ausnahmegericht bleibt, weicht der Preis, den die Haushaltungen zahlen müssen, oft weit von demjenigen ab, welchen der Krämer gezahlt hat, zumal wenn letzterer im Sinken ist. Das ist aber in ausgeprägter Weise beim Reis der Fall, und daher ist hier noch eine sehr umfassende Möglichkeit zu wohlfeilerer Lieferung in die Küche, sobald die Küche ihn nur erst häufiger, regelmäßiger begehrt.
Vor vierzig Jahren war Reis in Deutschland selbst noch für die wohlhabenderen Mittelklassen eine Art Luxusspeise. Man kannte kaum andere Sorten, als Carolina- und Java-Reis, die durchschnittlich fünfundzwanzig Mark der Centner kosteten.
Heute beträgt der Preis, für welchen geschälter Reis in Bremen im Großen zu kaufen ist, kaum noch zwei Drittel desjenigen Preises, der bei der ersten Einführung der billigeren Sorten Hinter-Indiens galt, nämlich rund ungefähr zehn Mark der Centner, und er ist noch fortwährend im Sinken. Die Einfuhr hat dabei gewaltig zugenommen, und was früher werthloser oder wenig werther Abfall war, wird jetzt hoch verkauft und kann kaum genug geliefert werden.
Amerika und England hatten schon geraume Zeit hindurch gelernt, aus Reis eine bessere Stärke zu gewinnen, als Weizen oder Kartoffeln geben können, ehe Deutschland ihnen darin nachfolgte. Auf der vierten Versammlung des Vereins deutscher Stärkefabrikanten, welche am 11. Februar 1870 zu Berlin stattfand, machte man sich bereits die Ueberlegenheit der Reisstärke klar: 100 Pfund derselben leisteten soviel wie 115 Pfund Weizenstärke; sie sei durch das bei ihr übliche Schlemmen sandfrei, worauf für die Appretur von Zeug außerordentlich viel ankomme; sie klebe nicht, wie Weizenstärke häufig. Nur der Preis war ihrer ausgedehnteren Benutzung damals noch im Wege; denn er betrug 11 Thaler für den Centner, während Weizenstärke 7 Thaler kostete. Die Versammlung sah indessen voraus, daß dies sich bald ändern werde, und sie hat sich darin nicht getäuscht. In Deutschland, wie in Frankreich und Belgien nehmen die großen Reisstärkefabriken seit einigen Jahren rasch zu. Ihr Bedarf an Bruchreis kann von den Reisschälmühlen kaum noch gedeckt werden, sodaß sie schon öfter zu dem werthvolleren und für sie eigentlich nicht nöthigen Stückreis gegriffen haben.
Noch eine andere Verwerthung für den Abfall der Reisschälmühlen hat sich herausgestellt in dem Futtermehl, das aus der sogenannten Silberhaut, welche unter der Hülse steckt und beim Schälen beseitigt wird, entsteht. Chemische Untersuchungen, darunter namentlich die des Dr. M. Fleischer, von der Versuchsstation der Central-Moor-Commission in Bremen, haben den Landwirthen für gewisse Sorten dieses Futterstoffes eine Bürgschaft gewährt, die sie für Vieh und Geflügel eifrig nach demselben greifen läßt.
Es ist auf diese Weise dahingekommen, daß die jüngste gewaltige Zunahme der Reiseinfuhr aus Ostindien fast mehr durch die Nachfrage nach den früher verachteten Abfällen bedingt erscheint, als nach dem zur menschlichen Nahrung dienenden Tafelreis. Nicht minder aber muß die Folge so leichter Anbringung der Abfälle zu guten Preisen, die Folge einer Steigerung der Einfuhr vornehmlich der Abfälle wegen die sein, daß der Preis von Eßreis stetig sinkt. Je mehr von den Kosten der Herüberschaffung durch die Stärkefabrikation und die Futtermehlbereitung getragen wird, desto weniger braucht der importirende Kaufmann oder der Reismüller durch den Verkauf des geschälten Reises zum menschlichen Consum zu decken. Der Fall der Preise in den letzten Jahren bestätigt diese Annahme durchaus. Mittelgesiebter Rangunreis kostet heute 91/2 bis 93/4 Mark. Rechnet man hiernach das Pfund zu 10 Pfennig, dazu 2 Pfennig Zoll, 1 Pfennig Fracht, 2 Pfennig Unkosten und Verkaufsaufschlag, so müßte es fast allenthalben für 15, höchstens 16 Pfennig im Laden zu kaufen sein. Damit kommt Reis dem Kartoffelpreise schon augenscheinlich sehr nahe.
Diese Bewegung könnte nur dann zurückgehalten werden, wenn die Hervorbringung von Reis in den Ländern, aus denen wir ihn beziehen, auf unübersteigliche Schranken stieße. Aber das ist in keiner Weise vorauszusehen. Von dem ungeheuren Verbrauch der dichtbevölkerten Gebiete Südostasiens macht die europäische Nachfrage selbst bei der denkbar stärksten Erhöhung einen so verschwindenden Bruchtheil aus, diese Nachfrage ist durch das sie vertretende Capital wirthschaftlich so stark und die bestellbare Fläche wie das verfügbare Arbeitspersonal, praktisch genommen, so grenzenlos, daß von dieser Seite gewiß kein beschränkender Einfluß kommen wird. In den letzten Jahren ist angefangen worden, den Reis auf Dampfern zu beziehen. Auch die zunehmende Verdrängung der Segelschifffahrt vom Ocean wird ihn nicht theurer machen.
Grübeleien über die Frage, was aus dem heutigen Kartoffellande werden soll, wenn der ferne Osten uns ein nahezu oder gleich billiges, in mancher Hinsicht gesunderes, seiner Güte nach unveränderliches Volksnahrungsmittel liefert, brauche wir noch nicht anzustellen. Von vier Pfund jährlichen Reisverbrauchs auf den Kopf – so stellt er sich heute bei uns – bis zu einer fühlbaren Einschränkung des so viel massenhafteren Kartoffelverbrauchs ist noch ein weiter Weg, dessen langsame Zurücklegung Allen Zeit gönnen wird, sich darauf einzurichten. Wahrscheinlich ist sogar, daß überhaupt kein empfindlicher Einfluß auf den Kartoffelbau sich ergeben wird. Wir werden fortfahren, Kartoffeln zu essen und Reis in zunehmendem Maße daneben. So machen es in unseren Seestädten gegenwärtig schon manche Familien, auf deren Tische der Reis täglich erscheint; der Eine nimmt ihn zur Suppe, der Andere zum Fleisch; für die Kinder wird mit etwas gekochtem Obst ein Nachtisch daraus, der bei weitem gesunder und ihnen selbst auf die Länge lieber ist, als ein schwerer, fetter, süßer Pudding oder Auflauf. Unsere Volksernährung ist ja, dank den im Allgemeinen ziemlich stetig steigenden Löhnen und Arbeitsverdiensten, im Aufsteigen begriffen; sie wird sich den billiger werdenden Reis mit Freuden aneignen, sobald nur die rechte Zubereitung durchgehends bekannt ist.
Hierfür aber können verschiedene Stellen allerhand thun, vorab die Volksküchen, die ja Muster von guten Speisezetteln für die Küchen des Volkes aufstellen, zumal wenn sie ihre wohlthätige Wirksamkeit auf einer neuen höheren Stufe ihrer Entwickelung dadurch erweitern, daß sie jungen Mädchen aus dem Arbeiterstande, von deren Küchen- und Haushaltsführung später das ganze Wohl der Arbeiterfamilien so wesentlich abhängt, das Kochen mit den geringsten Mitteln beizubringen suchen. Ferner die Consumvereine, wenn sie sich der Conjunctur des sinkenden Reispreises mit einer gewissen Werbung für einen so nützlichen Consumartikel bemächtigen, oder ihre Concurrenten, die Krämer, die ebenfalls durch mündliche oder gedruckte Gebrauchsanweisung leicht dem Reis mehr Absatz verschaffen könnten. Auch die Aerzte werden voraussichtlich gern mitwirken. Gegen allzu ausschließliche Kartoffelnahrung müssen sie beschränkende Ersatzmittel willkommen heißen, zumal wenn die Verdauungskraft unter jener schon gelitten hat oder die wässerigmachende Wirkung auf Blut und Muskeln eingetreten ist. Auch die beste Naturgabe kann, im Uebermaß benutzt, nachtheilig wirken, und nicht um die Kartoffel zu verdrängen, sondern um ihrem Gebrauch die dem Menschen heilsamste Grenze zu ziehen, kündigt sich der Reis jetzt immer einleuchtender als ein wahres Volksnahrungsmittel auch für Deutschland an. A. Lammers.
Anmerkungen (Wikisource)
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