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Der Sachsenspiegel und die weltlichen Kurfürsten

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Autor: Wilhelm Becker
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Titel: Der Sachsenspiegel und die weltlichen Kurfürsten
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aus: Deutsche Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Bd. 12 (1894/95), S. 297–311.
Herausgeber: Ludwig Quidde
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Erscheinungsdatum: 1896
Verlag: Akademische Verlagsbuchhandlung von J. C. B. Mohr
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Erscheinungsort: Freiburg i. B. und Leipzig
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Quelle: Scans auf Commons
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[297]
Der Sachsenspiegel und die weltlichen Kurfürsten.
Von
Wilhelm Becker.


Wer sich mit der Geschichte des Kurfürstenthums beschäftigt, wird immer wieder zu einer Auseinandersetzung mit Ssp. III 57 § 2 genöthigt. Die Wichtigkeit dieser Stelle ist sogar durch die neuesten Untersuchungen, welche die Unzulänglichkeit aller anderen Quellen zur Lösung der Frage darthun, erheblich gesteigert worden. Dagegen ist man noch nicht über den Sinn derselben und ihre Bedeutung für die Erkenntniss der Geschichte der Wahlverfassung einig. Versuchen wir daher im Folgenden eine Prüfung der Frage. Dabei beschränken wir uns auf die weltlichen Kurfürsten, denn ihr Heraustreten aus der Masse der Wähler ist das bedeutsamste Moment in der Bildung des Kurfürstenthums.


I. Erklärung der Stelle.

Die hierher gehörigen Angaben des Ssp. zerlegen wir der Uebersichtlichkeit halber in drei Sätze.

1. Gewisse weltliche Fürsten haben bei der nach erzielter Verständigung der Fürsten über die Person des zu Kürenden folgenden feierlichen Kur ihre Stimme gleich nach den drei Rheinischen Erzbischöfen abzugeben.

Das steht bekanntlich im Gegensatz zu dem älteren Verfahren, das nur die Eintheilung der Wähler in geistliche und weltliche kennt und höchst wahrscheinlich noch 1125 in Uebung war.

Ueber die Auslegung dieses Passus besteht kein Streit, desto grösserer aber

2. über die Frage, wem der Ssp. dieses Vorrecht zuschreibe.

[298] Hier dürfte an der schon von Waitz (Verf.-Gesch. VI und Forsch. XIII u. s. w.) gegebenen Interpretation festzuhalten sein. Nach ihr besitzen das fragliche Vorrecht Pfalz, Sachsen, Brandenburg und, theoretisch, auch Böhmen.

Dem soll nun der Wortlaut widersprechen: „die schenke des rikes, die koning von Behemen, die ne hevet nenen kore“. Sieht man sich aber die Stelle genauer an, so findet man, dass dem König von Böhmen nicht das Vorstimmrecht, sondern überhaupt jedes Kurrecht abgesprochen wird. Diese Nennung eines überhaupt nicht einmal wahlberechtigten Fürsten bei einer Gelegenheit, wo von einem Vorrecht bei der Wahl gehandelt wird, ist sehr auffallend. Sie lässt sich nur verstehen, wenn man annimmt, es habe zu der Zeit eine Ansicht bestanden, die jenem Fürsten ein Vorstimmrecht zuschrieb. Der die Ausschliessung Böhmens erklärende Zusatz aber: umme dat he nicht düdesch n’is zeigt, dass auch unser Autor sich im Grunde zu jener Ansicht bekennt und nur für den Augenblick und aus Ursachen, die nicht unabänderlich sind, jenes Vorstimmrecht mit dem ganzen Kurrecht für suspendiert ansieht[1].

3. Ebenso umstritten ist endlich die Frage, ob uns Eike an jener Stelle eine Begründung für die Bevorzugung der Vier gibt. Nach Waitz hat er es gethan unter Hinweis auf die Erzwürde der Betreffenden. Die Nennung des Erzamtes bei jedem der vier Fürsten macht diese Erklärung sehr einleuchtend. Wird ferner dem König von Böhmen ein nur in der Theorie vorhandenes Vorrecht zugesprochen, so kann man die Ursache davon nur in einem Princip finden, von dem der Autor ausgeht. Dieses Princip wird aber nach dem Zusammenhang der Stelle (da ja bei jedem der Betreffenden der Erzwürde gedacht wird) kein anderes als die Herleitung des Vorrechtes aus dem Erzamt sein.

Bestätigt wird unsere Auffassung durch die Art, wie Albert von Stade die Sache darstellt (Waitz, Forschungen XIII S. 208)[2].

[299]
II. Kritik der Stelle.
a) Der Verfasser des Sachsenspiegels und seine Angaben über das Vorstimmrecht.

Vor allem ist bei Beurtheilung der streitigen Stelle des Ssp. die bereits aufgeworfene Frage zu beantworten, ob der Verfasser des Rechtsbuches zugleich Urheber der dort aufgestellten Theorie ist.

Eine erschöpfende Antwort hierauf bietet unser Quellenmaterial nicht. Für den dritten Satz, die Gründung des Vorstimmrechts auf ein Erzamt, finden sich allerdings Belege in den Versen des Lohengrin[3] und in dem angeblichen Spruche Reimar’s von Zweter, während ebenso, wie beim Ssp. als wenigstens thatsächlich den Kurfürsten anhaftende Auszeichnungen ihre Erzwürden genannt werden in den Versen bei Martin von Troppau. Dass diese drei Quellen unter sich und mit dem Ssp. nicht verwandt sind, hat schon Waitz betont[4], und sie würden mithin eine willkommene Bestätigung bieten, wenn sie sich zeitlich dem Ssp. näher rücken liessen. Der Lohengrin ist aber schwerlich vor 1275 entstanden[5], die Verse sind von Martin von Troppau etwa 1270 in die Chronik aufgenommen worden[6], und die Zeit der Entstehung des Spruches, den man Reimar zugeschrieben hat, ist ganz unbestimmt[7]. Die Einwirkung einer vom Ssp. verbreiteten Theorie auf diese Stellen ist mithin nicht ausgeschlossen.

Etwas gesicherter steht die erste Behauptung des Ssp. von der Umänderung der alten Stimmordnung da. Im auctor vetus wird den sechs Fürsten, qui primi sunt in – electione, das Amt zuerkannt, den neuerwählten König auf seiner Romfahrt zu begleiten, um vor dem Papste die Gültigkeit seiner Wahl zu bezeugen. Das stimmt nicht nur auffällig mit den sechs thatsächlich Bevorrechtigten des Ssp. überein, sondern es ist auch schwer anzunehmen, dass unter jenen sechs nur geistliche, nicht vielmehr [300] zu gleichen Theilen geistliche und weltliche Fürsten gewesen seien[8].

Ohne zu untersuchen, ob uns im auctor vetus die Quelle oder eine ältere Recension des Sächsischen Lehnrechts vorliegt, ist so viel klar: in dem Lateinischen Text wird die neue Stimmordnung vorausgesetzt und benutzt, um daraus die Pflicht der Wahlbezeugung für die bevorrechtigten Wähler abzuleiten. Damit ist die Annahme unvereinbar, dass jene Voraussetzung selbst ihr Dasein dem Verfasser des Rechtsbuches verdanke.

Zu demselben Resultat führt der gleich zu erbringende Nachweis, dass man bereits um 1198 die Personen der Bevorzugten zu nennen wusste.

Die zweite These endlich, die Angaben über die Träger des Vorrechts, bezeugen, und zwar unumwundener als der Ssp., zunächst gleichfalls die eben erwähnten Verse Reimar’s und Martin’s von Troppau, daneben aber noch zwei andere Autoren, Aegidius von Orval und Heinrich von Segusia, beide wegen abweichender Reihenfolge in der Aufzählung der Kurfürsten unter einander und, weil sie bei Böhmen noch der Herzogswürde gedenken, von den genannten Quellen unabhängig[9]. Und eben, weil beide den Böhmen noch als dux, der Letztere mit dem Zusatz: qui modo est rex, einführen, geht ihre Tradition über die Personen der bei der Kur bevorrechtigten weltlichen Fürsten auf die Zeit um 1198 zurück, wo Böhmen Königreich wurde. Erwägt man ferner, wie nicht lange nach der Abfassung des Ssp. das dort behauptete Vorrecht ohne Wechsel der Träger als ausschliessliches Recht auftritt, so wird man auch desswegen annehmen, dass Eike seine Ansicht nicht selbst erfunden habe.

Satz 1 und 2 sind also nicht von Eike erfunden, sondern stammen aus dem Ende des 12. Jahrhunderts. Dass derselbe an unsrer Stelle überhaupt ältere Anschauungen darstellt, zeigt auch der Umstand, dass er Böhmen jede thatsächliche Theilnahme an der Wahl abspricht, was für die Zeit vor 1198 wahrscheinlich ist, für die Epoche Philipp’s und Friedrich’s II. aber mit bezeugten Vorgängen nicht stimmt[10].

[301] Darnach würde man nunmehr für alle drei Sätze die Quelle in einer schon um 1198 verbreiteten Anschauung zu suchen haben. Auch an und für sich ist es durchaus wahrscheinlich, dass ein Schöffe, der die Redaction eines Rechtsbuches spätestens im Jahre 1234 abschloss, Anschauungen aus der Wende des 12. und 13. Jahrhunderts darstellte.


b) Der Sachsenspiegel und die ihm widersprechenden gleichzeitigen Wahltheorien.

Es entsteht die weitere Frage: welchen Werth haben die vom Ssp. abweichenden Angaben über die Wahlordnung?

Matthäus von Paris mit seinen beiden Wählerlisten, die sich gegenseitig aufheben, und von denen noch dazu die erstere sich selbst widerspricht, sowie mit seinen wunderbaren Nachrichten über die Geschäftsordnung der Wahl ist schon von Früheren abgewiesen worden. (Vgl. Lindner S. 172 ff.)

Nennt Thomas Wikes anscheinend an der Stelle, wo in der Ueberlieferung des Ssp. Böhmen steht, Oesterreich (wenn man nämlich den dort erwähnten dux Bavarie mit dem Pfalzgrafen identificirt), so ist er entweder offenbar gleichfalls schlecht unterrichtet, oder, wenn wirklich anzunehmen ist, dass er unter dem Oesterreicher den Oesterreich besitzenden König von Böhmen meinen sollte, so würde er dem Ssp. nicht widersprechen. (Böhmer, fontes II, 451.)

Wie diese beiden ausländischen Autoren zu ihren irrigen Angaben gekommen sind, erklärt sich leicht durch die Erwägung, dass in der ganzen Zeit von 1198 bis 1256, wie weiter unten gezeigt werden wird, wahrscheinlich bei keiner einzigen Wahl alle vier vorstimmberechtigten Fürsten vertreten waren. (Vgl. Ficker, Entstehungszeit des Ssp. S. 108.) Sicher ist dies von der zwiespältigen Wahl im Jahre 1198, dann von den Wahlen Konrad’s, Heinrich’s von Thüringen und Wilhelm’s von Holland. Ueber die Personen der Bevorrechtigten konnten sonach leicht Irrthümer entstehen.

Die Ansicht, welche sich bei Heinrich von Segusia als Anschauung „gewisser“ (quidam) Leute findet, wonach die Böhmische Stimme nur dann necessaria gewesen sei, quando alii (Mainz, Köln, Trier, Pfalz, Sachsen, Brandenburg) discordant, stammt offenbar erst aus später Zeit, da sie volle Ausbildung des ausschliesslichen [302] Kurrechts der bevorzugten Fürsten voraussetzt. Trotzdem könnte ihr als ältere Anschauung die zu Grunde liegen, dass Böhmen den übrigen weltlichen vorstimmberechtigten Fürsten nicht gleichberechtigt sei. Hier aber käme für uns Alles auf die Frage an, ob es das auf Grund eines Princips, einer Grundanschauung oder nur thatsächlich nicht war. Im ersteren Falle würde eine vom Ssp. abweichende Ansicht zu Grunde liegen, im letzteren nicht. Ueber diese Frage aber gibt die Stelle keinen Aufschluss.

Absehen dürfen wir hier unter Hinweis auf die geführten Untersuchungen von der in den späteren Texten des Ssp.[WS 1] und in dem von ihm wahrscheinlich abhängigen Lohengrin[11] entwickelten Ansicht über die Kurfürsten. Der Gegensatz, in den sich das sonst durch Vermittlung des Spiegels Deutscher Leute vom Ssp. abhängige Rechtsbuch hier zu seiner Quelle stellt, in Verbindung mit den bekannten Verhandlungen des Hoftages zu Augsburg im Mai 1275 macht nur zu wahrscheinlich, dass es sich hier nicht um eine weiter verbreitete Ansicht, sondern nur um eine von den Bemühungen Baierns um Verdrängung der Böhmischen Stimme beeinflusste Darstellung handelt. (Ficker, Wiener Sitzungsberichte LXXVII, 828–845).

In einem Punkte ferner widersprechen alle bisher aufgeführten Angaben über das Wahlverfahren, mit einziger Ausnahme des auctor vetus und seiner Ableitung, des Sächsischen Lehnrechts, unserer Stelle des Ssp., nämlich darin, dass sie von einem ausschliesslichen Kurrecht, nicht von einem blossen Rechte der früheren Stimmabgabe reden. Der Widerspruch hebt sich dadurch, dass jene Quellen jüngeren Datums als der Ssp. sind, und dessen Angaben, wie wir im Folgenden sehen werden, in diesem Punkte für die ältere Zeit Bestätigung finden.

Damit haben wir die Reihe der dem Ssp. widersprechenden Aufzeichnungen über das Wahlverfahren erschöpft. Wir sehen, dass sie uns nicht zu der Annahme nöthigen, es habe neben der Ansicht des Ssp. eine andere verbreitete Anschauung über die Wahlordnung bestanden.

Ich wende mich nun zu einigen anderen Aufzeichnungen, die nur auf Grund irriger Interpretation gegen unseren Autor in’s Feld geführt worden sind.

[303] 1. Roger von Hoveden (Stubbs IV, 38) scheint gar nicht von der Kur, sondern nur von den Vorberathungen zu handeln. Zwar braucht er von der Thätigkeit der Fürsten den Ausdruck eligere, aber auch Eike nennt das vorbereitende Verfahren irwelen, und wenn es heisst: quemcunque illi quatuor elegerint erit rex, so schliesst auch das nicht eine nun folgende Kur aus, da ja auch nach dem Ssp. die Kur nicht mehr über die Person des neuen Königs entscheidet. Die Stelle kann sich also recht wohl auf die Vorberathung beziehen. Das wird sogar wahrscheinlich, wenn man bedenkt, wie sehr die ganze Erzählung von der Uebertragung des Geschäfts, einen Candidaten auszufinden, an eine Auswahl von Fürsten an die Vorgänge bei Lothar’s Wahl erinnert, noch mehr an Gislebert’s Bericht über die Wahl von 1152, da hier wie bei Roger der Ausschuss nur aus vier Personen besteht. Jene Verhandlungen von 1125 bezogen sich aber bekanntlich nicht auf die Kur, da die Fürsten, wie es in der narratio heisst, der electio jenes Ausschusses erst ihre Zustimmung (assensus) zu ertheilen versprachen. Ebensowenig kann sich Gislebert’s Bericht, wenn er überhaupt Glauben verdient, auf die Kur beziehen, denn in dieser hatte noch nach Friedrich’s I. Ausspruch von 1158 (Ragewin III, 17) Mainz die erste Stimme. Der Erzbischof kann aber nicht unter den vier Fürsten Gislebert’s gewesen sein, da von diesen quisque ad ipsius majestatis culmen anhelabat.

2. Reden der auctor vetus und das Sächsische Lehnrecht VI, 2 von den sex primi in electione, den ses ersten in des rikes kore, so ist es offenbar willkürlich, anzunehmen, die beiden Quellen hätten nur sechs vorstimmberechtigte Fürsten gekannt. (Vgl. Weitz, Forsch. XIII, 207.)

Selbst wenn aber die Stellen so aufzufassen sein sollten, würden sie nicht dem Landrecht widersprechen, das ja auch nur sechs Fürsten als thatsächlich im Besitz der ersten Stimmen kennt.

3. In der Behauptung Baierns im Jahre 1275 (Böhmer, reg. Rud. 173), es habe 1257 und 1273 ratione ducatus neben der Pfälzer eine zweite Kurstimme abgegeben, hat man ein Zurückgreifen auf ein altes Vorstimmrecht der Stammesherzoge sehen wollen. Der Wortlaut besagt jedoch nichts weiter, als dass die Baierischen Fürsten auch für ihr Herzogthum eine Kurstimme [304] beanspruchten (vgl. Ficker, Wiener Sitzungsberichte 1874 S. 844), auf Grund welcher Rechtsanschauung und ob überhaupt auf Grund einer solchen, wird nicht mitgetheilt.

4. Hat der Herzog von Baiern wirklich, wie es in einem Auszuge Aretin’s aus Albert von Behams Aufzeichnungen heisst (Bibl. d. literar. Vereins XVI, 16), 1239 geäussert: vellem utrique voci renunciare, videlicet palatii et ducatus, so steht dieser Anspruch auf je eine Stimme für jedes der beiden Fürstenthümer, da er ja nicht von einem Vorstimmrecht redet, mit dem Ssp. nicht in Widerspruch.

5. Auch die Uebereinkunft vom Jahre 1221 zwischen Magdeburg und Brandenburg gedenkt einfach einer Wahlstimme jedes der beiden Fürsten, steht also zu dem Ssp. keineswegs im Gegensatz (Riedel, cod. dipl. II, 1, 18; Lindner S. 122).

6. Hat es überhaupt mit der vom auctor vetus und dem Sächsischen Lehnrecht behaupteten Bezeugung der Rechtmässigkeit der Königswahl vor dem Papste durch die sechs ersten Wahlfürsten seine Richtigkeit, so kann man doch jedenfalls nicht mit Kirchhöfer (zur Entstehung des Kurcollegiums, Hallenser Dissertation S. 68 ff.) aus dem Wortlaut der beiden Stellen den Schluss ziehen, dass der Vorzug der Sechs bei der Kur auf jene Wahlbezeugung gegründet worden sei.


c) Der Sachsenspiegel und die Berichte über die Wahlen.

Im Vorigen ist es uns, wie wir hoffen, gelungen, wenigstens für einen Theil der Anschauung des Ssp. den Nachweis älteren und verbreiteten Bestehens zu erbringen.

Ferner sahen wir, dass aus jener Zeit eine vom Ssp. abweichende Ansicht über die Ordnung der Abstimmung bei den Wahlen nicht nachzuweisen ist. Nunmehr kommen wir zur Hauptfrage: inwieweit finden die Sätze unseres Rechtsbuches Bestätigung durch die Berichte über die Wahlen zwischen 1198 und 1257?

Hier tritt uns leider auf’s empfindlichste die Unzulänglichkeit der Quellen entgegen. Die einzige Andeutung über den formalen Verlauf einer Kur finde ich in dem Bericht der Marbacher Annalen zum Jahre 1237, wo es heisst: quem (Conradum) elegerunt archiepiscopi Moguntinus et Treverensis et rex Boemie [305] et dux Bavarie qui et Palatinus comes Reni consentientibus ceteris principibus qui aderant, tamen paucis. Darnach koren von den (elf) anwesenden Fürsten (deren Liste im Wahldecret, Ficker, Reg. 4386), worunter sich ausser den in den Annalen genannten noch der Erzbischof von Salzburg, die Bischöfe von Bamberg, Regensburg, Freising und Passau, der Landgraf von Thüringen und der Herzog von Kärnthen befanden, nur die von den im Ssp. als vorstimmberechtigt bezeichneten anwesenden Fürsten den König, die übrigen ertheilten ihre Zustimmung. Der Bericht bestätigt mithin theilweise den zweiten, vollständig den ersten Satz des Ssp., nämlich die Bevorzugung von zwei der vier als vorstimmberechtigt bezeichneten weltlichen Fürsten, und da die „Zustimmung“ der übrigen sieben sich nur in einer Stimmabgabe nach jenen vier geäussert haben kann, die behauptete Verschiebung der alten Stimmordnung[12]. Hierbei lassen wir, als für unsern Zweck gleichgültig, die Frage dahingestellt, ob nicht vielleicht der Bericht der Marbacher Annalen uns den Unterschied zwischen den späteren kurfürstlichen und den fürstlichen Stimmen schon schärfer ausgebildet als der Ssp. schildert.

An und für sich sind die angeführten Annalen gewiss eine glaubwürdige Quelle. Der Umstand, dass das Wahldecret die Fürsten in abweichender Reihenfolge (Pfalz vor Böhmen) gibt, darf desswegen nicht gegen sie geltend gemacht werden[13], weil noch nach 1257 selbst in den officiellen Wahlverkündigungen die Kurfürsten in wechselnder Ordnung erscheinen.

Mit mehr Recht, könnte man meinen, sei dem Bericht der Annalen die Urkunde desswegen entgegengehalten worden, weil sie die wählenden Fürsten noch nach der alten Weise in geistliche und weltliche sondere, mithin eine Heraushebung gewisser weltlicher Fürsten vor die Mehrzahl der geistlichen bei der Kur [306] zu verneinen scheine. Demgegenüber ist schon darauf hingewiesen worden (Ficker, Entstehungszeit des Ssp. S. 106), wie fest sich im Kanzleigebrauch die Regel, die Fürsten in den Zeugenlisten nach geistlichem und weltlichem Stande zu sondern, ausgebildet hat. Ein Nichtabweichen von diesem Grundsatz in den wenigen Fällen, wo eine Wahl eine andere Ordnung vielleicht hätte nahe legen können, ist um so weniger auffällig, da ja der Vorrang der sieben Fürsten nur in einer Form sich äusserte, also noch wenig durchgreifend war. Die Glaubwürdigkeit der Marbacher Annalen über den Wahlact von 1237 ist mithin durchaus nicht anzufechten.

Ueber die Vollziehung der übrigen Wahlen während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts liegen uns keine Berichte vor. Der Umstand indessen, dass sich in den Zeugenlisten der Urkunden vor Rudolf innerhalb der weltlichen Fürsten keine feste Rangordnung, geschweige denn ein Vorrang der späteren Kurfürsten findet (Tannert), und Ficker’s Beobachtung (fürstliche Willebriefe und Mitbesieglungen, Mitth. des Instituts für Oesterreich. G. III, 30), dass um jene Zeit unter der Auswahl von weltlichen Fürsten, welche Willebriefe ausstellen, sich nicht nur die späteren Kurfürsten befinden, zeigen, dass ein unbezweifelter Vorrang von vier weltlichen Fürsten vor den übrigen erst spät durchdrang. Erklärlich wird dies, wenn man bedenkt, wie wenig die meisten Wahlen jener Zeit der Ausbildung eines den Ansprüchen jener vier Fürsten entsprechenden Herkommens günstig waren, theils wegen schwachen Besuches, wie die Tage von 1208 (Ficker, Entstehungszeit des Ssp. S. 108; Reg. 240 d. 243; Waitz, Forschungen XIII), 1220 (Anwesenheit von Sachsen, Brandenburg und Böhmen unwahrscheinlich. F. R. 1102. 1103. 1109. 1115 f. 1125 f. 1128), 1246 (F. R. 4865 d) und 1247 (F. R. 4885 e), theils wegen innerer Wirren, wie die Doppelwahl von 1198.

Ergebniss der Untersuchung wäre mithin: nirgends werden die Angaben des Sachsenspiegels widerlegt; dagegen findet für das Jahr 1237 sein erster Satz volle, sein zweiter zum Theil Bestätigung.

[307]
d) Die Angaben des Sachsenspiegels und die Entwicklung des Kurfürstenthums.

Bei der doch immerhin mangelhaften Bestätigung des Ssp. durch die Quellen können wir es nicht unterlassen, seine Angaben noch auf die Frage hin zu prüfen, inwieweit sie als mit der uns bekannten Entwicklung des Kurfürstenthums stimmend Glauben verdienen.

Für den zweiten der Sätze, Bevorzugung von Pfalz, Sachsen, Brandenburg und Böhmen, macht freilich schon der Nachweis, den wir erbracht zu haben hoffen, dass bereits um 1198 zufolge einer verbreiteten Anschauung diesen Fürsten ein Vorrecht eingeräumt wurde, in Verbindung mit der Thatsache, dass sich eine abweichende Ansicht im Volke nicht constatiren lässt, sehr glaublich, dass von einem Vorrechte anderer Fürsten nie die Rede gewesen. Dazu kommt, dass schon bald nach 1250 das Vorrecht jener Vier als ein ausschliessliches Recht erscheint. Diese rasche Entwicklung wäre sehr auffällig, wenn die Ansichten über die Personen der Bevorzugten in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gewechselt oder wesentlich geschwankt hätten.

Die erste These war durch den Bericht der Marbacher Annalen bestätigt worden. Ihre Glaubwürdigkeit wird erhöht durch die bekannte Thatsache, dass sich das kurfürstliche Recht nicht plötzlich aus dem allgemein fürstlichen Wahlrecht gebildet hat. Besonders klar tritt das Nebeneinander beider Anschauungen, derjenigen von der Gleichberechtigung aller Fürsten und der entgegengesetzten in dem Schreiben des päpstlichen Legaten an die Bischöfe von Schwerin und Havelberg vom 25. März 1252 hervor. (F. R. 5068).

Hier wird an der Rechtmässigkeit der im Jahre 1247 von Bischöfen und Grossen (worunter der Herzog von Brabant und wahrscheinlich auch der Graf von Geldern, F. R. 4885 e) vollzogenen Wahl Wilhelms festgehalten. Dennoch erfährt der dagegen erhobene Einwand einer Anzahl von Städten, dass die Stimmen Sachsens und Brandenburgs der Wahl zu ihrer Gültigkeit fehlten, welcher deswegen, weil die meisten Fürsten Norddeutschlands Wilhelm noch nicht anerkannten, auf der Voraussetzung eines besonderen Kurrechts der beiden Fürsten beruht, so weit Berücksichtigung, dass die Widerstrebenden auf die erfolgte Anerkennung des Königs durch die genannten Fürsten [308] hingewiesen werden. (Kempf, Gesch. des Deutschen Reiches während des grossen Interregnums, S. 126).

Wie aber lässt sich nun eine solche allmähliche Herausbildung des andere ausschliessenden Kurrechts besser erklären, als durch die Annahme einer Stufe, wo sich dasselbe nur erst als Vorrecht, als ein Recht früherer Stimmabgabe äusserte?

Mit der dritten Behauptung des Ssp. stand es im Vorigen am schlimmsten. Wir konnten sie nur durch zwei ziemlich späte Zeugnisse des 13. Jahrhunderts belegen. Ja, wir sind nicht einmal im Stande, nachzuweisen, dass vor der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts die weltlichen bei der Kur bevorrechtigten Fürsten überhaupt mit den Erzbeamten identisch waren. Nur für Sachsen und Böhmen lässt sich das annehmen, da beide ihr Erzamt schon früher, unter Otto III. beziehungsweise Heinrich V., gehabt haben. (Waitz, Verf.-Gesch. VI, 266 f.). Die Wahrscheinlichkeit spricht aber für die Ansicht des Ssp., wie wir sie deuten zu sollen glaubten.

Erstens wäre die Zusammensetzung des späteren Kurfürstencollegs, die Ausschliessung der mächtigen Fürsten von Baiern und Oesterreich, schwer anders zu erklären. Jedenfalls schwerer durch die Vermuthung, die weltlichen Kurstimmen hätten sich aus einem alten Vorstimmrecht der Herzoge entwickelt[14]. Wie ansprechend nämlich auch diese Annahme ist, lässt sie sich doch, wie uns scheint, nicht mit genügender Sicherheit bis in die Staufischen Zeiten verfolgen, denn die hier angezogene Erklärung Bairischer Bischöfe im Jahre 1125, sine duce Bavarico nichil de rege se diffinire, braucht sich gar nicht auf die Kur zu beziehen und bezieht sich wahrscheinlich wirklich nicht darauf. Ebensowenig sprechen die übrigen Berichte über die Wahlen des 12. Jahrhunderts für diese Annahme. Sodann ist kaum anzunehmen, dass diese Anschauung zur Uebertragung einer Kurstimme an Brandenburg und zur Ausschliessung des alten Stammesherzogthums Baiern geführt haben würde.

Zweitens ist die Theorie des Ssp. wenigstens in sich consequent, insofern sie aus dem Ehrenrecht des Erzamts zunächst auch nur ein Ehrenrecht bei der Kur hervorgehen lässt. Galt [309] es die Frage, wer bei der Kur, die ja nach der Darstellung des Ssp. und, wie jetzt wohl allgemein feststeht, auch in Wirklichkeit[15] eine reine Form war, zu bevorzugen sei, so konnten kaum andere Fürsten als die Erzbeamten in Betracht kommen.

Lässt sich somit der vom Ssp. geschilderte Zustand sehr gut als Stadium in der Entwicklung des Kurfürstenthums denken, so bestätigt das den im Vorigen theilweise geführten Beweis, dass wenigstens 1237 die von Eike geschilderte Wahlordnung in thatsächlicher Uebung gewesen sei.

Das führt uns schliesslich noch zu einer Vermuthung über die Zeit der Entstehung dieser neuen Stimmordnung.

Die Angaben über dieselbe stammen noch aus dem Ende des 12. Jahrhunderts. Von 1198 bis 1237, in welchem Jahre sie in Uebung ist, war ferner keine Gelegenheit zu ihrer Ausbildung. Schon aus diesen beiden Gründen verdankt sie ihre Entstehung der Zeit vor 1198. Dazu kommt ein Drittes. Die alte Zeit kannte nur den Gegensatz zwischen geistlichen und weltlichen Fürsten; die neue stellte daneben den anderen Gegensatz zwischen Fürsten, die am königlichen Hofe ein Ehrenrecht bekleideten, und den übrigen. Schon dies deutet auf eine Periode kräftigsten königlichen Regiments, eine solche ist aber in der ganzen nach-Salischen Zeit nur die Regierung Friedrich’s I. Für diese Annahme lassen uns auch die Quellen nicht ohne Anhalt.

Die einzige Wahl unter Friedrich I. war die Designation Heinrich’s im Jahre 1169. Wie nun die Hauptfrage bei Neubesetzung des Thrones nicht fest geregelt war, und man zwischen Erbfolge und freier Wahl schwankte, sollte so nicht auch die Art, wie die Erklärung der Fürsten über die Thronbesetzung abgegeben wurde, je nach den Umständen gewechselt haben[16]?

In diesem Falle würde die Designation von 1169 auch äusserlich den starken Einfluss des Kaisers zur Schau getragen haben. Und so scheint es in der That zu sein, wenn wir die Berichte darüber lesen:

Reichersberger Chronik: imperator – – – filium – – – post se regnare firmavit (S. S. XVII, 489).

[310] Annalen von Cambrai: imperator filium – – – in regem sublimavit (S. S. XVI, 550).

Otto v. St. Blasien: (Fredericus) Heinricum – – – regem – – – designavit (S. S. XX).

Ueberall erscheint hier der Kaiser als die Hauptperson. Ja, nach den Cambraier Annalen steht hier die Kaiserin auf gleicher Stufe mit den Fürsten: imperator reginae consilio atque archiepiscoporum seu episcoporum ducum ac comitum sive procerum – – – filium – – – sublimavit.

Zugleich wird hier das Wahlergebniss wie ein Reichsschluss berichtet, also wie ein Act, zu dessen Gültigkeit nicht nur der Beschluss der Fürsten, sondern auch die Zustimmung des Königs nöthig ist, ja, wo letztere formell allein in Betracht kommt. Dieselbe Auffassung finden wir auch anderswo:

Reichersberger Chronik: imperator celebravit curiam generalem, ubi ex consensu et collaudatione omnium principum qui aderant filium – – – electum – – – post se regnare firmavit.

Annal. Palid.: imperator curiam habuit Erpesford, ubi filius – – – in regem eligitur (S. S. XVI, 94).

Annal. Pegav.: imperator curiam habuit in Babinberc, ubi Christiano vice eius proloquente Hinricus filius – – – in regem eligitur (S. S. XVI, 260).

In dieser letzten Stelle ist sogar die Mainzische „erste“ Stimme „in der Kur“ zu einem blossen Organ des Kaisers, wie es wohl auf Reichstagen geschah, geworden.

Trug sonach der Wahlact von 1169 das Gepräge einer Reichsversammlung, so ist auch wahrscheinlich, dass Formen, wie sie die Behandlung der Geschäfte auf einem Reichstage erforderte, sich in die Wahlhandlung einschlichen. Auf den königlichen Hoftagen fiel nun aber den Erzbeamten eine hervorragende Rolle zu: so sass 1184 und 1209 der Pfalzgraf zur Rechten des Königs, 1184 leisteten die Erzbeamten bei feierlichen Gelagen die Dienste[17]. Die Kur war aber auch ein feierlicher Act, wo nach erfolgter Verständigung über den zu Wählenden das Hauptgewicht auf die Feierlichkeit der Willenserklärung fiel.

Demnach möchte ich glauben, dass schon damals die Kur unter der herrschenden Anschauung von einem Vorrang der Erzbeamten [311] vollzogen worden ist[18]. Auch unsere Kunde über die erschienenen Fürsten würde der Annahme, dass diese Wahl in der vom Ssp. angegebenen Form verlaufen sei, nicht im Wege stehen: Pfalz, Sachsen und Brandenburg waren zugegen; Böhmen, obwohl gleichfalls in Bamberg erschienen, wurde höchst wahrscheinlich vom Kaiser seiner kirchlichen Haltung wegen nicht vorgelassen[19].



Anmerkungen

  1. Vgl. dagegen Lindner, Die Deutschen Königswahlen, S. 183.
  2. Ficker (Entstehungszeit des Ssp. S. 122) sucht den gewundenen Wortlaut durch die Annahme zu erklären, Eike habe zwei ihm bekannte Ansichten verbunden, von denen die eine die Erzbeamten, die andere nur drei weltliche Fürsten (Pfalz, Sachsen, Brandenburg) als bevorrechtigt anerkannte. Also auch nach Ficker hätte Eike sich die sogen. Erzämtertheorie angeeignet. Das Bestehen jener zweiten Ansicht wird aber nicht, wie wir weiter unten sehen werden, durch den von Ficker hier angeführten auctor vetus erwiesen.
  3. Aber nur für die erzbischöflichen Kurstimmen.
  4. Forsch. XIII S. 214.
  5. Ausgabe von Rückert. Ficker, Wiener Sitzungsberichte 1874 S. 843.
  6. Waitz, Forsch. XIII S. 214.
  7. Lindner S. 171.
  8. Vgl. Ficker, Entstehungszeit u. s. w. S. 122.
  9. S. S. XXV, 130. Schröder, R.-Gesch. S. 459.
  10. Tannert, Die Entwicklung des Vorstimmrechtes unter den Staufen und die Wahltheorie des Sachsenspiegels.
  11. Einleitung in Rückert’s Ausgabe.
  12. Was Lindner a. a. O. S. 122 gegen den hier definirten Unterschied von eligere und consentire einzuwenden hat, verstehe ich nicht. Jedenfalls widerspricht unserer Interpretation durchaus nicht der von ihm angezogene Bericht über Richard’s Wahl. 1257 äussert sich die Pfälzische Stimme als Consens zur Kölnischen; ebenso äussern sich 1237 sieben Stimmen als Consens zu denen der vier vorstimmenden Fürsten. Allerdings folgt daraus nicht ein schwerer wiegendes Stimmrecht der Vier gegenüber dem der Sieben; ein solches hat ja aber auch der Ssp. gar nicht behauptet.
  13. Wie Lindner S. 122 meint.
  14. Weiland, Forsch. XX. Quidde, Die Entstehung des Kurfürstencollegiums.
  15. Lindner S. 91. Schröder, Rechts-G. S. 455.
  16. Vgl. Lindner a. a. O. S. 65.
  17. Arnold von Lübeck III, 9. VII, 17.
  18. Vgl. Waitz in den Göttinger Gel. Anzeigen 1859 S. 664 ff.
  19. Lindner S. 58; Tannert S. 20 f.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Swsp.