Der Spinnenesser

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Autor: August Wilhelm Müller
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Titel: Der Spinnenesser
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aus: Die Gartenlaube, Heft 13, S. 223
Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1871
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[223] Der Spinnenesser. Der „Alte Heim“ steht nicht nur in Berlin, wo noch Viele leben, die tagtäglich mit Wohlgefallen sein freundlich Antlitz schauten, sondern, namentlich durch seine Biographie von Keßler, ein treffliches Buch, in ganz Deutschland in so gutem Andenken, daß man immer gern etwas Neues über sein ebenso liebenswürdiges als originelles Dasein erfährt.

Bekanntlich stammt dieser „Feldmarschall unter den Doctoren“, wie ihn der alte Blücher in dem heitern Toast als Collegen begrüßte, aus dem Meiningischen Dorfe Solz, wo die Heim noch heute gleichsam wie Erbpfarrer sitzen. Der Vater des „Alten Heim“, ein Magister vom besten alten Schrot und Korn, hat der Welt auch manche Anekdote geliefert. Eine davon möge hier stehen.

Der älteste seiner Söhne ward, nachdem er als Erzieher des Herzogs Georg, eines großen Fürsten auf einem kleinen Throne, wie ein geistvoller Schriftsteller ihn nennt, seine Aufgabe vollendet, in das Consistorium berufen. Nun kam es nicht selten vor, daß der alte Magister wegen starrsinnigen Benehmens von der geistlichen Behörde zur Verantwortung resp. Strafe gezogen wurde. Ein solcher Fall lag wieder vor. Er sollte wegen ungeeigneter Schreibweise einen Verweis erhalten. Als er nun in den Sitzungssaal eintrat und seinen Sohn mit an dem grünen Tische sitzen sah, wendete er sich auf ihn deutend mit den Worten an den Präsidenten: „Thut mir erst einmal da den dummen Jungen hinaus!“ und es half nichts, man mußte dem Alten willfahren.

Es war gewiß ein muthiges Stück Arbeit des Magisters und seiner Gattin mit einer Einnahme von nicht viel über dreihundert Thalern sechs Söhne studiren zu lassen. Das erklärt die patriarchalische Einfachheit, die in seinem Hause herrschte. Zur Winterszeit diente das ziemlich beschränkte untere Zimmer als Wohn-, Studir-, Schul-, Kinder- und Gesindestube zugleich, und zur Sommerszeit bestand die Bekleidung sämmtlicher Pfarrsöhne nur aus zwei Stücken, aus einem Hemd und einem Paar Beinkleidern. In dem schmucken Kirchlein aber bildet das von Meisterhand gemalte Brustbild des Magisters eine der Hauptzierden, und die Stätte des Friedhofes, auf welcher am 5. September 1775 die sechs Söhne desselben über dem Grabe der Mutter feierlich schwuren, bis zum Tode einander zu lieben und an Gott zu halten, führt von dieser Thatsache noch heute den Namen des Meininger Rütli.

Darüber, wie in Heim die Neigung erwacht sei, Arzt zu werden, berichtet Keßler bekanntlich Folgendes:

„Als der siebenjährige Krieg allerlei Kriegsvolk in das stille Solz führte, erschien auch eines Tages ein Stabsarzt mit einem großen mit breiten goldenen Tressen eingefaßten Hut als Einquartierung im Pfarrhause. ‚So ein Mann möchtest du wohl auch werden,‘ dachte der Knabe, und der Hut kam ihm nicht mehr aus dem Sinn.“

Allerdings mag wohl der goldbesetzte Hut eine äußere Veranlassung zum Hervortreten der in dem Knaben schlummernden Neigung gegeben haben; daß aber diese Neigung schon vorher da und wie fest sie begründet war, darüber habe ich als Beweis vor nicht langer Zeit in der durch ihr Jagdschloß historisch berühmten Zillbach einen noch unbekannten, aber sehr interessanten Zug aus dem Kindheitsleben des alten Berliners vernommen.

Ich traf dort eine Bäuerin aus dem Amte Sand, deren Eltermutter längere Zeit in dem Hause des Magisters als Magd gedient hatte. Sie erzählte mir als wohlverbürgte Familientradition Folgendes.

Als eines Morgens beim Frühtrunk von den Berufskreisen die Rede war, denen die älteren Söhne des Magisters sich zugewendet hatten, trat Ernstchen mit der bestimmten Erklärung: „Ich aber will Doctor werden“ an den Vater heran.

Dieser erwiderte: „Du bist wohl nicht gescheidt, Junge; dazu hätte ich kein Geld. Da würdest Du ja mehr kosten, als alle Deine Brüder zusammengenommen.“

Der Kleine ließ sich aber durch diese abfällige Antwort nicht abschrecken. „Doctor will ich werden! Doctor will ich werden!“ Das war das Verlangen, mit dem er immer wieder den Alten bestürmte. Da nun dieser wußte, daß der Kleine eine natürliche Scheu vor Spinnen hatte, so glaubte er darin ein wirksames Abschreckungsmittel zu finden.

„Dummer Junge,“ sagte er, „wie kannst Du Doctor werden! Du fürchtest Dich ja, wenn Du eine Spinne nur siehst, und ein Doctor muß Spinnen essen können, sonst ist er kein rechter Doctor nicht.“

Betrübt zog der Kleine ab. Aber von dem Tage an sah die Magd, wie er täglich in Scheune, Holz-, Viehstall und Küche auf die Spinnenjagd ging.

Nachdem etwa vierzehn Tage vorüber waren, trat er wieder vor den gestrengen Herrn Papa, ein großes, rings mit wohlgenährten Spinnen gespicktes Butterbrod in der Hand, mit den Worten: „Siehst Du, Papa, es ist mir schwer geworden, aber ich kann’s jetzt.“ Und darauf verzehrte er, scheinbar mit großem Behagen, bis zum letzten Rest das spinnenbelegte Brod.

„Nicht wahr, nun kann ich Doctor werden?“ rief er dann triumphirend aus.

Das rührte des Alten Herz, und er erwiderte: „Nun meinetwegen, Du Spinnenfresser! Für einen Pfarrer bist Du doch zu leicht und flüchtig, zu einem Quacksalber bist Du gut genug. Du wirst den Leuten schon weis machen, was Du willst.“

Und so ward Heim Doctor.
A. W. Müller.