Der Student von Salamanca
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Auf der Plaza Mayor der berühmten Universitätsstadt Salamanca hielt Señor Lorenzo Porja einen Tabakladen. Das Geschäft blühte; Don Lorenzo – man nannte ihn nach Landessitte nur bei dem Vornamen – hatte den besten und billigsten Tabak, und das schien den Bürgern und Bürgerinnen von Salamanca natürlich; denn Don Lorenzo kaufte stets baar ein, er war ein reicher Mann und fabrizirte mit einer großen Zahl von Arbeiterinnen seine Cigarros und Papiros, seinen Pfeifen-, Kau- und Schnupftabak selber. Lorenzos Laden wurde stark besucht; ein Dutzend Strohstühle, welche darin umherstanden, war den ganzen Tag von jungen Leuten besetzt, die dort plauderten und rauchten.
War nun auch Lorenzos Laden elegant und gemüthlich, sein Tabak vortrefflich, so beruhte doch die Anziehungskraft des Geschäftes nicht allein auf diesen beiden Eigenschaften.
Eine mindestens ebenso große Anziehungskraft übte Donna Inesilla aus, die Tochter des Ladeninhabers, ein blühendes und lebhaftes Mädchen, das zudem noch in dem Ruf schweren Reichthums stand; denn ihr mütterliches Erbtheil überwog das Vermögen ihres Vaters, welches ihr so auch einst zufallen mußte, um das Doppelte, und das wußte man in Salamanca genau genug.
Eine Schönheit konnte Inesilla nicht genannt werden, namentlich nach spanischen Anschauungen nicht; sie war von kurzem, untersetztem Körperbau, stark, hatte sehr rothe krause Haare, hellblaue Augen und nichts weniger als feine Gesichtszüge; aber ihre siebzehn Jahre, ihr Verstand und guter Humor, dann nicht zum wenigsten ihr Vermögen ließen sie als die wünschenswertheste Partie in ganz Salamanca erscheinen – und wenn Inesilla gewollt hätte, wäre sie seit zwei Jahren schon auch nach hochgesteigerten Ansprüchen gut verheiratet; denn sie erhielt das Jahr wenigstens zwölf Anträge von den beliebtesten Caballeros der ganzen Provinz Leon. Aber Inesilla wollte nicht. Sie plauderte und scherzte mit allen Bekannten ihres Vaters, bediente [333] die Kunden liebenswürdig, gefällig, eifrig, nahm auch mit fröhlichster Laune alle Schmeicheleien, Rosenknospen, Nelken und Veilchen der jungen eleganten und uneleganten Welt Salamancas entgegen; so wie jedoch jemand ernsthaftere Augen machte, ihre Hand zu halten versuchte, zu einer Zeit kam, wo zufällig kein Kunde im Laden war, verschwand Inesilla durch die goldbefranzte Gardine der Hinterthür und Don Lorenzo trat dem Ankömmling gegenüber und öffnete bedächtig den Glaskasten der Cigaretten. Das wirkte so verstimmend auf die hoffnungsreichen Caballeros, daß sie gewöhnlich vierzehn Tage lang bei Lorenzos Konkurrenten an der nächsten Ecke ihren Tabacksbedarf kauften, bis schließlich die bessere Qualität und der geringere Preis sie zu dem Laden an der Plaza Mayor zurückführte. Als gesetzte, nur noch etwas wehmüthig blickende ernsthafte junge Leute traten sie wieder ein; dann war Inesilla von verdoppelter harmloser Liebenswürdigkeit und heilte mit weichstem Herzen die Wunden, welche sie hatte schlagen müssen.
Siebzehn Jahre aber sind in Spanien für ein Mädchen schon ein Alter, und Don Lorenzo sah sich seit einiger Zeit ernsthafter nach Schwiegersöhnen um; er nannte so halb im Scherze vor Inesilla eine ganze Anzahl Namen begüterter und angesehener Männer, meist von Gutsbesitzern und Fabrikanten, deren Haus seine Tochter als Frau schmücken würde; während sie selbst sich am glücklichsten dabei fühlen dürfte; doch Inesilla erklärte stets kurzweg, daß sie noch Zeit habe, eine Versorgung nicht zu erstreben brauche und ihre Schönheit von der Art sei, daß die Zeit daran nichts verderben könne.
„Ich habe eine dauerhafte und solide Häßlichkeit“, sprach sie zu ihrem Vater, „die man später bewundern wird, indem man mir bei siebenundzwanzig noch sagen muß – ‚Sie haben sich seit Ihrem siebzehnten Jahre gar nicht verändert, Fräulein!‛
Solcher Vorzüge können sich wenige Mädchen rühmen. Also, Vater, liegt bei mir kein Grund vor, mich schnell zu verheirathen.“
Don Lorenzo schüttelte zu solchen Reden den Kopf und entgegnete: „Jugend ist etwas Unwiederbringliches und ein Mädchen, das nicht alt heirathen muß, sollte es jung thun.“ – Da ihm aber Inesilla im Geschäft eine außerordentliche Hilfe und nebenbei ein vortrefflicher Kundenmagnet war, er auch im allgemeinen gegen ihre Darlegungen nicht viel einzuwenden fand, so betrieb er seine Verheirathungspläne lau genug und ließ seine Tochter gewähren.
Seit einigen Wochen jedoch ging Inesilla viel spazieren; sie hatte sich plötzlich zu diesem Zweck eine Freundin angeschafft, ein älteres, armes Mädchen, das sie nun reichlich unterstützte. Da es in Salamanca für ungehörig gilt, wenn ein junges Mädchen ohne Dueña, ohne Hüterin, ausgeht, so wandelte denn die Tochter Don Lorenzos mit ihrer Schutzfreundin auf den Wällen der Stadt, auf der Alameda und im Parke oft und lange umher.
Vater Lorenzo fiel das auf. „Du bist ja plötzlich eine gewaltige Spaziergängerin geworden und überläßt mir stundenlang den Laden,“ äußerte er sich zu seiner Tochter; „die Sonne brennt Dich ja ganz kupferroth.“
„Ich habe gehört, viel in der Luft sein und umhergehen ist ein Mittel gegen Bleichsucht, und da ich in der letzten Zeit mich oft müde und matt gefühlt habe, will ich alles thun, um diesem schlimmen Leiden vorzubeugen,“ antwortete sie, verließ so schnell als nur thunlich den Laden und eilte auf ihr Zimmer; dort ergriff sie hastig den Spiegel und schaute ihr Gesicht an.
Das war seltsam.
Inesilla sah nicht viel in den Spiegel, weil, wie sie sagte, sie anderwärts Schöneres sehen könne – und nun veranlaßte ein [334] scherzhaft hingeworfenes Wort ihres Vaters sie sofort, beinahe ängstlich, ihr Gesicht zu betrachten und zu untersuchen, ob an der Aeußerung ihres Vaters etwas Wahres sei und die Sonne sie wirklich roth brannte; sie glättete sich sogar ein Fältchen auf der Stirn mit einem Falzbein und suchte die starken Lippen ihres Mundes durch eine besondere Muskelbewegung einzuziehen.
Das hat bei einem Mädchen von der Art Inesillas etwas zu bedeuten, und wirklich: es hatte sich etwas Merkwürdiges ereignet.
Seit zwei Monaten wünschte sie schön zu sein, gerade von dem Zeitpunkt an, da sie eine so plötzliche Leidenschaft für das Promeniren faßte.
Wie ein Blitz hatte es nämlich in ihr Herz eingeschlagen, als sie bei einem Gang durch den Park an einem armen Studenten vorüberkam, der dort einsam auf einer der Steinbänke saß.
Das schwarze Barett auf dem Kopfe, umflossen von dem langen schwarzen Talar, neigte er sich über ein Buch in seiner Hand. Er sah bleich und trübe, mager und eingefallen aus; seine Hände zitterten, er athmete schwer – aber schön war er, wie die Tochter Lorenzos noch nie einen Menschen gesehen! Das scharfe, edelgeschnittene Gesicht mit der durchsichtig blassen Farbe, die dunkeln Augenbrauen, der feine volle Mund, alles war vom schönsten Ebenmaß – und als er jetzt aufsah mit dunkeltiefen, braunen Augen, stockte Inesilla der Athem; sie konnte keinen Schritt weiter; es war ihr, als seien ihre Füße in den Boden gewurzelt; sie wollte fliehen, davonstürzen und konnte es nicht. Ihr Herz hatte, so schien es ihr, mit einem Male zu schlagen aufgehört; das alles dauerte freilich nur einige Sekunden; doch Inesilla kamen sie wie eine selig schreckliche Ewigkeit vor. Sie fühlte, daß sie purpurroth wurde – nun hatte sie auch über ihre Füße wieder Gewalt. Sie verneigte sich wie entschuldigend vor dem armen Menschen, der dort auf der Bank saß, und ging erst langsam, dann schnell wie in eiliger Flucht nach Hause.
Der Student war nach ihrem Weggange von seinem Sitz aufgestanden und hatte ihr einen Moment erstaunt und neugierig nachgesehen; dann sank er mit einem tiefen Seufzer aus die Bank zurück, noch bleicher als zuvor, und preßte die Hände auf seinen Magen, denn er fühlte sich fast ohnmächtig vor Hunger.
Es giebt in ganz Spanien, besonders aber in Salamanca, fast nur arme Studenten; diese rekrutiren sich meist aus den Kreisen schlechtgestellter Beamten oder gänzlich verarmter Adeliger. Sie gehen oft zur Universität, ohne mehr zu besitzen, als ein kleines Felleisen mit Wäsche, und sind dann der Mildthätigkeit und Gutherzigkeit der Bürger und Bürgerinnen der Stadt überlassen; oft erbetteln sie, so zu sagen, abends vor den Häusern singend und Guitarre spielend die paar Realen, welche sie vor dem Verhungern schützen, oder gewinnen sich durch Protektion Freitisch bei begüterten Familien oder in geistlichen Kollegien. Den Theologen geht es noch leidlich; denn diese kommen meist in Stiften unter; am übelsten sind die armen Philologen dran, wenn sie keine Gönner haben. Und das war leider der Fall von Pablo Verros, dessen Bekanntschaft wir eben im Parke gemacht haben.
Seit einem halben Jahre studirte der zwanzigjährige junge Mann Rhetorik und Dichtkunst, wie es in Spanien heißt; er war fleißig und begabt, seine lateinischen Verse wurden bewundert, und er war der beste Virgilübersetzer im Colegio del Rey; doch die Magenfrage überwog bei ihm schließlich die Frage nach den Wissenschaften, und wenn dem alten lateinischen Spruch zufolge ein voller Magen nicht gern studirt, wird wiederum ein Mensch, der nicht gefrühstückt hat, nicht weiß, wo er zu Mittag essen und zum Abendimbiß an Stück Brot hernehmen soll, und dem es wochenlang so geht, noch weniger gern studiren; er wird bald Tag und Nacht nur darauf sinnen, auf welche Weise er seinen Hunger stillen kann.
So ging es Pablo Verros.
Wohl war er schön und vieler Frauen und Mädchen Blicke streiften ihn mit einer Theilnahme, die besagte: dir würden wir gern helfen, du schöner Bursch! Freundlich kamen ihm die Bürger entgegen und wenn er sich bemüht, hätte er sicher auch Gönner gefunden.
Pablo Verros jedoch verstand es nicht, sich solche zu verschaffen; er beachtete die Blicke der Frauen nicht und war so schüchtern, daß er heftig erröthete und sofort die Augen niederschlug, sobald ein Mädchen ihn ansah.
Heute hatte er seltsamerweise in die Augen eines Mädchens geschaut, lange sogar – aber nicht infolge eines Gefühls, das aus dem Herzen stammte, sondern halb stumpf und geistesabwesend vor Hunger. Trotzdem hatte sich seltsamerweise seiner Phantasie das Bild dieser Frauenerscheinung eingeprägt, wie sie dastand, den Blick voll unsäglichen Mitleides und Bewunderung – sie hatte ihn sogar gegrüßt … Kannte sie ihn denn? Er erinnerte sich nicht, sie je gesehen zu haben … Weshalb betrachtete sie ihn so? Gewiß, weil er so elend aussah! Ja, in ihren Blicken lag so viel Theilnahme … aber auch noch etwas anderes sprachen ihre Augen … und Pablo Verros sann lange noch auf seiner Bank sitzend nach und kaute und sog an frischen Ulmenblättern, ein von ihm oftmals erprobtes Mittel, den bittersten Hunger zu betäuben.
Als Inesilla von diesem verhängnisvollen Spaziergang nach Hause kam, warf sie sich auf das Bett – ein solches dient in Spanien am Tage als Sofa – und weinte aus voller Seele, aus Mitleid mit dem armen Menschen; denn daß er bitterarm sein mußte, das sah sie an seinem verhungerten Gesicht, an seinen zitternden Händen, an seiner abgeschabten Kleidung, an seinen zerrissenen Schuhen. Dann aber weinte sie auch, weil dieser Mensch so schön war, daß er ihr das Herz mit schmerzlicher Gewalt gepackt hatte, mit einer Macht, die sie hinzog zu jenem ihr bisher ganz Fremden, sich ihm an den Hals zu werfen, ihn heiß zu küssen und, wenn es sein müßte, seine Armuth mit ihm zu theilen.
Es war dies ein schreckliches Gefühl. Sie, eine gut erzogene Tochter, die so vernünftig war und so ruhig über alle Männer dachte, traf die Erscheinung dieses armen Studenten wie ein Blitz; sein Anblick zerschmetterte ihren Gleichmuth und ihre Ruhe und erfüllte sie mit einer ihr ganz unbekannten Leidenschaft.
War er ein Zauberer, hatte er überirdische Mittel an der Hand, Mädchen zu verwirren, zu bethören, sich zu eigen zu machen? Sie hatte ihn so nur einen Augenblick gesehen! Stand er mit dem Bösen im Bunde, der ihm diese Macht verliehen? Aber ein Zauberer hungert nicht und diesem Manne lag der Hunger auf dem Gesicht – und welcher Schmerz, welcher tiefe Gram in seinen schönen Auge, das ihr diesen Brand in die Seele geworfen!
Inesilla hörte plötzlich zu weinen auf.
Warum sollte sie nicht lieben, fragte sie sich, und weshalb nicht einen armen Studenten? War denn das etwas Schreckliches, überlegte sie weiter, mußte denn ihr zukünftiger Mann durchaus ein Gutsbesitzer, ein Fabrikant und reich sein? Hatte sie nicht selbst viel Vermögen und das Recht, sich einen Mann zu wählen, warum durfte das kein Student sein? Werden diese nicht geachtete, ja oft sogar berühmte Männer, Aerzte, Advokaten, Professoren, Minister selbst? Weshalb sollte es ein Unglück sein, einen Studenten zu lieben, und aus welchem Grunde „heulte sie so darüber,“ sagte sich Inesilla mit ihrem wiederkehrenden Humor, „in einen Studenten sich sterblich verliebt zu haben?“ Ihr Vater würde freilich große Augen machen, wenn sie ihm das entdeckte, und es dürfte einen heißen Kampf absetzen; aber schließlich würde sie doch siegen – das traute sie sich zu, das wußte sie … plötzlich verdüsterte sich ihr Gesicht; sie sprang auf vom Bette und eilte zum Spiegel, sah dort hinein und warf ihn wieder fort.
„Wird er mich denn wollen?“ rief sie fast laut aus. „Ich bin häßlich; wird ein so feiner, schöner Mensch mich nehmen mit dem rothen dicken Gesicht und den großen ausdruckslosen Augen und den rothen Haaren?“ Und jetzt eilte Inesilla zum großen Wandspiegel, setzte sich davor, betrachtete sich eingehend und lange, band ihr Haar auf und versuchte sofort eine neue Frisur. „Man kann nicht wissen,“ murmelte sie dabei, „ich habe etwas Eigenes. Man sagt, daß die Gegensätze sich anziehen; vielleicht liebt gerade der Schöne mich, wie ich, die Unschöne, ihn – die Natur soll ja ungeheuer weise sein, hat der französische Gelehrte einst im Laden mir erklärt, sie soll die Gegensätze auszugleichen sich bestreben. Vielleicht ist es eine solche ungeheure Weisheit der Natur, daß wir uns beide haben sollen. Ich will sie darauf hin jetzt prüfen,“ schloß Inesilla ihren stillen Monolog, machte sich die neue schöne Frisur fertig, verschaffte sich eine ältere Freundin, studirte von nun an ihr Gesicht noch eifriger in dem Spiegel und machte fleißig Spaziergänge nach den Wällen und besonders nach dem Park hin.
Schon am dritten Tage nach der ersten Begegnung traf sie Pablo auf derselben Bank unter den Ulmen.
[335] In ihrer resoluten Art nahm sie mit der Freundin, die sie in ihr Geheimniß eingeweiht, auf der Bank neben dem Studenten Platz.
Sie grüßte beim Niedersitzen leicht, sah dann in das Grün, wo das Sonnenlicht lieblich still zwischen den Blättern flimmerte, und fragte nach einigen Momenten des Schweigens den jungen Mann, ob sie ihn auch nicht im Lesen störten.
„Nein, durchaus nicht,“ stotterte Pablo – er wolle im Gegentheil, falls er den Damen hinderlich sei, eine andere Bank aufsuchen.
Das konnte Inesilla nun keineswegs zugeben. „Ich liebe die Gelehrten,“ sagte sie, „und ihre Gespräche. Was für ein Buch studiren Sie da, Señor?“ erkundigte sie sich teilnahmsvoll.
„Den ‚Virgil‛, Señora.“
„Wer ist das – hieß nicht ein alter Zauberer so?“ warf Inesilla ein, den jungen Mann neben sich einen Moment fast ängstlich anblickend.
„Nein, ein Zauberer war Virgil nie – die mittelalterliche Sage machte ihn zu einem solchen. Virgil war ein altrömischer Poet, der die Erzählung von Aeneas und Dido und Lobgesänge auf den Ackerbau gedichtet hat.“
So erläuterte der Student. Das interessirte Inesilla sehr und sie ließ sich von Virgil und dem Inhalt seiner Dichtungen erzählen.
Sie war ganz Ohr und ihr Auge hing an dem schönen, beredten Munde des Studenten, der jetzt dieser so aufmerksamen und ihn bewundernden Zuhörerin größere Stücke des römischen Dichters vorlas, übersetzte und mit Eifer und mit Begeisterung erklärte.
Inesilla erkundigte sich nach dem Namen und den Verhältnissen des Studenten. Sie erfuhr, daß Pablo Verros der Sohn eines verarmten Gutspächters sei und „auf das höhere Lehrfach“ studire, was ihm freilich seine Mittellosigkeit sehr erschwerte. Das letzte sprach er leise, höchst schüchtern, nur andeutend, so zu sagen.
Die Damen standen auf. Inesilla erklärte sich tief in der Schuld für die angenehme genuß- und lehrreiche Stunde, die sie dem Señor verdanke, und sprach die Hoffnung aus, daß sie wohl öfter noch sich begegnen dürften, da sie in Salamanca wohne, auf der Plaza Mayor, und der Herr ja seines Studiums wegen gewiß noch eine Zeit lang hier bleiben werde. Dann empfahlen die Damen sich – Inesilla mit einem Blick in Pablos Augen, der sehr viel sagte und den jungen Mann erröthen, im tiefsten Herzen erbeben machte.
Darauf sah er die beiden Gestalten in dem verschlungenen Wege hinter dem Springbrunnen verschwinden. Eine Zeit lang saß er noch in tiefem Nachdenken da; dann ergriff er sein neben ihm liegendes Buch und wollte sich erheben, als seine Hand auf ein kleines Päckchen glitt.
Erstaunt betrachtete er es, es fühlte sich hart an – er öffnete es und hielt ein Zwanzigfrankenstück in der Hand. Erschreckt und gedemüthigt zugleich sprang er auf; er wollte den Damen nacheilen, denn nur von diesen konnte es kommen. Da flatterte aus dem Papier ein Zettel auf die Erde; er nahm ihn auf – er sah Schriftzüge auf demselben und Pablo las. „Als Honorar für die geistvolle Unterrichtsstunde. Inesilla.“
Jetzt erinnerte Pablo sich, daß er die junge Dame hatte etwas schreiben und die andere dann ein Blatt Papier zusammenfalten sehen.
„Sie ist ohne Zweifel reich,“ sprach er vor sich hin, stets eifrig in den Zettel schauend. „Als Honorar für die Stunde – ich verschmachte fast vor Hunger – das ist kein Almosen; von ihr möchte ich kein Almosen; es ist mit meinem Geist, mit meinen Kenntnissen verdient“ – überlegte er weiter; „wenn es auch mit großer Freundlichkeit und heimlich mir gegeben worden,“ setzte er etwas bedenklich hinzu; „aber ich darf es nehmen,“ schloß Pablo seine Erwägungen und ging, das gewaltige Stück Geld krampfhaft fest in der Hand haltend, zu einem Restaurant, wo er mit dem tiefsten Dankesgefühl für die großmütige eigenartige interessante Schülerin seit langer Zeit sich wieder einmal satt aß.
Inesilla war nach dieser Unterrichtsstunde im Parke noch entzückter von dem armen Studenten als vorher; er übertraf alle ihre Ideale und Träume von einem Manne. Bisher hatte sie nicht viel über die Männer nachgedacht, am wenigsten über Gelehrte; sie ahnte gar nicht, was höher Gebildete wissen könnten; denn außer Lesen, Schreiben und Rechnen verstand sie nichts, und von Büchern hatte sie nur das Leben der Heiligen von Pater Antonio und ein Märchenbuch gelesen – und jetzt strahlte auf sie, die eine sehr bildungsfähige Seele hatte, eine solche Fülle von Wissen, vorgetragen von dem schönen, jungen Mann, in jugendlich schwungvoller poetischer Form, daß ihre Neigung zu heller Flamme emporlohte und dieser arme Student ihr ganzes Leben derart erfüllte, daß gar nichts weiter daneben Platz fand. Das Geschäft, ihr Vater, Freunde, Bekannte, alles war ihr Nebensache; sie war glückselig, nach der zweiten von ihr klug eingefädelten Unterrichtsstunde eine merkbare Theilnahme des jungen Pablo für sich wahrgenommen zu haben, einen Blick, der wärmer war als seine früheren; er hatte ihren Händedruck beim Abschied zwar nur zart, aber doch so gefühlvoll erwidert und sie schwelgte nun in der sicheren Hoffnung, wenn nicht jetzt schon, so doch in kurzer Zeit von dem schüchternen jungen Mann so tief, wie sie es wünschte, wiedergeliebt zu werden.
Jedoch nicht nur Inesilla war selig vor Zukunftsträumen; auch ihr Vater trug sich mit rosigen Hoffnungen.
Er hatte nämlich einen neuen Artikel, den erst ganz vor kurzem ein italienischer Arzt erfunden, fabrizirt und baute darauf herrliche Luftschlösser seines Ehrgeizes.
Sein Ideal war, Hoflieferant des Königs Alphons in Madrid zu werden; nur schien dies in dem abgelegenen Salamanca fast ein Ding der Unmöglichkeit. Da erfuhr er das Geheimniß der Hanfcigarette, der Papiros canabicos; er wußte, daß König Alphons sehr an Asthma litt, und diese Cigaretten hatten die Eigentümlichkeit, das Herz so zu erleichtern, die Stimmung derartig zu heben, den Pulsschlag auf solche Weise anzuregen, daß hierdurch die Atemnot überwunden ward und eine außerordentlich heitere und behagliche Stimmung den Raucher ergriff.
Von diesen Cigaretten trachtete er, dem König ein Geschenk zu machen.
Er hatte beschlossen, zehntausend Stück dieser Gattung zu fabriziren, dieselben hochelegant umhüllt und noch mit dem medizinischen Zeugniß versehen nach Madrid an den König zu senden, und er zweifelte keinen Augenblick daran, als Erkenntlichkeit dafür den Hoflieferantentitel zu bekommen.
Vorerst, bis das Quantum fertig war, mußte jedoch, damit kein anderer etwa die Waare auf den Markt liefere, über die ganze Angelegenheit tiefes Schweigen bewahrt werden, und wirklich erfuhr niemand etwas, als der ins Vertrauen gezogene Arzt, welcher sich gleichfalls Außerordentliches für seine Person von diesem Unternehmen versprach.
So machte denn der Mediziner Hanfextrakt; Don Lorenzo tränkte damit den feinsten türkischen Tabak, trocknete das Präparat sorgfältig und ließ es in Papier füllen. Fünftausend waren schon fertig; noch zwei Monate, und das kostbare Geschenk konnte abgehen, und Lorenzo sah im Geiste schon das vergoldete Schild über seinem Ladeneingange mit der Inschrift „Provedor de la Corte d. S. M. del Rey“
Wäre er nicht so in seiner Arbeit und in seinen Träumen befangen gewesen, so hätte er sicherlich das verwandelte Wesen und die häufige Abwesenheit seiner Tochter wahrnehmen müssen. Dieser Umstand ermöglichte es Inesilla, so viel Unterrichtsstunden zu nehmen, als sie wollte, und ihren Geist ebenso wie ihre Liebe auszubilden. Nach beiden Richtungen hin machte sie reißende Fortschritte.
Ein Wurm nagte jedoch an ihrem Herzen, die Frage nämlich: liebte Señor Pablo sie auch wirklich?
Er war so zurückhaltend – nahm er ihre Hand einmal, so ließ er sie gleich wieder los; schaute sie ihm tief in die Augen, so schlug er die seinen nieder – ja trotzdem sie es ihm so nahelegte und eines Tages sogar ohne die Dueña in den Park kam, hatte er ihr nicht einmal einen Kuß gegeben. Zwar leuchteten seine Augen, wenn er sie erblickte, und zitterte seine Hand, wenn sie die ihrige ganz zufällig auf dieselbe legte; auch ging er täglich zweimal an ihrem Laden vorüber und warf einen Blick hinein, der ihr wie ein Feuerstrom in das Herz fuhr; er fehlte auch nie bei einer Unterrichtsstunde im Park, und selbst beim schlechtesten Wetter war er mit einem großen Regenschirm da und wartete geduldig; aber weshalb drückte er ihre Hand nicht [336] wieder, weshalb nahm er nicht ihren Kopf plötzlich zwischen seine Hände und küßte sie; weshalb erklärte er sich, nicht, da er doch wußte, daß sie ihn liebte, wissen mußte, daß ein Mädchen nicht thun konnte, was seine Sache war? Empfand er nur warme Freundschaft für sie? Liebte er sie nicht so stark, um sein Leben an das ihre zu knüpfen? Diese quälenden Fragen legte sich Inesilla unzählige Male vor, zweifelte, bangte, grämte sich und beantwortete sich doch die große Frage schließlich zu ihren Gunsten.
Das Räthsel dieses Benehmens von seiten des jungen Studenten war sehr einfach zu lösen. Inesilla gefiel ihm in ihrem Wissenseifer außerordentlich, er fand ihr blühendes, gutherziges, geistvolles Gesicht schön, er liebte sie wahrhaft; doch wie durfte er, ein bettelarmer Student, sich Hoffnung auf das reichste Mädchen der Stadt machen? Der Vater würde sie ihm niemals geben! Auf was hin sollte er sie heirathen, was konnte er ihr bieten? Es wäre gewissenlos und frech von ihm gewesen, ein Liebesverhältniß mit dem Mädchen einzugehen, und er machte sich die schwersten Vorwürfe, daß er zu den Rendezvous im Parke ging.
Er nahm sich täglich vor, an ihrem Laden nicht mehr vorbeizugehen, das Mädchen zu meiden, sich zu verbergen vor ihr – und nach wie vor spazierte er am Geschäftslokal vorbei, nach wie vor warf er sehnsüchtig feurige Blicke zu ihr hinein, täglich kam er in den Park zu der bekannten Stelle. Seine Liebe wuchs im gleichen Maße mit seinen Gewissensbissen. Der Verstand kämpfte vergeblich mit dem Herzen, und hatte früher der Hunger an seinem Leibe gezehrt, so nagte setzt an ihm und brachte ihn körperlich noch tiefer herab – der Zwiespalt seiner Seele.
Plötzlich schien der Student spurlos verschwunden; er kam nicht mehr zu den Unterrichtsstunden im Park und ging auch nicht mehr am Laden vorbei – nirgends sah man ihn.
[351] Inesilla verging vor Schreck und Angst; sie machte sich alle möglichen furchtbaren Vorstellungen; sie sah Untreue, Nebenbuhlerinnen, Dolch und Revolver in den Händen von beleidigten Rivalen; denn sie fürchtete, ihr Verhältniß sei trotz aller Vorsicht bekannt geworden – da erfuhr sie, daß Pablo Verros krank, sehr krank sei und von einem bösen Fieber ergriffen im Universitätsspital liege.
Dorthin konnte sie unmöglich gehen, selbst als seine Verlobte nicht; sie mußte sich also in Geduld fassen und allen Kummer und alle Angst, alle Sorge allein für sich hinunterwürgen und froh sein, daß es ihr gelang, mittels kluger Vertheilung von Cigarros durch Lazarethdiener hier und da zu erfahren, wie es ihrem Freunde ging.
Die Krankheit dauerte wochenlang; dann kamen bessere Nachrichten und eines Tages hieß es, Señor Pablo würde am nächsten Sonntag, zwar sehr schwach, aber doch geheilt entlassen werden.
Dieser Sonntag war ein Festtag für Salamanca – die Studentenschaft hatte nämlich ankündigen lassen, daß sie ein Mandolinen- und Gesangskonzert Nachmittags zwei Uhr vor dem Café de Madrid auf der Plaza Mayor geben werde.
Solch ein Konzert war etwas Seltenes, ebenso amüsant wie schön, kostete nichts und ganz Salamanca hatte sich demnach am Konzertort eingefunden.
Man saß auf Strohstühlen an kleinen Tischen, zu zwei bis drei Personen an einem, vor dem Café auf der Straße, und die Tische reichten bis über den halben Marktplatz. Dort vorn hatte die konzertirende Studentenschaft Platz genommen, in ihren saubersten schwarzen Talaren und schwarzen Baretten (eigentlich sind es kahnförmige Hüte, die breit getragen werden). Alles befand sich in bester Stimmung, und man wartete, Kaffee, Chokolade und Limonade schlürfend, der schönen Dinge, die da kommen sollten.
Auch Inesilla saß mit ihrem Vater ziemlich weit vorn an einem Tischchen, unruhigen Herzens erwägend, ob der heute entlassene Pablo auch hier zugegen sein würde. Wohl nicht als Mitwirkender, denn dazu würde er zu schwach sein, doch als Zuhörer und Zuschauer, wie viele andere seiner Kameraden, und in dieser halben Erwartung hatte sie einen dritten Stuhl an den Tisch gezogen, den sie vorläufig mit ihrem Fächer belegte. Das Konzert nahm seinen Anfang.
[352] Von dem Tische mit den schwarzgekleideten jungen Leuten ertönten Guitarrenmusik und national schwungvolle Weisen. Die nach Hunderten zählende Zuhörerschaft lauschte so gespannt und lautlos, daß man in den Pausen hätte eine Stecknadel zur Erde fallen hören können. Da plötzlich stand Inesilla vor freudigem Schreck das Herz fast still, denn dicht bei ihrem Tische erblickte sie Pablo, der sich nach einem leeren Stuhl umschaute – jetzt wandte er sich um und bemerkte Inesilla bei ihrem Vater – er wurde purpurroth.
Inesilla rückte mit ihrem leeren Sessel; Don Lorenzo tupfte den jungen Mann auf den Arm und wies auf den Stuhl, und Pablo nahm ganz verwirrt unter einer tiefen Verbeugung Platz. Nach einigen Minuten, in welchen die jungen Leute in bedrückter schwüler Stille neben einander saßen, reckte Don Lorenzo den Kopf und blickte gewohnheitsgemäß nach seinem Laden hinüber; er sah ihn voller Leute und den Lehrbuben allein dort hastig herumhantiren, weshalb er sich erhob, seiner Tochter einige Worte zuflüsterte und dann, auf den Zehen durch die Tischreihen schreitend, seinem Geschäftslokal zueilte.
Inesillas Gesicht verklärte sich in geheimer Freude, während Pablos Gesichtszüge eine gewisse Aengstlichkeit und Unruhe zeigten. Das Mädchen drückte Pablo unter dem Tisch die Hand und bestellte bei dem Kellner, den Fächer vor dem Mund, eine „kleine“ und eine „ ganze“ Chokolade – die letztere präsentirte sie durch einfaches Umdrehen des Brettes ihrem Freund. Dann zog sie ein Schächtelchen Cigaretten aus der Tasche, setzte dies außerordentlich geschickt, daß niemand anders es bemerken konnte, vor Pablo hin und ermunterte ihn durch einen Wink, sich zu bedienen; sie selbst nahm für sich ein ganz kleines, feines Päckchen, das ihre Sorte enthielt, aus ihrem zierlichen Pompadour, zündete eines der Röllchen an und rauchte ganz glückselig.
Etwas verlegen – aber ohne sich anders helfen zu können, nahm Pablo das dargebotene Geschenk und brannte gleichfalls eine der großen, fein eingewickelten Cigaretten an.
Die Musik spielte munter und die beiden Liebesleute rauchten und fühlten ihre Herzen im Einklang mit den Worten des Dichters und den Tönen der Canzonetten.
Hätte Inesilla nun Französisch verstanden und gewußt, was das für Cigaretten waren, die sie ihrem Freunde anbot, und hätte Senior Pablo Verros eine Ahnung davon gehabt, was Cañamo-Cigaretten bedeuteten und welche Wirkung sie ausüben könnten, wenn man viel davon und dazu noch aufgeregt raucht, dann wäre diese wahrhafte Historie ungeschrieben geblieben und die Welt wüßte höchst wahrscheinlich nichts von Pablo und Inesilla in Salamanca und wie es ihnen ergangen. Pablo aber war ahnungslos und rauchte in tiefen Zügen.
Der Tabak war herrlich; er hatte noch nie solchen Duft gerochen und die Cigaretten besaßen einen so eigenen feinen Geschmack, und es ward ihm so wohl, so leicht, so frisch, so stark und heiter zu Muth, während er rauchte. Er brannte sich die zweite, dritte, vierte und fünfte an. Sein Herz schwoll vor Lebenslust und Lebensmut; die ganze Welt vor ihm verwandelte sich in ein Paradies. Alle Menschen bekamen Flügel und erhoben sich als Engel; eine Sphärenmusik ertönte vor seinen Ohren; sein liebekrankes Herz wurde von einer stürmischen Zärtlichkeit erfüllt, und diese gehörte dem wunderbaren Mädchen, das schon lange all sein Denken und Sinnen ausmachte und das da vor ihm saß und ihn so ermunternd und verheißungsvoll anschaute. – Die ganze irdische Welt versank unter ihm – er war plötzlich allein auf rosigen Wolken in ätherreinen, lichtdurchflutheten Himmelshöhen, und vor ihm stand Inesilla süß lächelnd erwartungsvoll … Ein Riesenmuth erfüllte seine Seele, er umschlang das Mädchen und gab ihr lange, süße Küsse … Da schlug ein dumpfer Schrei an seine Ohren – er wurde gewaltig gerüttelt; nicht paradiesische Stimmen umtosten und umbrausten ihn; man schien ihm sein Glück, seine Inesilla rauben zu wollen, doch er hielt sie eisenfest.
„ Pablo,“ ertönte es jetzt, „um der Liebe Gottes willen, Pablo, laß mich los! Wir sind ja auf der Straße, vor tausend Augen – Pablo, Du bringst uns beide in Schande und ich vergehe vor Scham!“
War das nicht die Stimme Inesillas, die so rührend bat und flehte?
Er öffnete die Arme und taumelte auf seinen Stuhl zurück. Ein dunkles Gefühl von etwas Schrecklichem, Unerhörtem, von etwas Ungeheurem, das er gethan, begann auf ihm zu lasten.
Seine Kollegen waren bei dieser merkwürdigen Scene zu ihm geeilt; sie wußten, daß er lange krank gewesen – war er jetzt plötzlich wahnsinnig geworden? Sie umstanden ihn, theilnahmsvolle Fragen an ihn richtend.
Ganz Salamanca war erstaunt über das, was sich da eben zugetragen. –
Es war aber auch etwas ganz Außergewöhnliches, das sich vor den Augen der Zuschauer also abspielte: eine Pause in der Musik war eingetreten. Die allgemein beliebte, kluge und tugendhafte Inesilla hatte sich eben erhoben, um, geleitet von ihrem Tischnachbar, wie das üblich, während der Pause vor den Tischen auf und ab zu promeniren – da hatte der Student, welcher den Ruf des sittsamsten und bescheidensten der ganzen Stadt genoß, plötzlich die Arme ausgebreitet, das Mädchen vor aller Welt an seine Brust gezogen, geküßt und sie so fest in seinen umschlingenden Armen gehalten, daß weder der Vater, der vom Laden aus diese Scene erblickte und voll Wuth herüberstürzte, noch viele andere Leute, die herzusprangen, im ersten Augenblick das vor Schreck halb todte Mädchen von dem Studenten befreien konnten.
War das nicht ein Ereigniß wie in einem Märchen? Befand sich Inesilla bei dem Ueberfall in einer furchtbaren Angst und Aufregung, so war die ihres Vaters nicht kleiner; jedoch galt diese zum wenigsten dem, der seine Tochter so unverschämt umarmt und geküßt hatte.
Don Lorenzos Gesicht war nämlich während des Ringens mit dem Studenten an dessen Mund gekommen und wie ein alles erleuchtender, aber auch eine furchtbare Gefahr ihm entdeckender Blitz war es ihm durch die Seele gefahren, daß der Student nach seinen so ängstlich geheimgehaltenen Hanfextraktcigaretten roch. Keine anderen hatten diesen Geruch – und nun wußte er sofort, wie das Seltsame hatte geschehen können. Seine Tochter mußte von den Cigaretten genommen und davon dem Studenten gegeben haben – der Mensch sah schwach und blaß aus, hatte sicher viele geraucht und einen starken und ganz eigenthümlichen Rausch bekommen. Das ging blitzschnell durch Lorenzos Kopf und rief in ihm eine gewaltige Angst und Sorge hervor. Er mußte schleunigst darüber Sicherheit haben, ob sich die Sache wirklich so verhielt – um von seinem Geheimniß retten zu können, was noch zu retten war.
Jetzt stand seine Tochter angstbleich und weinend in dem Laden, vor ihr Lorenzo, der von der Anstrengung des Kämpfens, Laufens und vor Schreck und Sorge nach Athem rang.
„Du hast von den Cigaretten aus meinem Zimmer genommen,“ brachte er endlich hervor. Seine Ladenthür hatte er sorgfältig verriegelt und die Neugierigen hinausgedrängt, sodaß er mit seiner Tochter allein war.
„Ja, Vater – ich hielt sie für gut und ich liebe ihn.“
„Wen liebst Du?“ fragte Don Lorenzo.
„Den Studenten, einen edlen, klugen, gelehrten Menschen, Pablo . . .“
„Du hast diesem Studenten von jenen Cigaretten gegeben?“ forschte Don Lorenzo dringlichst weiter.
„Ja, Vater!“
„Und Du hast keine von der Sorte geraucht?“ erkundigte sich seltsamerweise Don Lorenzo.
„Nein, Vater, meine kleine Sorte, Madrillena,“ antwortete Inesilla immer weiter weinend.
„Du sagst, Du liebst den Menschen – und er Dich auch?“ fragte da mit einem Mal, auf sonderbare Art, gleichsam scharf und weit in die Ferne hinaussehend, Don Lorenzo.
„Ja Vater – ich kann ohne Pablo nicht leben und, nach dem, was ich eben erfahren – so verrückt er war, seine Liebe muß ihn während der Krankheit halb wahnsinnig gemacht haben – liebt er mich auch.“
„So, das ist gut,“ sprach jetzt Don Lorenzo beinahe vergnügt zum größten Staunen Inesillas, „gehe auf Dein Zimmer, schicke den Lehrbuben in den Laden! Ich bin im Augenblick wieder da.“
Nach diesen Worten eilte der Vater Inesillas aus dem Laden zu den Tischen vor dem Café, ging auf Pablo zu, ergriff das Schächtelchen Cigaretten, das noch auf dem Tische lag, und steckte es eilig in die Tasche; dann faßte er den sonderbar steif dasitzenden Studenten am Arm, sah sorgfältig umher, ob auch nichts auf dem Boden lag, und führte den jungen Mann hinüber in sein [354] Geschäftslokal und von dort in sein Zimmer, wo er den fast Willenlosen auf sein Bett niederlegte.
„Er war krank,“ flüsterte Lorenzo, „das ist gut – das paßt mir. Ohne die große Schwäche hätte er auch solch einen Rausch nicht bekommen,“ setzte Lorenzo sein Selbstgespräch fort; „ich muß nur Sorge tragen, daß niemand von seinem Zustand etwas merkt, daß keine Seele darauf kommt, daß der Student nur in einem absonderlichen Rausch so handelte – und daß nicht gefragt wird, wie so ein paar Schluck Chokolade, die er getrunken, einen solchen Rausch veranlassen konnten. Teufel, wenn man danach fragt, ist mein Geheimniß dahin und meine ganze schöne Spekulation todt und verloren.“
„Er liebt sie und sie liebt ihn,“ fuhr Herr Lorenzo zu überlegen fort, indeß er dem ganz Betäubten kalte Wasserumschläge auf Herz und Magen machte. „Nun, ich hatte mir einen andern Schwiegersohn vorgestellt als einen armen Studenten – aber Inesilla ist reich; ein absonderliches Mädchen ist sie auch, das die Reichsten, Schönsten und Vornehmsten ausgeschlagen hat – und wenn sie denkt, mit diesem Studenten glücklich zu werden, ihn zu heirathen – weshalb soll sie es nicht thun dürfen? Ich muß das Gerücht verbreiten,“ überlegte Don Lorenzo weiter, „daß der junge Mensch von heimlicher Liebe zu meiner Tochter, die ihn als Kunden kannte, so krank geworden wäre, daß er im Hospital gelegen hatte und dann beim Wiedererblicken von Inesilla im Konzert halb wahnsinnig geworden sei. Das einzige Mittel, den talentvollen Menschen zu retten, wäre, ihm meine Tochter, welcher der Student auch gut gefällt, zur Frau zu geben – dann schlage ich auch den ganzen Skandal auf eine schöne Weise für mich als Vater und für Inesilla sehr glücklich nieder.“
So denkend ging Lorenzo in den Laden und öffnete ihn. Die Kunden strömten setzt nur so heran und der Tabakshändler erzählte und erklärte setzt den unerhörten Vorgang aus diese Weise. – „Ich bin nicht abgeneigt, meine Tochter dem gelehrten und schönen jungen Mann zu geben, wenn meine Erkundigungen nach seiner Familie gut ausfallen; seine Armuth kann bei dem Vermögen meiner Tochter kein Hinderniß sein, zumal er Inesilla, die ich gefragt, gut gefällt.“
So schloß Don Lorenzo seinen Vortrag vor den eifrig aufhorchenden Kunden, und nach kaum einer Stunde wußte ganz Salamanca, was Lorenzo gesagt. Man pries des Vaters Milde und seinen Edelmuth und hatte die tiefste Theilnahme für den Studenten und für die kluge, geistvolle Tochter Lorenzos, die sich an den Stadtskandal nicht stieß und einen armen Studenten mit ihrem Reichthum glücklich machte. Während dessen war Pablo erwacht.
Er schaute um sich und glaubte wieder im Spital zu sein. „Ich hatte einen Fiebertraum,“ murmelte er, „einen seltsamen, schrecklich schönen Fiebertraum – mir war, als dürfte ich Inesilla vor allen Leuten umarmen und ich that dies und küßte sie … Bin ich im Spital? Das scheint mir hier alles anders,“ dachte Pablo, jetzt den Raum betrachtend.
Als er sich vom Lager aufrichtete, trat Lorenzo heran, sah, daß der junge Mann erwacht war, eilte auf ihn zu, ergriff seine beiden Hände und bat ihn ruhig anzuhören, was er ihm zu sagen hätte.
„Junger Mann!“ sprach nun Lorenzo. „Ich weiß alles – Sie lieben meine Tochter und Inesilla liebt Sie – Sie waren krank vor heimlicher Liebe, ja, das war der Grund Ihrer Krankheit, und haben in einer wiederkehrenden Fieberphantasie meine Tochter beim Konzert umarmt und geküßt …“
Pablo fuhr wild empor und sah sich ganz irr um. „That ich das, that ich das wirklich?“ rief er entsetzt. … Don Lorenzo drückte ihn sanft nieder. „Ja, das ist wahr, das haben Sie gethan,“ sprach der Tabakshändler weiter.
Pablo stöhnte laut.
„Der Skandal ist groß,“ fuhr Don Lorenzo ganz freundlich fort, „ich habe ihn aber mit der Wahrheit entschuldigt – verstehen Sie, junger Mann, mit der vollen Wahrheit, und Sie sind es Ihrer, Inesillas und meiner Ehre schuldig, meine Tochter zu heirathen. Sie lieben sie doch wirklich?“
Statt einer Antwort schlang Pablo beide Arme um Don Lorenzo und küßte ihn auf beide Wangen.
„Es ist also keine Krankheitsphantasie, was ich da erlebe,“ flüsterte fassungslos der Student.
„Nein, es ist die wirkliche, reine Wahrheit,“ erwiderte Don Lorenzo, „das soll Ihnen Inesilla beweisen.“
Don Lorenzo ging aus dem Zimmer, hatte eine ganz kurze Unterredung mit seiner Tochter, und wenige Minuten darauf eilte diese in die Stube, wo Pablo sich befand, stürzte auf ihn zu, schlug die Arme um ihn und rief weinend: „Nein, Du sollst nicht wahnsinnig vor Liebe werden – was geht uns die ganze Stadt an – ich wußte nur nicht, ob Du mich liebtest – Du hast Dich darüber nie so recht stark geäußert. Hättest Du es gethan, so wärst Du vielleicht gar nicht krank geworden und diese dumme Sache vor der ganzen Stadt wäre nicht passirt.“
„Ach, ich glaubte nicht, zu Dir ausblicken zu dürfen, weil ich so arm war,“ gab Pablo zurück, „ich glaube wirklich, ich habe einen Fieberanfall gehabt. Mir war wunderbar zu Muthe; es kam mir vor, als wäre ich gar nicht mehr auf der Erde, sondern oben im Himmel – und da warst Du auch mit mir allein und sahest mich so liebevoll an – wie setzt.“
„Ja, wie jetzt und immer,“ rief Inesilla aus und küßte den jungen Mann auf den feinen, vollen Mund. „Jetzt können wir unser Leben lang uns so ansehen vor der ganzen Stadt, aber umarmen und küssen im Konzert, mitten auf der Plaza Mayor, im Angesicht von Salamanca darfst Du mich auch künftig nicht; ich habe an der einen Dummheit genug und werde viel schwatzen müssen, um den Skandal unter die Erde zu bringen.“
Das that denn auch Inesilla mit Eifer, Erfolg und Geschick. Ein Jahr später heirathete Inesilla ihren Pablo Verros, der sein Examen als Baccalaureus primo ordine gemacht hatte, und zu derselben Zeit ließ auch Don Lorenzo sein Hoflieferantenschild über dem Ladenangang befestigen.
Weder seine Tochter, noch ihr Mann erfuhren jemals etwas von der Wirkung der Papiros Cañamo, der Hanfextraktcigaretten, und beide hatten keine Ahnung davon, welchem seltsamen Zufall sie ihre so schnelle, glückliche Vereinigung verdankten.