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Was uns der Büchertisch erzählt

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Textdaten
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Autor: Rudolf Gottschall
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Titel: Was uns der Büchertisch erzählt
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aus: Die Gartenlaube, Heft 20, S. 336–339
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1888
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Was uns der Büchertisch erzählt.

So wenig die Lieder im deutschen Dichterwalde je verstummen, so wenig erlahmt auch die Lust am Fabuliren, und in immer neuen Verwickelungen, in immer neuer Beleuchtung führen unsere Erzähler uns das Menschenleben vor – nicht bloß das Leben der Gegenwart, sondern auch dasjenige vergangener Zeiten. Und die Eigenart der Dichter selbst giebt ihren Schöpfungen stets den Reiz der Neuheit.

Auch viele unserer Poeten, die sich der gebundenen Rede bisher mit Erfolg bedienten, haben sich jetzt dem Roman zugewendet, darunter Wilhelm Jordan, der Dichter der „Nibelungen“, die er selbst als vorzüglicher Rhetor diesseit und jenseit des Oceans mit großem Zulauf und Beifall vorgetragen hat. Aus der sagenhaften Welt der Chriemhild und Brunhild, des Siegfried und Hagen ist er jetzt ganz in unser modernes Leben übergesiedelt und hat zwei Romane geschrieben, von denen der letzte, „Zwei Wiegen“ (2 Bde., Berlin, Grotesche Verlagsbuchhandlung), als ein ganz eigenartiges Werk betrachtet werden muß. Es ist keine jener leichtflüssigen Erzählungen, deren Strom das Schiff der Handlung mit vollen Segeln trägt: es sind da allerlei schwerwiegende Gedanken, welche theils der Erfindung zu Grunde liegen, theils in selbständigen Auseinandersetzungen sich breit einschieben in die Geschichte der menschlichen Schicksale, deren Verlauf die Spannung der Leser erregt. Wilhelm Jordan gehört nicht zu den Schöngeistern gewöhnlichen Schlags; er hat von Jugend auf eine tüchtige philosophische Bildung genossen, er war Politiker und Naturforscher, ist in sehr vielen Sätteln gerecht – und die Breite des Romans giebt ihm bequeme Gelegenheit, das alles, was er studirt und erfahren, in seinen Kapiteln abzulagern. Seine Darstellungsweise hat auch in den Versdichtungen etwas Wuchtiges und Schweres; das Streben, der Sprache das Gesetz zu diktiren und neue Wörter zu bilden, denen er das Gepräge seiner Eigenthümlichkeit ausdrückt, tritt auch in den Romanen unverkennbar hervor.

„Zwei Wiegen“ behandelt die Frage von der Erbschaft des Blutes, von jenem dem Menschen angeborenen Verhängniß. Da stehn zwei Geschlechter in schroffem Gegensatze, die Lelands stammen aus einer Glückswiege. Ein Ahnherr, ein Offizier des Großen Kurfürsten, war in schwedische Gefangenschaft gerathen, wurde aber aus Karlskrona mit Hilfe der Tochter des Kommandanten befreit und floh mit ihr über die Ostsee nach Memel. Das Holz des kleinen Segelboots, auf dem sie flüchteten, soll von einer heiligen Eiche stammen; aus diesem Holze ließ sich das glückliche Ehepaar die Wiege bauen. Die andere Familie, die Schönborns, wollte von einem Edelmann stammen, der ins heilige Land gereist, eine Urkunde im Kloster Oliva berichtete, wie derselbe im Schatten einer uralten Ceder auf dem Libanon gewohnt, in der Klause eines gelehrten Eremiten, welcher aus dem Samen der Riesenceder sich eine Baumschule junger Bäume zog.

Einen dieser Sprößlinge kaufte der Reisende nebst einem auf Pergament geschriebenen Spruch in gereimten lateinischen Versen, in denen ungefähr gesagt wurde, daß dieser Baum, wenn gepflanzt und großgepflegt im eignen Grund und Boden, das Gedeihen der Familie sichern werde und nicht nur, so lange er lebendig wachse, sondern sogar noch nach seinem Absterben, wenn dann sein Holz verwendet würde zu einer mit dem Kreuze geschmückten Wiege. Als Jürgen Schönborn verstorben, der schwächlich und verwachsen wie sein Bruder Jobs und seine häßliche einäugige Schwester Ulrike war, sollte das Gut Schönborn verkauft werden. Jürgens Sohn Leberecht konnte es später nicht behaupten. Bruder Jobs heirathete die Tochter eines Rechtsanwalts; sein körperliches Gebrechen erbte sich aus eine Tochter Jobaea fort, ein kluges frohsinniges Mädchen, aber häßlich und verkümmert, später durch ungeschickte Behandlung des Orthopäden körperlich fast gänzlich zu Grunde gerichtet. Das ist die Leidensgeschichte derer aus der Cedernwiege; aus der Eichenwiege aber ist ein herrlicher Sproß erstanden, Loris Leland, ein schöner kräftiger Jüngling, der eigentliche Held des Romans. Seine Liebe zu der schönen Müllerstocher, deren herzlose Eitelkeit er allmählich kennen lernt, sowie seine Werbung um die anmuthige Lenore, die ihm gegenüber als kleines Mädchen tapfer ein seltsames Abenteuer bestanden und die Erinnerung daran im Herzen trägt, bilden den Hauptinhalt des Romans, soweit es die Herzensgeschichte des Helden betrifft.

Es sind aber außerdem allerlei höchst merkwürdige Dinge darin; wir sprechen nicht von den Abhandlungen über Astronomie und Darwinismus und Erziehungskunst, von welcher letzteren uns eine ganz absonderliche Probe gegeben wird in der Menschendressur, welche der Hüne Liebherr in seiner Archenburg ausübt; wir sprechen besonders von den aufs ausführlichste erzählten Vorbereitungen zur Wasserfahrt der kranken Jobaea, deren Körper keine Erschütterung verträgt, und welche durch Loris auf dem Wasserwege den Ihrigen wieder zugeführt wird. Hier bereitet sich der Verfasser als ehemaliger Marinerath ein besonderes Fest: an diesen Detailschilderungen der Wasserstauungen, der Bach- und Seefahrt könnte mancher Wasserbauingenieur seine Freude haben.

Daß die Erbschaft des Blutes zum Verhängniß für die Einzelnen wird, ist allerdings der Grundgedanke des Romans, aber er zeigt auch, wie der menschliche Geist durch sein freies Streben jene Schranke zu überwinden vermag. Nikolaus Bajör, des Müllers Sohn, der verstoßene Krüppel, der stets mit seinen Raben erscheint, wird durch die Beihilfe von Loris ein hervorragender Künstler und die unglückliche nicht minder krüppelhafte Jobaea findet in ihrer für alles Schöne und Große empfänglichen Seele reichen Ersatz für körperliche Mißgestalt und versagte Lebensfreude.

Diese Jobaea ist übrigens ganz nach dem Leben gezeichnet. Von Königsberg aus besuchten Jordan und ich als junge Akademiker ein Fräulein Rosalie Schoenfließ in Insterburg, deren litterarischer Nachlaß später veröffentlicht wurde: sie ist das Modell, welches dem Dichter bei seiner Jobaea vorgeschwebt und dessen Züge er treu in der Erinnerung bewahrt hat.

Paul Lindau giebt in seinem „Berlin“ (Berlin u. Stuttgart, Spemann) Studien aus dem Leben der deutschen Reichshauptstadt. Dem ersten Roman „Der Zug nach dem Westen“ folgte der zweite „Arme Mädchen“. Beide sprechen für das Talent des Autors, anschaulich zu schildern, die Vorgänge gefällig darzustellen, [338] die Gespräche geistreich zu beleben. „Arme Mädchen“ führt uns in die Kreise des Berliner Proletariats, aus denen die Heldin, Gretchen, sich nicht loszureißen vermag. Wo ihr eine glücklichere Lebensstellung winkt oder wo sie auch nur ein ausreichendes Unterkommen gefunden hat, da wird sie durch ihre Familie, besonders durch ihren trunkenen Vater, der sie wie ihr böser Gast verfolgt, selbst unmöglich gemacht. Auch als Pflegerin im Irrenhause kann sie sich nicht behaupten, seitdem der Vater dort herangebracht ist; sie sucht den Tod in den Wellen der Spree. Der Gemütszustand des armen Mädchens ist mit großer Feinfühligkeit geschildert und ein elegischer Hauch umschwebt dies ganze von rastloser Sehnsucht aufgezehrte Leben – die Odyssee des Proletariats.

Doch hier muß man mit dem Dichter rechten; er läßt ein braves und tugendhaftes Mädchen, das allen Versuchungen widersteht, rettungslos zu Grunde gehn, während eine allerdings aus den Kreisen der vornehmeren Armuth hervorgegangene Freundin, trotz einer Verirrung, die um so größer ist, je unbegreiflicher sie erscheint, ein wünschenswerthes Lebenslos erreicht. Das ist grausam, aber noch mehr, es wirkt entmuthigend und niederdrückend und giebt uns nicht die volle Lebenswahrheit wieder. Der Dichter hätte der unglücklichen Grete zum Kontrast ein anderes armes Mädchen gegenüberstellen sollen, dem die Armuth nicht das ganze Leben verkümmert, sondern das sich seine Zufriedenheit wahrt und ein stillbegnügtes Glück begründet; dadurch wäre, so sehr wir auch das Schicksal Gretchens beklagen müßten, doch eine moralische und künstlerische Befriedigung hervorgerufen und der Anschein vermieden worden, als solle das Geschick Gretchens nicht bloß ein zufälliges Menschenschicksal, sondern ein allgemein gültiges Abbild sein von der Nichtigkeit aller Bestrebungen der Armuth, auch ein bescheidenes menschenwürdiges Los zu erreichen.

Paul Lindaus erzählendes Talent bewährt sich in diesem Roman in glänzender Weise; er versteht es zu spannen und einzelne Schilderungen sind von ergreifender Wahrheit. Zu Jordans Darstellung mit ihrer Gedankenwucht, ihren naturwissenschaftlichen Exkursen, ihrem ins Breite gehenden Behagen steht Paul Lindaus leichtflüssige Erzählungsweise in schroffem Kontrast. Er ist kein sklavischer Nachahmer der Novellisten an der Seine, doch er hat ihnen die graziöse Leichtigkeit abgelernt, die uns von Kapitel zu Kapitel führt, ohne uns je zu ermüden. Alles giebt sich natürlich und ungezwungen und wir müssen dem geschmeidigen Erzähler scharf auf die Finger sehen, wenn wir ihn bei einer Unwahrscheinlichkeit ertappen wollen.

Wieder eine gänzlich verschiedene Physiognomie trägt Wilhelm Jensen zur Schau, dessen Geschichtencyklus „Aus schwerer Vergangenheit“ (Leipzig, B. Elischer) uns in die schreckensreiche Zeit des Dreißigjährigen Krieges versetzt, aus welcher der Autor schon so manche kleinere und größere Erzählung herausgegraben hat. Die Zeit mit ihrer abenteuerlich bunten Bewegtheit paßt für manche kecke Erfindung, wie sie der Dichter liebt, aber sie paßt auch für das Gewaltsame und Düstere, das er mit Vorliebe schildert. Eine abenteuerliche Geschichte ist die erste „Unter frommem Schutz“. Der Fähndrich Eitelwolf erschlägt seinen Hauptmann beim Würfelspiel und soll dafür gehängt werden. Auf dem Gange zum Galgen wird er durch die Aebtissin eines Klosters gerettet, welches das „Scherenrecht“ besitzt.

Unsere Leser besinnen sich, daß auch die „Gartenlaube“ eine illustrirte Novelette, welcher derselbe Stoff zu Grunde gelegt ist, gebracht hat (vergl. Jahrg. 1887, S. 297). Die Prinzessin-Aebtissin in der Jensenschen Erzählung, die den Fähndrich Eitelwolf gerettet hat, ist keine andere, als seine Jugendgeliebte Magdalis Hasenfratz, die nach mancherlei Abenteuern einen italienischen Principe geheirathet und nach dessen Tod zu hoher klösterlicher Würde emporgestiegen. Die beiden haben, nachdem auch er sie wieder erkannt, nichts Eiligeres zu thun, als aus dem Kloster zu entfliehen und sich dann von einem Priester, dem einzig Ueberlebenden einer verwüsteten Stadt, trauen zu lassen. Wie aus dem Ordensgewand der würdigen Aebtissin auf einmal wieder die übermütige, lebenslustige Jungfer Hasenfratz herausschlüpft, das ist schalkhaft und ergötzlich geschildert. Die zweite Geschichte „Auf der Lateinschule“ spielt großenteils in der Stadt Landshut, und da fehlt es nicht an Kriegsabenteuern, an Mord und Brand. Dem würdigen Rektor der Lateinschule wird von schwedischen Soldaten der Kopf vom Rumpfe getrennt; sein einst von der Straße aufgegriffener Famulus Konrad Mentelin und seine Tochter Helia, die einander in stiller Liebe zugethan sind, erleben wunderbare Schicksale, werden gerettet, ohne etwas von einander zu wissen, und finden sich zuletzt in Weimar wieder, nachdem Konrad unter den Fahnen des Herzogs Bernhard tapfer gefochten. „An der See“ ist eine Episode der Belagerung von Stralsund. Die Bewohner der Südwestküste von Rügen, tapfere Schiffer, bemächtigen sich eines von Wallenstein gebauten Schiffes. Dazwischen eine romantische, trotzige Liebe, die gehörig in Wasser gebadet wird, ehe der Alte darüber seinen lakonischen Segen spricht.

Die eigenartigste Erzählung ist „Ueber der Haide“, sie enthält stimmungsvolle Naturbilder, welche an diejenigen Adalbert Stifters erinnern; das Zigeunermädchen, das mitten unter dem raschelnden harten Blattwerke des Schilfs auftaucht, wird die Heldin romantischer Episoden, während die Liebe zwischen der Pfarrerstochter und dem jungen Studenten, dem Pflegesohne des Pfarrhauses, einen idyllischen Reiz bewahrt. Doch in das freundliche Leben der Lüneburger Haide bricht bald der Kriegslärm, bricht Freund und Feind verwüstend ein; grelle Brand-, Raub- und Mordscenen lösen sich ab, der Pfarrer selbst wird zu einem Ungläubigen und Gottesleugner, der seine Bauern in den Kampf führt, nur die beiden Liebenden finden ein friedliches Glück.

Die letzte Erzählung „Um ein Menschenalter später“ bringt uns noch einen Nachhall früherer Kämpfe in dem Zweikampf zweier Bürger der Reichsstadt Nördlingen, die in feindlichen Lagern sich an dem großen Krieg betheiligt hatten. Das Ganze führt zu versöhnlichem Abschluß; es hat einen mehr genrebildlichen Charakter; der verschnörkelte und verzierte Stil der Rede und des Lebens, der damals zur Geltung gekommen, wird von dem Autor mit Behagen ausgemalt.

Im höheren Idealstil der historischen Erzählung ist Karl Frenzels Novelle „Schönheit“ (Berlin, Gebrüder Paetel) gehalten. Die Handlung spielt in Florenz zur Zeit des Bußpredigers Savonarola, der nach dem glänzenden kunst- und lebensfreudigen Zeitalter der Medicis die Welt mit einem düstern, in Sack und Asche trauernden Bußgefühl zu erfüllen suchte. War doch damals aus dem Platze vor der Signoria eine riesige achtseitige Pyramide errichtet worden, in allen Farben schillernd, von Gold und Silber leuchtend; Masken und Larven, falsche Bärte und Harlekinskleider, Damenbretter und Schachspiele, elfenbeinerne Kämme und silberne Spangen, Schmuckgeräthe der Frauen und die Bücherrollen der Gelehrten, Lauten und Geigen, Würfelbecher und Gemälde bildeten sie in buntem Durcheinander und oben thronte als Krönung des Ganzen eine weithin sichtbare groteske Figur, halb wie ein Teufel, halb wie ein verlarvter Spaßmacher ausstaffirt, mit gelben Fledermausflügeln.

Und dieser Karneval ging in hellen Flammen auf unter dem Jubelgeschrei des Volks; stürmisch wie bei einer Feuersbrunst läuteten dabei alle Glocken. Das war der Höhepunkt der Bewegung, die der düstere Mönch hervorgerufen; am Schlusse der Erzählung sehen wir seinen Sturz, die Erstürmung des Klosters von San Marco durch das Volk von Florenz. Die Liebe Giulianos, eines Gegners der mönchischen Reformbewegung, zu Elena, die anfangs in die Pyramide der zum Feuer verdammten Weltlust die Sonette des Petrarca und eine Perlenkette trägt und so Giuliano zuerst begegnet, zieht sich durch die geschichtlichen Lebens- und Sittenbilder. Auf den Wunsch des Vaters hatte Elena den Lionardo Vacchi geheirathet, doch als sie in ihm einen Verräther erkannte, folgte sie ihrer Liebe zu Giuliano und begleitete diesen auf seine Villa in Fiesole. Als ihn die politischen Verwicklungen in die Stadt riefen und er dort längere Zeit verweilte, fühlte sie das Peinliche, Aussichtslose ihres Verhältnisses; auch sie begab sich insgeheim dorthin, sah ihren Giuliano mitten in glänzenden Festen, nach der Meinung des Volkes bereits mit der schönen Dame verlobt, die er zum Tanze führte; Elena begab sich dann in das Kloster von San Marco und ging bei der Erstürmung desselben durch das Volk zu Grunde, indem ihr eigener Gatte, der sich unter den wild Eindringenden befand, die Treulose durchbohrte.

Diese Erzählung hat ein farbenreiches Kolorit; lebendige Schilderungen wechseln ab mit sinnigen Betrachtungen und das Bild jener interessanten geschichtlichen Epoche tritt mit fesselnden Zügen vor uns hin.

Ins deutsche Mittelalter führt uns der fesselnde Roman von Julius Wolff „Das Recht der Hagestolze, eine Heirathsgeschichte aus dem Neckarthal“ (Berlin, G. Grotesche Verlagsbuchhandlung). [339] Julius Wolff ist durch seine volkstümlichen Neudichtungen älterer Sagen ein Liebling des Publikums geworden. Die neue Heirathsgeschichte knüpft an eine Rechtsbestimmung an, der zufolge der Landesfürst das Recht hat, die Güter eines Hagestolzen zu konfisciren, sobald derselbe das fünfzigste Lebensjahr überschritten hat. Wir werden nun in die Kreise der Raubritter eingeführt, die auf den Burgen am Neckar zwischen Heilbronn und Heidelberg hausen. Drei Brüder, drei Ritter von Steinach, leben hier zusammen; der eine von ihnen, Hans, eine ehrliche naive Natur, ist ein Hagestolz, der fast an jenes verhängnißvolle Alter heranreicht; er ist ein fanatischer Gegner der Ehe und hat besonders einen unüberwindlichen Abscheu gegen Schwiegermütter. Vom „Recht der Hagestolze“ weiß er nichts; wohl aber hat sein Bruder Bligger, ein Intrigant, doch der beste Kopf der raubritterlichen Familie, darüber Erkundigungen eingezogen und sich mit den andern Familiengliedern sowie mit den nächsten Freunden darüber verständigt, man müsse Hans verheiraten, damit sein Erbe nicht dem Pfalzgrafen anheimfalle. Eine schöne Witwe, die in der Nachbarschaft auf der Minneburg lebt, wird ausersehen, die Braut von Hans zu werden, obschon die Steinachs mit dieser Juliane von Rüdt auf gespanntem Fuße stehen und mit ihrem früheren Gatten in offener Fehde gelebt haben. Allerdings hatten Hans und Juliane früher einmal große Zuneigung für einander empfunden.

Die Erzählung führt uns nun vor, in welcher Weise die Anknüpfung zwischen den beiden Häusern ins Werk gesetzt wird, wie in Juliane und Hans wieder die alte Neigung erwacht, wie dieser aber trotz seiner Liebe anfangs seine Ehescheu bewahrt, während die Versöhnung der Familien plötzlich wieder einen harten Stoß erhält, als Juliane von einer intriganten Freundin in die Geheimnisse des Hagestolzenrechts eingeweiht wird und in der Bewerbung von Hans jetzt schnöden Egoismus sieht. Doch sie wird bekehrt, als sie erfährt, daß er sich für sie mit einem Nebenbuhler geschlagen; er wird durch seine leidenschaftliche Liebe von seinem Ehehaß geheilt, und so schließen sie nach einem romantischen Zwischenfall im Kloster Sinsheim den Bund fürs Leben.

Die Galerie der Frauencharaktere in diesem Roman wird ergänzt durch die muntere, unternehmungslustige Sidonie und die schöne eifersüchtige Jüdin Josephine.

An und für sich wird man dem Treiben der alten Raubritter nur geringe Sympathien entgegenbringen; doch der Dichter läßt auf ihr räuberisches Tagewerk und ihre blutigen Fehden nur hier und dort ein flüchtiges Streiflicht fallen. Dagegen führt er uns in die Gefühlswelt und das häusliche Leben der Burgbewohner und Burgbewohnerinnen; die Mädchenbilder sind reizend, wenn auch etwas modern; die Naturscenerie, die hohen Burgen am Neckar, die Flußufer, die anmuthigen Waldverstecke sind stimmungsvoll geschildert; hier und dort bricht auch ein kerniger Humor durch und das mittelalterliche Kolorit ist ohne zu aufdringliche Manierirtheit gewahrt, obschon man bisweilen glaubt, in diesen faustrechtlichen Kämpen verkleidete moderne Feudalherren und in diesen Ritterfräuleins moderne junge Pensionsdamen zu erblicken.

Wir sehen, unsere Erzähler schlagen sehr mannigfache Töne an; der Büchertisch erzählt uns viele spannende Geschichten, aber er erzählt uns auch, daß wir viele begabte Schriftsteller besitzen, welche nicht schablonenhaft schreiben, sondern ihre geistige Eigenart behaupten und für den Reichthum unseres deutschen geistigen Lebens auch auf diesem Gebiete Zeugniß ablegen.

Rudolf v. Gottschall.