Der alte Glöckner
Sylvesternacht – auf hohem Glockenstuhle
Webt um’s Getäfel tiefe Mondnachtstille;
Fahlgelb und öd’, in ungewissem Licht
Hängt gähnend um den Thurm die Himmelsleere,
Kaum daß ein Vogel durch die Lüfte schweift
Und in des Nebels Abgrund untertaucht.
Nur wo im engen Stübchen, wolkennahe,
Der Glöckner wohnt, der müde, altersgraue,
Da flammt am Fenstersims die Lampe noch.
„O, laß mich,“ ruft er aus dem Polstersessel
Und streckt die hag’re Hand dem Sohn entgegen,
Der jugendfrisch an seiner Seite lehnt,
Ist’s doch, als ob mir jung die Kräfte wüchsen
Mit dieses Jahres Flucht – das Siechthum weicht;
Es schwillt mir mächtig die Soldatenbrust,
Und meines Amtes walten will ich wieder.
Indem ihm Jener liebreich wehrt, steht er
Auf schwanken Füßen aufrecht – hebt sich – zieht –
Und voll und feierlich und allgewaltig
Tönt in die Nacht des Jahres letzt’ Geläute.
Sich abwärts schwingen in die Stadt da unten
Und aufwärts brausen um des Thurms Gemäuer –
„O zaubrisches Erinnern,“ ruft er da,
„Wie sprichst Du seltsam mit metall’ner Zunge
In blondem Haar, das Schwert an meiner Linken,
Seh’ ich mich singend ziehn zum Thor hinaus;
In den Franzosenkrieg mit den Cam’raden
Fühl’ ich mich wundermächtig fortgerissen –
Im Ohre tönt mir ehern noch dein Schritt,
Und schneller fließt mein Blut, gedenk’ ich dein.“
Da zieht er hastiger den Glockenstrang;
Er zieht ihn feurig mit der müden Hand.
Die Donner sind’s von Leipzig, Waterloo –
In Schmach der Corse und sein Reich in Trümmern,
Doch Deutschland, Deutschland siegreich, mächtig, frei – –“
Es schwankt der Alte, und sein Arm erlahmt;
Und wieder in die stille Nacht hinaus
Tönt, Hall auf Hall, das ernste Festgeläute,
Doch diesmal tönt es nicht wie Schlachtendonner;
Wie Wehmuth weint es, wie verhaltner Groll,
In wilden Klagen an.
„Verhaßte Ernte,“ stöhnt er zornig auf,
„Die, ach! solch edlen Krieges Saat entsproß!
Am blut’gen Lorbeer fraß des Volkes Gram;
Den Helden folgten der Bedrückung Schergen
Und großen Vätern kleine Enkel nach.
Der Höfling herrschte; schnöde Staatskunst schlug
In’s Pfaffenjoch die ewige Vernunft,
Saß die Verbitterung am kargen Tisch.
Da“ – voller weckt den Glockenklang der Alte,
Und kräft’ger schwingt sich das beseelte Erz –
„Da kam ein Tag: Die Langmuth ging zur Neige;
Auf Barricaden stand ich mit den Brüdern.“
Schwer seufzt der Greis; es hallt so matt die Glocke –
„Ein Wahn, ein Traum!“ haucht er mit müder Stimme,
„Das Ziel war groß, allein die Kraft war schwach;
Nun aber plötzlich hebt er stolz sein Haupt;
Er zieht die Glocke stürmisch, hochgemuthet,
Und „Heil Dir!“ spricht er, zu dem Sohn gewandt,
„Heil Dir, daß Du ein Spätgeborner bist!
Erstrahlt in seines jungen Ruhmes Glanze
Das theure Vaterland.
Den Kranz, den Du bei Sedan miterrungen,
O, sieh, Europens Völkern stolz voran,
Zu des Jahrhunderts höchster Staffel auf.
Und ob auch heut’ an Deutschlands bestem Mark
Mit gift’gem Zahn die inn’re Zwietracht nagt,
Obsiegen wird es über Roms Trabanten,
Wie es gesiegt in allen edlen Schlachten – –“
Er schweigt. Sein Auge flammt prophetenhaft,
Als schaut’ es ahnend in entlegne Fernen,
Und wie Verklärung weht’s von seinen Lippen:
Dein heiliges Panier, mein Vaterland,
Ein Hort dem Recht, ein Schrecken allem Bösen
Und eine Leuchte in dem Sturm der Zeit.
Ich seh’ Dich thronen an der Völker Spitze;
Und freudig harren Deines Richterspruchs
In Demuth und Bewundrung die Nationen.
Drum, die Ihr heut im Licht der Sonne wandelt,
Seid eingedenk der Tage, die da kommen!
Und schirme, was die Väter einst erstritten,
Tritt ein für Freiheit, Volk und Vaterland –
Tritt ein – tritt ein – –“
Er wankt; er bebt – noch einmal
Zieht er die Glocke – leise stirbt ihr Klang,
Sinkt lautlos er dem Sohn – –
Nun dröhnt vom Thurm der Jahres letzte Stunde
Und hallt und schweigt.
Auf hohem Glockenstuhle
Weht um’s Getäfel tiefe Mondnachtstille;
Nur in des Glöckners Stübchen, wolkennahe,
Knie’t bei dem todten Vater stumm der Sohn,
Und in die kalte Rechte des Soldaten
Schwört er der Freiheit und der Volkes Sache,