Der rothrückige Würger oder Dorndreher, Neuntödter

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Autor: Karl Müller
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Titel: Der rothrückige Würger oder der Dorndreher, Neuntödter (Lanius Collurio)
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, S. 40–43
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Thier-Charaktere.

Von Adolf und Karl Müller.
Der rothrückige Würger oder der Dorndreher, Neuntödter (Lanius collurio).

Die Würger nehmen in der gefiederten Welt eine Zwischenstellung ein und bilden den Uebergang von den Singvögeln zu den Raubvögeln. Für ihre Verwandtschaft mit letzteren spricht entschieden schon die Aehnlichkeit in der Schnabelbildung, insbesondere der seichte Ausschnitt an der Spitze des Oberkiefers und das Vermögen wie die ausgesprochene Neigung, den Raub unter einen Fuß zum Zwecke des Zerlegens zu nehmen. Innerhalb der verschiedenen Arten zeigt sich jedoch die Raubnatur mehr oder weniger ausgeprägt und vorwaltend. Am meisten tritt sie bei den großen Arten hervor, bei dem Raubwürger und dem Grauwürger, weniger bei dem Rothkopfwürger und dem rothrückigen Würger. Der Raubwürger „rittelt“ auch ganz in der Weise der Raubvögel, um aus der Höhe sich auf die Thiere zu stürzen. Er steht dabei, wie der Sperber, aufrecht in der Luft unter eilenden Schlägen der ausgespannten Flügel und wechselt in kurzen Entfernungen seine Lauerstände. Sein Raub erstreckt sich über Mäuse, Lurche, Insecten und vorzugsweise im Winter über Vögel bis zur Größe der Amsel, die er bei Schnee und Kälte hinterlistig überfällt, während die kleineren Würgerarten vorzugsweise aus der Insectenwelt ihre Nahrung nehmen. Entsprechend dem Bedürfnisse des bei uns überwinternden Standvogels ist der Raubwürger denn auch mit einer viel derberen, den Witterungseinflüssen kräftiger widerstehenden Natur ausgerüstet, als unser Dorndreher oder Neuntödter, mit welchem wir es hier besonders zu thun haben. Der Dorndreher zeigt uns ein hochinteressantes Vogelcharakterbild, eine unverkennbare Doppelnatur, von der bald die eine, bald die andere Seite zur Herrschaft kommt. Mit dem Rothkopfwürger hat er noch die sprechendsten Züge der Singvögel gemein, er nimmt sogar unter den Sängern, welche den Potpourrigesang vertreten, die höchste Stelle ein. Mit den Singvögeln theilt er die Liebe und das Bedürfniß für Sonnenlicht und Wärme so entschieden, daß er erst in der ersten Hälfte, und zwar nicht gleich am Anfange des Mai bei uns erscheint und schon im September in die Fremde zieht. Die Frostschauer der Mainächte oder die rauhen Nord- und Ostwinde berühren ihn so empfindlich, daß er mit aufgeblasenem Gefieder traurig die geschütztesten Lagen seines Standreviers aufsucht und unter der Nahrungssorge ein klägliches Aussehen bietet.

Vielseitig sind diese Standorte seines Sommer- und Familienlebens. In Gärten, Parkanlagen, Remisen, Feldhecken, an Dornhagen, Waldrändern mit niederem Gebüsche, ja selbst etwas tiefer im Walde in jungen Hegen an Wiesen und Waldwegen, am liebsten aber stets an Plätzen, wo dichtes Dorngebüsch wuchert, läßt sich das Männchen mit dem in der Regel gleichzeitig ankommenden Weibchen nieder. Seine Art ist zahlreich vertreten und macht sich durch die Neigung des Lauerns auf hervorragenden, hohen und niederen Zweigen, sowie durch seine auffallende Färbung überall dem guten Auge bemerklich. Er gehört zu den volksthümlichen Vögeln. Die Zusammenstellung der Farben beim Männchen ist eine wirkungsvoll schöne. Oberkopf, Hinterhals, Bürzel und die oberen Schwanzdeckfedern sind hellaschgrau, die übrigen Theile der Oberseite glänzend rostroth. Ein schwarzer Streifen zieht sich über die Stirn und durch die Augen. Backen, Kinn und Kehle sind weiß, ebenso die unteren Schwanz- und Flügeldeckfedern, die Schwingen schwarzbraun, die hinteren Armschwingen rostroth gerändert. Die schwarzen Schwanzfedern sind von der Wurzel zur Hälfte weiß, die vier äußersten haben einen schmalen, weißen Rand an ihren Enden. Die Unterseite zeigt ein schönes, sanftes Rosa. Unscheinbar ist dagegen das Weibchen gefärbt. Seinen Namen Dorndreher verdankt dieser der Eigenthümlichkeit, Käfer, Eidechsen und junge Mäuschen öfters an Dornen aufzuspießen.

Das Volk hat ihn auf Grund dieser Vorliebe auch Neuntödter genannt, weil zufällig die Anzahl von neun Käfern hier und dort an Dornbüschen angespießt gefunden wurde. Merkwürdiger Weise liest man selbst in guten Naturgeschichtswerken, daß der Dorndreher so verfahre, um für rauhe Tage Nahrung aufzuspeichern. Die Unterlegung einer solchen Absicht beruht auf ganz falscher und willkürlicher Deutung. Denn der Vogel befriedigt mit diesem Unternehmen nur ein Bedürfniß vererbter Gewohnheit und thut es immer zur Zeit, wo er Ueberfluß an Nahrung hat und seine Raubnatur ihn über das Maß seines Nahrungsbedürfnisses hinausführt, angeregt durch die lebendige Beute um ihn her. Spießt er doch auch in der Gefangenschaft Käfer und Fleischbrocken an spitze Gegenstände an! Gewöhnlich vertrocknen die Käfer an den Dornspitzen und werden von ihm nicht weiter beachtet. Uebrigens bedient er sich beim Tödten von Eidechsen ebenfalls der Dornen wie der Füße zum Festhalten. Hierbei verfährt er ebenso praktisch wie ausdauernd. Die Eidechse im Schnabel, reckt er sich hoch empor und sucht diese alsdann von oben durch Niederziehen an der Dornspitze einzuhaken. Die zähe Haut des Amphibiums leistet Widerstand, und darum währt es oft lange, bis er sein Ziel erreicht. In Folge dessen ermüdet der Vogel, ruht einige Augenblicke aus und geht dann wieder frisch an’s Werk, einen unverkennbaren Zorn dem Hindernisse entgegensetzend und unruhig die Stellung verändernd.

Die kleineren Käfer und sonstigen Insecten nimmt der Dorndreher nicht unter den Fuß, sondern verschlingt sie unmittelbar nach dem Fange. Am häufigsten stürzt er sich von den freien Zweigen des Gebüsches und der Bäume auf die Beute am Boden. An sonnigen Tagen jagt er aber auch dem fliegenden Insect nach, welches er auf Entfernungen von dreißig bis vierzig Schritt wahrzunehmen vermag. Mäuse bilden nur einen verschwindend geringen Theil seiner Nahrung. Er überfällt sie mit gesträubtem Gefieder und ausgebreiteten Flügeln, indem er derbe Schnabelhiebe

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Schwarzköpfige Grasmücken vom Neuntödter überfallen.
Nach dem Leben gezeichnet von Adolf Müller.

[42] nach dem Kopfe richtet. Weit mehr locken ihn junge Kleinvögel an, die er aus den Nestern reißt oder deren Sitz er, wenn sie ausgeflogen sind, auskundschaftet. Geleitet von Gehör und Gesicht, entdeckt er die nach Futter schreienden Kleinen und läßt sich nicht so leicht von den erbitterten Eltern derselben in die Flucht schlagen. Unser Bild stellt seinen Raub an einer jungen schwarzköpfigen Grasmücke dar, wie wir ihn in dem Park unserer früheren Heimath Staden in der Wetterau beobachtet haben. Trotz solcher da und dort vorkommenden Eingriffe des Dorndrehers in das Familienleben der Singvögel können wir kein so hartes Urtheil über ihn als Vogelräuber fällen, wie es Andere gethan haben.

Die Nachstellungen nach dieser Richtung hin sind vielfach abhängig von individueller Neigung, welche hauptsächlich durch zufällige Entdeckungen und dargebotene günstige Gelegenheiten zur Ausprägung gelangt. In den meisten Fällen nisten die Singvögel in der Umgebung des Dorndreherpaares ohne besondere Behelligung. Wohl finden Streitigkeiten zur Zeit des Nistens statt, aber die Unduldsamkeit zeigt sich wenigstens zum Theil auch bei den anderen Vogelarten. Die Goldammern verhalten sich gegen die Neuntödter so feindselig und zänkisch, daß letztere förmlich in die Flucht geschlagen werden. Schließlich wird doch Friede oder wenigstens Waffenstillstand geschlossen, den die Sorgen um den eigenen Haushalt jederseits erfordern. Am häufigsten sind die Dorngrasmücken in Hecken und Remisen von dem Neuntödter gefährdet, weil ihre Brut sich vielfach in seiner unmittelbaren Nähe befindet. Aber die Thierchen nisten fast immer in der Tiefe des Dorngestrüpps gut verborgen und halten sich mit ihren Jungen gar heimlich und stille.

Sogleich nach der Ankunft in der Heimath beginnt unter günstigen Witterungsverhältnissen das Minneleben des Dorndreherpaares. Da wechselt das Werben des Männchens um die Gunst des Weibchens in langem Hin- und Herjagen ab mit zeitweisem Ausruhen der erschöpften Vögel, daß sogar der sonst so starke Ernährungstrieb merklich zurücktritt. Da hat auch das Männchen keine Zeit zum Gesang, nur sein Gätzen vernimmt man in gewissen Werbungssituationen, ähnlich wie bei der Entdeckung es befremdender Erscheinungen, wenn diese nicht allzu schreckhaft auf das Gemüth wirken, sondern mehr die Neugierde, gepaart mit Mißtrauen, erregen. Aber wenn das Weibchen auf den Eiern sitzt, dann hört man an schönen Tagen in der Frühe das Männchen singen. Wie in philosophischen Betrachtungen versunken sitzt der Dorndreher mit dem bedeutenden Kopfe und dem intelligenten Auge auf einem Lieblingszweige und reproducirt die mannigfaltigen Weisen der von ihm belauschten Vögel. Doch versteht man ihn nur in der Nähe ganz, weil sein Stimmwerkzeng zur Hervorbringung weittragender Töne nicht ausreicht.

In etwas weiterer Entfernung sind nur einzelne ausgezeichnete Individuen zu belauschen. Im Zimmer aber kommt der höchst interessante Vortrag erst wahrhaft zur Geltung. Wir können die Begabung dieses Generalspötters unter den Vögeln nicht ausdrücklich genug rühmen. Seine ausgezeichnetsten Repräsentanten sind unvergleichliche Künstler in der Wiedergabe ganzer Lieder, einzelner Strophen und kennzeichnender Rufe anderer Vögel. Originell ist eigentlich nichts von allem, was der Dorndreher vorträgt, als sein Gätzen und der laute, bekannte Würgerschrei. Aber dennoch wird man nicht müde, ihm zu lauschen. Denn die Detailausführungen sind die naturwahrsten Copien, welche man hören kann. Das gilt in erster Linie und in vollem Sinne von den Gesängen der samenfressenden Singvögel und unter den Insectenfressern von den Grasmückenarten. Den Schlag der Nachtigall, das laute Flötenlied der Amsel kann er trotz aller Mühe nicht zu der Originalform gestalten, weil seine Stimme zu schwach ist. Doch reden wir in Beispielen nach unseren eigenen Erfahrungen, und die Meisterschaft dieses Obersten der Spötter wird in klarem Bilde vor des Lesers Geist treten.

Wir besaßen im Jahre 1879 zwei im Mai eingefangene Dorndreher. Der jüngere hatte einen Doppelschläger unter den Edelfinken gehört und trug diesen Doppelschlag entzückend schön vor; der ältere führte den einfachen Finkenschlag aus, aber viermal hinter einander; er sang das Lied der Feldlerche lange unaufhörlich. Das Lied des Bluthänflings sammt den Locktönen und den Rufen, die zum Aufbruch mahnen, den Gesang und die Locktöne des Stieglitzes, das Lied und die Zankstrophe der Amsel, fünf markige Singdrosselrufe, das dreimal wiederholte Rauchschwalbenlied, das Balzen und Knappen des Staars, das Geschrei der ausgeflogenen jungen Staare, den Pirolruf, die Gesänge der Dorn- und Klappergrasmücke, des Baumrothschwänzchens und Trauerfliegenfängers, des kleinen Weidenlaubvogels, das Wettern der Kohl-, Blau- und Sumpfmeise nebst den Locktönen, das bei der Jungenpflege häufig wiederholte Locken des Baum- und Hausrothschwänzchens, drei Nachtigallenstrophen, die drastisch wirkende Darstellung des in Zorn gerathenden zankenden Haussperlingmännchens, die Locktöne des Feldsperlings, tiefe Rabentöne, das in mehrfacher Wiederholung sehr schön ausgeführte Lied des aufsteigenden und niederschwebenden Baumpiepers und das Gewulle junger Gänse, in welches sich höchst komisch der Ton der alten Muttergans mischte – alle diese Tonstücke führte der fleißige Sänger vor das Ohr der Zuhörer. Der jüngere Vogel schilderte eine ganze Heerde Gänse, die dem Dorfe zueilt, und einzelne Töne gaben zu erkennen, daß der Hund oder der Hirte mit der Peitsche hinter ihnen her ist.

Im Jahre 1881 sollten wir glücklicher Weise in den Besitz des unvergleichlichsten Exemplares gelangen. Welch ein Fülle herrlicher Gesänge sprudelt wahrhaft aus seiner Kehle! Laut wie bei keinem seiner Brüder und raumbeherrschend quellen die Töne hervor, und malen nicht blos die feinsten Nüancirungen und Charakterausprägungen, sondern zaubern auch die verschiedenartigsten Situationen der nachgeahmten Vögel vor die Seele des Zuhörers. Er vergegenwärtigt uns nicht blos den einzelnen Vogel, sondern auch mitunter ganze Gesellschaften gleichartiger Vögel, Staarenfamilien, Bachstelzen, die in nebenbuhlerischer Stellung oder im Verfolgen und Ausschelten des Raubvogels ihr erregtes Zwitschern und ihre Lärmtöne hören lassen. Den Edelfinken hat er den schmetternden Frühlingsschlag in drei verschiedenen Formen abgelauscht, darunter paradirt der brillante Doppelschlag eines Originals, das ehedem in Thüringen den Werth einer Kuh herausgefordert hätte. Ebenso trägt er drei von einander abweichende Bluthänflingsgesänge vor mit entzückend feiner Schattirung, den Feldlerchengesang in modulirter Form, auch verschiedene Variationen des Dorngrasmückenliedes. Von Singdrosseln muß er viele Vorbilder gehört haben, denen er mehr als ein Dutzend herrlicher, metallisch klingender Strophen und das zusammenhängende Balzgezwitscher des Abendvortrags verdankt. Der Baumpieper ist in zwei Variationen des auf’s Feinste ausgeführten Liedes vertreten. Das Wettern der Amsel, das Angstgeschrei der Singdrossel, das Lied der Sperbergrasmücke, das Hammerschlagliedchen des kleinen Weidenlaubvogels, das Lied des Goldammers, seine Locktöne, welche die Gefährten zum Aufbruch mahnen, der vollständige Gesang des Rothschwanzes, der Braunelle, des Grünlings, des Stieglitzes: diese und andere ausführliche oder kürzere Reminiscenzen vollenden den Reichthum seiner staunenswerthen Kunstschätze. Das kostbare Colorit, die treue Ausführung und die Situationscharaktertstik erheben diesen Würger zur höchsten Stufe.

Nach unserer gründlichen Erfahrung sind meistens die alten, mehrere Jahre zählenden Vögel die fertigeren und vielseitigeren im Gesang. Es scheint demnach, als ob der Würger in der Freiheit als Einjähriger noch nicht mit seiner Ausbildung abgeschlossen habe, sondern auch später noch im Stande wäre, Neues zu lernen und namentlich sich im Vortrag zu verbessern. Indessen haben wir auch von jüngeren Männchen vorzügliche Leistungen gehört, wobei Talent und Gelegenheit zur Ausbildung die Grundlage bildeten. Eine wichtige und anregende Frage wirft sich dabei dem Vogelkundigen auf. Wo lernt der Dorndreher eine so große Anzahl von Gesängen wiedergeben? Denn es ist Thatsache, daß mancher Bewohner von Feld- und Gartenhecken, die weit vom Walde entfernt sind, dennoch vorzugsweise die nur in letzterem vertretenen Vögel nachahmt oder auch Weisen von solchen, welche die Rohr- und Schilfniederungen beleben. Unstreitig sind dies Errungenschaften, welche aus der Fremde heimgebracht werden.

Während des Winteraufenthaltes in den südlich gelegenen Ländern wohnt der Dorndreher mit mannigfaltigen Singvögeln zusammen und hört ihre schon lange vor dem Rückzuge in die Heimath beginnenden Vorträge, die er seinem Potpourrirepertoire mit aller Sorgfalt und Treue mehr oder weniger umfassend einverleibt. Sicherlich wird auch auf dem Zuge zufällig Gehörtes dem scharfen Gedächtniß tief eingeprägt und daheim einstudirt. Höchst wahrscheinlich bereichert sich der begabte Vogel im Laufe [43] darauffolgender Jahre durch sorgfältigere Ausführung des Angeeigneten und durch neue Aufnahmen bis zu gewissen Grenzen. Doch würden wir sehr irren, wollten wir nicht noch einen andern Bildungsfactor gelten lassen. Der junge Dorndreher ist vielfach der Schüler seines Vaters. In den Nachsommermonaten sitzt der Alte mit den noch immer die Lieblingsplätze des Standreviers theilenden Jungen, die längst selbstständig geworden sind, im anregenden Sonnenschein und läßt seine Weisen leise als getreue Nachklänge aus der Sommerzeit ertönen. Junge Vögel mit so eminenter Gedächtniß- und Nachahmungsgabe saugen da natürlich die, wenn auch in unterdrückter Art vorgetragenen, aber dennoch scharf genug ausgeprägten Gesänge tief in das musikalische Ohr ein und bilden sich später darnach größtentheils aus. Außerdem hören sie noch solche Vögel locken und singen, welche draußen bis in den Herbst hinein sich vernehmen lassen.

Gemäß unseren Erfahrungen müssen wir der Meinung entgegentreten, welche ebenfalls, wie so mancher andere Irrthum, in sehr verbreiteten Büchern ausgesprochen ist, daß der Dorndreher, alt eingefangen, schwer zu zähmen sei. Abgesehen von Individuen, die sich alsbald nach der Versetzung in den Käfig durchaus nicht stürmisch, sondern ziemlich ruhig, besonnen, wir möchten sagen, gewissermaßen heimisch betragen, haben wir auch sehr wilde Exemplare bald zu artigem Benehmen gebracht, dadurch, daß wir sie in das bewegte Treiben der Wohnstube an ein helles und doch dabei geborgenes Plätzchen versetzten. Bei solchen Polterern wurde natürlich immer erst abgewartet, bis sie in einsamer Stube entweder Käfer und Mehlwürmer oder rohes Fleisch angenommen hatten, während andere Exemplare vor unseren Augen sogleich das dargebotene Futter sich wohlschmecken ließen. Wohl giebt es entsprechend der Individualität anderer Vögel auch unter den Dorndrehern störrische Gefangene, die man am besten, sobald man hartnäckige Verweigerung der Annahme des Futters wahrgenommen hat, rasch und entschlossen wieder freilassen soll.

Solche Vorkommnisse sind aber äußerst selten. Wo täglich frische Ameisenpuppen zu erhalten sind, bewährt sich diese Nahrung als die gesündeste und den Gesang am meisten anregende. Es fällt auch nicht schwer, den Vogel gleich anfangs daran zu gewöhnen, wenn man von ihm nicht mehr verschmähte Mehlwürmer in kleine Stücke zerschneidet und den frischen Puppen beimischt. Oft schon nach wenigen Tagen erhebt dann der Vogel seinen Gesang und läßt ihn selten in den Stunden des hohen Tages verstummen. Dadurch, daß er an den Anblick der auf- und abwandelnden Menschen sich gewöhnt, wird die Gesangslust gesteigert. Besonders ist es das weibliche Personal, welches ihm sehr bald sympathisch wird, weil dieses ihn fortwährend umgiebt und nicht beunruhigt und ängstet. Scheinbare Gleichgültigkeit der Umgebung zähmt ihn, wie ja auch die übrigen Stubenvögel, am leichtesten. Die Unterscheidungsgabe, welche er den mannigfaltigen Erscheinungen in seiner Nähe gegenüber beweist, zeugt von Intelligenz.

Dank diesen seinen Eigenschaften ist der Dorndreher in letzter Zeit ein sehr beliebter Stubenvogel geworden, und dies gab Gelegenheit, einen tiefern Einblick in sein Wesen zu gewinnen.

Ganz gegen Erwarten sind jedoch Versuche mißlungen, aufgefütterte Nestlinge zu Meistersängern dadurch heranzubilden, daß man sie mit vielen ausgezeichneten Singvögeln zusammenbrachte. Sie reichten nicht entfernt an die Meisterschaft der alten Wildfänge hinan. Der Einfluß des Freilebens auf die Entwickelung und Ausbildung des Gesangs wird also hier durch die sorgfältigsten künstlichen Veranstaltungen nicht ersetzt.

Karl Müller.