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Das neueste deutsche Bühnendrama

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Textdaten
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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Das neueste deutsche Bühnendrama
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 3, 12, 20, S. 43–46, 200–203, 334–336
Herausgeber: Ernst Ziel
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1884
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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[43]

Das neue deutsche Bühnendrama.

Von Rudolf von Gottschall.
I.

Wie steht es mit dem deutschen Theater? So viele Klagen werden darüber laut; doch noch immer ist es eine Culturmacht, und jeder aus dem Publicum hat doch ein stärkeres oder schwächeres Interesse dafür. Es ist wahr, von einem Aufschwung der Bühne ist nichts zu merken, aber auch viele Klagen über den Verfall derselben sind übertrieben.

Am wenigsten kann ein Vergleich mit dem Theater unserer classischen Epoche für das unserige ein so niederdrückendes Resultat ergeben. Die Stücke Lessing’s und Schiller’s kamen damals wohl zur Aufführung; aber sie beherrschten nicht das Repertoire; Goethe’s Dramen wurden sehr selten gegeben; einige machten bei der Aufführung Fiasco, wie „Die natürliche Tochter“ in Berlin. Schiller selbst klagt darüber, daß es nur Festtage der Theater seien, wenn seine Stücke gegeben würden; das Alltagsrepertoire, welches für das tägliche Unterhaltungsbedürfniß des Publicums sorgte, setzte sich aus den Stücken von Iffland, Kotzebue und anderen zum Theil namenlosen und heute vergessenen Poeten zusammen. Diese überwiegende Herrschaft des Familiendramas, das oft in’s Criminaldrama überging, hat Schiller selbst in seiner Parodie „Shakespeare’s Schatten“ gegeißelt.

Es ist keine Frage, daß Schiller’s Trauerspiele jetzt viel häufiger gegeben werden, als zu Lebzeiten des Dichters; manche Bühnen veranstalten sogar Schiller-Cyklen, in denen die Werke des großen Dichters hinter einander und gewissenhaft in ihrer Zeitfolge zur Darstellung kommen. Auch von Goethe-Cyklen weiß die Chronik der deutschen Theater zu berichten; wer dachte damals an eine Aufführung von Goethe’s „Faust“? Und als man kurz vor dem Tode des Dichters daran zu denken begann, da handelte es sich nur um den ersten Theil; der zweite, der eben erschienen war, blieb schon bei der Lectüre eine harte Nuß und Niemand hätte gewagt, sie durch ein Theaterpublicum knacken zu lassen. Von Shakespeare wurden nur die großen Meisterwerke aufgeführt; von einer Aufführung des Historiencyclus war nicht die Rede. Schiller, durch die Lectüre desselben begeistert, sprach einmal davon in einem Briefe; doch es war nur ein zufälliger Bühnengedanke, eine Art von Zukunftstraum – keiner der damaligen Bühnenleiter hätte sich daran gewagt, diese Historien im Zusammenhang zu geben; man kannte überhaupt damals die Cyklen nicht. Welche Cyklen sind neuerdings mit Shakespeare’schen Lustspielen gemacht worden! Die unmöglichsten hat man eingerichtet, von den besseren gehören einige zum eisernen Inventar unserer Bühne.

Kurz, das Repertoire unserer classischen Epoche war bei weitem nicht so classisch, wie das heutige ist; freilich hatten die Dichter auch damals freie Hand; die Tradition mit ihren berechtigten Meisterwerken und ihrem unberechtigten Wust lastete nicht auf ihnen. Das ist heute ganz anders! Die Summe jener classischen Werke beherrscht die Bühnen; ein neues Dichterwerk muß sich durch sie hindurchdrängen, wenn es Platz finden soll. Die Bühnenleiter, besonders die vornehmen, glauben der ernsten Dichtung die nöthige weihevolle Beachtung gesichert zu haben, wenn sie jene Werke zur Aufführung bringen; geben sie gar den ganzen Goethe’schen „Faust“ an zwei oder drei Abenden, oder lassen sie eine ganze Woche lang allabendlich die Sporen der Shakespeare’schen Könige, Fürsten und Ritter über die Bretter klirren, so haben sie einen Ueberschuß von guten Werken, der ihnen den Glorienschein des feinen Kunstsinns einbringt.

Hierzu kommt, daß die Zahl der classischen Bühnendichter sich neuerdings vermehrt hat: Heinrich von Kleist, der bei Lebzeiten keines seiner Stücke auf der Bühne sah, der Liebling der Essayisten, die sich an ihm ihre kritischen Sporen verdienen, ist jetzt in ihre Reihe miteingerückt, und die Ehrenrettung dieses bei Lebzeiten so erfolglosen Dramatikers erstreckt sich nicht blos auf seine besten Stücke; man experimentirt mit ihm wie mit Shakespeare und bringt auch seine gewagtesten dramatischen Dichtungen auf die Bühne. Außer ihm ist auch der österreichische Classiker Grillparzer unter die Unsterblichen aufgenommen worden, welche jede Direction respectiren muß.

Die Werke dieser Dichter bilden das Stammrepertoire der großen Hof- und Stadttheater, das Repertoire der berühmten Gastspieler und dasjenige, aus dem in der Regel die Debütrollen der Tragöden gewählt werden.

[44] Die nächstfolgende Generation dramatischer Dichter hatte schon einen schweren Stand. Am erfolgreichsten bewährte sich Friedrich Halm mit seinen Dramen: „Griseldis“, „Der Sohn der Wildniß“, „Der Fechter von Ravenna“, ja er stellte lange Zeit mit diesen Werken seinen österreichischen Collegen Grillparzer in den Schatten, der erst von Laube wieder entdeckt werden mußte, um dann mit dem ambrosischen Lichte seines Talentes und der Gaskrone seines großartig gefeierten Jubelfestes alle dichtenden Stammesgenossen zu überstrahlen. Die Dramen von Prutz und Mosen sind gänzlich vom Repertoire verschwunden; von Mosenthal’s größeren Dichtwerken behauptet sich nur „Deborah“, von Gutzkow’s Tragödien „Uriel Acosta“, von denen Laube’s „Graf Essex“.

Diese drei letzteren Stücke haben neben den classischen Wurzel geschlagen in dem Repertoire der Gegenwart und werden auch an den kleinsten Bühnen gegeben. In geringerem Maße gilt dies von einigen Dramen, welche indeß auf größeren Bühnen doch noch wiederholt zur Aufführung kommen: von Geibel’s „Brunhild“, Putlitz’ „Testament des großen Kurfürsten“, Lindner’s „Bluthochzeit“, von „Katharina Howard“ und „Mazeppa“.

Der Tragödie wird es schwer, durchzudringen; so lange die classischen Dramen noch begeisterten Anklang finden, kann man nicht einmal sagen, daß der Geschmack des Publicums sich ihr abgewendet habe; er verhält sich nur spröde gegenüber neuen Erscheinungen, denen nicht von Hause aus ein so glänzender Geleitbrief mitgegeben ist, wie den durch hundert Commentare verherrlichten Dichtwerken der großen Meister. Ja, wo der Autor nach dichterischer Bedeutung strebt, da pflegt die Kritik den strengsten Maßstab anzulegen, oder sie nimmt gar den Maßstab von den erfolgreichen ephemeren Tagesproducten und läßt dann manches treffliche Werk klanglos in den Orcus der Langenweile hinabgleiten, welche vielleicht der Kritiker selbst empfindet. Jede Kritik ist nicht blos eine Kritik des besprochenen Werkes; sie ist auch immer eine Selbstkritik, und wie geistig tief stehen oft die Tagesrecensenten unter dem Dichter, über dessen Werke sie zu Gericht sitzen!

Doch auch die tragischen Darsteller und Darstellerinnen, welche eine hochgestimmte Dichtung mächtig zu tragen wissen, sind in Deutschland gegenwärtig so selten, daß einzelne Fächer an ersten Bühnen gar nicht oder in ungenügender Weise besetzt sind. Ein jugendlicher Nächwuchs mag die „Essex“ und „Uriel Acosta“ zur Geltung bringen; aber die wuchtvollen Helden der Tragödie, die „Macbeth“, „König Lear“ und „Wallenstein“ sind auf den Aussterbeetat gesetzt. An gefühlsinnigen Gretchen und Clärchen ist kein Mangel; auch für „Maria Stuart“ und ähnliche Rollen, die an der Grenze des Hochtragischen stehen, reichen die geistigen und äußeren Mittel vieler Darstellerinnen noch aus; aber was über diese Grenze hinausreicht, das findet meistens nur versagende schauspielerische Kräfte.

Unter diesen Umständen wird es den jüngeren Tragödiendichtern nicht leicht, die Bühne für ihre Werke zu erobern; sie bleiben meistens auf die Buchdramatik beschränkt, die, von opferlustigen Verlegern gepflegt, bei uns gehörig in’s Kraut schießt. Selbst die Preisertheilungen, auch wenn sie von hochangesehenen staatlichen Commissionen ausgehen, sind meistens ein Schlag ins Wasser: welches von den Stücken, denen der Berliner Schiller-Preis zu Theil geworden ist, hat sich auf der Bühne erhalten? Einige sind nur höchst sporadisch, andere gar nicht zur Aufführung gekommen. Die deutschen Bühnendirectoren lassen sich einmal nicht imponiren: sie wissen, wo Bartel den Most holt, an der Casse nämlich; der Cassenrapport regiert die deutsche Bühne. Daran kann keine ästhetische Autorität etwas ändern.

Sehen wir uns indeß die dramatischen Dichter höheren Stils etwas näher an, die trotz aller dieser Hindernisse in jüngster Zeit mit ihren Werken auf die Bühne gedrungen sind.

Da begegnet uns zunächst Adolf Wilbrandt, der jetzige Director des Wiener Burgtheaters, eine liebenswürdige dichterische Individualität, feingebildet, geistig zart organisirt und doch des tragischen Pathos mächtig; ihm ist es gelungen, sogar mit Römertragödien auf der Bühne schöne Erfolge zu erringen. Sein bedeutsamstes Werk ist das Trauerspiel „Arria und Messalina“. Die Kritik hat viel daran herumgemäkelt; die geniale Wüstheit der Cäsarenzeit erschien zu treu in diesen Situationen abgespiegelt. Vielen war die Messalina zu lasterhaft; uns würde eher die Arria zu tugendhaft erscheinen. Doch den Maßstab für die Bedeutung eines Dichterwerkes können nicht derartige fertige Censuren an die Hand geben: das Stück ist ein kühner Wurf und zeugt von ungewöhnlicher Begabung. Daß die üppige Kaiserin Messalina den Sohn der tugendstrengen Arria in ihre Netze lockt, ist für den Gegensatz der beiden Frauen eine wohlerfundene Handlung; Marcus fällt nicht wie der „Fechter von Ravenna“ durch das Schwert seiner Mutter; aber er tödtet sich selbst, als ihm diese die ganze Schmach vorhält, der er verfallen ist. Die Römertugend der Arria und des Pätus, welche sich der Gewalt der verbrecherischen Kaiserin durch freigewählten Tod entziehen, ist mit starken Zügen gezeichnet, mit dem üppigsten und dämonischen Colorit aber der Charakter Messalina’s selbst ausgemalt, mit seiner ganzen Weltmüdigkeit und Blasirtheit und dem dithyrambischen Cymbelschlag unersättlicher Genußsucht: es sind Farben von Makart und Hamerling, mit denen Wilbrandt dies dramatische Gemälde ausgeführt hat.

In Charlotte Wolter fand er eine Darstellerin der Messalina, welche durch die geniale Kühnheit ihrer Darstellung damit Sensation machte und andere Tragödinnen zur Nacheiferung anspornte: hier zeigte sich wiederum, daß, wie die umherflatternden Insecten die Blumen befruchten, so die umherreisenden Darsteller vorzugsweise den Blüthenstaub neuerer Dichtung über die Bühnen verbreiten.

Wilbrandt’s zweite Römertragödie „Gracchus der Volkstribun“, an der Burg mit großem Erfolg, in Norddeutschland vorzugsweise bei Ludwig Barnay’s Gastspielen aufgeführt, in Wien mit dem Grillparzer-Preis gekrönt, hat dramatische Züge von markigem Gepräge und Scenen von großer Bewegung wie diejenige zwischen Gracchus und Scipio am Schlusse des dritten Actes. Weniger indeß seine Begeisterung für die Sache des Volkes als sein pietätvolles Streben, den ermordeten Bruder zu rächen, ist das Motiv für das Auftreten des Helden; überhaupt erscheint er durchweg als ein leidenschaftlicher Gemüthsmensch, nicht als eine erzene Römergestalt, wie man sich den tapfern Volkstribunen vorzustellen geneigt ist.

In „Chriemhild“, dem mit dem Schiller-Preise gekrönten Trauerspiele Wilbrandt’s, das aber nur über wenige Bühnen ging, hat der Dichter versucht, ein Nibelungendrama ohne Brunhild zu schreiben. Alle sagenhaften Motive sind beseitigt; dafür ist aber ein Shakespeare’sches Gespenst eingeführt, Siegfried’s Kopf, welcher Chriemhildens zögernden Entschluß durch sein bejahendes Nicken entscheidet, und die große Schlächterei im Schlosse Etzels, dies unvermeidliche wüste Schlußtableau aller Nibelungentragödien, entläßt die Hörer mehr mit dem Eindrucke des Gräßlichen als des Tragischen. Dafür ist der erste Act von bestrickender dichterischer Schönheit; auch die beiden andern enthalten Scenen, wie sie nur ein echter Poet zu schaffen vermag. Wie Wilbrandt sich als Schau- und Lustspieldichter zeigt, werden wir später sehen: in seinen Tragödien bewährt er ein hervorragendes Talent, einen ausgeprägteu Sinn für theatralische Wirkung und hohen dichterischen Schwung.

Beides, wenn auch das zweite in geringerem Maße, findet sich in den Werken eines Dramatikers, dessen Name, obschon er nur das dem großen Publicum eigentlich unbequeme Genre des Trauerspiels angebaut hat, in jüngster Zeit auf fast allen deutschen Theaterzetteln zu lesen war. Ernst von Wildenbruch hat sich im Sturm die Bühnen erobert, nachdem er lange Jahre hindurch mit großer Resignation die Kinder seiner Muse in seinem Pulte bewahren mußte, wohin sie stets zurückkehrten, nachdem sie vergeblich bei den Intendanzen angeklopft hatten. Sein dramatisches Talent hat einige Verwandtschaft mit demjenigen von Wilbrandt, besonders was die Gabe betrifft, die Vorgänge auf der Bühne effectvoll zu steigern; er hat jene scenische Anschauung, welche für den Dramatiker unerläßlich ist. Die Situationen, die er uns vorführt, weiß er kräftig und markig hinzustellen, aber die Motivirung schwebt oft in der Luft; den Charakteren fehlt die innerliche Vertiefung; er liebt das Herbe und Schneidige und erinnert im Ausdrucke mehr an die genialen Kraftdramatiker als an Schiller. Für Scenen des Affectes und der Leidenschaft besitzt er durchgreifende Kraft; nur bisweilen finden sich bei ihm Härten des Ausdrucks, schiefe und geschmacklose Bilder.

Das beste seiner Stücke in Bezug auf den dramatischen Aufbau ist „Der Mennonit“; es behandelt überdies ein interessantes Problem, dasjenige des persönlichen Muthes, der durch die [46] Satzungen der Gemeinde geächtet wird. In diesem Kampfe unterliegt der Held. Den Hintergrund bildet die Zeit der Demüthigung Preußens durch die Oberherrschaft Frankreichs. Der dramatische Stil dieses Dramas steht nicht auf gleicher Höhe mit seiner künstlerischen Architektonik; ihm fehlt jene hinreißende Leidenschaftlichkeit, die sich in den „Karolingern“ und in „Harold“ findet; der letzte Act des „Mennonit“ ist ganz flache Reliefarbeit.

Der Held der „Karolinger“ ist Bernhard Graf von Barcelona, ein thatkräftiger Mann in einer Zeit des Verfalls und der Zerrüttung, als Ludwig der Fromme, der das Reich zwischen seinen drei Söhne getheilt hatte, die Kaiserkrone trug. Seine zweite Frau, Judith, von der er einen Sohn Karl hat, nimmt für diesen das gleiche Recht, einen Theil des Reiches in Anspruch. Bernhard liebt die Kaiserin; er trachtet nach ihrer Hand und nach der Krone, auf einem kleinen Umwege, indem er vorher Judith’s Sohn zum Kaiser krönt: er vergiftet Ludwig, wird aber von den Söhnen desselben im Kampfe getödtet. Es ist eiserne Kraft in diesem Helden; aber er ist gewissenlos, ganz anders als Shakespeare’s dämonische Charaktere Macbeth und selbst der eingeteufelte Richard III., die von den Qualen des Gewissens zerfleischt werden. Diesen Bernhard stört keine innere Stimme in seinem Vorgehen; er tödtet seine frühere Geliebte ohne inneren Kampf vorher, ohne eine Spur von Reue nachher. Einzelne Scenen des Stückes, wie die Liebesscene mit der Kaiserin, haben einen großen und bedeutsamen Zug.

Der Held des Trauerspiels „Harold“ ist der Sachsenkönig, der auf dem Schlachtfelde von Hastings dem Normannen-Herzog Wilhelm erliegt. Den Angelpunkt der Handlung bildet der Eid, den Harold in der Normandie schwört, die Ansprüche Wilhelm’s auf die englische Krone unterstützen zu wollen: ein Eid, den er bricht, als ihn selbst das englische Volk zum König wählt. In Wildenbruch’s Stück läßt sich Harold überlisten; die geistesbeschränkte Unbedachtsamkeit setzt den Helden in unseren Augen zu sehr herab. Die beiden ersten Acte haben eine dramatisch lebendige Exposition; der letzte klingt poetisch stimmungsvoll aus.

Wildenbruch’s Drama „Väter und Söhne“ zerfällt in zwei Haupttheile, die in der Zeit aus einander liegen; das Stück löst sich überhaupt in eine Reihe Tableaux auf, hat einen sehr matten letzten Act und ist in seiner Ausführung von oft abstoßender Herbheit.

Einige andere Dramatiker, die trotz der Ungunst der Zeiten zum Banner der Melpomene schwören, werden wir in unserem nächsten Artikel näher ins Auge fassen und uns dann den mit günstigerem Fahrwind segelnden Lustspieldichtern zuwenden.



[200]
II.[1]

Ein anderer jüngerer Tragödiendichter, welcher der kraftgenialen Schule allgehört und seinen Werken eine etwas grell pessimistische Färbung ertheilt, Richard Voß, der Verfasser der „Scherben“, die meistens aus zertrümmerten Idealen bestehen, hat ebenfalls dramatische Preise erhalten, nicht wie Wilbrandt den Schiller- und Grillparzer-Preis, aber diejenigen, welche die Frankfurter Intendanz und das Mannheimer Hoftheater ausgesetzt hatten. Die geistige Atmosphäre der Vossischen Dichtungen hat etwas Schweres, Trübes, Vulcanisches; man bewegt sich oft wie im Rauchgewölk, das von Blitzen zerrissen wird; unheimliches unterirdisches Tosen kündigt gewaltsame Katastrophen an. Als das beste der Dramen von Richard Voß erscheint uns das Trauerspiel „Savonarola“, in welchem die dramatische Haltung noch am meisten harmonisch und edel ist; doch das Stück ist nie zur Aufführung gekommen. Die in Frankfurt gekrönte „Patricierin“ dagegen ist auf einigen der ersten Bühnen gegeben worden. Die Heldin des Stückes ist des Prätors Crassus Gemahlin, des Brudermordes Furie, ein stolzes, wildes Weib, entbrannt für den Sclavenführer Spartacus in einer zwischen Haß und Liebe schwankenden Leidenschaft. Sie vergiftet ihre Sclavin Hero, welche Spartacus liebt. Die großen Scenen zwischen ihr und dem Geliebten haben einen oft hinreißenden leidenschaftlichen Zug und sind auch theatralisch geschickt inscenirt; namentlich gilt dies vom vierten Acte, in welchem viel dramatische Bewegung ist: Spartacus erscheint von Liebe entflammt; aber der Anblick der Leiche der gemordeten Hero wandelt die Liebe in wilden Haß. In diesen Scenen zeigt sich Richard Voß als Schüler Wilbrandt’s, der auch das Geheimniß effectvoller theatralischer Steigerung besitzt. „Die Patricierin“ ist wie „Savonarola“ in Versen geschrieben. Die beiden neueren Prosastücke von Voß, „Pater Modestus“ und „Luigia Sanfelice“ entbehren den Halt, welchen der Vers unleugbar giebt; sie sind daher zerfahrener und wüster; der Diction fehlt es nicht an jenen ausschweifenden Hyperbeln, welche der Schillerschen Jugenddichtung eigenthümlich sind. Beide Stücke spielen in Italien, das erste in der Campagna in neuester Zeit. Pater Modestus ist nicht nur eine Art Pater Lorenzo, welcher hinter dem Rücken der Eltern ein liebendes Paar traut; er hat selbst eine Tochter, die gegen seinen Willen in’s Kloster gebracht wird und die er zu befreien sucht, ehe sie auf immer gebunden ist; er greift zuletzt zu einem verzweifelten Mittel, indem er das Kloster mit Hülfe der Hirten in Brand steckt. Die feindlichen Principien des starren Kirchenthums und der weltmännischen Aufklärung sind durch die Fürstin Romanella und den Grafen della Rocca in markiger Zeichnung vertreten. Das ganze Stück athmet die Freigeisterei der Leidenschaft.

„Luigia Sanfelice“, in Mannheim mit dem Preise gekrönt, der aus Anlaß der Säcularfeier der „Räuber“ ausgesetzt wurde, spielt in Neapel zur Zeit der revolutionären Bewegungen um die Wende des Jahrhunderts; die Heldin verfällt dem Schaffot als ein Opfer jener Conflicte zwischen den wilden Republikanern und den noch wilderen Royalisten, deren Glaubensarmee mit fanatischer Wuth Tausende dem Moloch ihrer Rache schlachtet; sie rettet den Geliebten vor der Proscription und verräth dadurch die Pläne der Gegner. In der athemlos einherstürmenden Handlung mit ihren grellen Motiven und Contrasten fehlt es zu sehr an Ruhepunkten; auch die Diction hat etwas Tumultuarisches. Daß Luigia Sanfelice im Kerker eines Kindleins genas, machte ihr Loos doppelt bedauernswerth; doch besonders in der ersten Bearbeitung war es dem Dichter nicht gelungen, dies für Bühnenaufführungen stets gefährliche Kind seiner Eigenschaft als enfant terrible ganz zu entkleiden. Das an einigen Bühnen gegebene Schauspiel: „Der Mohr des Czaren“ enthält eine barocke Mischung von Motiven des Intriguenlustspiels und der dichterischen Tragödie; es ist interessant, macht aber durchaus keinen harmonischen Eindruck. Voß ist der begabte Stürmer und Dränger unter den neuern Poeten; ihm ist künstlerische Klärung wünschenswerth, die er merkwürdiger Weise in seinen ersten Stücken mehr erreicht hat als in seinen letzten.

Wir können dem vereinzelten Aufleuchten jüngerer tragischer Talente, deren Stücke hier und dort an dieser oder jener Bühne gegeben werden, hier nicht näher folgen; nur erwähnen wollen wir noch, daß auch einzelne ältere Dramatiker sich mit sehr sporadischen Aufführungen ihrer neuen Stücke begnügen müssen. Das gilt von Joseph Weilen, dessen „Tristan“ durch edeln dichterischen Schwung, dessen „Graf Horn“ sich durch geistreiche und theatralisch wirksame Fassung hervorthat, dessen „Edda“ und „Drahomira“ seinerzeit über die meisten Bühnen gingen, der aber mit seinem neuesten Drama „König Erich“, trotz einzelner ergreifender Situationen von tragischer Kraft, keinen Treffer des Erfolges gezogen hat; dies gilt von Heinrich Kruse, dem wackern publicistischen Veteranen, der fast alljährlich ein neues Drama erscheinen läßt, aber immer mehr in den Kreis der Buchdramatik zurückgedrängt wird. Seine „Gräfin“, die bei dem Berliner Schiller-Comité und bei der Kritik Anerkennung gefunden, sein „Wullenweber“ wurde an einigen ersten Bühnen gegeben; um die meisten späteren Dramen kümmerten sich die Directoren nicht mehr; nur neuerdings ist sein Drama „Raven Bornekow“ unter dem Titel „Otto Voge“ am Stuttgarter Hoftheater mit Erfolg in Scene gegangen. Es hat die Vorzüge aller Kruse’schen Dramen: lebenswahre Charakteristik, einen Stil von einer oft köstlichen Naivetät und einen oft edeln Schwung, doch auch ihre Schattenseiten: eine mehr epische Zersplitterung der Handlung, den Mangel an einem die Spannung erregenden Aufbau, eine oft chronikartige Trockenheit des Stils und überwiegende, anekdotenhafte Verzierung.

Paul Heyse, der hervorragendste deutsche Novellist und feinfühlige Dichter, hat vorzugsweise mit seinem Schauspiel: „Hans Lange“, das sich durch genrebildliche Scenen und charakteristische Kraft auszeichnet, und durch sein, von patriotischem Schwung beseeltes und in den Volksscenen mit feiner Laune charakterisirendes Drama: „Colberg“ die Bühnen auf die Dauer erobert; seine neuesten Trauerspiele: „Graf Königsmark“ und „Elfriede“, denen sich der in Weimar aufgeführte „Alcibiades“ anschließt, verdienen mehr Anerkennung, als sie gefunden: sie sind mit feinem künstlerischen Geist componirt und auch die Sprache hat lebhafteren dramatischen Pulsschlag, als die früheren Stücke [202] des Dichters. Neuerdings hat er ein durchaus originelles und geistreiches Drama: „Don Juan’s Ende“ geschaffen, in welchem er uns den spanischen Libertin als Vater eines wieder aufgefundenen Sohnes vorführt und ihn wie einen neuen Empedokles in den Flammen des Aetna untergehen läßt. An dieses Stück haben sich die Bühnen noch nicht gewagt, während sein Schauspiel: „Das Recht des Stärkern“, obwohl in seinen Grundzügen durchaus novellistisch, in Hamburg und Berlin mit Erfolg aufgeführt wurde.

Felix Dahn, dessen „König Roderich“ als dramatischer Culturkämpfer seinerzeit großen Erfolg hatte, pflegt neuerdings mehr das mittelalterliche Lustspiel. Der jüngst verstorbene türkische Gesandte Murad Efendi zeigte in seinen „Selim“ „Mirabeau“ und „Marino Falieri“, sämmtlich Dramen, die an großen Bühnen zur Aufführung gekommen sind, den echten Pulsschlag dramatischen Lebens, die feurigen Ergüsse leidenschaftlicher Kraft, ohne welche eine Tragödie nicht denkbar ist, während der preisgekrönte Dichter des „Brutus und Collatinus“, Albert Lindner, mit seinen ästhetisch ungeläuterten Dramen plötzlich von der Bühne verschwunden wäre, wenn nicht die Meininger sein bestes, allerdings auch von der Shakespearomanie angekränkeltes Drama: „Die Bluthochzeit“, bei ihren Tournées auf ihrem Repertoire erhielten.

Ein kühner Wurf war das Trauerspiel von Arthur Fitger: „Die Hexe“; es ist ebenso viel Volksthümliches wie Sensationelles in diesem von grellen Lichtern beleuchteten Gemälde; überall aber zeigt sich dramatisches Mark. Wo die eine Scene gemildert wurde, in welcher das Gebahren der freigeistigen Heldin allzu verletzend und renommistisch war, hat das Stück, bis auf den schwachen letzten Act, eine starke Wirkung nicht verfehlt.

Wenn das Theaterpublicum allen diesen Trauerspielen mit einer gewissen Reserve gegenübertritt und sich zum Enthusiasmus so selten wie möglich hinreißen läßt, es müßte denn ein zeitungsberühmter Künstler denselben als schuldigen Tribut verlangen, so zeigt es dagegen warme Theilnahme für das höhere Conversationsstück, mag dies nun ein Rührstück, eine comédie larmoyante sein oder ein Salonlustspiel, oder ein bürgerliches Lustspiel; hier aber ist das Gebiet, wo die Franzosen uns auf unserem eigenen Boden besiegt haben; die großen Erfolge gehören Stücken wie „Fernande“, „Dora“, „Odette“, „Feodora“ an. Der auf der Bühne erfolgreichste Dramatiker der Gegenwart in Deutschland heißt Victorien Sardou; doch auch Emil Augier und Alexander Dumas der jüngere theilen sich in diese Theaterlorbeeren. Soweit es sich um hervorragende Talente einer Nachbarnation handelt, brauchte man gegen diese Aneignungen wenig Einwendungen zu machen, denn die Empfänglichkeit für das Schöne aller Zeiten und Völker ist ja ein anerkennenswerther Zug unserer universalen Bildung; der Sinn für die Weltliteratur, den ein Goethe gepflegt hat, darf uns nicht zum Vorwurf gemacht werden. Schlimm steht es nur mit dem gegenseitigen geistigen Austausche der Grenznationen, dessen Gleichgewicht doch als eine nationale Ehrensache betrachtet werden sollte: der deutsche Export nach Frankreich steht mit dem französischen Import in Deutschland in gar keinem Verhältniß; er ist, was das Drama betrifft, gleich Null, denn es wird kein neues deutsches Schauspiel in Paris aufgeführt. Umgekehrt werden aber nicht blos die Werke jener hervorragenden Talente, sondern überhaupt alles, was auf einer Pariser Bühne erscheint, selbst wenn es dort Fiasco gemacht hat, nach Deutschland eingeführt: so groß ist der Heißhunger der Theater in den Hauptstädten nach französischer Nahrung; die Directoren wallfahren nach dem Seinebabel, suchen sich dort in den Antichambres der Poeten und Agenten den Rang abzulaufen und zahlen ihnen, außer den Tantiemen, noch bedeutende Prämien welche deutschen Dramatikern nie gezahlt werden. Das ist beschämend für unseren nationalen Ruf, wir erscheinen dadurch als eine geistig insolvente Nation ganz im Schlepptau unserer überlegenen Nachbarn.

Ein befremdendes Symptom dabei ist es, daß sich das deutsche Publicum in französischen Stücken allerlei gewagte Probleme gefallen läßt, die ein deutscher Autor nicht auf die Bühne bringen darf. Auch die geschicktesten Nachahmer der neuen Franzosen schrecken daher vor solchen Wagnissen zurück. Einer der gewandtesten Jünger der französischen Schule, Paul Lindau, der ihr nicht nur manchen Kunstgriff der dramatischen Technik abgelauscht hat, sondern auch zum Vortheil unseres Lustspiels wie jene einen eleganten Dialog mit größeren geistigen Perspectiven pflegt, kommt in seinen Salonstücken nicht über kleinbürgerliche Motive hinaus, indem er, „der Noth gehorchend, nicht dem eigenen Trieb“, alles in usum Delphini abzuschwächen sucht. So sind die Voraussetzungen seines besten Dramas „Maria und Magdalena“ so kindlicher Art, so confirmandenhaft zugestutzt, daß man gar nicht begreift, wie sich aus diesen Pensionsspielereien eine so ernste Handlung entwickeln kann. Ein französischer Autor hätte diese Vorgeschichte in ein ganz anderes Licht gerückt.

Paul Lindau hat mit seinen jüngsten Dramen nicht gleichen Beifall errungen, wie mit „Maria und Magdalena“, und „Ein Erfolg“, einem Stücke von höchst dünner Handlung und spärlicher Erfindung, das aber durch geistvollen Dialog und einige glücklich gezeichnete episodische Figuren, durch eine gewisse renommistische Frische das Publicum interessirte, besonders bei der vortrefflichen Aufführung am Wiener Burgtheater. „Johannistrieb“ und „Jungbrunnen“ sind immerhin fein entworfene Stücke mit stimmungsvoller Beleuchtung und geistigen Parallelen: doch es fehlt die rechte dramatische Spannung, das pièce de résistance in der Handlung, und gewisse stereotype Manieren des Dialogs und die stereotypen Gesichter der mehr französischen als deutschen ingénues, der unbeschriebenen weißen Blätter, die als Mädchencharaktere durch die Handlung flattern, schwächen den Eindruck der jüngsten Productionen Lindau’s wesentlich ab.

Auch Adolf Wilbrandt ist auf diesem Gebiete fruchtbar gewesen. Seine Einacter „Jugendliebe“, „Unerreichbar“, „Durch die Zeitung“ sind kleine Cabinetsstücke von feinstem Schliff espritvoller Conversation, die auch seinem Lustspiele „Die Maler“ ein anziehendes Gepräge giebt. Der erste Act derselben ist einer der besten Lustspielacte, von feiner Jovialität durchdrungen. Andere Lustspiele Wilbrandt’s waren Nieten, ein Schlag in’s Wasser: effectvoll dagegen war das Criminal-Schauspiel „Die Tochter des Fabricius“, in seinen Hauptscenen, wenn sie auch auf einem etwas grellen Canevas aufgetragen waren, ergreifend und erschütternd.

Ein sehr fleißiger Schauspieldichter ist Hugo Bürger, der jetzt sein Pseudonym abgelegt und sein letztes Stück „Aus einer Großstadt“ mit seinem Namen Hugo Lubliner veröffentlicht hat. Bürger’s Stücke haben meistens eine etwas weitläufige Anlage: er liebt es, mehrere Handlungen neben einander hergehen zu lassen, und es glückt ihm nicht immer, sie einheitlich zu verschmelzen. Er ist sehr sorgsam in den Motivirungen, aber er geräth gerade dadurch bisweilen in ein anfechtbares Detail. Sein Dialog ist die Sprache der gebildeten Conversation, sein Esprit nicht so leichtgeflügelt wie derjenige Lindau’s, aber doch nicht arm an glücklichen Wendungen.

Am meisten Erfolg hatte sein Lustspiel „Die Frau ohne Geist“. Warum die Heldin, die ein kluges Mädchen ist, die „Frau ohne Geist“ spielt, das ist vielfach motivirt, aber es fehlt das recht durchschlagende Motiv. Am Schluß des zweiten Actes wirft sie die Maske ab und erobert den Gatten; in den zwei letzten Aufzügen rächt sie sich als „Frau von Geist“ an einer Gegnerin und Nebenbuhlerin. Eine romantische italienische Novelle, welche man „Die Bettlerin von Santa-Croce“ nennen könnte, wird dann ohne jede durchgreifende Beziehung zur Haupthandlung noch in das Stück eingefügt. Auch verspürt man in manchen Vorgängen den Parfüm Sardou’scher Reminiscenzen.

Einheitlicher, aber in der Durchführung weniger interessirend ist „Gold und Eisen“. Der Held ist ein Techniker, der die beste Methode erfunden hat, das Eisen vom Phosphor zu befreien; die Heldin ist durch frühere Actienspeculationen um ihr Vermögen gebracht worden; sie gewinnt das verlorene „Gold“ durch das phosphorfreie „Eisen“ wieder; es ist natürlich, daß auch die Herzen sich finden.

Das Lustspiel „Auf der Brautfahrt“ beruht auf der hergebrachten Komik der Verwechselungen; frischer und freier gearbeitet, ohne allzu schweren Ballast von Motivirungen, ist „Jourfix“. Der „Jourfix“ ist freilich nicht in den Mittelpunkt der Handlung gerückt und hat nur eine nebensächliche Bedeutung; aber in dem ganzen Lustspiele herrscht gute Laune. Der berühmte Reisende, der edle Rumäne, der fashionable leichtlebige Arzt sind gute Lustspiel-Charaktere.

In dem neuesten Lustspiel „Aus der Großstadt“ ist die Handlung wieder verwickelter, hier und dort sogar etwas verzwickt, aber das Stück enthält einige nicht uninteressante Charaktere und Situationen, und die wirksamen Lichter in Ernst und Scherz sind an der rechten Stelle aufgesetzt.

[203] Wie Hugo Bürger’s Stücke an die französische comédie, so klingen die neuesten von Gustav zu Putlitz an das skandinavische Schauspiel an. Der Intendant des Karlsruher Hoftheaters ist ein productiver dramatischer Dichter; sein historisches Schauspiel „Das Testament des großen Kurfürsten“, sein Trauerspiel „Don Juan d’Austria“, eine nicht geringe Zahl einactiger und mehractiger Lustspiele, welche der Schule von Roderich Benedix angehören, beweisen die Vielseitigkeit seiner Begabung. Es herrscht ein gemüthvoller Ton, sittliche Bravheit und Tüchtigkeit in seinen Dramen. Die beiden letzten, „Rolf Berndt“ und „Die Idealisten“, sind bürgerliche Rührstücke; das erste ist indeß bei weitem gelungener. Es ist ein Gemälde socialer Zustände der Gegenwart, zum Theil mit satirischen Lichtern beleuchtet, ganz im Stil der Dramen von Ibsen und Björnson gehalten, und führt uns vor, wie der gute Ruf eines tüchtigen Mannes, der von böswilligen Gegnern erschüttert wurde, wieder hergestellt wird. Einige Charaktere sind markig gezeichnet. Das Schauspiel „Die Idealisten“ hat keinen rechten dramatischen Halt; es beruht auf einem Mißverständniß, das schon bald nach dem Beginne des Stückes leicht aufgeklärt werden konnte. Ueberdies ist der „Idealismus“ hier auch nicht annähernd in seiner höheren Bedeutung gefaßt; die Helden desselben sind Gemüthsmenschen, aber mit stark philiströsem Beigeschmack.



[334]
III.[2]

Wie Putlitz, so verfolgten auch Leopold L’Arronge und Ernst Wichert in ihren Dramen eine Richtung, welche sich an diejenige von Roderich Benedix anschließt, während, wie wir gesehen, Paul Lindau und Hugo Buerger der neufranzösischen Sittenkomödie Gefolgschaft leisten.

L’Ärronge kommt von der Berliner Posse her und unterscheidet sich von Benedix gerade darin, daß er diese Herkunft nicht verleugnen kann und in seine Stücke einzelne oft sehr wirksame possenhafte Motive verwebt. So verdankt sein „Doctor Klaus“ einen nicht geringen Theil des großen Erfolges den Scenen im Sprechzimmer des Doctors, wo dessen Kutscher als Stellvertreter agirt und mit seinen Pfusch- und Wundercuren das Publicum höchlich ergötzt. Aehnliche komische Scenen und Motive finden sich in den „Sorglosen“, dem „Compagnon“ und andern Stücken, während Benedix mit einer gewissen Peinlichkeit alle Wirkungen verschmähte, die ihm aus der Lustspielsphäre herauszufallen schienen. Davon abgesehen hat aber L’Arronge mit Benedix den sittlichen Ernst gemein, den Trieb, die Menschen zu bessern und zu bekehren, indem er ihnen den Spiegel vorhält, in welchem sie ihre Fehler und Schwächen erblicken. Und zwar hat L’Arronge mit besonderer Vorliebe die verfehlten Erziehungsmethoden der Eltern, ihren Leichtsinn oder ihre allzugroße Strenge, ihre Affenliebe und grenzenlose Nachgiebigkeit satirisch gegeißelt. Seine Dramen bilden ein Album der pädagogischen Auswüchse und Krankheiten, und so anerkennenswerth dessen Tendenz ist, so kann doch durch die mannigfachsten Arabesken die Einförmigkeit derselben nicht ganz verdeckt werden.

Den ersten Schritt aus der Berliner Posse zum Volksdrama that L’Arronge mit „Mein Leopold“, einem Stücke, das als ein glücklicher Wurf bezeichnet werden muß. Obgleich noch behaftet mit dem gesanglichen Aufputze der Posse, entfaltet sich dasselbe doch zu einem Charaktergemälde mit tüchtiger gediegener Charakteristik: der in seinen Sohn kindisch verliebte Vater, der ihn durch Verwöhnung und Verzärtelung in’s Verderben stürzt, der wackere Schuhmachergeselle mit der göttlichen Grobheit, der soliden bürgerlichen Moral, das Vatersöhnchen selbst und seine brave Schwester: das sind tüchtige mit festem Griffel ausgeführte Zeichnungen, und auch die Scenen aus dem Volksleben sind frisch ohne schwankartige Aufdringlichkeit.

In dem Lustspiele „Hasemann und seine Töchter“ hat L’Arronge das letzte Band abgestreift, das seine Erzeugnisse an die Berliner Gesangsposse knüpfte; hier gab es weder Couplet, noch Gesang, obschon Papa Hasemann in seinen Coursbüchern und bei seinen Eisenbahnmalheurs reichlichen Stoff für derartige musikalische Ergüsse finden konnte. Die Töchter des Herrn Hasemann werden von der Mutter verzogen, bis es dem Vater zu bunt wird und er mit starker Hand das Steuerruder des auf den Wellen treibenden Familienschiffes ergreift. Es geschieht dies nicht ohne eine Art von gewaltsamem Ruck, bei welchem der Charakter etwas aus den Fugen geht. In den „Wohlthätigen Frauen“ wird die Vereinsmanie der Mütter gegeißelt, welche darüber ihre Kinder vernachlässigen, in „Haus Lonei“ die finstere Strenge der Väter, welche die Söhne zur Verzweiflung bringt: dies Stück hat ernste, fast tragische Reflexe. Im „Compagnon“ sehen wir einen allzu zärtlichen Vater, der bei seiner verheiratheten Tochter eine parasitische Existenz führt und dem jungen Ehepaare in jeder Hinsicht zur Last fällt: kurz, die Stücke von L’Arronge sind ein pädagogischer Spiegel, für Väter und Mütter und solche, die es werden wollen.

In „Die Sorglosen“ wird die Eitelkeit der Familien an den Pranger gestellt, die über ihre Verhältnisse hinaus leben und sich dabei noch von allerlei Hochstaplern düpiren lassen. L’Arronge tritt überall mit der handgreiflichsten moralischen Tendenz auf, weiß aber die bittern Pillen des Reformpredigers mit allerlei heiterem Ueberguß zu verzuckern. Dies gilt besonders von seinem „Doctor Klaus“, in welchem Stücke zwar auch der schwache und verblendete Vater nicht fehlt, in dessen Mittelpunkt aber ein tüchtiger bürgerlicher Charakter steht, welchem Pflichterfüllung das höchste Gesetz ist.

Ernst Wichert hat nie dem Cultus der Posse an den Ufern der Spree und der Panke gehuldigt; er lebt in der Stadt der [335] reinen Vernunft, und der Schatten Kant’s, der dort zwar nicht mehr auf seinem Philosophendamme wandern kann, seitdem ihn der Lärm der Locomotiven verscheucht hat, der aber doch von den Ufern des Pregels sich nicht vertreiben läßt, stimmt hier die Jugend ernster. So hat auch Wichert anfangs historische Dramen gedichtet, wie der „Wiking von Samland“, ehe er der heitern Muse huldigte. Sein glücklichster Wurf auf dem Gebiete des Lustspiels war „Ein Schritt vom Wege“, ein Stück von lebhafter Introduction und heiterer, frischer Entwickelung. Es herrscht hier die „reine Vernunft“, welche romantische Launen zur Ordnung ruft und vor allen Experimenten warnt, die von der geraden Heerstraße des Lebens abführen.

In diesem Kampfe gegen die Genialitätsmarotten liegt eine feinsinnige Moral, die nicht so hausbacken ist wie diejenige der Stücke von L’Arronge, freilich auch nicht von so allgemeiner Tragweite; denn zu solchen genialen Ausschreitungen sind nur wenige Naturen geneigt. Auch „Peter Munck“ ist eine moralisirende Gedankendichtung, gegen die Herzlosigkeit der „Männer von Eisen“ gerichtet, welche ihrem äußeren Glücksstande jedes Opfer bringen. Die Sprache in „Peter Munck“ ist oft echt poetisch und gedankenreich: doch die Zauberschleier der Raimund’schen Muse flattern allzu locker und luftig über einer sehr realistisch gehaltenen Dichtung, deren Motive doch magischer und dämonischer Art sind. „Der Narr des Glücks“, dem immer gleichsam die Thür der Fortuna vor der Nase zugeschlagen wird, ist ein echter Lustspielheld; doch bringt hier ein Motiv aus dem Kreise der neufranzösischen Dramatik, des „Père prodigue“ und ähnlicher Stücke, einen fremdartigen Zug in das kleinstädtische deutsche Familiengemälde. „Ein Freund des Fürsten“ schlägt einen etwas höheren Ton an im Stile des Hackländer’schen „Geheimen Agenten“. Auch die andern Lustspiele Wichert’s zeigen das Bestreben eines verständigen und bühnengewandten Autors, das Theater zu einer Stätte sinniger Erheiterung zu machen, bei der ein gediegener Ernst mindestens im Hintergrunde lauscht. Das ist auch die Physiognomie der Lustspiele von Otto Gensichen, wie „Die Märchentante“ und „Frau Aspasia“ und diejenige der feinsinnigen Bluetten von Feodor Wehl.

Ganz anders gehn die Dichter der flotten Lustspielschwänke zu Werke, welche gegenwärtig die deutsche Bühne beherrschen; hier erscheint die komische Muse bald im Festgewande des Salonstückes, bald in den Hemdärmeln der Posse: die Handlung hat meistens einen athemlosen blitzartigen Verlauf und läßt das Publicum so wenig wie möglich zur Besinnung kommen; was die Jagd auf Witze betrifft, so wird darin bald mit grobem, bald mit feinem Schrot geschossem. Ist der Wurf der Handlung ein glücklicher und wird das Schwankartige noch mit einer gewissen Decenz behandelt, so können solche Stücke dem Ideal eines guten Lustspiels nahe genug kommen; ja wir werden aus diesem Bereiche einige verzeichnen, welche nicht nur zu den erfolgreichsten, sondern auch zu den besten Lustspielen der jüngsten Epoche gehören, während die große Mehrzahl durch die bunte Häufung burlesker Motive unter jedes literarische Niveau herabsinkt.

Einer der Führer dieser lustigen Schaar ist Julius Rosen (Nikolaus Duffek), der eine anerkennenswerthe Virtuosität in der Geschwindigkeit und Behendigkeit besitzt mit der er beliebige aus dem Leben gegriffene Stoffe auf die Bühne lancirt. Oft ist die Handlung wie aus der Pistole geschossen; sie beginnt mit einem totalen Wirrwarr, der sich erst allmählich klärt.

So ist’s in „Kanonenfutter“, „Citronen“ und vielen andern Stücken Rosen’s: die Schwankmuse feiert ihre Orgien. Den Purzelbäumen der Handlung entsprechen oft die Purzelbäume der Charaktere. Der Lustspielschwank ist ja bei der Posse in die Schule gegangen, und in der Posse verdirbt ja das Couplet die Charaktere, indem es wie eine Schellenkappe von Kopf zu Kopf wandert, mag es wohl oder übel passen. Solche gesprochene Couplets finden sich in allen Schwänken. Rosen’s Talent ist indeß keineswegs gering zu schätzen; er hat jene Schnellfertigkeit Kotzebue’s, die nie verlegen um Erfindungen ist und die Verwickelungen aus dem Aermel streut; freilich beruhen sie oft auf dem marionettenhaften Gebahren der Helden, welche sich da in Schweigen hüllen, wo jeder vernünftige, nicht an den Drähten des Lustspieldichters tanzende Mensch sprechen würde; mit einem einzigen Worte aber würde die ganze Verwickelung explodiren. Rosen hat indeß manchen glücklichen Wurf gethan, wie in dem Lustspiele „O diese Männer!“ in welchem ein Grundgedanke sich sehr glücklich in einer Menge von dramatischen Varianten ausprägt.

Ein Geistesverwandter Rosen’s ist der Socialdemokrat Leopold von Schweitzer[WS 1], welcher in seinen Mußestunden der ernsten und heitern Dramendichtung huldigte. Schweitzer hatte oft ganz gute Lustspielgedanken, mit denen er aber nicht recht hauszuhalten wußte, z. B. in „Das Vorrecht des Genies“, „Die Darwinisten“, auch in seinem besten Lustspiele „Epidemisch“, in welchem die alle Kreise ergreifende Speculationsmanie in ganz erheiternder Weise geschildert ist. Ebenso sucht 'Rudolf Kneisel irgend einen Lustspielgedanken in einer entsprechenden, bisweilen etwas schablonenhaften dramatischen Architektonik durchzuführen, wie in „Emma’s Roman“, „Das einzige Gedicht“, „Die Tochter Belial’s“ und in anderen mit richtigem Instincte gewählten und behandelten Stoffen, die aber in seiner dramaturgischen Retorte niemals recht ausgekocht werden.

Dagegen kümmert sich einer der heitersten Lieblinge Thaliens, Gustav von Moser, nicht im Entferntesten um Grundgedanken und irgend welche komische Thesen, die mit dramatischer Dialektik gelöst werden sollen; er greift frisch hinein in’s menschliche, besonders in’s soldatische Leben, faßt einen guten Cameraden, hält ihn fest und schleppt ihn auf die Bühne. Mit unverwüstlicher guter Laune, die Hände in den Hosentaschen, geht sein Humor spazieren, und was ihm in den Weg kommt, ein kleines Begebniß, eine humoristische Redewendung, das wird für ihn sogleich zum Kern, um den sich ein Lustspiel krystallisirt. Diese gute Laune in ihrer vollendeten Harmlosigkeit ist ein glänzender Vorzug der Moser’schen Lustspiele; sie sind nirgends angekränkelt von der bleichen Farbe der Reflexion; es klafft kein Riß zwischen dem, was der Dichter wollte, und dem, was er leistete: er wollte eben nur, was er leistete. Da ist nichts Absichtliches, nichts Gezwungenes. Was er giebt, ist oft wenig in Bezug auf geistige Quintessenz; aber er giebt es mit einem so gewinnenden Lächeln, einer so selbstgenügsamen Fröhlichkeit, daß man es hinnimmt ohne einen Schmerzenszug der Enttäuschung im Gesicht.

Gustav von Moser begann mit Einactern, die meistens mit Geschick dramatisch gegliedert waren und recht artige Pointen hatten; dann folgten die größeren Lustspiele, bei denen er in der Regel Mitarbeiter hatte, anonyme oder solche, die auf dem Zettel genannt wurden. So schrieb er mit Benedix das „Stiftungsfest“, mehrere Stücke zusammen mit Stanislaus Lesser, andere mit Franz von Schönthan und Otto Girndt, mit seiner Frau, mit der Schwägerin seiner Tochter, Gräfin Bethusy-Huc, mit Autoren, deren Namen noch nicht in der dramatischen Literatur aufgetaucht waren. Die Mitarbeiterschaft ist in Deutschland bisher nur bei Possen üblich gewesen; Moser ist der Erste, der nach französischem Muster sie auch beim Lustspiele eingeführt hat. Es ist nicht leicht, einen Blick in dies Atelier zu thun und zu sagen, wo Moser aufhört und wo seine Mitarbeiter anfangen. Beim „Stiftungsfest“ war der Entwurf beiden Autoren gemeinsam; die Grundlage des Textes hatte Benedix geschrieben; dann hatte Moser diesem Texte die Lichter seiner guten Laune und kleiner Theatereffecte aufgesetzt. Dies aber war wieder Benedix nicht genehm; er meinte, das Stück sei dadurch zum Schwank geworden, und dazu wollte er nicht seinen Namen geben. So trennten sich die Autoren, noch ehe ihr Werk über die Bühne ging: wir erhielten zwei Stiftungsfeste, von denen dasjenige mit Moser’s schwankartigen Mätzchen fast über alle Bühnen ging, während die solide Arbeit von Benedix ziemlich unbeachtet blieb. Später war Moser glücklicher mit seinen Mitarbeitern; man hat nie von Zwistigkeiten und Zerwürfnissen gehört; bisweilen scheint indeß seine eigene Thätigkeit nicht viel über die Retouche und kleine scenische Einlagen hinausgegangen zu sein.

Moser hat mancherlei Stücke aus dem bürgerlichen Leben geschaffen: „Ultimo“, ein erfolgreiches Stück von sehr lockerer Composition und ohne jede Einheit, „Der Hypochonder“ mit etwas trivialen kleinbürgerlichen Motiven, „Der Sclave“, „Onkel Grog“, „Glück bei Frauen“ und andere, Treffer und Nieten bunt durch einander; doch seine eigentlichen Lorbern wachsen auf dem Gebiete des Officierlustspiels; „Der Veilchenfresser“ und „Krieg im Frieden“ sind ohne Zweifel seine besten Stücke, und auch den auf das Gebiet der Gesangsposse abschweifenden „Reif-Reiflingen“ mag man sich noch gefallen lassen. In diesen Stücken [336] herrscht Munterkeit und Lebensfrische; die Verwickelungen sind einfach, aber ansprechend, die Lösung ist heiter und ungezwungen, der Dialog nicht geistsprühend, aber jovial und lebendig. Diese Spiegelbilder unseres Officierslebens zeigen in Ton und Haltung, wie sehr dasselbe sich verfeinert und veredelt hat seit der Zeit, als Julius von Voß die liederlichen Fähnriche und Lieutenants der unglücklichsten Epoche der preußischen Geschichte mit ihrem ganzen haarsträubenden Cynismus auf die Bühne brachte.

Bei „Krieg im Frieden“ hatte sich Franz von Schönthan als Mitarbeiter betheiligt: ein Autor, der vorher einige waghalsige, aber lustige Schwänke, wie „Sodom und Gomorrha“, verfaßt hatte und später in „Ein Schwabenstreich“ und „Roderich Haller“ in die Bahn des solideren, aber etwas mit Chargen bevölkerten Lustspiels einlenkte. In beiden Stücken spielen literarische Interessen und Fragen mit, aber sie sind vom Standpunkte der seichtesten Belletristik behandelt. Vergleicht man damit die geistvolle Behandlungsweise solcher Themata in der Bühnenliteratur unserer jungdeutschen Epoche, so sieht man, daß unser Theater seit jener Zeit auf ein tieferes geistiges Niveau herabgedrückt worden ist.

Neben dem Lustspiele und dem Lustspielschwanke führt die Posse noch immer ein auskömmliches Leben, obschon ihre Glanzzeit vorüber ist. Die Berliner Possendichter Jacobson, Mannstein, Wilken, Treptow bewegen sich noch immer im Geleis von Kalisch und Emil Pohl: doch ist die Zeit des soi-disant classischen Coupletwitzes vorüber und derselbe sickert ziemlich dürftig in den Rinnen der alten Schablone fort.

Wie indeß in den Schwanklustspielen oft Stoffe aufgegriffen sind, die in die Posse gehören, so wird man umgekehrt in den Possen oft durch ganz glückliche Lustspielmotive überrascht, die aber natürlich hier verpuffen, weil sie in keiner Weise durchgearbeitet sind. Die frühere Ausstattungsposse findet jetzt nur noch einen beschränkten Kreis; die Ausstattungsstücke haben einen ernsteren Ton, und es überwiegt das balletartige Ensemble wie „Frau Venus“ und „Excelsior“ mit Blumenthal’s poetischer Illustration, wie diese Zugstücke des Berliner Victoriatheaters beweisen.

Neben der breiten Masse der Lustspieldichtung in Prosa geht indeß auch, wenngleich nur sporadisch, das stilvolle Lustspiel, das Lustspiel in Versen einher, welches nach spanischen Mustern, mit epigrammatischem Federballspiel und poetisch facettirten Belustigungen des Witzes eine meist in Maskenscherzen verlaufende Handlung begleitet. Hier ist tonangebend und im Ganzen bisher vereinsamt der Nibelungendichter und -Rhetor Wilhelm Jordan, der seine Lustspiele „Die Liebesleugner“ und „Durch’s Ohr“ trotz ihres vornehmen Tons mit Erfolg auf die Bühne gebracht hat.

Die dramatische Production der jüngsten Zeit ist regsam; es fehlt auch nicht an neu auftauchenden Talenten; doch das Publicum ist im Ganzen kühl und spröde geworden auch dem Besseren gegenüber. Es fehlt der begeisterte Zug, welcher z. B. die jungdeutsche Epoche charakterisirte. Oper und Operette stehen im Vordergrunde des Interesses: die erstere mit verschwenderischer Pracht und zugleich mit dem Anspruche des Kunstwerkes der Zukunft, die alleinberechtigte Bühnendichtung zu sein. Das recitirende Drama hat einen schwierigeren Stand als früher, doch es wird diese Uebergangsepoche überwinden und von den Ausschreitungen und Irrthümern derselben Nutzen ziehen.


  1. Vergl. Nr. 3. dieses Jahrgangs.
  2. Vergl. Nr. 3 und 12 dieses Jahrgangs.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Gottschall meint hier: Johann Baptist von Schweitzer (1833–1875).