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Deutsche als Franktireure im Jahre 1870

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Textdaten
Autor: Walther Kabel
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Titel: Deutsche als Franktireure im Jahre 1870
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aus: Bibliothek der Unterhaltung und des Wissens, Jahrgang 1915, Dritter Band, Seite 216–221
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Erscheinungsdatum: 1915
Verlag: Union Deutsche Verlagsgesellschaft
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Erscheinungsort: Stuttgart, Berlin, Leipzig
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[216] Deutsche als Franktireure im Jahre 1870 – eine tief bedauerliche, aber nicht wegzuleugnende Tatsache. Der französische General Necrot, der 1879 ein eingehendes Werk über die Tätigkeit der Franktireurbanden im Deutsch-Französischen Kriege veröffentlichte, schreibt gleich zu Anfang seines Buches folgendes: „Es dürfte besonders im Auslande wenig bekannt sein, daß die Franktireurabteilungen, die sofort nach dem Unglücke von Sedan überall von patriotischen Männern ins Leben gerufen und notdürftig im Gefechtsdienst ausgebildet wurden, sich nicht lediglich aus Landeskindern zusammensetzten, sondern daß sich fast bei jedem dieser Korps auch eine ganze Anzahl Ausländer befanden. Soweit ich festzustellen vermochte, sind in den Kämpfen der Republik gegen Deutschland bei uns etwa hundertzwanzig Deutsche gefallen. Die Gesamtzahl der für uns fechtenden Deutschen werde ich mit achthundert kaum zu hoch angeben.“

[217] So weit General Necrot. Selbst angenommen, er habe mit seinen Zahlen reichlich hoch gegriffen, so bleibt die Tatsache, daß auch 1870 wie zur Zeit des ersten Napoleon Deutsche gegen Deutsche gefochten haben, doch immer noch bestehen, da die Behauptungen des französischen Generals ja auch in deutschen Werken über den Feldzug gegen unseren westlichen Nachbar eine für uns recht demütigende Bestätigung finden. So berichtet Theodor Fontane in seinem Buche „Kriegsgefangen“ bei der nach der Erzählung eines Mitkämpfers niedergeschriebenen Schilderung des nächtlichen Überfalles auf das von den Deutschen besetzte Dorf Ablis durch Franktireure folgendes: „Wir drängten das, was uns gegenüberstand, mehrmals bis an die Einfassungsmauer des Dorfes mit dem Bajonett zurück. Aber jedesmal, wenn wir anschlugen, um eine volle Salve in den dichten Haufen hinein abzugeben, hieß es aus dieser Masse heraus, die wir in der Dunkelheit nicht erkennen konnten: ‚Schießt nicht, Kinder, wir sind ja Preußen!‘ Im selben Augenblick trafen uns Kugeln von hinten her. Nun machten wir kehrt, glaubten wirklich den Feind nur im Rücken zu haben. Aber schon umzischten uns wieder von vorne die Kugeln.“ Daß die, die auf diese Weise die schwerbedrängten Verteidiger von Ablis narrten, nicht etwa deutschsprechende Franzosen, sondern tatsächlich Deutsche waren, zeigte sich nach Beendigung des furchtbaren nächtlichen Kampfes, bei dem nur zweiundsechzig Mann auf deutscher Seite mit dem Leben davonkamen, die von den Franktireuren gefangengenommen und am Morgen in einem großen Zimmer eines Gehöftes förmlich ausgeplündert wurden. „Auf dem Tische lag alles aufgeschichtet, was man den Toten draußen an Geld und Geldeswert geraubt hatte; jetzt mußten auch wir hergeben, was wir in unseren Taschen hatten. Mitunter half eine Franktireurhand nach und beschleunigte die Untersuchung. Nun ging es an ein Sortieren und Teilen. Ein Zehntalerschein, dessen Wert der großen Mehrzahl ein Geheimnis war, wurde verächtlich beiseite geschoben. In demselben Augenblick aber fuhr durch die dem Tisch Zunächststehenden eine Hand hindurch, griff nach dem Schein und sagte mit unverkennbarem Berliner Akzent: ‚Dir kann ick jrade jebrauchen!‘“

[218] Von einer Szene aus einem Waldgefecht in der Nähe von Chartres berichtet der bayrische Rittmeister v. Bolten in seinen Kriegserinnerungen, wie folgt: „Die von mir geführte Streifwache hatte gerade eine dicht mit Nadelholz bestandene Schlucht passiert, als wir plötzlich von rückwärts Feuer erhielten. Zwei meiner Leute sanken sofort schwer getroffen von ihren Pferden. Eine Stunde später hatten wir uns, in Deckung hinter Bäumen liegend, vollständig verschossen. Die fünf Mann, die noch kampffähig waren, hatten jeder nur noch eine Patrone im Lauf. Die Franktireure, die uns wie mordgierige Wölfe im Kreise umzingelt hatten, merkten bald an dem Verstummen unserer Karabiner, wie es um uns stand. Schon wollte ich den Befehl: ‚Auf – marsch – marsch!‘ geben, um einen Durchbruch zu versuchen, als plötzlich hinter einer starken, kaum hundert Schritte entfernten Eiche eine Stimme in gutem Deutsch herüberrief: ‚Ergebt euch! Es wird euch nichts geschehen!‘ Und gleich darauf ertönte von der anderen Seite des feindlichen Ringes in ebenso tadellosem Deutsch eine ähnliche Aufforderung. Um Zeit zu gewinnen, ließ ich mich mit dem ersten Sprecher auf eine Unterhandlung ein. Ich verlangte freien Abzug mit allen Waffen. Darauf erwiderte der Mann hinter der Eiche: ‚Das ist unmöglich. Auf die Forderung geht der Offizier unserer Abteilung nicht ein. Herr Leutnant können mir aber glauben, Ihnen wird kein Leid zugefügt werden.‘

‚Sie sind Deutscher?‘ fragte ich.

Die Antwort blieb aus, und gleich darauf machten die Franktireure einen neuen Angriff, bei dem ich durch einen Streifschuß an der Stirn niedergestreckt wurde. Als ich erwachte, lag ich auf einem Heulager in einer Scheune.

In der Nacht brachte mich dann derselbe Deutsche, der mit mir gesprochen hatte, heimlich auf den Weg nach Chartres. Beim Abschied drückte er mir ein mit Kognak gefülltes Fläschchen in die Hand. Seinen Namen zu nennen weigerte er sich. Auf meine Frage, ob denn viele Deutsche bei der Franktireurabteilung gewesen seien, sagte er kurz: ‚Sechs im ganzen‘ und verschwand in der Dunkelheit. Ich fürchte sehr, daß meine Rettung dem Manne das Leben gekostet hat, da der Verdacht, [219] mir fortgeholfen zu haben, notwendig auf ihn fallen mußte.“

Der mecklenburgische Major Müller erzählt eine ähnliche Episode. „Am 19. Oktober brach unsere Abteilung, die in den Dörfern Nozent und Sormant Lebensmittel einkaufen sollte, von Curbal auf. Sergeant Hinzel führte das Kommando über uns zehn Mann. Ich als Sohn eines Gutsbesitzers mußte den Kutscher auf dem nur mit Mühe aufgetriebenen und mit zwei Pferden bespannten Leiterwagen spielen. In Nozent war nicht einmal ein Huhn zu entdecken. Die Bauern, denen wir als Lockmittel blanke Goldstücke zeigten, zuckten die Achseln. ‚Les Franctireurs!‘ war die vielsagende Antwort. Die hatten vor uns mit allem reinen Tisch gemacht. So ging’s denn weiter auf einem schlechten Waldwege auf Sormant zu. Sergeant Hinzel hatte vorsichtigerweise sowohl nach vorwärts als auch nach beiden Seiten je zwei Mann als Streifwache ausgeschickt. Nachmittags um drei Uhr war Sormant, das wir in zwei Stunden hätten erreichen müssen, noch immer nicht in Sicht. Da merkten wir, daß wir uns verirrt hatten. Dem Stande der Sonne nach zu urteilen waren wir viel zu weit nach Westen gekommen. So bogen wir denn in den nächsten Seitenweg ein, der nach Norden führte. Er führte uns leider auch ins Verderben. Nach einer halben Stunde wurde der Wald lichter. Vor uns lag zur Linken ein großer Steinbruch mit steil abfallenden Wänden, der nur eine schmale Auffahrt auf ein paar in Gärten eingebettete Häuser hatte. Nach der Karte war dies der Weiler Messières. Wir hatten uns also gründlich verirrt. Aber zu langem Grübeln blieb uns keine Zeit. Mit einem Male ging die Geschichte los. Schüsse knallten von allen Seiten, und von unseren drei Streifwachen kamen nur noch vier Mann in wilder Flucht auf uns zugerannt. Sergeant Hinzel führte uns in den Steinbruch. Bis zur Nacht hatten wir uns die Franktireure glücklich vom Leibe gehalten. Sobald sich nur ein Rotkittel am Rande des Steinbruchs zeigte, knallte es bei uns auch schon. Und nachdem wir einigen einen gehörigen Denkzettel gegeben hatten, ließ man uns in Ruhe. Jetzt mit der zunehmenden Dämmerung wurde das anders. [220] Besonders gegen den dunklen Wald als Hintergrund war’s ein unsicheres Schießen. Immer häufiger schlugen die Geschosse neben uns ein. Gefreiter Rohde erhielt einen Kopfschuß und war sofort tot. Um neun Uhr abends vermochten bei uns nur noch drei Mann das Gewehr zu handhaben. Die anderen waren meist schwerverwundet oder tot. Schweigend lagen wir drei Unverletzten auf dem harten Boden. Gegen zehn Uhr bemerkte ich einen dunklen Schatten, der auf uns zukroch. In demselben Augenblick rief mir der keine zehn Schritte mehr entfernte Mann in deutscher Sprache mit unterdrückter Stimme zu: ‚Nicht schießen! Ich will euch retten! Ich bin ein Brandenburger.‘ Dann hockte der Mann, der, soweit ich in der Dunkelheit erkennen konnte, schon etliche vierzig Jahre alt sein mußte und ein bärtiges, listiges Gesicht hatte, neben mir. ‚Wenn ich hundert Taler bekomme, rette ich euch,‘ sagte der Mensch. ‚Ich weiß hier Bescheid. Drüben führt ein Stufenpfad aus dem Steinbruch heraus. Die Franktireure halten jetzt nur den Eingang besetzt, da ihr hier ja wie in der Mausefalle festsitzt.‘

Ich war so empört, daß ich den habgierigen Burschen, der die Notlage seiner Landsleute derart auszunützen suchte, am liebsten mit dem Kolben niedergeschlagen hätte. Doch die Klugheit verbot einen solchen Gewaltstreich. ‚Und was wird aus unseren Toten und den drei Verwundeten?‘ fragte ich nach einer Weile. – ‚Unsere Abteilung kommandiert ein Pole, der hält strenge Mannszucht,‘ antwortete er schnell. ‚Es ist ein Adliger, der keine Roheiten duldet. Entschließt euch. Zu lange kann ich nicht fortbleiben.‘

Wir gaben dem Elenden alles Geld, was wir hatten, gegen neunzig Taler. Auch meine goldene Uhr und die des Einjährigen Schmelter, der einen Schulterschuß hatte, erhielt er noch. Schmelter war es, der meine letzten Bedenken beseitigte. Der Mann schwor ja auch hoch und heilig, die Verwundeten würden aufs beste verpflegt werden.

Wir gelangten auch wirklich unbemerkt aus der Schlucht heraus. Am Rande des Waldes trennte der Brandenburger sich von uns. Schmelter erzählte mir später, daß der jämmerliche Kerl, der unser Retter wurde, nachher nochmals in den [221] Steinbruch zurückgekehrt war und die Toten ausgeplündert hatte. Wir drei Flüchtlinge stießen am nächsten Mittag nach einer endlosen Wanderung durch die Wälder wieder zu unserem Truppenteil.“

Hoffentlich werden nunmehr nicht nur die Franktireure, sondern auch die Fremdenlegionen gänzlich und für immer von der Bildfläche verschwinden.

W. K.