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Deutsche Städtebilder/Arolsen

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Textdaten
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Autor: Jenny Schwabe
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Titel: Arolsen
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aus: Die Gartenlaube, Heft 40, S. 684–687
Herausgeber: Adolf Kröner
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1894
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Reihe: Deutsche Städtebilder
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Deutsche Städtebilder.

Arolsen.
Von J. Schwabe.
Mit Zeichnungen von Olof Winkler.

Großmächtige volkreiche Gemeinwesen mit stolzen Straßen und Palästen, mit wogendem Verkehr, Mittelpunkte der Kunst, des Handels, der Industrie, Musterstätten hygieinischer Fürsorge, Schauplätze tausendjähriger Geschichte – von Städten solcher Art pflegten sonst wohl Bilder in diesen Blättern entworfen zu werden. Gewaltiges Vorwärtsdrängen, ein reges, hastiges, modernes Leben dort – wie ganz anders das Bild, das wir heute dem Leser vor Augen zaubern möchten! Als zögen wir ein in Dornröschens verzaubertes rosenumranktes Schloß, so liegt sie vor uns, Deutschlands kleinste Residenz, so still und weltentrückt und so schön umsponnen wenn nicht von Rosen, so doch von grüner Wälder traulichem Kranz.

Das Rauchstift mit dem Rauchdenkmal.

Klein und bescheiden sind hier die Häuser der Bürger, vereinzelt nur unterbricht ein menschlicher Schritt, eines Wagens Gerassel die ländliche Stille der Straßen, hier haben die Menschen noch Ruhe und Zeit zum beschaulichen Genießen eines in seinen Grenzen zufriedenen Daseins. Große welterschütternde Ereignisse verknüpfen sich nicht mit dem Namen Arolsen, nur Idyllen und Geschichtchen genrehaften Gepräges haben seine Mauern zu erzählen. Hie und da freilich entfaltete auch hier sich lautes festliches Treiben, just wie im Märchenschlosse Dornröschens, aber nicht bloß einmal kam ein Königssohn aus der Fremde, sich aus dem altertümlichen Schlosse die Braut zu holen. Für kurze Wochen erfüllte da prunkendes Leben, rauschende Hochzeitslust die Stadt und das Fürstenhaus – dann aber wurde es wieder still und einsam wie zuvor. Und jetzt rüstet sich unser Arolsen abermals zu einem Feste, nicht, um einer Tochter seines Fürstenhauses das Geleite auf einen fremden Thron zu geben, sondern den Landesherrn selbst mit seiner jungen Gewahlin willkommen zu heißen.

Es ist erst sehr kurze Zeit her, daß der Pfiff der Lokomotive zum erstenmal in den traumhaften Märchenzauber dieses Fleckes Erde hineintönte, daß Arolsen durch eine Eisenbahn mit der übrigen Welt in Verbindung gesetzt wurde. Von der Linie Kassel-Elberfeld bei Warburg abzweigend, führt die Nebenbahn in einer kleinen [685] Stunde auf die Hochebeue, auf der Arolsen in 272 Meter Meereshöhe liegt. Das Häuflein Menschen, das in Arolsen den Zug verläßt, hat sich bald zerstreut; die meisten schlagen die vom Bahnhof schnurgerade der Stadt zustrebende Straße ein, wir aber benutzen sogleich die Gelegenheit, eine der hervorragendsten Sehenswürdigkeiten Arolsens zu schauen und zu genießen – es ist eine prachtvolle Eichenallee, die mit einem kleinen Umweg ebenfalls der Stadt zuführt; sechs Reihen uralter Eichen laufen nebeneinander her und unter dem Schutze ihrer mächtigen Hallen wandern wir langsam die fast unmerkliche Steigung hinan. Schon schlägt das Geräusch des Bahnhofs nur noch fern an unser Ohr, und noch immer wölbt sich das grüne Dach über unserem Haupte, behaglich schlürfen wir die würzige reine Luft.

Ansicht von Arolsen.

Ein Gebäude schimmert durch die Bäume, Hundegebell und das Brüllen von Kühen tönt herüber; durch das offene Thor schreitet eine Magd mit einem blanken Milcheimer – wir sind an der Meierei der fürstlichen Domäne Hünighausen. Und weiter geht’s unter den alten Eichenwipfeln. Da endlich sind wir an der Stadt. Zur Linken schaut ein stattlicher Bau durch das Grün der Bäume, umgeben von freundlichen Blumenbeeten; Diakonissen in weißen Häubchen huschen durch die Gänge, bleiche Männer und Frauen in sauberen Gewändern ergehen sich im Garten, auf der Front des Hauses steht, in Stein gehauen, „Paulinenhospital“. Es ist das Landkrankenhaus. Die verstorbene Fürstin Helene von Waldeck hat es gebaut und dem Audenken ihrer Mutter, einer Herzogin von Nassau, geweiht.

Gehen wir weiter in der Allee, so öffnet sich links eine breite Straße, der Kirchturm des Städtchens grüßt freundlich herüber, von rechts aber vernehmen wir schneidige Kommandorufe. Fast befremdend wirkt in dieser klösterlich stillen Umgebung das „Rechts – um!“ – „Links – um!“ – „Gerade – aus!“ der Unteroffiziere. Da steht sie ja auch schon, die Kaserne, in welcher die gesamte Aushebung des Fürstentums ihrer Dienstpflicht genügt, dem großen Organismus des deutschen Heeres eingefügt als III. Bataillon des Infanterieregiments v. Wittich (3. Hess.) Nr. 83.

Das Fischhaus.

Der Markusstein.

Noch immer hat unsere große Allee kein Ende; ist sie doch fast einen Kilometer lang. Wir verlassen sie aber nunmehr und schlagen den Weg zur Linken nach der schmucken Hauptstraße ein. Zierlich reiht sich Haus an Haus, oft mit hoher, terrassenartig vorgebauter Doppeltreppe, deren oberste Stufe ein eisernes Gitter schmückt; doch steht jedes Haus – und das ist charakteristisch für Arolsen – isoliert, vom Nachbarhause stets durch eine breite Thorfahrt getrennt und so, seit langer Zeit der modernen Hygieine entsprechend, Luft und Licht von allen Seiten Zugang gewährend. Unser Ziel ist die hübsche schlichte Kirche, die am unteren Ende der Straße, doch im eigentlichen Mittelpunkt der Stadt, auf freiem, lindenbepflanztem Platze sich erhebt und in der ein großer Sohn Arolsens sich ein Denkmal von wunderbarer Schönheit gesetzt hat.

Auf dunkeln Marmorsockeln stehen an den Stufen des Altars drei ideale Marmorstatuen: in der Mitte die Hoffnung, sehnsüchtig die Arme zum Himmel hebend, links die Liebe, ein flammend Herz in emporgehaltener Schale tragend, rechts der Glaube, sinnend in das Buch der Bücher vertieft. Der diese Standbilder der Kirche gewidmet hat, ist kein geringerer als Christian Rauch, der Schöpfer des Mausoleums in Charlottenburg und so vieler anderer herrlicher Werke. Christian Rauch ist am 2. Januar 1777 zu Arolsen geboren, das erzählt uns, wenn wir es noch nicht wissen, die mit seinem Porträtmedaillon geschmückte Gedächtnistafel an der Wand rechts vom Altar. In einem winzigen bescheidenen Häuschen in der Helser Allee, das zwischen Bäumen [686] und Büschen halb versteckt ist, hat er das Licht der Welt erblickt; längst ist das Haus zu einem Stift für unbescholtene arme alte Mädchen umgewandelt, auf dem Rasenplatz aber, der sich bis zur Straßenlinie vorzieht, steht, von einem Arolsener Landsmann gefertigt, die Büste des großen Bildhauers.

Rauch ist nicht die einzige Berühmtheit, welche Deutschlands kleinste Residenz hervorgebracht hat. Da ist der Dichter Stieglitz, am 22. Februar 1803 zu Arolsen geboren, dessen Name durch das tragische Ende seiner Gattin Charlotte noch mehr bekannt geworden ist als durch den Erfolg seiner Dichtungen; da ist ferner Marie Calm, die eifrige Verfechterin der Frauensache, deren Bild die „Gartenlaube“ erst kürzlich ihren Lesern vorgeführt hat (Nr. 15 dieses Jahrgangs); der Maler Ludwig Blume-Siebert, ebenfalls den Lesern der „Gartenlaube“ wohl bekannt durch manches gelungene Bild; da sind vor allem die Kaulbach, Friedrich, der Vater von Fritz August, und der große Wilhelm, der in München zu unsterblichem Ruhme gelangt ist. Etwas stattlicher als das Christian Rauchs ist das Kaulbachsche Haus in der Kreuzstraße, heute noch im Besitze der Familie, der der große Meister entstammt. Gerne wird dem Fremden gestattet, das Innere zu besichtigen, und er findet an den Wänden eine ganze Reihe von Nachbildungen berühmter Werke Wilhelm von Kaulbachs, die der Künstler hierher gestiftet hat, Goethe auf der Eisbahn, Ottilie mit dem toten Kind im Kahn, die Schwestern von Sesenheim u. a., und auch das Bild des Meisters selbst blickt aus der Mitte seiner Schöpfungen gar ernsthaft auf den Beschauer hernieder.

Das fürstliche Residenzschloß.
Vorder- und Rückansicht.

Nun von dem stillen Hause in der Kreuzstraße zurück auf die große Allee, die uns zur Stadt geführt hat. Wir wandern weiter auf dem kiesbestreuten Mittelweg, links geleitet von mauergeschützten Gärten, die zu den Häusern der Hauptstraße gehören, rechts von einem prächtigen dunkelnden Park hinter niedrigem Zaun. Jetzt durchschneidet eine breite Fahrstraße die Allee und eröffnet uns mit einem Mal einen überraschenden Ausblick auf das an ihrem unteren Ende gelegene fürstliche Schloß. In vornehmer Ruhe liegt das mächtige Gebäude da; die Sonne spiegelt sich blitzend in tausend Scheiben, zirpend schießen die Schwalben über die blauen Schieferdächer; an den Mauern klettert üppiger Epheu empor, dessen Ranken die beiden Wachthäuser am Eingang schon ganz und gar eingesponnen haben. In den Jahren 1710 bis 1720 ward der Bau errichtet nach Plänen, die der kunstsinnige Graf Anton Ulrich von Waldeck, seit 1712 Reichsfürst, eigenhändig entworfen hatte; in seinem Innern birgt er ansehnliche Schätze der Kunst und Wissenschaft, Gemälde von West, Angelika Kauffmann, Tischbein u. a. eine Bibliothek von 30000 Bänden und eine reichhaltige Antikensammlung, das Werk jenes Prinzen Christian von Waldeck, mit welchem Goethe einen Teil seiner italienischen Reise gemacht hat und der von diesem das Zeugnis eines „vollkommenen und unterrichteten Fürsten“ ausgestellt erhielt.

„Waldeck!“ Der Name ist nicht ohne Bedeutung, auch an dieser Stelle, denn fast unmittelbar stößt das Schloß an herrlichen Buchen-. und Tannenwald. Die alten Herren von Waldeck haben mit der Anlage von Alleen einen förmlichen Luxus getrieben, nach allen Seiten umziehen solche das Schloß mit ihren breiten, von Akazien, Linden, Ulmen oder Kastanien beschatteten Bahnen. Ein schöner Natursinn spricht auch aus dem prächtigen Park mit seinem tiefen Grün und dem stillen Teich, auf dem die Wasserrosen schwimmen und die Schwäne lautlos ihre Bahn ziehen über das Spiegelbild des alten Schloßbaus. Auch des „Schlößchens“ oder „Neuen Schlosses“ dürfen wir nicht vergessen, das zu verschiedenen Zeiten waldeckischen Fürstinnen als Witwensitz gedient hat.

Arolsens Stolz und köstlichster Besitz sind die Waldberge, die es umgeben und durch die man auch im Hochsommer stundenlang wandern kann, ohne einer Menschenseele zu begegnen. Dabei öffnen sich auf Schritt und Tritt entzückende Aussichten über Landschaftsbilder von zartem idyllischem Reiz, über Wiesenthäler mit silberklaren Flüßchen, stillen Dörfern und einsamen Mühlen. Um Durst und Hunger braucht der Wanderer sich nicht zu sorgen. Geht es auch in den dörflichen Krügen um Arolsen recht einfach zu, ein kühler Trunk und ein Bissen Brot nebst saftigem Schinken findet sich überall, und bei der Frau Hoffischerin drunten im Fischhaus, das in lauschiger Einsamkeit mitten im Walde liegt, ist gar ein gutes Weilen bei Speis’ und Trank und herrlichem Ausblick bis hinüber zu den fernen blauen Hessenbergen. Gern besucht wird auch der fürstliche Tiergarten, der sich viele Stunden weit erstreckt und in leichter Umzäunung eine Menge Wild birgt. In diesem Tiergarten, dessen Forsthäuser romantischen Gemütern als der entzückendste Aufenthalt erscheinen mögen, liegt der sagenumwobene Markusstein, auch kurzweg „Markstein“ genannt. Von der einen Seite leicht zugänglich, so daß man fast unmerklich die Kuppe erreicht, stürzt er nach der andern schroff in schwindelnde Tiefe ab; düstere Höhlen auf halber Höhe der Felswand, an der jetzt eine in den Stein gehauene Treppe hinaufführt, sollen einst einem alten Eremiten zum Aufenthalt gedient haben. Damals, erzählt man, war der Platz vor dem Felsen dicht verwachsen, himmelaufstrebende Baumriesen verdeckten völlig den tiefen Absturz. Einmal nun geschah es, daß der Fürst bei der Verfolgung eines Hirsches ahnungslos bis dicht an den Rand der Klippe sprengte; spurlos verschwand das gehetzte Tier – um eines Haares Breite, und der nachsetzende Reiter wäre samt seinem Roß in die Tiefe gesprungen. Sein treuer Hund aber hatte die Gefahr bemerkt, laut bellend trieb er das Pferd zurück und stürzte dann selbst in den Abgrund. So ward nach der Sage der Felsen entdeckt. Im Park des Neuen Schlosses zu Arolsen aber befand sich noch vor nicht allzulangen Jahren ein bescheidener Stein, auf [687] dem zu lesen war: „Hier ruht der treue Munter.“ Das soll jener Hund gewesen sein, der Retter seines Herrn.

Das Stammschloß Waldeck.

Auch weiter ins Land hinaus giebt’s noch allerorten Schönes und Merkwürdiges zu sehen, die Schlösser von Rhoden und Wildungen, das Stammschloß der Fürsten von Waldeck auf hohem Berge, den das Silberband der Eder umschlingt, Niederwerbe, die prachtvolle Klosterruine, die Kirchen von Wildungen und Corbach. Auf die Wildunger Mineralquellen brauchen wir nicht erst hinzuweisen; sie sind wohl dasjenige vom Arolsener Land, was man draußen in der weiten Welt am besten kennt, da ja jährlich über 2/3 Millionen Flaschen Wildunger Wasser hinauswandern. – Einst hat man auch Bergbau getrieben im Fürstentum Waldeck auf Eisen und Kupfer, im Ederflüßchen wurde sogar Gold gewaschen; aber heutzutage wird nur noch Eisenerz gefördert und auch dieses in unbedeutenden Mengen. Quellen des Reichtums strömen leider keine in dem kleinen Gebiet der Arolsener Fürsten, aber die höhere Bildung fand allezeit Schützer und Förderer im Waldecker Lande und Fürstenhause von den Zeiten der Reformation und der Gründung des Landesgymnasiums zu Corbach bis auf unsere Tage. Auch hat Arolsen neben seiner ordentlichen Volksschule ein städtisches Realgymnasium und eine höhere Töchterschule – bei einer Bevölkerung von 2600 Seelen! Kein Wunder, daß man im benachbarten Westfalen sagt, in Arolsen sei der Nachtwächter so gebildet wie anderswo der Bürgermeister! Treu, fleißig, ehrlich und gut deutsch sind die Leute in Stadt und Land, diesseit und jenseit der haarscharfen Grenze, die hier, mitten durch das Ländchen laufend, Sachsen und Franken scheidet, die Sachsen an Twiste und Diemel, die Franken an der Eder – beide ein Volk, von gleich echt deutschem Ursprung und durch eine tausendjährige Geschichte zusammengeschmiedet.