Deutsches Vereinsleben in Paris

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Autor: Max Nordau
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Titel: Deutsches Vereinsleben in Paris
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aus: Die Gartenlaube, Heft 52, S. 866-868
Herausgeber: Ernst Ziel
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Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1882
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Deutsches Vereinsleben in Paris.

Von Max Nordau

Wer jemals auch nur einen Tag in Paris verbracht hat, der kennt den Boulevard Montmartre mit dem schmalen, von zwei Säulen gebildeten Peristil der Façade des Variétéstheaters und dem „Passage des Panoramas“, dessen zahlreiche und etwas labyrinthische Gänge einige der vornehmsten Läden von Paris enthalten. Mehrere dieser Gänge münden in die mit dem Boulevard parallel laufende Rue St. Marc, ein schmales, holperig gepflastertes, nicht gerade sehr vornehmes Gäßchen, das sich besonders durch seinen Reichthum an möblirten Hôtels von zweifelhaftem Rufe auszeichnet.

Diese sonst so stille Rue St. Marc war vor wenigen Wochen der Schauplatz lärmender Auftritte, welche ihrem Namen für einen Augenblick eine gewisse Berühmtheit verliehen. Drei oder vier Abende hinter einander versammelten sich hier mit Geschrei und Getümmel mehrere hundert Individuen, theils Mitglieder eines französischen Vereins, der sich „Patriotenbund“ nennt, theils Janhagel, wie er sich in Großstädten überall da hindrängt, wo Unordnungen zu erwarten sind – in der ausgesprochenen Absicht, das Local des deutschen Turnvereins, von dessen beiden Eingängen der eine in der Rue St. Marc lag, zu erstürmen und den Angehörigen des Vereins die Knochen zu zerschlagen. Dazu kam es nun freilich nicht; die Polizei legte sich in’s Mittel, allerdings nicht etwa in der Weise, daß sie das Straßengesindel aus einander jagte, sondern indem sie dem deutschen Turnverein die Abhaltung seiner Versammlungen verbot.

Dieses Einschreitens einer wohlwollenden Obrigkeit hätte es übrigens gar nicht bedurft; denn auf die erste Kunde von dem gegen ihn geplanten Angriffe that der Verein, was ihm seine Würde und das Bewußtsein seines guten Rechts geboten: er wich einem Zusammenstoß, bei dem keine Ehre zu holen war, vernünftig aus, indem er zuerst freiwillig seine gewohnten Abendzusammenkünfte aufgab und dann ohne Widerstand das Local räumte, aus dem der „Patriotenbund“ ihn mit Anwendung von Gewalt verdrängen wollte.

Diese Vorfälle, welche wieder einmal die in Deutschland nur mit Widerstreben und Vorbehalt zugegebene Thatsache aufdeckten, daß der Deutschenhaß in Frankreich auch heute noch so tief und leidenschaftlich ist, wie vor zwölf Jahren, haben die Aufmerksamkeit des Publicums in der Heimath auf das deutsche Vereinsleben in Paris gelenkt und rechtfertigen wohl einige Mittheilungen über das letztere.

Um von den ungeheueren Verhältnissen des Londoner Lebens ein recht anschauliches Bild zu geben, pflegt man zu sagen, daß die Stadt mehr Schotten enthalte als Edinburg, mehr Irländer als Dublin, mehr Katholiken als Rom und mehr Juden als ganz Palästina. Nach demselben Muster könnte man, um der Vorstellung des Lesers die Bedeutung des deutschen Elements in der Pariser Bevölkerung besonders faßlich zu vergegenwärtigen, behaupten, Paris nehme unter den deutschen Städten den fünfzehnten Rang ein, da es mehr deutsche Einwohner zählt als Chemnitz, Nürnberg, Elberfeld oder Magdeburg. Genau freilich ist die Ziffer nicht bekannt, und sie dürfte selbst amtlich schwer festzustellen sein.

Gelegentlich der letzten Volkszählung, die im December 1881 stattfand, enthielten wohl die Zählblättchen eine besondere Rubrik für die Nationalität, aber viele Deutsche bekannten sich aus beklagenswerther Feigheit nicht als solche, sondern ließen die betreffende Rubrik entweder unausgefüllt oder gaben sich für Oesterreicher, Schweizer oder Amerikaner aus, und die zahlreichen naturalisirten Deutschen schrieben sich natürlich sammt und sonders als Franzosen ein. Die durch die Volkszählung erlangten Resultate sind also nicht durchaus zuverlässig. An Zahlenangaben fehlt es nicht, doch beruhen dieselben meist auf persönlichen Schätzungen und sind durch allerlei Nebenabsichten beeinflußt.

Um ihren Lesern das Gruseln vor einer angeblichen Ueberschwemmung Frankreichs mit Deutschen beizubringen, haben einige Pariser Blätter behauptet, die Zahl der Deutschen in Paris betrage 300,000. Ungeschickte deutsche Beschwichtiger erwiderten darauf, Paris beherberge nicht mehr als 25,000, höchstens 30,000 deutsche Einwohner. Auf Grund der Volkszählungsdaten kann man aber mit Berücksichtigung der angeführten Fehlerquellen die Zahl der deutschen Reichsbürger auf 70,000, die der Oesterreicher, Schweizer, Deutschrussen, Deutschamerikaner und Elsässer, deren Muttersprache Deutsch ist, auf 35,000, die Gesammtzahl der deutschsprechenden Einwohner von Paris auf mindestens 105,000 veranschlagen. Es giebt ganze Viertel – so namentlich die Faubourgs Montmartre, Saint Denis und Saint Martin – wo man auf der Straße und in den öffentlichen Localen mindestens so viel deutsch wie französisch sprechen hört.

Die deutsche Colonie, durch die Austreibung der Deutschen im Kriegsjahre gewaltsam zersprengt, hat sich seit 1871 allmählich wieder zusammengefunden und ist gegenwärtig sogar zahlreicher als vor dem Kriege. Aber ihre Zusammensetzung ist heute eine wesentlich andere als damals. Vor 1870 waren in der Pariser deutschen Colonie alle Classen der Gesellschaft gleichmäßig vertreten. Viele vornehme und reiche Familien nahmen ihren Winteraufenthalt in Paris, gaben Feste und Empfänge und zählten zu den Angelpunkten, um welche sich das Pariser Leben drehte. In der Börsen- und Handelswelt aber war das deutsche Element geradezu tonangebend. Ferner wirkte an den wissenschaftlichen Anstalten ein erstaunlich bedeutendes Contingent deutscher Gelehrten und Schulmänner und selbst in der Journalistik begegnete man einer nicht geringen Anzahl deutscher Namen, wie denn beispielsweise der angesehene „Temps“ bei seiner Gründung reichlich zur Hälfte von deutschen Federn geschrieben wurde.

Für deutsche Maler und Musiker war Paris ein Eldorado, das Gold und Ruhm in Fülle bot. Aber auch der deutsche Handwerksgeselle wanderte gern an’s Ufer der Seine, um Schliff [867] und Feinheit zu erlangen und später mit dem Glorienschein des vornehmen Pariser Chic in die Heimath zurückzukehren, eine Absicht, die freilich oft genug nicht zur Ausführung gelangte, da die Sirene Paris den in der Regel geschickten und strebsamen Fremden mit ihren weißen Armen fest umschlang und nicht wieder losließ. Endlich strömten jahraus jahrein deutsche Tagelöhner in breiten Schaaren nach Paris, wo man sie gern beschäftigte, weil sie williger, fleißiger und anstelliger, namentlich aber in ihren Ansprüchen bescheidener und der Disciplin zugänglicher waren, als ihre einheimischen Wettbewerber.

Die heutige deutsche Colonie zeigt uns ein ganz anderes Bild: Aristokratische Namen sind kaum mehr in ihr vertreten, wenn man von den Diplomaten absieht, welche ihre Amtspflicht an Paris fesselt. Eigentliche deutsche Salons, namentlich solche, welche einen Wechselverkehr zwischen Franzosen und Deutschen vermitteln, giebt es nicht; aber es fehlen selbst solche, wo sich die ganze Elite des Pariser Deutschthums zusammenfinden könnte. Börse und Bank werden wohl noch immer von Deutschen beherrscht, aber die bedeutenden Finanzmänner haben sich entweder naturalisiren lassen oder geben sich für Oesterreicher aus und suchen sich durch Verleugnung ihres Deutschthums bei ihren französischen Standesgenossen ein Bildchen einzulegen. Blos die Kleinen und Unbedeutenden dieser Berufsclasse haben noch den Muth – oder fürchten keinen Nachtheil dabei – sich als Deutsche zu bekennen. Das Commissionsgeschäft, vielleicht der wichtigste Zweig des Pariser Handels, ist mit geringen Ausnahmen nach wie vor ganz in deutschen Händen. Dagegen hat die Zahl der deutschen Gelehrten, Künstler und Musiker ansehnlich abgenommen: Diejenigen, die feste Staatsanstellungen hatten, ließen sich naturalisiren, wenn sie es nicht vorzogen, wie Hillebrand, ihr Amt niederzulegen und das Land zu verlassen: neue Ernennungen aber von Deutschen dürften seit 1870 im französischen Unterrichtswesen nicht stattgefunden haben, wenn man von Lehrern der deutschen Sprache absieht, welche auch mit Vorliebe unter Oesterreichern, Schweizern und Elsässern gesucht wurden.

Die jährlichen Kunstausstellungen im Industriepalaste der Elysäischen Felder sind für Deutsche eine ungastliche Stätte geworden. Man läßt dieselben ungern zu, giebt ihnen schlechte Plätze und übergeht sie bei der Zuerkennung von Auszeichnungen, wie auch auf dem Kunstmarkte ähnliche Vorurtheile gegen unsere Landsleute herrschen. Am stärksten hat die Zahl der deutschen Handwerksgesellen abgenommen. Wenn im jungen Gesellen das Wanderblut unruhig wird, so richtet er Sinn und Schritt nicht mehr, wie sonst, nach Paris, sondern nach London, nach Amerika, nach den Colonien. Die Brücke von Kehl hat für den ernsten Handwerker wie für den Stromer und Fechtbruder ihre alte sprüchwörtliche Bedeutung verloren, und der Wanderbursche muß direct von einem in Paris angesiedelten deutschen Meister dazu aufgefordert werden, um auf den Gedanken zu kommen, dort Arbeit zu nehmen. Früher waren alle Schneider, Schuster und Tischlerwerkstätten, alle Barbierläden, Backstuben und Goldschmiedateliers von Deutschen bevölkert. Heute ist das Verhältniß so, daß vielleicht auf vier Deutsche, die hier vor 1870 arbeiteten, nur noch einer kommt. Blos in gewissen Industriezweigen – so namentlich in der Zuckersiederei und Metallgießerei – ist nicht nur keine Abnahme, sondern sogar eine Vermehrung zu constatiren, und in den Hôtels ist der deutsche Kellner nahezu alleinherrschend. Deutsche Tagelöhner sind vielleicht weniger häufig als früher, obwohl man noch immer ganzen Regimentern von deutschsprechenden Straßenfegern begegnet und in Rougemont und Belleville, entlegenen Pariser Arbeiter- und Armenvierteln, deutsche Elementarschulen für die Kinder dieser Bevölkerung bestehen; doch dürfte die Mehrzahl derselben nicht aus dem Reiche, sondern aus Luxemburg, der Schweiz, vielleicht auch dem Elsaß stammen.

Eine sehr starke Zunahme gegen 1870 zeigt nur eine Classe von Deutschen: die der jungen Kaufleute, welche sich in Paris selbstständig etabliren oder eine Stelle finden wollen. Ihre Zahl beläuft sich auf viele Tausende. Sie füllen die Comptoirs der Banken und Commissionshäuser: sie besorgen die Correspondenz – nicht blos die deutsche – der französischen Fabrikanten und Exporteure; man trifft sie in den großen weltbekannten Bazaren, wie „Magazin du Louvre“ und „Bon Marché“, als Verkäufer an; doch begegnet man ihnen leider auch in den Lesecabineten und auf den Asphalttrottoirs der großen Boulevards, fadenscheinig, hohläugig, muthlos, ohne Stelle, ohne Kraft zum Entschlusse der Rückkehr in die Heimath, ohne Mittel zu weiterem Ausharren, bejammernswerthe Opfer der in Deutschland noch immer herrschendon Illusion, daß Paris für den jungen Deutschen das Eden des Erfolges und Glückes sei.

Man sagt uns Deutschen nach, daß nicht zwei von uns beisammen sein können, ohne einen Verein zu gründen. Etwas Wahres enthält ja dieser Satz in seiner scherzhaften Uebertreibung. Obwohl es ein Deutscher war – nämlich Zimmermann – der das Lob der Einsamkeit schrieb, so sprach er damit dem deutschen Stamme doch nicht aus der Seele. Wir haben kein Talent zum Einsiedlerthum; ein fröhlicher Drang zum Zusammenschluß führt uns unwiderstehlich zu einander, und wir begreifen die rechte Daseinsfreude nicht anders, als wenn eigene Zufriedenheit sich in den Augen von gleichgestimmten Genossen widerspiegelt. Die Deutschen in Paris haben sich auf romanischer Erde der vaterländischen Eigenheiten nicht so völlig entschlagen, daß sie nicht das Bedürfniß des Vereinslebens empfunden hätten.

Vor 1870 mag das weniger lebhaft gewesen sein, als heute. Die Zahl der dauernd in Paris angesiedelten verheiratheten Deutschen, die ihren eigenen Herd hatten, überwog damals die der alleinstehenden jungen Leute. Gastliche Salons boten reichliche Gelegenheit zur edlen Befriedigung des Geselligkeitstriebes, und der einzelne Deutsche hatte keine Schwierigkeit, überall, auch in den entlegensten Stadtvierteln, wo er weit und breit keinen Landsmann um sich hatte, französischen Umgang zu finden. Heute sind in der deutschen Colonie die unverheiratheten jungen Leute weit zahlreicher, als die Männer, welche ihr festbegründetes Heim besitzen. Daß es kein deutsches Salonleben giebt, das haben wir bereits gesehen, und auf französischen Umgang darf kein Deutscher rechnen. Als Reisender, mit ausgezeichneten Empfehlungen versehen, kann er während eines kurzen Aufenthaltes, der eine Saison nicht überdauern darf, allenfalls Einlaß in französische Häuser und dann sogar höfliche Aufnahme finden. Sowie aber die französischen Gastfreunde merken, daß ihr Gast sich in Paris festsetzen, hier einem regelmäßigen Berufe nachgehen will, ziehen sie sich von ihm zurück, und es dürfte ihm wohl sehr schwer werden, seine anfänglichen Beziehungen, und wenn sie sich noch so warm und freundlich anzulassen schienen, über das erste Halbjahr hinaus aufrechtzuerhalten. So bleibt also dem Deutschen, der in der Weltstadt nicht auf Menschenverkehr verzichten will, nichts übrig, als sich an die Landsleute anzuschließen, die in der gleichen Lage sind wie er, und aus dieser Nothwendigkeit heraus ergiebt sich von selbst die Bildung von Vereinen.

Es giebt in Paris sechs deutsche Vereine. Der eine, der „Deutsche Hülfsverein“, verdient diesen Namen insofern nicht ganz, als er außer jährlichen Generalversammlungen seinen Mitgliedern keinerlei Gelegenheit bietet, mit einander in Berührung zu kommen. Sein Zweck ist in seinem Namen ausgedrückt. Er steht unter dem amtlichen Schutze der Botschaft, und sein Liebeswerk ist ein ansehnliches: nach Hunderten zählen die unglücklichen deutschen Mädchen und Jünglinge, die er jährlich unterstützt oder in die Heimath zurücksendet, wenn ihnen in der großen Stadt nur noch Noth und Verderben bevorstehen. Zum ersten Male seit 1870 ist er im vergangenen Winter aus der würdevollen Zurückhaltung, die er sich auferlegt hatte, herausgetreten und hat in einem der glänzendsten Säle von Paris einen Ball veranstaltet, welcher der Unterstützungscasse des Vereins gegen 15,000 Franken zuführte. Diese Feste werden sich alljährlich wiederholen, und vielleicht wird aus ihnen eine neue Familiengeselligkeit hervorblühen, die seit dem Kriege unter den Deutschen in Paris leider nicht existirt.

Der älteste unter den sechs deutschen Vereinen ist der „Protestantische Jünglingsverein“, der bereits Mitte der vierziger Jahre – das genaue Datum konnte ich nicht erfahren – gestiftet wurde. Seine Organisation ist eine etwas enge, weil confessionell eingeschränkte. Er zählt gegen 150 Mitglieder, die fast ohne Ausnahme dem Handwerkerstande angehören. An seiner Spitze steht der ehrwürdige und hochverdiente Pastor der Pariser deutschen Protestantengemeinde, Herr Dr. Frisius; seine Zusammenkünfte werden in der Pastorswohnung oder in der Kirche abgehalten. Er wirkt ohne Zweifel sehr moralisirend auf die Elemente, die er in sich schließt, und verdient kräftige Förderung.

Im Gegensatze zu diesem ältesten sei des jüngsten Vereins gedacht: des Pariser „Deutschen Studentenvereins“. Das ist [868] noch ein gar junges und schwaches Pflänzlein, erst einen Winter alt und zart bewurzelt und bestockt. Der Verein hat zehn oder zwölf Mitglieder – es giebt eben nicht viel deutsche Studenten an den Pariser Facultäten – die einmal wöchentlich in einem Bierlocal des lateinischen Viertels zusammenkommen, um sich in der Fremde das Bild deutscher Burschenherrlichkeit vor die Seele zu zaubern. Man singt deutsche Commerslieder – aber leise; trinkt deutschen Gerstensaft – aber mäßig, und raucht aus deutschen Porcellanpfeifen – aber mehr symbolisch als überzeugt. Der sympathische Verein hat einen Obmann, Schrift- und Säckelwart, und kein deutscher Student, der sich eine Weile in Paris aufhält, sollte versäumen, sich ihm anzuschließen.

Die wichtigste Rolle spielt, soweit das eigentliche Vereinsleben in Betracht kommt, der „Deutsche Turnverein“, dem die eingangs erwähnten Angriffe des französischen Patriotenbundes galten. Im September 1863 begründet, hatte er ganz bescheidene Anfänge. Die Aufmerksamkeit der Pariser zog er zum ersten Male auf sich, als er im Frühling 1865 ein öffentliches internationales Schauturnen veranstaltete, dessen Schauplatz der „Pré Catalan“ war. Ein zahlreiches Publicum wohnte dem Feste an, welches den Parisern etwas völlig Neues war, und die turnerischen Leistungen der Vereinsmitglieder machten auf die Zuschauer einen so mächtigen Eindruck, daß viele Franzosen sich zur Aufnahme in den Verein meldeten, sodaß die Befürchtung laut wurde, letzterer werde durch die Ueberhandnahme des französischen Elements seinen deutschen Charakter verlieren. Bis zum Kriege zählte der Verein zahlreiche französische Mitglieder, und hervorragende französische Gelehrte, Politiker und Schriftsteller rechneten es sich zur Ehre an, in demselben gelegentlich Vorträge zu halten; denn von seiner Gründung an hat der Verein in hoher Erfassung seiner Aufgabe nicht blos für die leibliche Entwickelung, nicht blos für die Unterhaltung und Zerstreuung, sondern auch für die geistige Fortbildung und Erhebung seiner Mitglieder gesorgt, indem er während des Winters wöchentliche Vorträge aus allen Gebieten des Wissens veranstaltete; die Geisteselite der Pariser Deutschen und hervorragende Gäste aus der Heimath hielten es für ihre patriotische Pflicht, das Bildungsstreben des Vereins zu unterstützen, und wenn wir die Liste der Redner überblicken, welche an den Vortragsabenden des Vereins gesprochen haben, so finden wir Karl Vogt, Ludwig Bamberger, Ludwig Simon (Trier), Gottfried Kinkel, Julius Oppert, Rudolph Virchow und ähnliche Namen von vornehmstem Klange.

Der Verein war angesehen, wohlhabend, materiell in voller Blüthe, als der Krieg ausbrach und ihn gleich einer Sturmfluth aus der Pariser Gesellschaft wegfegte. Nach wiederhergestelltem Frieden fanden sich wohl einige Mitglieder von Neuem in Paris zusammen, aber für’s Erste konnten sie noch nicht daran denken, die alten, ihnen lieb und theuer gewordenen Vereinstraditionen wieder anzuknüpfen. Es galt zunächst, sich möglichst klein zu machen, keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, dem frischen Haß der Pariser gegen alles Deutsche keine Nahrung zu bieten. Im Jahre 1872 aber schritten die eifrigen und treuen Mitglieder zur Wiederbelebung des Vereins.

In der Wohnung des berühmten Augenarztes Dr. Eduard Meyer versammelte man sich, anfangs blos ein Häuflein von zwölf bis fünfzehn Getreuen; allmählich erweiterte sich der Kreis; neue Elemente schlossen sich dem alten Kern an, und heute zählt der Verein wieder 250 Mitglieder. Dr. Eduard Meyer ist noch immer Präsident desselben; seine Verdienste um den Verein können nicht genug gewürdigt werden. In schwierigsten Zeiten, als ein hoher moralischer Muth dazu gehörte, in Paris den erbitterten Franzosen gegenüber deutsche Bestrebungen zu vertreten, als es sogar mit wirklicher Gefahr verbunden war, an der Spitze einer deutschen Gesellschaft zu stehen, leitete er den Verein mit geradem Sinne und fester Hand, beschwichtigte das Mißtrauen der Behörden, trat den Zeitungsangriffen entgegen, erhielt durch Beispiel und Reden in den Vereinsmitgliedern die Liebe zum Vaterlande, einen hehren deutschen Idealismus und Vertrauen zur Zukunft des Vereins lebendig und war überhaupt der gute Geist des deutschen Turnvereins. Wenn der letztere seine jüngste Krise ohne Schaden überstanden hat und sich anschickt, in einem neuen Local weiter zu blühen, so schuldet er auch dafür seinen Dank in erster Reihe der Unerschrockenheit und festen Treue seines Präsidenten Dr. Eduard Meyer.

Der Turnverein besitzt heute ein Vermögen von über 7000 Franken, eine Bibliothek von 4000 Bänden, die durch Spenden deutscher Schriftsteller und Verleger fortwährend bereichert wird, eine Turnhalle und einen Vereinssaal, den die Büsten Goethe’s, Schiller’s und Vater Jahn’s schmücken. Er veranstaltet wöchentlich gesellige Zusammenkünfte, bei denen Chöre gesungen, Musikstücke und Vocalquartette aufgeführt und Vorträge gehalten werden; er feiert die großen Jahrestage der Literaturgeschichte, den Weihnachts- und Fastnachtsabend durch Feste, die durch die frische Jugend, das Talent und die überschäumende Lebensfreudigkeit der Mitglieder einen poetischen Aufschwung nehmen, und er ersetzt den Letzteren im Allgemeinen Familie und Heimath, soweit diese in der Fremde eben zu ersetzen sind. Im Turnverein steht man auf deutschem Boden. Man fühlt sich da von Lüften der Heimath umweht und verliert auf Stunden vollständig die kalte Empfindung des Fremd- und Vereinzeltseins in der großen Menschenwüste Paris.

Aus dem Turnverein hat sich ein „Deutscher Quartett-Verein“ entwickelt, der, wie sein Name besagt, besonders der Pflege classischer Kammermusik obliegt, während ein anderer Verein, die „Teutonia“, den Männergesang cultivirt. Die „Teutonia“ konnte in diesem Jahre das Fest ihres fünfundzwanzigjährigen Bestandes feiern, zu dem Emil Rittershaus einen schönen poetischen Gruß sandte.

Dies sind die sechs deutschen Vereine, die augenblicklich in Paris wirken und gedeihen. Alle haben sich edle und hohe Ziele gesteckt und streben mit idealen Mitteln darnach, sie zu erreichen. Wenn sie von einem Theile des französischen Publicums scheel angesehen werden, so geschieht dies nur so weit man ihre Thätigkeit nicht kennt. Ein Franzose, der nur ein einziges Mal die Jahresausweise des Hülfsvereins mit ihren imposanten Summen der Unterstützungen überflogen, der nur ein einziges Mal die Musterherberge des protestantischen Jünglingsvereins besucht und dessen Sonntags-Zusammenkünften angewohnt, der nur ein einziges Mal mit dem Studentenverein gekneipt, nur einen einzigen Abend im Turn-, im Quartett-, im Männergesangsverein verbracht hat, der wird, er mag sonst für die Deutschen noch so feindselige Empfindungen haben, vom deutschen Vereinsleben in Paris gewiß nie wieder anders als mit Achtung und Anerkennung, vielleicht mit Bewunderung sprechen.