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Die Bekämpfung der hohen Schulter

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Titel: Die Bekämpfung der hohen Schulter
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aus: Die Gartenlaube, Heft 24, S. 404
Herausgeber: Adolf Kröner
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Erscheinungsdatum: 1891
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Zur Bekämpfung der hohen Schulter.

Die hohe Schulter ist eine Mißgestaltung des Körpers, welche in früher Jugend unmerklich zu beginnen pflegt, von Erziehern und Eltern gar nicht oder nur ungenügend beachtet und, sich selbst überlassen, mit der Zeit unheilbar wird. Den größten Prozentsatz unter den auf solche Weise verunstalteten Wesen bilden junge Mädchen. Es ist eigenthümlich, aber wahr: so lange diese Mädchen noch in die Schule gehen, achten die Eltern wenig auf die hohe Schulter, wenn aber die Schulzeit vorüber ist, wenn das Fräulein in die Welt eingeführt werden soll, gleichviel ob diese Welt die der hohen Aristokratie oder der bürgerlichen Kreise ist, dann merken sie erst, daß die hohe Schulter das Fräulein verunziert. Die Schneiderin muß den Fehler verdecken, das wird zuerst besorgt; dann wird der Arzt gerufen – und leider muß er nunmehr feststellen, daß das Leiden nur durch eine langwierige Behandlung gebessert werden kann oder daß es überhaupt nicht mehr zu beseitigen ist. Und in der Regel wäre es so ungemein leicht gewesen, vor Jahren, als sich die hohe Schulter auszubilden begann, dieselbe wieder gerade zu machen!

Die hohe Schulter oder Skoliose entsteht dadurch, daß die Wirbelsäule oder das Rückgrat seitwärts in der Form eines lateinischen S gekrümmt wird. Die Ursachen dieser Krümmungen können verschiedenartig sein. Entzündungen der Wirbelkörper, Erkankungen der an diesen befindlichen Sehnen, Bänder und Muskeln können zu Knickungen und Krümmungen der Wirbelsäule führen, wie dies z. B. bei der chronischen Wirbeltuberkulose der Fall ist. Derartige schwere Störungen der Gesundheit, welche eine sofortige ärztliche Behandlung erheischen, sind jedoch verhältnißmäßig selten. In der Regel entsteht die hohe Schulter im Jugendalter als eine Folge schlechter Körperhaltung des Kindes. Wird ein Säugling von der Mutter oder Pflegerin stets auf einem und demselben Arm getragen, so kann seine noch schwache und biegsame Wirbelsäule gekrümmt werden und das Kind wird infolge einer unzweckmäßigen Abwartung skoliotisch. Im späteren Alter kann das andauernde Führen des Kindes an einer und derselben Hand das gleiche Leiden verursachen. Mütter sollten mehr auf diese Thatsachen achten und darauf dringen, daß auch die Wärterinnen die Kleinen abwechselnd auf dem rechten und linken Arme tragen und sie abwechselnd an der rechten und linken Hand führen. Die Hauptgefahr für die Erwerbung der hohen Schulter kommt aber erst in den Schuljahren. Das unrichtige Sitzen beim Schreiben, Nähen, Sticken, wobei die Kinder infolge einer schlechten Sitzgelegenheit oder auch infolge von Ermüdung die eine Seite einsinken lassen und die andere herauskrümmen, trägt in den allermeisten Fällen die Schuld an der seitlichen Rückgratverkrümmung, die nicht nur unschön ist, sondern bei höheren Graden von ungünstiger Einwirkung auf die inneren Organe des Körpers sein muß. Die Aerzte haben auf diese Gefahren der schlechten Angewohnheit in der Körperhaltung genügend oft aufmerksam gemacht, auch die „Gartenlaube“ hat es sich immer angelegen sein lassen, ihre Bemühungen zu unterstützen (vgl. u. a. Jahrgang 1890, S. 723), und es ist nunmehr Aufgabe der Eltern und der Erzieher, das Schiefwerden der Kinder zu verhüten.

Zeigt sich bereits die erste Neigung zum Schiefhalten, so kann man durch zweckmäßige Hausgymnastik das Uebel beseitigen. Die Wirbelsaule behält noch lange Zeit die Fähigkeit, in die gerade Form, aus welcher sie durch schädliche Einflüsse gedrängt wurde, zurückzukehren. Der bekannte Orthopäde Dr. Schildbach hat vor einigen Jahren eine Reihe solcher einfacher gymnastischer Uebungen, die unter Anleitung der Eltern im Hause ausgeführt werden können, in der „Gartenlaube“ (vgl. Jahrgang 1888, S. 217) beschrieben. Treffliche Winke findet man auch in den für die weitesten Kreise berechneten Büchern von Angerstein und Eckler, „Hausgymnastik für Gesunde und Kranke“ und „Hausgymnastik für Mädchen und Frauen“, von denen der Leser das letztere in der „Gartenlaube“ (1889, S. 91) besprochen findet, sowie in der „Kinderstuben-Gymnastik“ von C. H. Schildbach. Eltern, welche schwächliche Kinder haben, sollten nicht versäumen, aus diesen Büchern möglichst frühzeitig Belehrung zu schöpfen.

Wie glänzend auch die Erfolge einer zweckmäßigen gymnastischen Behandlung bei beginnender Gewohnheitsskoliose sind, es bleiben leider noch immer genug Fälle übrig, in denen trotz aller Mühe und Sorgfalt der Eltern die Kinder die verlorengegangene gerade Haltung nicht wieder erlangen.

Der Grund hierzu ist in der Schwäche der Kinder zu suchen. Starke Kinder können mehr aushalten und werden nicht so leicht schief, die schwachen dagegen unterliegen am ehesten den schädlichen Einflüssen. Die Gymnastik, selbst die einfache Hausgymnastik, ist nun eine Anstrengung, geringfügig für den Kräftigen, aber groß für die Schwachen. Die letzteren können die nothwendigen Uebungen nicht voll oder nicht mit dem gehörigen Nachdruck ausführen. Wenn wir überhaupt die Schar der hochschulterigen Kinder mustern, so werden wir finden, daß sie zumeist blutarm, bleichsüchtig, stubensiech, vor allem jedoch muskelschwach sind. Durch zweckmäßige Pflege und Ernährung kann man zwar den allgemeinen Kräftezustand der schwächlichen Kinder heben, die Muskelschwäche aber wird damit keineswegs ganz beseitigt. Ein gesunder, wohlgenährter Mensch kann dennoch muskelschwach sein, wenn er infolge einer sitzenden Lebensweise seine Muskeln nicht gebraucht, sie nicht übt. Die stubensiechen, muskelschwachen Kinder befinden sich oft in derselben Lage; die freie Gymnastik leistet bei ihnen nur geringe Dienste oder versagt vollständig. In solchen Fällen muß man den Körper durch andere Hilfsmittel unterstützen; hier sind zweckmäßige Apparate am Platze.

Fig. 1. Hängen am Wirbelsäule-Strecker.

Fig. 2. Ellbogenstellung im Wirbelsäule-Strecker.

Das äußerste Mittel ist nun, den Körper durch Geradehalter u. dergl. in die richtige Lage zu zwingen. Neuerdings aber ist der Schatz von Heilapparaten durch ein neues sehr zweckmäßiges Geräth bereichert worden, ein Geräth, welches selbst dem Schwächsten erlaubt, die nothwendigen gymnastischen Uebungen auszuführen. Es ist der Wirbelsäule-Strecker, ein orthopädischer Turnapparat zum Gebrauche in der Familie, welchen Dr. Schmid in Seeburg bei Urach (Württemberg) erfunden und erprobt hat.

Auf unseren Abbildungen sehen wir ihn im Gebrauch. Er besteht aus einem eisernen Kreuz mit ledernen Schlingen, in denen der Kopf des kranken oder schwachen Turners befestigt wird. An dem eisernen Kreuze ist eine Rolle angebracht, über diese läuft eine Leine, die weiterhin über zwei an der Zimmerdecke angeschraubte Rollen geht. Die Enden der Leine sind mit Handgriffen versehen.

Die Wirkung des Wirbelsäule-Streckers ist leicht zu erklären: durch den Zug der Arme an den Handgriffen wird sofort der Kopf von der Schulter ab in die Höhe gezogen, ein Einziehen desselben vermittelst der Halsmuskeln ist unmöglich. Durch den Zug der Leine über die an der Decke befestigten Rollen ergiebt sich eine solche Verminderung des zum Aufziehen nöthigen Kraftaufwandes, daß Patienten, die nicht imstande sind, am Reck oder Trapez ihren Körper um Haarbreite in die Höhe zu heben, sofort einen Erfolg erzielen, d. h. die Handgriffe des Apparates den Schultern näher und das Aufziehen fertig bringen. Dieser Erfolg hat für den Uebenden so viel Ermuthigendes, daß er weitere Proben nicht unterlassen wird. Schon beim Hängen (Figur 1) im Apparate wird die Wirbelsäule vom Körper abwärts möglichst gerade gestreckt und die Arm- und Brustmuskeln werden in Thätigkeit versetzt. Noch kräftiger wird die Wirkung in der Ellbogenstellung, die in Figur 2 wiedergegeben ist. Mit beiden Uebungen wird das Schwingen verbunden. Der Körper wird nach vorn, rückwärts und seitlich geschwungen, indem der Uebende durch Abstoßen mit den Füßen vom Boden sich ins Schwingen bringt oder durch die Beihilfe einer Person, welche im Rücken des Uebenden steht, in Schwung versetzt wird. Hierdurch wird nicht nur die gestreckte Wirbelsäule in ihren einzelnen Theilen und Gelenkverbindungen beweglich gemacht, sondern auch die mächtige Rückenmuskulatur angeregt und Elasticität und Kraft in der Wirbelsäule, dem Schultergürtel und den Armen erzielt. Der Wirbelsäule-Strecker bringt auch denjenigen Nutzen, welche nach vollendetem Körperwachsthum sich eine schlechte Haltung des Kopfes und der Schulter angewöhnt haben. – Obgleich die Anwendung des Apparates in hierzu geeigneten Fällen völlig gefahrlos ist, so werden dennoch die Eltern gut thun, immer den Rath ihres Hausarztes einzuholen. Der Erfinder Dr. Schmid erklärt ein solches Vorgehen selbst für wünschenswerth, denn nur der Arzt vermag die wirkliche Ursache der Verkrümmung festzustellen und zu entscheiden, ob die Anwendung des Apparates in dem besonderen Falle empfehlenswerth ist oder nicht. *