Die Deutschen in Oesterreich (Die Gartenlaube 1885)
In den beiden ersten in diesem Jahre erschienenen Nummern der „Gegenwart“ unternahm es Eduard von Hartmann in einem „Der Rückgang des Deutschthums“ überschriebenen Artikel, der deutschen Nation das Horoskop zu stellen, und kam dabei zu dem Schlusse,
daß der Panslavismus die größte, dem Deutschen Reiche sowohl als Oesterreich drohende Gefahr sei, gegen welche die Slavisirung Oesterreichs und die Umwandelung desselben in einen südwestslavischen Föderativstaat die einzige Schutzwehr sei. Für das Deutsche Reich sei es darum eine Lebensfrage, einer solchen Umwandelung Oesterreichs keine Schwierigkeiten zu bereiten, und es könne für dasselbe keine Sache der Erwägung sein, wie der Rückgang des Deutschthums in Oesterreich abzuwenden sei. Das Deutschthum daselbst sei, abgesehen von Tirol und einigen kompakten Sprachinseln an der Moldau und Donau, überall verloren, unaufhaltsam und unrettbar verloren.
Nun ist freilich die politische Wahrsagerei ein Geschäft, das von altersher wenig Vertrauen genießt und in dem speciellen Falle wohl kaum an Werthschätzung gewinnen wird, wenn es sich, aller Hüllen entkleidet, als ein Rechtfertigungsversuch dafür erweist, daß Deutsche, die sonst ein so lebhaftes Nationalgefühl besitzen und fordern, wie dies für Hartmann aus seinen Schriften hervorgeht, mit vornehmer Kühle und würdiger Zurückhaltung den Kampf betrachten, den die Deutschen in Oesterreich um ihre nationale Existenz führen. Und auch das Verständniß für die Schlußfolgerungen, die Hartmann zieht, dürfte kaum ein sehr allgemeines werden, wenn man als Wesen derselben Forderungen erkennt, die logisch nichts Anderes bedeuten, als eine Förderung des Slavismus zum Schutze gegen das Slaventhum, und ethisch etwa auf der Höhe der That Ugolino’s stehen, der seine Kinder verzehrte, wie ein bitterer Witz bemerkt, um ihnen den Vater zu erhalten. So könnte es vielleicht als das Zweckmäßigste erscheinen, jenen Artikel Hartmann’s ruhig einem stillen Gericht der öffentlichen Meinung zu überlassen. Indessen, viele Leser sind bei der Fülle des Lesestoffes, der heutzutage bewältigt werden soll, um den Anspruch auf allgemeine Bildung zu rechtfertigen, und bei der ganzen Hast des heutigen Lebens nicht in der Lage, länger bei dem Gelesenen zu verweilen und sich über die Richtigkeit der darin enthaltenen Thatsachen und Schlüsse zu unterrichten. Zudem treten die von einem hochangesehenen Namen getragenen Aeußerungen Hartmann’s in einer so bestimmten Form und unter dem Anschein so großer logischer Präcision auf, daß doch Verwirrung durch dieselben in gar manchem echt und tief deutsch empfindenden Gemüthe zu besorgen ist. Dies mag es rechtfertigen, wenn hiermit der Versuch einer kritischen Beleuchtung jenes Artikels – so weit er auf den oben angegebenen Inhalt Bezug hat – unternommen wird.
Zunächst ist in dieser Richtung hervorzuheben, daß man an und für sich wohl erwarten müßte, daß Jemand, der zu so einschneidenden und, wie man wohl hoffen darf, ihm selbst so widerstrebenden Schlußfolgerungen über die Zukunft seiner Nation gelangt, sich mit den Thatsachen genau vertraut gemacht hat, auf die er seine Schlußfolgerungen aufgebaut hat. Doch fand Hartmann dies sichtlich nicht für nothwendig, als er seine Betrachtungen über das Schicksal der Deutschen in Oesterreich auf den Satz begründete, daß „die ehemaligen deutschen Bundesprovinzen (dieses Reiches), abgesehen von Tirol und der Sprachinsel an der Donau, überall eine slavische Majorität zeigen“.
Ein Blick in ein statistisches Handbuch hätte ihn belehren können, daß diese Behauptung nicht blos für das rein deutsche Salzburg, sondern auch für Steiermark, wo das Verhältniß der Deutschen zu den Slaven sich wie 79:38, für Kärnten, wo sich [150] dasselbe wie 24:10, ja eigentlich auch für Schlesien nicht gilt, wo es sich wie 27:28 stellt, also von einer Majorität nicht wohl gesprochen werden kann. Und diese Zahlen fallen um so mehr ins Gewicht, als die Deutschen in diesen Ländern zumeist kompakt beisammen wohnen, wodurch die Gefahr einer Entnationalisirung, wie Hartmann ja selbst fühlt, sehr vermindert wird. So sind in Steiermark 44 der 68 Gerichtsbezirke des Landes ganz von Deutschen besiedelt, wobei das Procentverhältniß der eingesprengten Slaven nur in 3 dieser Bezirke sich bis 1 erhebt. In Kärnten sind 17 von den 29 Gerichtsbezirken des Landes deutsch, und nur in einem dieser Bezirke steigt das Procentverhältniß auf 1. In Schlesien sind 15 von 27 Gerichtsbezirken deutsch. In einem dieser Bezirke finden sich 13, in einem anderen 1½ Procent, in allen übrigen aber gar keine oder nur Bruchtheile eines Procentes Slaven. Ebenso hätte sich Hartmann leicht überzeugen können, daß es ganz falsch ist, die unter einander und mit dem Deutschen Reiche zumeist in unmittelbarem geographischen Zusammenhange stehenden deutschen Bestandtheile Oesterreichs als Sprachinseln zu erklären und vollends falsch, die vorwaltend an der Elbe und Eger liegenden Wohnsitze der Deutschen Böhmens als „kompakte Sprachinsel an der Moldau“ zu bezeichnen, welch letzterer Fluß hauptsächlich durch tschechisches Sprachgebiet strömt.
Und ist etwa in jenen ehemaligen deutschen Bundesprovinzen Oesterreichs, die in der That eine slavische Majorität haben, der Untergang des Deutschthums schon besiegelt, wenn diese Majorität „zum vollen Bewußtsein ihrer Macht erwacht“?
In Böhmen stellt sich das Verhältniß der Deutschen zu den Slaven wie 20:34. Als eine zusammenhängende, stellenweise bis 13 Meilen breite Zone zieht sich das deutsche Sprachgebiet an der Grenze dieses Landes und zumeist zugleich des Deutschen Reiches von Nordosten nach Südwesten hin. In vielen Gerichtsbezirken dieses Gebietes macht die slavische Bevölkerung nicht einmal 1 Procent, in vielen anderen höchstens 3 Procent der Gesammtbevölkerung aus. Die Zahl der Deutschen in Böhmen, welche in der Diaspora leben oder in abseits von diesem Gebiete liegenden wirklichen Sprachinseln, ist verhältnißmäßig gering. Ist dies eine Lage, welche die Auszehrung des Deutschthums durch die Slaven in Böhmen selbst nur wahrscheinlich macht?
Sogar für Mähren, wo die Dinge im Ganzen ungünstiger liegen und das Verhältniß der Deutschen zu den Slaven auf 62:150 herabsinkt, muß dies verneint werden, nachdem das Deutschthum dort in allen größeren Städten und in 17 von den 75 Gerichtsbezirken des Landes stark überwiegt, und zwar in letzteren derart, daß die Slaven oft nur ein Bruchtheil eines Procentes der Bevölkerung erreichen. Weit eher könnte eine solche Wahrscheinlichkeit für Krain und Ungarn angenommen werden, wo das Deutschthum allerdings mehr inselartig verstreut ist. Indessen so leicht der Deutsche in der Diaspora in Städten seine Nationalität einbüßt, so zäh hält sie der deutsche Landmann im allgemeinen fest. Und wenn die Deutschen in Siebenbürgen, im Banate und in Gottschee ihre Nationalität durch Jahrhunderte rein erhalten haben, so darf wohl auch einige Widerstandsfähigkeit ihrerseits für die Zukunft erwartet werden, wo allerdings die politischen Verhältnisse für die Erhaltung ihrer Nationalität ungünstiger liegen dürften als bisher, dagegen aber der unschätzbare Vortheil bestehen wird, daß die modernen Mittel für den geistigen und persönlichen Verkehr auch weit aus einander liegende Theile eines Volksthumes bis zu einem gewissen Grade zu einem Ganzen verbinden und das lähmende Gefühl der Isolirung in keinem der Theile aufkommen lassen, falls die Angehörigen jenes Volksthumes allerwärts einigermaßen ihre Schuldigkeit thun.
Letzteres setzt allerdings ein wechselseitiges Gefühl der Zusammengehörigkeit voraus, das Kundgebungen, wie jene Hartmann’s, freilich bei den Deutschen nicht zu fördern vermögen. Indessen sprechen doch andere Kundgebungen wieder so deutlich für eine langsame aber stetige Ausbreitung, für ein langsames aber stetiges Erstarken dieses Gefühles in Deutschland und Oesterreich, daß man wohl die Erhaltung des Deutschthums selbst in seinen am meisten bedrohten Gebieten in Oesterreich-Ungarn hoffen darf, ohne daß sich Deutschland deßhalb in „Kriege und unhaltbare Eroberungen“ einzulassen braucht. Und wenn die Auseinandersetzungen Hartmann’s zum Theil durch die Furcht hervorgerufen sein sollten, daß die Deutschen Oesterreichs „verlangen könnten, daß Deutschland, „um das Deutschthum der Brüder im Auslande zu retten, sich in Kriege und unhaltbare Eroberungen stürzen solle“, so kann ihm die beruhigende Versicherung gegeben werden, daß kein einigermaßen klar denkender Kopf, insbesondere kein ernster Politiker unter den Deutschen Oesterreichs an ein solches Verlangen denkt. Selbst die äußersten Kolonnen des linken Flügels der deutschen Partei in Oesterreich fordern, wie ganz deutlich aus ihren Programmen hervorgeht, nichts Anderes als Sicherung des Bündnisses zwischen Deutschland und Oesterreich durch einen staatsrechtlichen, parlamentarisch sanktionirten Vertrag und Herstellung einer engeren Interessengemeinschaft zwischen beiden Reichen durch einheitliche Lösung einzelner wirthschaftlicher und anderweiter Fragen der Gesetzgebung – eine Forderung, die im Einklang steht mit dem Programm, das Fürst Bismarck selbst für die Beziehungen der beiden Reiche zu einander aufgestellt hat, und die jedem Annexionsstreben schnurstracks zuwider ist.
Und wer die Verhältnisse in Oesterreich einigermaßen kennt, wird trotz aller denunciatorischen Gegenversicherungen der Feinde des Deutschthums in diesem Reiche, unter denen die „Auchdeutschen“ nicht in letzter Reihe stehen, zugeben müssen, daß das Streben der deutschfühlenden Patrioten daselbst in dieser Frage auf nichts Anderes gerichtet ist, auf nichts Anderes gerichtet sein kann, als auf die Ausbreitung des Nationalbewußtseins unter den Volksgenosen und die allmähliche Besiegung des Widerstandes gegen die oben bezeichnete Forderung. Dieser Widerstand besteht zum Theil selbst in deutschen Kreisen noch, in denen, entsprechend dem großen Beharrungsvermögen, das den Deutschen überhaupt eigenthümlich ist, der alte anerzogene Gegensatz zu Preußen und eine menschlich gewiß entschuldbare Eifersucht auf dasselbe noch nicht allerseits erloschen ist.
Freilich müßte auch ein solches Streben als aussichtslos erscheinen, wenn man mit Hartmann annimmt, daß „die bestgemeinten Bemühungen der Patrioten nicht hinreichen werden, um in den niederen Klassen der Deutschen den Erbfehler derselben, den Mangel an nationalem Stolz gründlich zu ändern.
Dieser Annahme Hartmann’s aber stehen die Erfahrungen, die man in Oesterreich in den letzten Jahren gemacht hat, durchaus entgegen. Gerade in der „niederen“ Masse des deutschen Volkes bricht sich daselbst das deutsche Nationalbewußtsein siegreich Bahn, und wenn diese Erscheinung sich auch zunächst nur an den eigentlichen Wahlstätten des nationalen Kampfes deutlich kund giebt, wo freilich das übermüthige Treiben der nationalen Gegner noch rascher und wirksamer erzieht als die bestgemeinten Bemühungen der gebildeten deutschen Patrioten, so sprechen doch auch mancherlei Zeichen dafür, daß es in nicht allzuferner Zeit gelingen wird, auch in den deutschen Alpenländern Oesterreichs kräftigere Regungen deutschen Nationalgefühls wachzurufen, wenn die Patrioten nur beharrlich arbeiten und, was bis jetzt zumeist versäumt wurde, ihre Arbeit gerade auf die „niedere“ Masse des Volkes konzentriren. Durch „geistige, moralische und pekuniäre Unterstützung“ in dieser Arbeit aber können die Angehörigen Deutschlands unter strenger Einhaltung aller der Rücksichten, welche die politische Lage dem Geber wie dem Empfänger auferlegt, eine nationale Pflicht gegen die Deutschen Oesterreichs erfüllen ohne mit Hartmann glauben zu müssen, dadurch nur deren „Todeskampf“ zu verlängern.
Mit all Dem soll aber durchaus nicht etwa behauptet werden, daß das Deutschthum in Oesterreich nicht bedroht ist, daß es keine Verluste erlitten und keine weiteren Verluste zu gewärtigen hat. Es muß zugegeben werden, daß in Städten wie Prag und Pesth, die noch vor wenigen Jahrzehnten einen deutschen Anstrich hatten, jetzt ein nichtdeutsches Volksthum sich vorwaltend geltend macht, daß an den Sprachgrenzen da und dort ein Abbröckeln zu bemerken ist, und daß oft an und für sich unbedeutende slavische Minoritäten mitten im deutschen Sprachgebiete, die vordem kaum wahrnehmbar waren, dort einen förmlichen Krieg gegen das Deutschthum organisiren. Um sich durch solche Erscheinungen aber nicht über Gebühr in Schrecken versetzen zu lassen, darf man nicht übersehen, daß die „niedere“ Masse des Volkes in jenen Städten auch früher nicht deutsch war, und daß die Veränderung, die sich im Anstrich jener Städte vollzogen hat, zum guten Theil auf die weit größere Regsamkeit und das erhöhte Selbstbewußtsein dieser Masse zu schieben ist, sowie daß das Deutschthum in Oesterreich auf dem Wege ist, gar Manches von dem, was es an Ausbreitung verloren hat, durch schärfere Ausprägung und Vertiefung zu ersetzen. Zudem bricht sich bei den Deutschen Oesterreichs immer [151] mehr die Ueberzeugung Bahn, daß Sicherung des deutschen Sprachgebietes in diesem Reiche zunächst ihre wichtigste politische Aufgabe ist. Und stets werden sich doch auch die leitenden Kreise daselbst der Ueberzeugung nicht verschließen können, daß möglichst sorgfältige Abgrenzung der Sprachgebiete, Regelung der nationalen Verhältnisse nach Maßgabe dieser Gebiete und unter Feststellung der unvermeidlichen neutralen Punkte, sodann aber Verhängung einer Art nationalen Landfriedens behufs Hintanhaltung jeder gewaltthätigen Verrückung des status quo die einzig richtige Auslegung des Nationalitätenprincipes für Oesterreich und zugleich das einzige Mittel ist, um dauernd Ordnung in diesem Reiche zu schaffen.
Da scheinen nun freilich der Hoffnung auf eine solche Lösung der Nationalitätenfrage in Oesterreich jene Schlußfolgerungen Hartmann’s entgegen zu stehen, welche dem Sinne nach dahin gehen, daß in konstitutionellen Staaten die Majoritäten entscheiden, und daß in Oesterreich-Ungarn also, wo das Jahr 48 und die liberale Doktrin der Deutschen konstitutionelle Zustände geschaffen haben und die Slaven die Majorität bilden, jede Regelung der Verhältnisse ausgeschlossen ist, welche die Ansprüche der slavischen Majorität nicht befriedigt, das heißt nicht zur Slavisirung dieses Reiches führt. Wenn man aber schon Zukunftspolitik auf Grund eines einfachen Rechenexempels treiben will, so sollten doch wenigstens die Ziffern, mit denen man rechnet, richtig sein. Es ist jedoch unrichtig, daß die Slaven in Oesterreich-Ungarn die Majorität bilden, da nach dem Ergebnisse der letzten Volkszählung die Slaven zu den Nichtslaven in diesem Reiche sich verhalten wie 177:201.
Allerdings bilden die Nichtslaven keine homogene Masse, und manche Elemente unter ihnen, wie die Deutschen und Magyaren, stehen augenblicklich in nationalen Fragen in einem gewissen Gegensatze zu einander. Allein dieser Gegensatz ist kaum so groß, wie jener zwischen einzelnen der slavischen Nationen Oesterreichs, so zwischen den Polen und Ruthenen, und der Gedanke an eine Art von Ausgleich der nationalen Interessen innerhalb der ersteren Gruppe, behufs gemeinsamer Abwehr des slavischen Angriffes, liegt nicht gar so fern, daß er für eine Zukunftspolitik nicht mit in Betracht gezogen werden müßte. Unrichtig ist es weiter, wenn Hartmann in Ungarn nur ein magyarisches Viertel der Bevölkerung einer slavischen Mehrheit gegenüberstellt. Nach der letzten Volkszählung betragen die Magyaren im ungarischen Staatsgebiete 41,16, die Slaven dagegen nur 29,86 Procent der gesammten Bevölkerung, womit auch alle von Hartmann an die These der slavischen Majorität in Ungarn sich knüpfenden Schlußfolgerungen hinfällig werden.
Wohl sollten diese Auseinandersetzungen an und für sich genügen, um nachzuweisen, wie wenig Gewicht den niederschmetternden Darlegungen in dem fraglichen Artikel beizumessen ist. Indessen dürfte es sich empfehlen, das Gespenst des Panslavismus noch etwas näher zu betrachten, das einen so wichtigen Faktor in den Kombinationen Hartmann’s abgiebt. Es sei dabei ganz abgesehen von der Frage, ob ein übermäßig ausgedehnter, zumeist dünn bevölkerter panslavischer Staat mit seinen vielen inneren Ungleichheiten und den in Rußland jetzt schon üppig wuchernden Keimen der Zersetzung überhaupt eine furchterregende Angriffsmacht wäre; auch das Bedenken soll nur gestreift werden, daß es doch unbestimmt ist, ob der Zug zur Bildung großer Nationalstaaten, welcher der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts die Signatur gieht, dem nächsten Jahrhundert noch eigenthümlich sein wird. Aber das muß eindringlich betont werden, daß die Hindernisse, welche sich der Bildung eines großen panslavischen Nationalstaates durch Rußland entgegenstellen, nicht nur verhältnißmäßig weit größer sind, als dies bei Italien und Deutschland der Fall war, sondern an und für sich derart sind, daß die Aussicht auf den panslavischen Staat bei einer sorgfältig abwägenden politischen Berechnung nur ganz nebenbei in Betracht gezogen werden kann. Denn hier handelt es sich nicht um die Vereinigung verschiedener Stämme einer Nation, sondern um verschiedene Nationen, die nur in mühevoller und äußerst langwieriger Arbeit zu einer Einheit verschmolzen werden könnten. Nicht allein die großen Verschiedenheiten in Sprache, Schrift und Kirche zwischen den Russen und den meisten übrigen Slaven wären dabei zu überwinden, sondern auch der ausgesprochene Hang der Südslaven zur Selbständigkeit und Unabhängigkeit, der alte Haß der Polen, der Kulturdünkel der Tschechen etc. Alle diese inneren Verschiedenheiten und Gegensätze sind so groß, daß eine energischere Anziehungskraft Rußlands auf die österreichischen Slaven und die Südslaven ohne eine gewaltsame Unterdrückung dieser, die ja auch ohne Umwandlung Oesterreichs in einen südwestslavischen Föderativstaat zu vermeiden ist, sich gar nicht entwickeln kann. Die einsichtigeren Slaven sind sich dessen auch gar wohl bewußt, und wenn von Slaven selbst ab und zu das Gespenst des Panslavismus heraufbeschworen wird, so mag dies bei Manchen von ihnen wohl auf einer naiven Phantasterei beruhen, den Meisten derselben aber handelt es sich dabei nur um die Vorführung eines Zweckgespenstes, dessen Wirkung sie mit schlauem Lächeln beobachten. Und glaubt denn Hartmann in der That, daß die Entstehung eines panslavischen Staates, wenn die Bedingungen hierfür so günstig lägen, wie er anzunehmen scheint, verhindert werden könnte durch Schwächung oder gar Aufsaugung der die Slaven Oesterreichs trennenden und der freien Aktion nach außen beraubenden Volkselemente und Bildung eines südwestslavischen Föderativstaates? Im besten Falle würde damit doch nichts Anderes erreicht werden, als eine Verzögerung, dann aber, nach Anschluß des slavisirten Oesterreich, durch Volksmasse und geographische Lage eine um so größere Gefährdung Deutschlands durch den neuen Staat.
Nicht unerwähnt darf schließlich bleiben, daß Hartmann in seinen zukunftspolitischen Kombinationen – in grellem Widerspruch mit den jüngsten Aeußerungen des Fürsten Bismarck über die politische Lage – mit der offenen Feindschaft Frankreichs gegen Deutschland und der versteckteren, nur des richtigen Augenblickes harrenden Gegnerschaft Rußlands gegen Deutschland und Oesterreich, sowie mit dem Indifferentismus aller übrigen Mächte Europas gegenüber den hieraus etwa entspringenden Händeln als mit für alle Zeiten gegebenen Faktoren rechnet. Wohl muß zugegeben werden, daß dies für die Politik der nächsten Zeit sehr wichtige Faktoren sind, allein wie viele solche Gegensätze gleichen sich im Lauf der Zeit aus, welche große Verschiebungen in der Stellung der einzelnen Mächte gegen einander hat Europa selbst in diesem Jahrhundert schon erlebt! Und wenn Hartmann den Panslavismus in Rechnung zieht, wer hindert dann Andere, ein Gleiches mit dem Pangermanismus zu thun? 105 Millionen Angehörige der germanischen Völkergruppe in Europa gegen 94 der slavischen! Oder, das hochkultivirte Westeuropa gegen das minder kultivirte Osteuropa! Heißt dies Alles nicht, sich in spekulative Spielereien verlieren?
Wer zu weit denken will, denkt oft zu kurz, und so fehlerhaft die Politik ist, die nur das Heute in Betracht zieht, so ist doch jene noch fehlerhafter, die über dem Ausblicke in eine nebelhafte Zukunft die Forderungen der Gegenwart vergißt. Und für ein Volk, das eben noch so Großes vollbracht, so Langersehntes erreicht hat, gehört unter diesen Forderungen die Wahrung der nationalen Ehre gewiß nicht in die letzte Reihe. Wie wenig es sich aber mit dieser vertrüge, wenn man in Deutschland sich anschickte, aus engherziger und noch dazu unbegründeter Furcht, aus kleinlichem und noch dazu falsch berathenem Egoismus die Stimme des Herzens zu ersticken und den Untergang von 10 Millionen von Brüdern als ein der eigenen Sicherheit gebrachtes Opfer zu fördern, um das „in ihnen gemordete Deutschthum“ durch ungestörten Vollzug der Germanisation der denn Deutschen Reiche zugehörenden Polen, Dänen und Franzosen „verjüngt wieder auferstehen“ lassen zu können, bedarf wohl einer weiteren Auseinandersetzung nicht.
Treu der Pflicht, aber auch treu dem Herzen, das ist der Standpunkt, den die nationalfühlenden Deutschen Oesterreichs seit der Auflösung des früheren, alle Deutschen umschlingenden politischen Verbandes den deutschen Angelegenheiten gegenüber eingenommen haben. Von diesem Standpunkte aus haben sie mit hingebungsvoller Theilnahme die Ereignisse des Jahres 1870 verfolgt und dieser Theilnahme jeden statthaften Ausdruck gegeben, und dem entsprechend wird auch in Zukunft alles in ihrem Herzen nachklingen, was den Brüdern in Deutschland das wechselnde Verhängniß bringt. Den Glauben daran, daß ein ähnliches Empfinden in den Herzen der Angehörigen des Deutschen Reiches lebt, wird auch die jüngste Kundgebung Hartmann’s nicht zu erschüttern vermögen.