Die Dynastie Naundorff

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Autor: Rudolf von Gottschall
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Titel: Die Dynastie Naundorff
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aus: Die Gartenlaube, Heft 15, S. 246–248
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Die Dynastie Naundorff.

Von Rudolf von Gottschall.

In den französischen Zeitungen las man neuerdings, daß die Legitimisten sich nach dem Tode des Grafen Chambord um die Prinzessin Amélie zu sammeln scheinen, und da diese Prinzessin in keinem Genealogischen Kalender der Welt zu finden ist, so werden viele deutsche Leser begierig sein, nähere Aufschlüsse über dieselbe zu erhalten.

In der That hat es mit dieser französischen Prinzessin eine merkwürdige Bewandtniß; sie ist die Tochter eines Uhrmachers, der einen deutschen Namen führt; aber dieser Uhrmacher selbst hat sich zeitlebens für den Dauphin von Frankreich, für den Sohn der Maria Antoinette und des Königs Ludwig XVI. gehalten, für jenen unglücklichen Ludwig XVII., der zur Zeit der großen Revolution vom Konvent und von der Kommune im Temple eingesperrt und mißhandelt wurde und, wie die allgemeine Annahme ist, in Folge der schlechten Pflege erkrankte und starb. Diese letzte Thatsache wird von den Prätendenten – denn es gab ihrer mehrere – und ihren Anhängern bestritten; Ludwig XVII. soll aus dem Temple entkommen sein. Unter den Pseudodauphins, welche Anspruch auf den Thron von Frankreich für sich und ihre Familie machen, nahm der Uhrmacher Naundorff durch die Unermüdlichkeit, womit er diesen Anspruch geltend machte, wohl den ersten Rang ein.

Der Lebenslauf jenes Pseudodauphins, dessen Herkunft keineswegs aufgeklärt ist und der daher, wie man auch über seine Berechtigung denken mag, immerhin eine geheimnißvolle Persönlichkeit bleibt, gehört zu den romanhaftesten, welche die neuere Geschichte kennt, nicht blos mit Bezug auf jenen zweifelhaften Theil seiner Biographie, den er selbst erzählt, sondern auch im Hinblick auf die Abenteuer, deren Held er wurde, seitdem er im Lichte der glaubwürdigen Geschichte wandelt.

In einem Memoire, welches Naundorff im Jahre 1836 von England aus veröffentlichte, erzählt er seine eigene Geschichte etwa in folgender Weise. Als Dauphin von Frankreich hat er mit dem König und der Königin und seiner Schwester jene erschütternden Ereignisse der Revolution durchgemacht, welche noch in seinen Kindheitserinnerungen lebendig sind. Auf der verhängnißvollen Fahrt von Versailles nach Paris hat sich folgendes Ereigniß seinem Gedächtniß dauernd eingeprägt. „Zwei Ungeheuer trugen auf der Spitze ihrer Piken zwei Menschenköpfe und marschirten so vor dem königlichen Wagen. Zwischen ihnen ging ein Mann von schrecklichem Aussehen; er hatte einen großen Bart und trug auf der Schulter ein blutiges Beil. Vor einer Boutique ließ man halten; die Bösewichter gingen hinein, und als sie bald darauf wieder herauskamen, waren die abgeschlagenen Köpfe gepudert. Einer von ihnen näherte sich uns und hielt mir den Kopf unter die Augen. Ich stand aufrecht an der Kutschenthür, und obwohl einer unserer Freunde sich an den Kutschenschlag gelehnt hatte, um den Pöbel von uns abzuhalten, so konnte er doch das Attentat nicht verhindern. Ich wurde so heftig erschreckt von diesem entsetzlichen Anblick, daß ich mich in den Schoß der Mutter stürzte, um mein Gesicht zu verbergen.“ Dann erzählt er von der Fahrt nach Varennes, daß er von seiner Mutter als Mädchen verkleidet worden, und giebt eine Menge genauer Details dieser Reise an: bei der Rückfahrt hätte Barnave ihn auf seinen Schoß genommen und sei sehr zärtlich gegen ihn gewesen; er berichtet ferner, daß in der Nacht zwischen dem 9. und 10. August die Königin Marie Antoinette in seinem Zimmer geschlafen habe, in dem Bette seiner Wärterin. Alle diese und andere Einzelheiten sind unkontrollirbar; die Einzige aber, die Naundorff aufruft, ein Zeugniß dafür abzulegen, die Herzogin von Angoulème, die Schwester des Dauphins, hat das Zeugniß stets verweigert und sich in Schweigen gehüllt.

Interessanter und eingehender werden die Mittheilungen des Memoires, wo es sich um die Gefangenschaft im Temple handelt. Naundorff giebt eine sehr genaue Beschreibung des Grundrisses, der einzelnen Stockwerke des alten Gebäudes, seiner Kabinette, Thürme und Thürmchen: sie entspricht vollkommen den Zeichnungen und Plänen, welche Chantelauze seinem soeben erschienenen großen Werke über Ludwig XVII. eingefügt hat. Doch konnte sich der Prätendent ja auch diese Zeichnungen verschafft haben. Wohl aber giebt er eine Menge Einzelheiten an, sowohl was die Lokalitäten als auch den intimen Verkehr der königlichen Familie betrifft, welche nur Jemand wissen konnte, der wirklich in jenem Gefängniß gelebt hat. Es wird erzählt, daß Naundorff in Paris, in Gegenwart mehrerer Zeugen, eine Unterhaltung mit einem Klempner Bulot hatte, welcher von 1792 bis 1797 die Lampen im Temple zu besorgen hatte, daß dieser, als das Gespräch auf das alte Gefängniß kam, einiges Detail über seine Räumlichkeiten anführte, welches vom Prätendenten in einer Weise berichtigt und ergänzt worden sei, daß dem alten Manne sich die Augen mit Thränen füllten und er ausrief: „Sie können nur der Sohn Ludwig’s XVI. sein.“ Auch ein im Jahre 1837 gerichtlich verhörter Greis Jean Baptiste Jerome Brémond erklärte, er glaube, daß der Prinz aus dem Temple entkommen, daß Naundorff der echte Prinz sei, besonders weil er den Versteck kennt, welchen sein Vater in den Tuilerien selbst angelegt hat und bei dessen Verschluß er allein mit demselben zugegen war. Auch hatte Ludwig XVI. selbst geäußert, daß diesen Versteck für Dokumente und Gelder nur sein Sohn kenne. Der Prinz besitze den Schlüssel, den der König selbst angefertigt. Brémond war von 1788 bis zum 10. August 1792 Geheim-Sekretär Ludwig’s XVI.

Doch wie entkam der Dauphin aus dem Temple? Diese Entführungsgeschichte ist überaus romanhaft. Die Anhänger des [247] Prätendenten werden freilich behaupten können, gerade das spreche für ihre Glaubwürdigkeit; denn wenn es sich um eine Erfindung handle, so hätte es sich Naundorff bequemer machen können.

Ueber die Mißhandlungen, welche der Dauphin von dem Schuster Simon zu ertragen hatte, geht er sehr rasch fort. Seine eigenen geheimnißvollen Erlebnisse, die sich bisher der Kunde der Welt entzogen hatten, beginnen mit den Bemühungen seiner Freunde, ihn der Gewalt der Kommune zu entziehen und die Flucht aus seinem Gefängniß vorzubereiten. Wer diese Freunde waren, welche Einfluß genug besaßen, um zu ihm Zutritt zu erhalten, und trotz der strengen Bewachung und Beaufsichtigung sich unbemerkt seiner zu bemächtigen vermochten: das erwähnt er nicht; wir hören von verkleideten weiblichen Schildwachen, von Arbeitern, welche im Dienste der Royalisten waren, doch wir vermissen einen genauen Bericht, der uns begreiflich macht, wie alle diese Vorgänge unter den Augen der Municipalwache möglich waren. Prinz Ludwig kränkelte damals schon in Folge der schlechten Behandlung und des ungesunden Aufenthaltes; er war nicht mehr in den Händen Simon’s und seiner Frau, sondern wohnte und schlief allein in dem Zimmer, welches früher Cléry, des Königs treuer Diener, innegehabt. Hier gaben nun die Freunde des Prinzen ihm Opium; halb wachend, halb schlafend sah er, wie er aus dem Bette genommen, in einen Korb gelegt wurde, der darunter gestanden und aus dem man ein Gliedermännchen nahm, das man statt seiner ins Bett legte; er selbst verlor dann die Besinnung, und als er wieder zu sich kam, befand er sich in einem ihm ganz unbekannten Raume, es war dies das vierte Stockwerk des Thurms, wo man ihn unter allerlei altem Gerümpel versteckt hatte; hier mußte er nun Wochen lang bleiben, ohne sich zu rühren, seine Freunde brachten ihm Speise und Trank.

Da es zunächst unmöglich schien, aus dem Thurm herauszukommen, weil jeder, der vorüberging, und alles, was man herein- und hinaustrug, auf das Genaueste von der Municipalgarde untersucht wurde, so glaubte man zunächst den Prinzen im Thurm selbst verstecken zu müssen. Inzwischen war entdeckt worden, daß der Prinz verschwunden und ein Gliedermännchen an seine Stelle gebracht worden sei: man vertauschte dasselbe mit einem stummen Kinde, weil man die Flucht des Prinzen geheim halten wollte. Das Kind sollte langsam vergiftet werden; um den Schein zu wahren, rief man, als es erkrankt war, den Arzt Dessault dazu. Dieser aber erkannte die Vergiftung, ließ durch seinen Freund den Apotheker Choppart ein Gegengift bereiten und erklärte ihm übrigens, daß das Kind nicht Ludwig’s XVI. Sohn sei, den er gekannt habe. An die Stelle des stummen Kindes, das den Intriguanten nicht den Gefallen that, zu sterben, brachte man aus dem Hôtel Dieu ein anderes Kind, welches an der englischen Krankheit litt; Dessault und Choppart starben bald darauf an Gift. Das kranke Kind aus dem Hospital erlag seinem Leiden; damit war der Zeitpunkt gekommen für die Freunde des Dauphin, energisch zu handeln und ihn aus dem Temple herauszuretten. Man nahm das verstorbene Kind aus dem Sarge, legte den Prinzen statt dessen hinein, versteckte das todte Kind im vierten Stockwerke, dort wo der Dauphin bisher versteckt gewesen, und als der Wagen kam, den Sarg auf den Kirchhof zu schaffen, lud man statt des rhachitischen Spitalknaben die Hoffnung der Monarchie auf denselben. Es verstand sich von selbst, daß eine neue Eskamotage nöthig war, damit der Prinz nicht lebend begraben werde. Unterwegs wurde er in den Kasten im Fond des Wagens gebracht und der Sarg mit Makulatur angefüllt, die bisher in diesem Kasten sich befand. Im Kirchhofe Saint Marguerite wurde dieser Sarg begraben.

So war der Prinz aus dem Gefängniß entkommen, meist in bewußtlosem Zustande, denn man hatte ihm Opium gegeben. Er weiß auch nicht genau, was in nächster Zeit mit ihm vorgegangen; später fand er sich in der Pflege einer Frau, Madame Delmar, einer Schweizerin, die als Schildwache verkleidet im Temple Posten gestanden hatte. Dann wurde er in die Mitte des Vendéerheeres gebracht; doch dort erkrankte er schwer und genas nur langsam unter der Pflege seiner Schweizer Freundin, die ihn zugleich in der deutschen Sprache unterrichtete, damit er leichter für ihren Sohn gelten könne. Hier in der Vendée besuchte ihn General Charette mit zwei anderen Freunden. Gleichwohl wurde er bald darauf wieder verhaftet und abermals gerettet durch die Vermittelung von Josephine Beauharnais, die er auch für den Schutzengel hält, der im Temple über ihn gewacht hat. Ein Graf Montmorin, als Jäger verkleidet, war bei der Befreiung behilflich und blieb lange Jahre der treue Eckhard des Dauphin. Dieser reiste nun nach Italien, anfangs nach Venedig, dann nach Rom, wo er von dem heiligen Vater beschützt wurde. Doch das Revolutionsheer drang in Italien ein. Der Dauphin wurde das Opfer einer schrecklichen Katastrophe: das Haus, in dem er gewohnt, ging in Flammen auf; einer seiner Freunde und ein junges Mädchen, das ihn begleitete, wurden ermordet; nur Montmorin entging den Verfolgern. Der Dauphin flüchtete sich zur See nach England, wurde indeß ergriffen, nach Frankreich zurückgeführt und in einen französischen Kerker gebracht. Bald darauf schiffte man ihn wieder ein; wieder betrat er das Land, um nach viertägiger Fahrt, während welcher eine bewaffnete Eskorte ihn begleitete, abermals gefangen gesetzt zu werden. In diesem Gefängniß blieb er bis 1803, wo ihn abermals Montmorin befreite, unterstützt durch den Einfluß der Kaiserin Josephine. Nun verhandelten seine Freunde mit dem Grafen von Provence, nachherigem König Ludwig XVIII, doch dieser weigerte sich hartnäckig, ihn anzuerkennen; ja er schloß sich den feindseligen Verfolgern an. Als der Dauphin sich zum Herzog von Enghien nach Mannheim begeben wollte, der von dem Geheimniß seiner Existenz wußte, wurde er in Straßburg arretirt, von dort von Gendarmen abgeholt und nach einer mehrtägigen Fahrt abermals in einen Kerker geworfen, ein finsteres Kellerloch, in welchem er, vollkommen verwahrlost und verwildert, zuletzt kaum noch einem Menschen glich.

Hier blieb er bis zum Jahre 1809, wo ihn abermals Montmorin befreite. Mit diesem begab er sich über Frankfurt nach Böhmen, wo ihnen der Herzog von Braunschweig Empfehlungsbriefe nach Preußen gab. In Dresden fanden sie keinen Einlaß; in Preußen wurden sie in einer Dorfschenke als Spione verhaftet und vor den Kommandeur eines bewaffneten Korps geführt: es war dies Major von Schill. Er nahm sich ihrer anfangs an; doch von den Franzosen mit überlegener Macht verfolgt, konnte er ihnen nicht länger Schutz gewähren und gab ihnen eine Reitereskorte mit unter der Leitung eines Grafen Vetel. Diese wurde von den Franzosen angegriffen, Graf Montmorin fiel im Kampfe; der Dauphin wurde schwer verwundet besinnungslos in ein Hospital gebracht, später mit anderen Gefangenen des Schill’schen Korps nach der Festung Wesel eskortirt, wo ihn das Kriegsgericht zu den Galeeren verurtheilte. Unterwegs erkrankt und in ein Hospital gebracht, traf er dort einen Schill’schen Husaren Namens Friedrichs, mit dem zusammen er in einer Gewitternacht entwich.

Diese romanhafte Flucht wird in allen ihren Details erzählt; nach unglaublichen Entbehrungen und mannigfachen Schicksalen gelangten die Flüchtlinge nach Westfalen; hier fiel Friedrichs den Gendarmen in die Hände; der Prätendent, der sich in einen hohlen Baumstamm versteckt hatte, wurde von einem Hirten entdeckt, der ihm die Kunde vom Schicksale seines Genossen brachte, aber ihn gastlich aufnahm und einige Zeit lang verborgen hielt. Dann begab sich der Prinz allein auf die Wanderschaft nach Berlin, um dort in ein Regiment einzutreten; er verirrte sich mehrfach, einmal in einem großen Walde, aus welchem er keinen Ausweg fand. Da hörte er ein Posthorn; es kam eine Extrapost, in der ein junger Mann saß, der sich alsbald seiner annahm: er hieß Karl Wilhelm Naundorff und wollte aus Weimar sein; mit dessen Namen und Paß ausgerüstet kam er nach Berlin. Der eigentliche Naundorff, der wie ein Märchenprinz erscheint, verliert sich bald wieder in einem seitdem nicht gelichteten Dunkel. In Berlin wendet sich der Prinz, nachdem er erfahren, daß in Preußen keine Ausländer dem Militär eingereiht werden, an den Polizeipräsidenten Le Coq und überreicht ihm Papiere, die im Kragen seines Ueberziehers eingenäht waren. Le Coq erkennt die Handschrift des Königs Ludwig XVI. und der Königin; er macht dem Staatskanzler Hardenberg Anzeige von diesen Papieren, doch hat dies für den Prinzen weiter keine Folge, als daß Le Coq, nachdem sich der Berliner Magistrat geweigert, dem Dauphin ohne Legitimation das Bürgerrecht zu gewähren, diesem räth, sich nach einer kleineren Stadt, nach Spandau zu wenden, und ihn dort durch eine Bescheinigung über seinen bisherigen tadelfreien Lebenswandel legitimirt. Die Papiere selbst hat der Prätendent nie zurückerhalten. In Spandau erhielt er das Bürgerrecht und etablirte sich als Uhrmacher. Jene Schweizerin, die einmal im Temple Wache [248] gestanden, hatte ihn in Italien wieder aufgesucht, nachdem sie inzwischen einen Uhrmacher geheirathet; von diesem lernte der Prinz schon damals dies Handwerk, das er nun zu seinem Lebensberufe machte. Den Traditionen seiner Familie widersprach es durchaus nicht: war doch sein Vater, der König, ein vortrefflicher Drechsler gewesen.

Bei dieser Station seines Lebenslaufes müssen wir eine kurze Zeit Halt machen, denn von jetzt ab tritt der Uhrmacher Naundorff in eine solide und glaubwürdige Existenz ein. Sein bisheriger Lebenslauf ist aber der abenteuerlichste, der gedacht werden kann. Siebzehn Jahre mehr oder minder strenger Gefangenschaft hat er durchgemacht; die Befreiungen und Errettungen sind nicht minder wunderbar; nirgends wird mitgetheilt, wie die Befreier immer auf seine Spur gekommen; eine große Zahl von Personen ist seinetwegen aus dem Wege geräumt worden. Handelte es sich um einen Roman, so würde man die monotonen Wiederholungen der Verhaftung und Befreiung, die geringe Motivirung der Vorgänge, die Ueberladung mit grellen, zum Theil unglaubwürdigen Vorgängen als geschmacklos rügen müssen; einige allzu grelle Episoden im Geschmacke der neufranzösischen Romantiker haben wir nicht einmal erwähnt, wie daß man einmal in einem der Gefängnisse, um ihn zu entstellen, sein Gesicht mit Instrumenten zerstochen, die einem Bündel Nadeln glichen, und dann das Blut mit einem Schwamm fortgewaschen habe, der mit einer besondern Feuchtigkeit getränkt war. Alle diese Abenteuer machen den Eindruck des phantastisch Uebertriebenen.

Ein eifriger Advokat des Prätendenten könnte freilich auch dies benutzen, um zu seinen Gunsten zu plaidiren; denn in einem Briefe an eine ihrer Freundinnen (vom 26. Juli 1789) entwirft die Königin Marie Antoinette ein Bild des vierjährigen Prinzen, dessen Vorzüge sie mit mütterlicher Liebe schildert, dessen kleine Schwächen sie aber nicht verschweigt. In diesem Briefe heißt es: „Er ist sehr indiskret; er wiederholt leicht, was er hat sagen hören, und oft, ohne die Absicht zu lügen, fügt er hinzu, was nur seiner Phantasie angehört; es ist dies sein größter Fehler, den man ihm abgewöhnen muß.“ Sollte er sich nicht auf dies Zeugniß seiner Echtheit berufen können, so gut wie auf die aus einem Adergeflecht gebildete Taube, die er als besonderes Kennzeichen an sich trug und welche als solches ihm Vater und Mutter bezeichnet hatten? Gewiß, eine Reihe sehr wunderbarer Geschichten, aber wenn sie alle erlogen sind, so bleibt doch als das größte Wunder noch die Thatsache übrig, daß ein preußischer Uhrmacher sich für den Sohn des Königs Ludwig XVI. ausgegeben hat; denn man muß sich doch fragen, wie in aller Welt kam er dazu? Auch ist es Niemand gelungen, gleichsam das Alibi seiner Herkunft nachzuweisen; ja das Gerücht, daß er ein polnischer Jude sei, wies die preußische Regierung auf eine Anfrage der französischen als unbegründet zurück.

Die späteren Erlebnisse des Uhrmachers Naundorff sind zum großen Theile beglaubigt; aber immerhin noch abenteuerlich genug. Von Spandan war er nach Brandenburg übergesiedelt: dort gerieth er in Verdacht, schwere Verbrechen begangen, einen Postmeister bestohlen und ermordet, das Theater in Brand gesteckt, falsches Geld gemünzt zu haben. Alle diese Anklagen werden widerlegt; dennoch wird er zu dreijähriger Zuchthausstrafe als grober Betrüger verurtheilt, weil er sich für den Herzog der Normandie, den Dauphin von Frankreich während des Processes ausgegeben hatte. Doch wurde ihm ein Theil der Haft später erlassen; er hatte sich im Jahre 1818 mit einem braven Bürgermädchen, Johanna Einert, verheirathet. Bei seiner Freilassung wurde er bedeutet, er möge die Umgebung von Berlin verlassen. Er siedelte nach Crossen über, wo er sich kümmerlich ernährte; Freunde, die er dort gefunden, die sich seiner annahmen, der Justizkommissarius Petzold, Lauriskus, der an seine Stelle trat, sterben plötzlich; seine Papiere, die bei diesen liegen, werden mit Beschlag belegt: er entschließt sich jetzt, im Jahre 1832, nach Frankreich zu reisen.

Vergeblich hatte er seit langen Jahren an die Herzogin von Angoulème, an seine Oheime, an den Herzog von Berry geschrieben, vergeblich hatte jener Petzold Briefe an alle Fürsten und Gesandten gerichtet und eine Revision der Untersuchung Naundorff’s verlangt. In Frankreich selbst aber fand Naundorff eifrige Anhänger: eine Madame von Rambaud, die von der Geburt des Prinzen bis zum 10. August 1792 um ihn gewesen und die von seinen Mittheilungen und Erkennungszeichen sich ganz überzeugen ließ, Herrn und Frau San Marco de Hilaire, die ihn gleichfalls als Kind gekannt hatten, und Andere.

Während gegen verschiedene falsche Dauphins, welche inzwischen aufgetreten, wegen Betrugs der Kriminalproceß angestrengt wurde, verlangte Naundorff eine Untersuchung, wendete sich selbst an die Kammer, verfocht in einem eigenen Journale seine Rechte, gab sich alle Mühe, seine Sache vor Gericht zu bringen, doch das Gericht lehnte unter allerlei formellen Vorwänden die Untersuchung ab, und durch einen Akt der Kabinetsjustiz wurde Naundorff des Landes verwiesen; er ging nach London, wo er in bedrängten Verhältnissen lebte. Schon in Paris war in der Nähe des Palais Royal ein Attentat auf ihn gemacht worden; in London wurden zwei Pistolen auf ihn abgefeuert. Die Gegner behaupteten, diese Attentate seien von ihm selbst arrangirt worden; doch ist dies höchst unwahrscheinlich. Wenn sie auch nicht beweisen, daß er der echte Prätendent ist, so doch immerhin, daß man in einflußreichen Kreisen dies glaubte. Er siedelte dann nach den Niederlanden über, wo er in Delft am 10. August 1845 starb, an einem ominösen Kalendertage, welcher an den Sturz der Monarchie der Bourbons erinnert.

Seine Familie lebte längere Zeit in Dresden, wo seine Tochter Amélie durch ihre Aehnlichkeit mit Marie Antoinette Aufsehen erregte. Diese Prinzessin Amélie versammelt jetzt in Paris einen Kreis von Gläubigen um sich, welche, wie es scheint, nach dem Tode des Grafen Chambord den Dauphin Naundorff gegen den Grafen von Paris ausspielen.

Da bei der jetzigen Lage der monarchischen Parteien in Frankreich ein Abkömmling Ludwig’s XVI. für die Legitimisten von unschätzbarem Werthe wäre, so ist dies Prätendententhum gleichsam von Neuem auf die Tagesordnung gesetzt worden. Ebenso thätig ist natürlich die Opposition, welche den Mythus, der um das Haupt der Naundorff einen legitimen Heiligenschein heften will, zu zerstören sucht. So ist denn eben ein sehr umfassendes und wichtiges Werk über Ludwig XVII. erschienen, welches R. Chantelauze nach bisher noch nicht veröffentlichten Aktenstücken aus den nationalen Archiven verfaßt hat.[1] Das Werk beruht auf sehr sorgsamer Quellenforschung, ist aber trotzdem in jener geschmackvollen Form gehalten, in welche die Franzosen auch anscheinend spröde Stoffe einzukleiden wissen. Ein ausnehmend sympathisches Bild des jungen Dauphin, mehrere Bilder, Pläne und Umrisse des Temple sind die Illustrationen, die es schmücken. Chantelauze erwähnt die falschen Dauphins nur gelegentlich; sein ausschließliches Streben ist darauf gerichtet, den Beweis zu liefern, daß Ludwig XVII. im Temple gestorben ist, womit ja jedem Prätendententhum der Boden unter den Füßen fortgezogen wird.

Unter dem König Ludwig XVIII. stellte der Minister Decazes genaue Untersuchungen über diesen Tod an und ließ alle Personen ermitteln, die zu jener Zeit oder kurz vorher im Temple Dienste gethan oder anwesend waren. Die Protokolle dieser Untersuchung werden hier zum ersten Male veröffentlicht. Bisher wurde nur der eine Wächter des Temple, Lasne, in dessen Armen der Prinz gestorben, als Zeuge für den Tod desselben angeführt: dies Zeugniß suchte man damit zu entkräften, daß derselbe den Prinzen früher nicht gekannt habe. Jetzt aber wird uns ein neuer und sehr wichtiger Zeuge vorgeführt, der Civilkommissar Damont, der ebenfalls bei dem Tode des Prinzen zugegen war, welcher ausdrücklich erklärt, diesen früher gekannt und gesehen zu haben, als er an der Hand der Königin in seinem kleinen Garten auf der Terrasse der Tuilerien spazieren ging. Und noch mehr – einige zwanzig Municipalgardisten der abziehenden und der später aufziehenden Wache seien zur Leichenschau von ihm herbeigerufen worden; die Mehrzahl hätte den Prinzen gekannt und jetzt wiedererkannt. Das ist der wichtigste Punkt in dem Werke von Chantelauze: ist Damont ein verläßlicher Zeuge, so bricht das ganze Gerüst des Prätendententhums zusammen.

Von der Glaubwürdigkeit Damont’s hängt es ab, ob Prinzessin Amélie an den Gräbern von Saint-Denis zu ihren Ahnen beten kann oder als schlichtbürgerliche Uhrmacherstochter wieder von der Weltbühne abtreten muß.


  1. Louis XVII., son enfance, sa prison et sa mort au temple, par R. Chantelauze (Paris, Firmin Didot et Cie. 1884).