Die Erstürmung des Grimmaischen Thores von Leipzig

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Autor: Ferdinand Pflug
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Titel: Die Erstürmung des Grimmaischen Thores von Leipzig
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aus: Die Gartenlaube, Heft 41, S. 649–654
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1862
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[649]
Aus den Zeiten der schweren Noth.
Nr. 7.0 Die Erstürmung des Grimmaischen Thores von Leipzig.
Von Ferd. Pflug.

Es war um die zehnte Vormittagsstunde am 19. October 1813, der Riesenkampf um Leipzig, das ungeheuere Drama der Völkerschlacht nahte seinem Ende. Mit dem Abend des 18. October waren die Franzosen auf den meisten Punkten bis dicht an die Stadt zurückgedrängt worden, und seit Mitternacht befanden sich die Reste ihres Heeres durch das Ranstädter Thor (zwischen der großen und kleinen Funkenburg gelegen) auf der Lützen-Naumburger Landstraße im vollen Abzuge begriffen. Bei Lützen hatte Napoleon am 2. Mai desselben Jahres den ersten großen Schlag in diesem Feldzuge ohne Gleichen geführt, nach Lützen zurück strebten jetzt die zerschlagenen Trümmer seiner Schaaren. Die beiden großen Marksteine des gewaltigsten Kriegszuges, welchen die neuere Geschichte kennt, dessen Ausgangs- und Entscheidungspunkt gleichsam, lagen so – ein seltsames Verhängniß – kaum einige Stunden auseinander.

Noch war indeß ein Nachlassen des schon seit dem frühesten Morgen wiederentbrannten Kampfes nicht wahrzunehmen; im Gegentheil, der Schlachtenlärm steigerte sich von Minute zu Minute. Es galt zur Krönung des großen Werks, Leipzig, den letzten Stützpunkt der feindlichen Macht, in die Gewalt der Verbündeten zu bringen, aber so kräftig der Angriff, so mannhaft erwies sich die Vertheidigung. Das 7., 8. und 11. französische Corps, wie Theile des 3., 5. und 6. Corps, zusammen noch über 30,000 Mann, waren von dem großen französischen Schlachtenkaiser bestimmt, die noch nach alter Art theilweis befestigte Stadt zur Deckung des Rückzugs seiner Armee gegen die herandrängenden Heere seiner Gegner auf’s Aeußerste zu behaupten, und in getreuer Erfüllung der ihnen zugefallenen Aufgabe machten sie diesen jeden Fußbreit Boden streitig. Eben erst war es den verbündeten Colonnen gelungen, die Vortruppen der feindlichen Abtheilungen bis zu den Thoren der Stadt selbst zurückzudrängen und sich im Angesicht der Letzteren zu vereinigen. In weitem Halbkreise um Leipzig, von dort, wo gegen Norden das Rosenthal mit seinen schattigen Waldpartien sich der Hallischen Vorstadt anschließt, bis wo im West die sich daselbst vereinigende Pleiße und Elster mit ihren zahlreichen Verbindungsgräben jedem Gewaltangriffe kaum zu bewältigende Hindernisse entgegensetzen, wallte von unzähligen Stellen der weißgraue Pulverdampf in schweren, langsam emporstrebenden Wolken auf, oder wirbelte dazwischen auch in leichten flockigen Wölkchen in die klare Morgenluft des freundlichen Herbsttages. Das nicht abreißende Krachen des Geschützes und das Knattern des Kleingewehrfeuers vereinigten sich mehr und mehr zu einem betäubenden, eine Unterscheidung der einzelnen Schläge nicht mehr zulassenden Donner.

Der härteste Streit schien augenblicklich im Norden zu wüthen, wo Blücher, der alte Marschall Vorwärts, mit den Russen unter Langeron das Halle’sche Thor bestürmte. Im Süden von Leipzig hatte die russische Reserve-Armee unter Benningsen die Führung der heranziehenden verbündeten Heersäulen übernommen. Sechzig vor der Front der Truppen des genannten Generals in Batterien aufgefahrene Zwölfpfünder versuchten die Mauer des Bose’schen Gartens zwischen dem Hospital- und Sandthor in Bresche zu legen, doch die Kugeln schlugen durch die dünnen Lehmwände zwar durch, ohne dieselben jedoch niederzuwerfen. Ein Angriff der zu diesem Corps gehörigen 13. russischen Division, bei welchem die derselben vorauseilenden Sappeurs ein Stück der Mauer wirklich einschlugen, scheiterte nichtsdestoweniger an der ausdauernden Tapferkeit der Vertheidiger. Parlamentaire flogen mittlerweile hin und wieder, eine Deputation der Stadt bat bei den verbündeten Monarchen um Schonung für dieselbe. Die russische Batterie mußte abfahren, das Corps selbst wandte sich mit halblinks gegen den Windmühlenschlag und das Petersthor. Oesterreicher unter General Bubna und das [650] preußische Corps unter Kleist vereinigten sich hier mit demselben, doch beschränkte sich das Gefecht nach dieser Richtung vorläufig und noch bis auf lange hinaus auf ein bald mehr, bald weniger lebhaft unterhaltenes Geplänkel und ein bei der gedeckten Stellung der Gegner ziemlich unwirksames Geschützfeuer.

Vor dem äußern Grimmaischen Thore (welches zwischen dem Johannishospital und dem jetzt zur dritten Bürgerschule gehörigen ehemaligen Armenhause stand) war an Stelle der abgezogenen Russen das preußische Corps von Bülow eingetreten. Die Schweden unter ihrem Kronprinzen, dem ehemaligen französischen Marschall Bernadotte und zeitherigen Oberbefehlshaber der verbündeten Nordarmee, standen dahinter in Reserve, ebenso eine russische Abtheilung unter Woronzoff. Der Hauptschlag sollte gegen dieses Thor geführt werden.

Drei Bataillone bildeten die Spitze des preußischen Heerestheils. Links der zu dem Thore führenden Landstraße stand das Königsberger Landwehrbataillon unter Major Friccius, rechts das Füsilier- und etwas mehr zurück das zweite Bataillon des dritten Ostpreußischen Infanterie-Regiments unter den Majoren von Gleißenberg und Müllenheim. Weiter vorn schossen sich die durch Einhalten einer irrthümlichen Richtung hierher verschlagenen Tirailleurs eines anderen, des Colberg’schen Regiments mit feindlichen Schützen herum, welche hinter den Gartenmauern und namentlich von dem weit über das Grimmaische Thor hervorspringenden und mit einer steinernen Mauer umgebenen Johanniskirchhof hervor feuerten. Eine französische Batterie hielt noch außerhalb des Thores und richtete ihre Geschosse vorzugsweise auf das dem Thore zunächst stehende Landwehrbataillon. Der Stand desselben war furchtbar heiß, eben hatte eine feindliche Paßkugel wieder vier Mann desselben zugleich niedergeschmettert. Die Nächststehenden, von dem umherspritzenden Blut und Hirn der Getroffenen überschüttet, drängten durcheinander, Verwirrung schien unter den anschließenden Rotten einreißen zu wollen.

„Bück’ Dich. Rennefuß,
Es kommt ein Prallschuß,“

lachte eine Stimme. Dieser Vers war zum stehenden Witzwort bei dem Bataillon geworden, seitdem bei Dennewitz ein Wehrmann dieses Namens sich, um so den Gefahren der Schlacht zu entgehen, für todt niedergeworfen und nachher bei seinem Wiedereinfinden gegen seine Cameraden diese Handlung mit einem empfangenen Prallschuß entschuldigt hatte. Der schlechte Reim verfehlte auch diesmal nicht seine altgewohnte Wirkung. „Wo ist der Rennefuß? Bück’ Dich! Bück’ Dich!“ jubelte es im Thor. Der arme Kerl knirschte mit den Zähnen. „Soll Euch doch das Donnerwetter!“ brummte er in den buschigen Bart, und seine Augen flammten. Die Lücke ward wieder geschlossen, eine preußische Batterie rasselte vorüber, die entgegenstehenden feindlichen Geschütze zum Abzuge zu zwingen.

Wieder waren neue feindliche Geschosse in das Bataillon eingeschlagen, von links und rechts hatte der Feind dasselbe in ein wirksames Kreuzfeuer genommen, es schien unmöglich, länger auf dieser so sehr exponirten Stelle ausharren zu können. Ein Adjutant sprengte von dem rückwärts stehenden Hauptcorps an den unbeweglich vor der Front seiner Truppe haltenden Commandeur und überbrachte demselben eine Meldung. „Sagen will ich’s ihnen,“ erwiderte der Angeredete, sich gleichmüthig den schwarzen Schnurbart streichend, „sie thun’s aber doch nicht!“ – „Cameraden,“ kehrte er sich zu dem Bataillon, „der commandirende General gestattet Euch, zum Schutze gegen das feindliche Feuer Euch niederzulegen.“

Ein paar Mann schienen wohl Willens, von dieser Erlaubniß Gebrauch zu machen, doch auf den zürnenden Zuruf der Cameraden richteten sie sich schnell wieder auf. „Die Königsberger Landwehr bückt sich nicht!“ lief der Ruf durch die Glieder. Das Bataillon stand wie zur Parade gerichtet.

Die diesseitige Artillerie begann allmählich über die französische ein Uebergewicht zu gewinnen, die noch vor dem Thore aufgefahrenen feindlichen Stücke gingen, theilweise demontirt, durch dasselbe zurück. Ein zweiter Adjutant jagte herzu: „Das Bataillon vorrücken!“ lautete die überbrachte Meldung.

Ein hoher preußischer Officier kam den schon in Marsch gesetzten Landwehren nachgesprengt. Es war der Prinz von Hessen-Homburg, der Befehlshaber der Brigade, zu welcher sowohl dieses, wie die vorerwähnten beiden Linienbataillone gehörten. „Major Friccius,“ rief er dessen Führer schon aus der Ferne zu, „Ihr Bataillon wird den Sturm auf das Thor eröffnen, die Bataillone von Gleißenberg und Müllenheim werden dasselbe unterstützen. Jetzt gilt’s, Wehrmänner,“ kehrte er sich zu den Mannschaften, „jetzt sollt Ihr beweisen, daß Ihr an Tapferkeit auch den bravsten Linientruppen nicht nachsteht. Vorwärts denn! Hoch dem König!“

„Hurrah! Hurrah!“ Der Prinz hatte sich an die Spitze der in stürmischer Begeisterung vordringenden Truppe gesetzt. Er winkte mit dem Degen den bei dem Vorbrechen der Sturmcolonne sich ha[rt] unter der Kirchhofsmauer sammelnden Tirailleurs des Colberg’schen Regiments, an dem Angriff Theil zu nehmen, und rief ihnen zu; doch die Mütze und der Mantel, welchen er trug, mochten diese in ihm nur einen Landwehrführer vermuthen lassen. Niemand rührte sich in dem Haufen. Die Rivalität zwischen der preußischen Linie und Landwehr stammt nicht erst von heute, und es war ein stehender Grundsatz bei den Mannschaften der Ersteren, nie Befehle von einem Landwehrofficier anzunehmen.

Eine von der Stadt hersausende Kanonenkugel hatte den Führer der vordersten Compagnie um sich selber gewirbelt und ihm die Mütze vom Kopfe gerissen. Die Letztere stäubte in Fetzen herum, doch der tapfere Mann, kaum fest wieder auf den Füßen, stürmte den Seinen nach und ohne Kopfbedeckung weiter. Durch den vorigen ärgerlichen Vorfall war der glühende Eifer der wackeren Wehrmänner vollends zur wahren Tollkühnheit und Todesverachtung angestachelt worden. Wo die Linie nicht anzugreifen wagte, da – der Entschluß stand fest bei jedem Manne des ganzen Bataillons – sollte die Landwehr durchdringen. Instinctmäßig fühlte Jeder, daß hier kein Zurückweichen möglich sei, das Thor mußte auf alle Fälle genommen werden.

Ein Hagelschauer von Kugeln empfing die Stürmer. Aus dem einen Theil der vorspringenden Kirchhofsmauer bildenden Gebäude, wie aus den rechts vom Thore sich anschließenden und nach hierhin die Stadtumfassung vervollständigenden Häusern zuckte Blitz auf Blitz und keiner ohne Wirkung auf den engzusammengepreßten Sturmhaufen. Auch in die aus mächtigen Eichenplanken gezimmerten Thorflügel hatten die Franzosen Schießscharten eingeschnitten, und selbst von dem Thurm der Johanniskirche pfiffen die feindlichen Geschosse. Es fehlte an Sturmwerkzeugen, Leitern, Aexten. Beim Vorgehen hatte man versäumt, das Bataillon hiermit auszurüsten oder ihm eine Pionierabtheilung beizugeben. Vielleicht daß das Geschütz das Thor einzuschießen vermocht hätte, doch dasselbe befand sich weit zurück, und bevor es herbeigeholt werden konnte, mußte unter diesem Höllenfeuer die Vernichtung der so preisgegebenen Schaar unbedingt längst besiegelt sein. Nur von der eigenen Kraft und Energie blieb hier Hülfe und eine günstige Entscheidung zu hoffen.

„Vorwärts! vorwärts! Laßt nicht nach!“ Der Prinz war der Erste von Allen gegen das Thor vorgesprengt, doch fast im selben Moment sank er von einem Schuß zwischen Brust und Schulter getroffen vom Pferde. Dem Roß des Majors ward von einer Kugel der Kiefer zerschmettert, das durch den Schmerz rasende Thier bäumte und überschlug sich mit seinem Reiter, kaum daß dieser noch mit seinen Füßen den Boden gewinnen konnte. Ein Haufe der kühnen Stürmer hatte sich trotz des sicheren von dort drohenden Verderbens gegen das Thor gestürzt und versuchte die Flügel desselben mit mächtigen Wuppen und „Joho!“ mit den Schultern einzusprengen. Andere strebten die feindlichen Gewehre, die sich aus den in die Mauern der Gebäude gebrochenen Schießscharten vorstreckten, mit den Händen festzuhalten oder mit der ganzen Wucht ihres Leibes niederzudrücken. Auch der Lieutenant Dulk war in diesem wahnsinnigen und vergeblichen Ringen von einer feindlichen Kugel tödtlich getroffen niedergesunken.

„Major, sehen Sie dort das Thorwärterhäuschen! Das Fachwerk desselben hält kaum mehr zusammen; das Einschlagen kann unmöglich große Schwierigkeiten bieten.“ Der Adjutant des Bataillons, Lieutenant Gädicke, zur Zeit der einzige noch zu Pferde befindliche Officier, hatte die Blicke herumwerfend entdeckt, daß das einen Theil des Thors selbst bildende Thorwärterhäuschen sich als der einzige Punkt erwies, aus welchem nicht gefeuert wurde. Dasselbe war von Fachwerk gebaut, und bei dem Versuch, wie in allen anderen Gebäuden Schießscharten herauszubrechen, hatte sich das eine Fachstück so weit nach außen vorgeneigt, daß wahrscheinlich um der augenscheinlichen Gefahr willen, das ganze schwache Mauerwerk herausstürzen zu machen, der Feind von diesem seinem Vorhaben wieder abgestanden haben mochte.

„Folgt mir, Cameraden!“ Dem Nächsten das Gewehr aus der Hand reißend, stürzte der Major zu der bezeichneten Stelle. Der [651] erste Kolbenstoß schon ließ einige der nur noch locker verbundenen Steine zur Erde rollen. Zwanzig Hände griffen zu, die entstandene Lücke zu erweitern. Mit den abgerissenen Bajonneten und kräftigen Kolbenstößen ward die Bresche vollends eröffnet. „Hurrah! wir haben sie! das Thor ist unser!“ jauchzte und jubelte es durcheinander. Alles stürmte herzu. Rennefuß hatte unter den Vordersten ein ganzes Fach eingestoßen, nur leider in voller Mannshöhe und so unglücklich, daß ihm die Querbalken nichtsdestoweniger den Eintritt versperrten. Daneben wogte ein athembeengendes Gewühl um die zweitgebrochene Mauerlücke, jeder wollte der Erste sein, durch dieselbe einzudringen. „Rennefuß, hol’ Dir ’ne Leiter,“ spottete der Eine; „bück’ Dich!“ schrieen Andere. Der Aermste wußte unter den über ihn ausgeschütteten Hohn- und Stichelreden nicht, wie ihm geschah; eben noch vorn, sah er sich plötzlich ganz aus dem Sturmhaufen herausgedrängt. Der lange Schlagetodt heulte vor Wuth und versuchte vergeblich sich durch die dichtzusammengepreßte Menge wieder zu seinem vorigen Platze durchzuarbeiten; sein vorhin im Geheim gefaßter Entschluß, mit unter den Ersten in die Stadt einzudringen und durch verdoppelte Bravour seinen einstigen Fehl von Dennewitz bei den Cameraden vergessen zu machen, war so nur zu seinem erneuten Nachtheil ausgeschlagen.

„Alle Mann hierher! Die Kerle wollen wir schon noch aus dem Loche herauskäschern.“ Sechs oder acht Mann brachten auf ihren Schultern von einem weiter vorn zur Seite der Landstraße angefangenen Bau einen mächtigen Balken getragen. „Angefaßt, Cameraden, halloh!“ Der Stoß des improvisirten Sturmwidders dröhnte dumpf von den gesperrten Thorflügeln wieder. Jeden Augenblick rissen die feindlichen Kugeln den Einen oder den Andern von den mit ihren Armen dies seltsame Sturmwerkzeug in Schwung setzenden Leuten nieder, doch immer Neue traten an die Stelle der Gefallenen. Ein paar Mann hatten den verwundeten Prinzen aufgehoben, um ihn zurückzutragen. „Laßt mich,“ wehrte er denselben, „vorwärts! vorwärts! Die Landwehr kann heute die ältesten Grenadiere beschämen.“ Das eine der beiden im Rückhalt folgenden Linienbataillone war, wahrscheinlich in der Absicht, durch die Gärten, welche sich zwischen dem äußeren Grimmaischen und dem Hinterthor (beim jetzigen Schützenhause) ausbreiteten, vielleicht leichter in die Stadt zu gelangen, nach rechts ausgebogen, doch das aus einem in der Richtung des letztgenannten Thores weit vorspringenden Gartengehöft auf dasselbe gerichtete Geschütz- und Gewehrfeuer wehrte ihm das Vordringen. Das zweite Bataillon hielt unter den sicheren Schüssen der feindlichen Schützen auf dem Kirchhofe weiter zurück auf der Landstraße und schien seine Zeit noch abwarten zu wollen. Alle die letzterzählten wie die nächstfolgenden Vorfälle drängten sich beiläufig in die Frist weniger Minuten zusammen.

„Kinder, Ihr werdet mich nicht verlassen!“ rief der Major. Die Oeffnung im Thorwärterhäuschen erwies sich weit genug, um einem oder auch zwei Mann zugleich in gebückter Haltung das Durchzwängen zu gestatten. Der Major hatte sich zuerst hineingestürzt, doch unter den Händen gleichsam war ihm zuvor noch ein kleines, behendes Kerlchen vorausgeschlüpft. Ein paar Schüsse knallten aus dem Innern des Gebäudes, und in der Bresche selbst brach von einer Kugel in die Stirn getroffen unter den Nächstfolgenden der Hauptmann Motherbi zusammen. „D’rauf! Schlagt todt! Hurrah!“ donnerte der Schlachtruf der kühnen Stürmer schon jenseit des Thores. Mit einer Riesenanstrengung sich unter die Nachstürzenden einschickend, ward Rennefuß von der sich mit der Gewalt eines angeschwollenen Sturzbaches durch die Mauerlücke ergießenden Menschenwoge erfaßt und emporgehoben. Kopflängs über der Menge schwebend, knallte er mit der Stirn gegen den oberen Rand der Bresche, daß das Haupt gleich hinten überschlug und das aus einer tiefen Wunde über den Augen hervorquellende Blut das ganze Gesicht überströmte. Er verlor die Besinnung, indeß zum Niedersinken blieb hier kein Raum, zwischen den Cameraden eingepreßt, ward der Ohnmächtige mit fortgerissen, und erst als auf dem freien Raum vor dem jenseitigen Eingang desselben sich diese Umstrickung löste, schlug der immer unglückliche Pechvogel halb todt und völlig kampfunfähig zur Erde nieder.

Die Besatzung des Thors hatte bei dem Eindringen der Landwehr nicht Stand gehalten, den Haupttheil derselben sah man an der sich auch innerhalb der Stadt noch eine ganze Strecke fortsetzenden Kirchhofsmauer vorbei den Grimmaischen Steinweg hinabflüchten. Nur ein kleines Häuflein derselben unterhielt noch von dem Eingange der letztgenannten Straße her ein schwaches und unregelmäßiges Gewehrfeuer wider die sich vor dem Thorwärterhäuschen Sammelnden. Das erste Vorgehen der Letzteren genügte indeß, auch diesen noch zusammenhaltenden Rest in die Flucht zu scheuchen. Das Thor war auf seiner inneren Seite mit dagegen gestemmten Balken, umgestürzten Karren und Fuhrwerken, Tonnen, aufgerissenen Pflastersteinen und allem möglichen Hausrath verrammelt. Von außen erschallten noch immer die dawider geführten Stöße des Sturmbocks, Geschrei, Schießen, Trommelwirbel, hier innen dagegen war es verhältnißmäßig still, nur einzelne Schüsse knallten im Rücken der vorgegangenen kleinen Abtheilung von der Kirchhofsmauer.

„Bataillon halt!“ Der etwa auf 100 bis 120 Köpfe angewachsene Haufen war über den freien Platz vor der Kirche bis zu der Stelle vorgedrungen, wo sich nach links von dem Grimmaischen Steinweg eine kleine Gasse abzweigte, nach rechts, einige Schritte weiterhin, der Ausgang der breiteren Querstraße mündete. Vor dem Thore waren zwanzig oder dreißig der Letzteingedrungenen beschäftigt, die Verrammelung wegzuräumen. Einzeln, zu Zweien oder Dreien kamen noch fortgesetzt neue Mannschaften nachgeeilt.

Bisher waren die Straßen todtenstill erschienen, jetzt öffnete sich in einem der benachbarten Häuser ein Fenster, und ein niedlicher Mädchenkopf schaute heraus. „Preußen! Preußen! unsere Erretter! unsere Befreier!“ Wie durch Zauberschlag änderte sich die Scene, die verschlossenen Thüren öffneten sich, alte Mütterchen, Weiber, Männer, Kinder stürzten daraus hervor, den eingedrungenen Kriegern, was die eigene Noth ihnen noch gelassen, zuzutragen.

Auf dem Kirchhofe war es mittlerweile lebendig geworden. Des ennemis! des Prussiens! hörte man rufen; Trommel- und Hornsignale schallten dazwischen. Ein scharfe Salve von dort ließ die erschreckten Einwohner wieder in ihre Behausungen zurückflüchten. „Vorwärts!“ donnerte das Commando des Majors, „das Bataillon nimmt die Richtung nach links.“ Die Gasse ward im Sturmschritt zurückgelegt, doch kaum daß die Vordersten in die nächste Querstraße eingebogen, so stürzten sie auch wieder zurück. „Alles schwarz von Franzosen!“ verbreitete sich der Ruf. In einem Augenblick hatte sich das verwirrte Getümmel wieder bis auf den freien Platz vor der Kirche übertragen.

„Steht! steht!“ versuchten die preußischen Officiere ihre Wehrmänner zu erneuten Anstrengungen anzufeuern. Binnen einem Moment waren zwei oder drei der tapferen Führer von den feindlichen Bajonneten durchbohrt niedergesunken. „Schnell das Thor auf! Heran! heran!“ tönte das Geschrei. Einige riesige Landwehrmänner drängten in diesem Augenblicke vor und schlugen mit Kolben ein. Der nächste Franzose brach unter dem wuchtigen Kolbenschlage mit zerschmettertem Schäoel zusammen. „Immer d’rauf, Cameraden!“ ein zweiter und dritter Gegner stürzten, „hurrah! hurrah!“ die Kolben knackten und krachten, hin und wieder wogte das verzweifelte Handgemenge.

Ein tobendes Jubelgeschrei im Rücken bewies, daß das Thor endlich den vereinten Anstrengungen von innen und von außen nachgegeben hatte. Die nach dorthin vorgerückten Franzosen flüchteten vor dem hereinbrechenden Schwall rückwärts. „Hurrah! die Königsberger Landwehr!“ donnerte der Jubelruf hinterher. Von dem Kirchhofe pfiffen noch immer die Kugeln. Ein Haufe der Neueingedrungenen wandte sich gegen dessen Pforte. Der Feind schwankte immer auffälliger. Das Wirbeln des Sturmmarsches und der feste Taktschritt des jetzt ebenfalls durch das Thor eindringenden Linien-Bataillons entschied endlich vollends. In eine einzige wirre, blutende Masse gepreßt, die Sieger auf den Fersen, flüchteten die Franzosen den Grimmaischen Steinweg aufwärts.

Das Gatterthor des Kirchhofs lag erbrochen, die Besatzung hatte sich gefangen gegeben, doch noch unter der Entwaffnung derselben drängten frische feindliche Massen durch die linke Quergasse heran, und auch auf dem Steinwege war das Gefecht von Neuem zum Stehen gekommen. Der Kampf entbrannte abermals und erbitterter noch als zuvor, die Preußen, eben noch Sieger, sahen sich bis fast wieder zu dem Thore zurückgetrieben.

Plötzlich tönte das Hurrah auch aus der nach rechts sich von dem Steinweg abzweigenden breiteren Querstraße, denn auch dem zweiten Linien-Bataillon war es mittlerweile gelungen, auf dem von ihm eingeschlagenen Wege in die Stadt einzudringen, und es warf sich jetzt von hier aus dem Feinde in die Flanke. Dieser mußte abermals zurück.

[652] Eine Fahne flatterte fast unter den letztgedrängten feindlichen Rotten. Der Feldwebel Moneck warf sich auf deren Träger und entriß, im wüthenden Kampfe mit den zur Rettung ihres Paniers herbeistürzenden Feinden, diesem mit dem Leben zugleich das kostbare Siegeszeichen. Der Wehrmann Leng nahm mitten in diesem Getümmel den französischen General Pieret gefangen.

Noch blieb jedoch die schwerste Probe dem siegenden Sturmhaufen vorbehalten. Die in voller Auflösung dem freien Platz vor dem inneren Grimmaischen Thore zuflüchtenden Feindesmassen bogen dort plötzlich nach rechts und links auseinander, und eine Kartätschenlage sauste die schnurgerade Straße hinunter. Schuß folgte auf Schuß. Die Verluste der diesem mörderischen Artilleriefeuer völlig schutzlos ausgesetzten schwachen preußischen Abtheilung stiegen in’s Ungeheuere. Die Führer der beiden Linien-Bataillone nebst noch 9 anderen Officieren derselben, wie bei dem Landwehr-Bataillon der Hauptmann Wagner und die Lieutenant Tollusch und Holzhausen wurden binnen nur wenigen Minuten todt oder verwundet niedergestreckt. Dennoch erwies es sich als völlig unmöglich, die Leute aus diesem Hagelschauer von Kugeln zurückzuführen, der tollste Wetteifer hielt die Einen wie die Andern auf der Stelle gefesselt. Da alle Versuche fehlschlugen, im Sturm gegen die den Straßendamm freifegenden feindlichen Kanonen vorzudringen, unterhielten sie hinter den Vorsprüngen der Häuser hervor ein freilich so gut wie völlig unwirksames Feuer wider dieselben.

Endlich erschien die Hülfe. Zwei schwedische Geschütze fuhren auf, das feindliche Feuer zu erwidern. Der dieselben befehligende Major stürzte zwar ebenfalls, bevor seine Kanonen nur zum Abprotzen gekommen, von einer Kugel durch den Kopf getroffen, indeß seine Kanoniere hielten aus. Desto schlechter bewährten sich einige mit ihrer Artillerie zugleich eingetroffene schwedische Infanterie-Compagnien, sie wichen, trotz des Zurufs ihrer Officiere, beinahe schon auf die ersten Schüsse wieder gegen das Thor zurück.

Die Erstürmung des Grimmaischen Thores durch die Königsberger Landwehr.
Originalzeichnung von G. Bleibtreu.

Bereits wirbelte jedoch auch aus der Richtung nach rechts der preußische Sturmmarsch, und die Flügelhörner riefen dazwischen. Unter Begünstigung des Kampfes [653] um die äußere Grimmaische Vorstadt hatte General Borstell mit seiner Brigade im raschen Anlauf das Hinterthor gewonnen. Auch russische Plänkler, die durch die Lücke in der Mauer des Bose’schen Gartens eingedrungen waren, zeigten sich schon in den Gassen links. Vom Halle’schen Thore, im Rücken des Feindes, tönte der Lärm des Gefechts näher und immer näher. Dem aus der entgegengesetzten südlichen Richtung hörbaren heftigen Feuer nach zu urtheilen, mußten Benningsen, Kleist und Klenau endlich wohl auch den Mühlenschlag und das Petersthor angegriffen haben. Der Widerstand des Feindes begann merklich schwächer zu werden.

Entflammt durch diese günstigen Anzeichen hatten die tapferen Vorkämpfer hier einen neuen Sturmlauf unternommen. Der Ausgang des Grimmaischen Steinwegs (zwischen Augustus- und Johannisplatz) ward gewonnen, der Sieg auf dieser Stelle entschieden. Was vom Feinde noch zusammenhielt, suchte durch das innere Grimmaische Thor oder nach links die Esplanade entlang die innere Stadt zu gewinnen. Von rechts her tönte der tiefe Hörnerklang der pommerschen Schützen durch die Gassen, die Fenster öffneten sich auf diese freudigen Klänge wieder, und noch mitten hinein in das Schießen flatterten die weißen Tücher der freudetrunkenen Einwohner.

„Halt!“ Ein Adjutant überbrachte den drei Bataillonen der Hessen-Homburgschen Brigade den Befehl, stehen zu bleiben. Die Borstell’schen Truppen zogen vorüber, den Kampf vollends zu Ende zu führen. Die Arbeit war nicht mehr groß, das innere Grimmaische Thor ward denselben vom Feinde beinahe ohne Kampf überlassen. Das Schießen tönte allmählich immer ferner, ein dumpfer Knall endlich, und die Ranstädter Steinbrücke, der einzige Rückzugsweg für die zu der Vertheidigung der Stadt bestimmten feindlichen Corps, war in die Luft geflogen. Der Rest dieser, zusammen noch an die 20,000 Mann, befand sich dadurch rettungslos in die Gewalt der Sieger gegeben. Diese hatten nichts mehr zu thun, als die Waffen, Adler und Fahnen der versprengten und vergeblich nach einem Ausweg umherirrenden Feindeshaufen entgegenzunehmen.

[654] Von den drei erwähnten Schlachthaufen waren unterdessen die beiden Linienbataillone zu einer veränderten Bestimmung abberufen worden, nur die Königsberger Landwehr hielt noch ganz vereinzelt unter den mittlerweile den kämpfenden Truppen nachgerückten und jetzt den ganzen weiten Platz erfüllenden schwedischen und russischen Regimentern. Von den 450 Mann des Bataillons hatten kaum 100 sich um den heldenmüthigen Führer wieder zusammengefunden, und jeder Einzelne der tapferen Schaar trug in dem pulvergeschwärzten Antlitz und den Kugelspuren an Waffen und Kleidern die Zeichen des heißen Kampfes, aus welchem dieselbe so ruhmvoll hervorgegangen war. Der Contrast dieses Häufleins, in seinen längst aus allen Näthen gewichenen, kurzen Röcken und den der vorgerückten Jahreszeit spottenden Leinenhosen, mit den in Parade einmarschirten Schweden und Russen vermochte allerdings unmöglich größer gedacht zu werden; indeß die ruhmvollen Namen Großbeeren, Dennewitz, Leipzig verknüpften sich mit diesen unscheinbaren Volkskriegern, ein Vergleich mit ihren glänzenden, aber noch wenig erprobten Nachbarn konnte jedenfalls nur zu ihren Gunsten ausschlagen.

Officiere und Ordonnanzen jagten vorüber, die Führer der einzelnen verbündeten Corps, jeder von einem zahlreichen Gefolge begleitet, versammelten sich allmählich an dieser Stelle, um dem erwarteten Einzuge ihrer Monarchen beizuwohnen. Endlose Züge von Gefangenen bewegten sich über die Esplanade den Vorstädten zu. Von allen Thürmen erklang das erhebende Geläut der Glocken. Ein allgemeiner Freudentaumel schien alle diese Tausende ergriffen zu haben.

Da, noch inmitten dieser stolzen Siegeslust, traf der Befehl bei dem Königsberger Bataillon ein, vor die Stadt zu dem dort im Rückhalt verbliebenen Theil des Bülow’schen Corps zurückzukehren und mit demselben das Bivouac zu beziehen. Um vorauf in den Tod zu gehen, war die Landwehr gut gewesen, der triumphirende Einzug im Gefolge der verbündeten Herrscher blieb den für den Kampf sorgfältig geschonten Garden vorbehalten. Doch es war nicht diese kränkende Zurücksetzung allein, was an diesem Tage deutungsvoll die kommenden Dinge vorherverkündete. Der Umstand, daß von den sämmtlichen preußischen Landwehrbataillonen nur dies eine Bataillon und dies noch dazu unter so besonders schwierigen Umständen mit zu der Erstürmung von Leipzig herangezogen worden war, blieb schwerlich aus dem Streben der einzelnen Corps- und Brigadebefehlshaber allein zu erklären, den Linientruppen, aus welchen sie selbst hervorgegangen, den Ruhm dieser That und die von derselben zu hoffenden Trophäen zuzuwenden. Mit dem 18. October konnte das endliche Unterliegen Napoleon’s für so gut als besiegelt angesehen werden, und es bedurfte zu seiner vollen Niederwerfung nicht mehr so unbedingt der zu seiner Bewältigung in den Landwehren und Freiwilligen aufgebotenen eigensten und unmittelbarsten Volkskraft. Es blieb nur noch zu sorgen, daß diese dem Zeughause der Revolution entlehnte Waffe nicht denen, welchen sie durch die Gewalt der Umstände in die Hand gezwungen war, vielleicht einst selber gefährlich werde, und die alte, jetzt von der Furcht vor jenem ihrem gewaltigsten Widersacher befreite Cabinetspolitik dachte deshalb bereits auch daran, den unter dem Gebot der Noth entfesselten Volksriesen allmählich wieder in die alten Netze einzuspinnen. Unter dem Siegesjubel von Leipzig selbst wurden dazu die ersten Fäden gewoben.[1]


  1. Das Bild zu diesem Artikel ist einem Werke entnommen, von dem wir in Nr. 46, Jahrg. 1861 der Gartenlaube schon den großen Holzschnitt „Die Schlacht bei Dennewitz“ mitgetheilt haben, nämlich der unseren Lesern von uns bereits empfohlenen „Geschichte der deutschen Freiheitskämpfe. In Bildern von G. Bleibtreu und L. Pietsch,“ auf deren Veröffentlichung der Verleger (Franz Duncker) das Publicum fast zu lange warten läßt.
    D. Red.