Die Frau Collega
Die Frau Collega.
Es ist wunderlich, wie die Menschen zu ihrem Spitznamen kommen. Die einen verdanken ihn irgend einer körperlichen Eigenheit, die gefühlsarmen Mitmenschen Gelegenheit zu einem billigen Witz bietet, etwa einem Paar auffallend großer Ohren oder einer allzu entschieden vordringenden Nase. Bei anderen heftet sich der Spitzname an eine Eigentümlichkeit ihres Wesens, die ungefähr auch wie eine Nase aus der Ebene ihrer geistigen Züge vortritt; und auf manche fliegt er wie ein Gummiball zurück in Gestalt einer Anrede, mit der sie ihre Umgebung so lange ärgern, bis man sie nur noch unter diesem Losungswort kennt und fürchtet.
In diesem Falle war die „Frau Collega“. Eigentlich hieß sie Frau Christina Heydrich – sogar Frau Doktor Heydrich, wenn sie das lieber wollte; denn ihr Mann war Doktor der Philosophie und Oberlehrer an dem berühmten Gymnasium einer kleinen westdeutschen Stadt gewesen. Da sie aber die Gewohnheit hatte, jeden Herrn, der eine Brille auf der Nase und einen Pack Aufsatzhefte unter dem Arm trug, kurzweg als „Herr Collega“ und jede mit einem solchen Herrn verehelichte Dame als „Frau Collega“ anzureden, so blieb der Name an ihr selber hängen, ebenso treu wie der Plaid von schottischem gevierteten Tuch, mit dem sie nun schon seit einem Menschenalter allen Wandlungen der Mode trotzte.
Unter diesem Namen und mit diesem Plaid war sie eine gefürchtete Person für viele. Wenn sie just um die Zeit des Schulschlusses am Gymnasium vorüberging, so befleißigte sich die herausströmende Jugend eines so höflichen und angemessenen Benehmens, als scheute sie die Hand der grauhaarigen großen Frau mehr denn sämtliche Paragraphen der Schulordnung. Selbst der Herr Direktor konnte außer Fassung geraten, wenn ihn die Frau Collega unversehens mit den Worten begrüßte: „Nun, Herr Collega – Herr Direktor, wollte ich sagen – Ihre Aelteste hat sich ja eine recht hübsche neue Bluse zugelegt – knallrot, nicht wahr? Schade, daß das Mädchen so blaß ist. Sie müssen wirklich einmal darauf achten, daß sie mehr ißt und weniger Klavier spielt!“ Und wenn sie beim Geflügelhändler den ersten Gänseeinkauf der jüngsten Frau Gymnasiallehrer mit den Worten unterbrach: „Nein, liebe junge Frau Collega, das Tier bekommen Sie in diesem Leben nicht weich! – Was fällt Ihnen denn ein, Herr Trillering, der jungen Frau so einen gerupften Methusalem aufschwatzen zu wollen? Man darf die Unerfahrenheit nicht ausnutzen!“ so war es der jungen Frau nicht zu verargen, wenn sie die freundliche Helferin im Grunde ihrer Seele für eine „ungebildete Person“ erklärte. In diesem Urteil stimmte übrigens der gesamte weibliche hohe Rat des Städtchens überein, trotz aller oft erprobten Hilfsbereitschaft der „ungebildeten Person“. Denn allerdings war die Frau Collega eine Autorität in der Kinderpflege und besaß einen unerschöpflichen Schatz von Kochrezepten und Hausmitteln, aber sie pflegte ihre Rezepte und Ratschläge mit allerlei moralischen Nutzanwendungen zu verbrämen, und es war nicht ratsam, ihren scharfen grauen Augen mit einem schlechten Hausfrauengewissen zu nahen.
Die Frau Collega wohnte noch immer draußen vor der Stadt in dem kleinen Hause mit dem großen Garten, in dem sie vor etlichen vierzig Jahren Hochzeit gefeiert hatte und vor zehn Jahren Witwe geworden war. Neben dem Hause lag eine prächtige Villa, die zum Besitze der Fürsten Rosenstein-Waldau gehörte und seit langem nur von einem alten Kastellan bewohnt wurde. Eine ziemlich verwilderte Schlehdornhecke schied die Gärten. Jenseit dieser Hecke blühten zwischen breiten Kieswegen kostbare Blumen, diesseits zog die Frau Collega ihren Salat, ihre Levkojen und Heliotrop und vor allem ihre Hühner. Das war ihr Stolz. Wenn sie von ihren Erfolgen in der Hühnerzucht sprach, konnte sie poetisch, ja ein wenig ruhmredig werden. Es war ein Glück, daß sie schon die „Frau Collega“ war, sonst hätten sie ihre guten Freunde und Freundinnen vielleicht zur „Hühnertante“ ernannt. Aber das Urteil der Welt war ihr nirgendwo so gleichgültig, als wenn es ihre Liebhaberei traf. „Ein selbstgelegtes frisches Ei ist so gut wie ein Stück Kalbsbraten,“ sagte sie, „und wenn eines nicht mehr legt, giebt es immer noch eine gute Suppe. Sie können doch Hühnersuppe kochen, liebe junge Frau Collega? Denken Sie nur, wenn Ihr Mann einmal krank wird, wie der Herr Collega Schneider, der jetzt bei mir oben auf dem ersten Stock wohnt. Dem habe ich mit meiner Suppe wieder auf die Beine geholfen.“
Es wohnte immer einer von den unverheirateten jungen Lehrern bei der Frau Collega. Sie hatten es gut bei ihr, und wenn einer es überhaupt die ersten vier Wochen bei ihr aushielt, so blieb er auch möglichst lange und lernte manches, was in keinem Kolleg und keinem Seminar gelernt wird und doch einem Bildner der Jugend von Nutzen sein kann.
Eines Tages im Vorfrühling begann eine große Neuigkeit ihren Schatten auf das Gymnasium und auch auf die Villa neben der Frau Collega zu werfen. Die Villa bevölkerte sich mit Handwerkern und Dienern, es wurden Möbel angefahren, viel mehr, als nach Ansicht der Frau Collega in einen halbwegs vernünftigen Haushalt gehörten, und im Konferenzzimmer des Gymnasiums versammelte der Direktor, begleitet von einem eleganten schwarzgekleideten Herrn, die Lehrer, um die Bedingungen festzustellen, unter denen unbeschadet der beiderseitigen Würde ein Prinz Rosenstein-Waldau, Durchlaucht, der Quarta des Gymnasiums angehören dürfe.
Kurz nach Ostern kam die Frau Fürstin mit ihrem Söhnchen angereist, empfing und erwiderte den Besuch des Direktors und reiste wieder ab. Der junge Prinz blieb in der Villa zurück, unter der Obhut des eleganten schwarzgekleideten jungen Herrn, und das neue Schuljahr begann, mit dreihundertsechzig gewöhnlichen und einem durchlauchtigsten Schüler.
Die Frau Collega hatte unterdes außer den Fortschritten ihrer Hühner noch verschiedenes andere beobachtet, und es war einiges darunter, was ihr nicht gefiel.
„Also das ist Ihre junge Durchlaucht, Herr Collega,“ sagte sie etliche Tage nach dem Beginn des Schuljahres zu ihrem dermaligen Mietsherrn und deutete ungeniert zum Fenster hinaus in den Nachbargarten, wo ein schmal aufgeschossener, blasser Knabe neben dem schwarzgekleideten Herrn gemessen auf und ab wandelte. „Komisch! Und das neben ihm ist ja wohl sein Gouverneur, der Herr Doktor Weichselreis? Den kenne ich noch von früher, sein Vater war ja Küster in dem Dorfe, wo mein Bruder Tierarzt war. Damals war er ein nichtsnutziger, durchtriebener Schlingel, ein bischen schleicherisch; ich habe ihm einmal ein paar Tüchtige um die Ohren gegeben, als er meines Bruders altem Schimmel eine Distel an den Schwanz binden wollte, und es schickte sich eigentlich, daß er mir jetzt einen Anstandsbesuch machte, von wegen alter Freundschaft und neuer Nachbarschaft. Und so was ist jetzt Prinzenerzieher! Man soll nicht sagen, was aus einem Kücken werden kann. Und die Frau Fürstin habe ich auch von Ansehen gekannt, als sie’s noch nicht war. Damals wohnte sie ja eine Zeit lang hier mit ihrer Mutter, es war eine Hauptmannswitwe und hieß Schneider, gerade wie Sie, Herr Collega. Es waren ganz ordentliche Leute, und ich habe es dem Mädchen von Herzen gegönnt, daß es eine so gute Partie machte. Was nämlich die Zuthaten angeht; denn mit dem alten Fürsten Theodor, ihrem Gemahl, war nicht viel Staat zu machen – in einer von den eisernen Rüstungen seiner Vorfahren, die mir mein Mann auf unserer letzten Reise in Schloß Waldau gezeigt hat, hätte er bequem logieren können. Na, und nun sehen Sie sich einmal das arme Kind da unten an! Blaues Blut soll es ja wohl haben, aber ich fürchte, es hat überhaupt zu wenig Blut, und was helfen ihm alle seine Ahnen, wenn es keine Waden kriegt! Wie sind Sie denn mit dem Jungen zufrieden, Herr Collega, Sie haben ihn ja auch in der Arbeit?“
Der Kollege Schneider errötete etwas verlegen, denn es waren ihm verschiedene Bemerkungen eingefallen, mit denen man sich in der Konferenz über die merkwürdige Nachbarschaft der Frau Collega und des prinzlichen Hofhalts ausgelassen hatte. „Nun,“ sagte er, „bis jetzt hält sich der Prinz ganz brav. Etwas schüchtern mündlich – er ist eben noch nicht an die Klasse gewöhnt. Seine häuslichen Aufgaben erledigt er sehr löblich.“
„Das ist ein Wunder,“ bemerkte die Frau Collega, „denn es ist unglaublich, was das Kind alles schon zu thun hat, um seiner Ahnen würdig zu bleiben. Na, wie ich gestern sah, darf er ja auch ab und zu Besuch von etlichen Kameraden empfangen. Da suchen Sie ihm doch ja ein paar recht rauhbeinige aus, die in [322] gereiztem Zustande ordentlich um sich schlagen. Das sah ja gestern aus, als ob die Jungen zum Mitspielen ‚befohlen‘ wären.“
„Die Einladungen werden von Doktor Weichselreis geregelt,“ erwiderte der junge Kollege und sah nach der Uhr.
„So?“ versetzte die Frau Collega. „Na, das freut mich, denn dann hat er sich doch wenigstens in einem vergriffen. Der eine, den ich gestern dabei sah, der Junge vom Schneidermeister Hirsemann am Markt, der ist nicht so. Ich habe ihn vorigen Herbst von meinem Reineclaudenbaum dahinten heruntergeholt, und seitdem sind wir gute Freunde, denn es gehört etwas dazu, ohne Leiter auf den Baum zu kommen!“
Der Kollege Schneider schaute nochmals nach der Uhr und erinnerte sich, daß es die höchste Zeit für ihn sei. Die Frau Collega ging in den Garten zu ihren Hühnern, und wenn ihr neuer Freund, der Quartaner Hans Hirsemann, ihr in diesem Augenblicke auf verbotenen Wegen im Garten begegnet wäre, so würde ihm doch das Herz in die Hosen gefallen sein; denn sie sah unheimlich kampflustig aus.
Etliche Tage darauf widerfuhr der Frau Collega eine merkwürdige Ungeschicklichkeit: sie scheuchte ein neben der Hecke kratzendes Huhn so verkehrt, daß es, anstatt in den Hof, gackernd durch ein Loch in der Hecke in den Nebengarten flatterte, wo der junge Prinz eben mit einem Buche auf einer Bank saß.
„He, Junge, sei so gut und jag’ mir mal das Huhn herüber!“ rief die Frau Collega.
Der Knabe streifte die alte Frau mit einem sonderbar unkindlichen Blick und sagte: „Ich bin der Prinz Alfons Theodor von Rosenstein-Waldau!“
„Ei sieh ’mal,“ meinte die Frau Collega, „hast Du einen schönen Namen! Ich habe einen Jungen gekannt, der hieß einfach Hans Müller und ging barfuß, aber ein Huhn hätte er immer noch scheuchen können, wenn ihn eine alte Dame darum gebeten hätte.“
Der Knabe errötete heftig und fing an, das Huhn zu bedrohen, so daß es ängstlich und ratlos herumgackelte.
„Aber du lieber Himmel, Junge, wo hast Du denn mit Hühnern umgehen gelernt?“ rief die Frau Collega. „Jetzt scheuch’ es einmal ordentlich auf das Loch hier zu, und ich rufe tuk tuk dazu. Siehst Du, so macht man das. Und jetzt haben wir es, siehst Du wohl, mein Sohn!“
Der Knabe guckte neugierig über die Hecke. „Sie haben aber viele Hühner,“ sagte er. „Legen sie nun alle auch Eier?“
„Die kleinen da natürlich noch nicht,“ erklärte die Frau Collega und begann, hingerissen von dem Gegenstande, ihm ihre Hühner der Reihe nach vorzustellen.
Mitten in ihrem Vortrag wurde sie aber unterbrochen durch das Erscheinen eines Lakaien, der nach einem verwunderten Blick auf das sonderbare Paar meldete: „Durchlaucht, es ist angespannt.“
Daraufhin wandte sich der Knabe noch einmal zu der Frau Collega und verabschiedete sich von ihr mit einer so erwachsenen Verbeugung, daß ihr vor Entsetzen das Wort im Munde stecken blieb.
Am nächsten Sonnabend waren wieder einige Schulgenossen bei der kleinen Durchlaucht „zum Spielen befohlen“, wie es die Frau Collega bezeichnete. Hans Hirsemann war auch dabei. Als er am Sonntagmorgen aus der Kirche kam, rief ihn die Frau Collega an und sagte: „Na hör’ mal, mein Junge, hat denn Dein Vater für Dich den langen Rock mit den gelben Knöpfen schon fertig?“
„Was für einen Rock?“ fragte Hans Hirsemann angenehm überrascht.
„Ach, ich dachte nur so,“ meinte die Frau Collega. „Weißt Du, ich habe euch da gestern wieder zugesehen, wie ihr euch bei euerm Prinzen benahmt, und da dachte ich, ihr bekämt nun auch nächstens solche Röcke wie der Bediente, der euch den Kaffee brachte.“
Hans Hirsemann sah sie groß an und wurde sehr rot, dann zog er sich langsam zurück, und die Frau Collega wandelte nach Hause mit der vollen Befriedigung eines Menschen, der sich seinen freien Sonntagnachmittag redlich verdient hat.
Am nächsten Sonnabend fiel die Gesellschaft bei ihrem kleinen Nachbarn aus, dafür aber empfing ihr Mietsherr den Besuch des Doktors Weichselreis. Der elegante junge Gelehrte kam, wie er sagte, „in einer diskreten, um nicht zu sagen peinlichen Angelegenheit“, und er verbrauchte erstaunlich viel Komplimente, Händereiben und Lächeln, bis er mit dieser Angelegenheit herausrückte. „Ihre Frau Wirtin, Herr Doktor, ist ja ohne Zweifel eine – hm – eine sehr achtunggebietende alte Dame. Ja! Aber ich weiß doch nicht, ob sie die geeignete Persönlichkeit wäre, um auf meinen durchlauchtigen Zögling im Sinne Ihrer Durchlaucht der Frau Fürstin zu wirken … Ja … Ich denke da nicht bloß an einen gewissen, durch die Nachbarschaft ermöglichten Verkehr über die Hecke sozusagen, der ja leider wohl nur durch eine entsprechende einsichtsvolle Zurückhaltung der würdigen Dame ganz zu beseitigen wäre … Aber auch sonst … Es sind da leider Störungen in dem so wünschenswerten geselligen Umgang des Prinzen mit seinen Altersgenossen eingetreten … Die Knaben stellen Ansprüche, welche diesen Verkehr in der That ungehörig modificieren würden … um den Kern der Sache hervorzuheben: sie verkennen ganz, daß in diesem Verkehr immerhin eine gesellschaftliche Bevorzugung für sie liegt … Es sind darüber Erörterungen unter den Knaben gewesen, durch welche die naturgemäß isolierte Stellung des Prinzen innerhalb der Klasse mit der Zeit etwas Peinliches bekommen könnte … und ich habe Grund, anzunehmen, daß auch hier eine Beeinflussung der betreffenden Knaben, beziehungsweise ihrer Eltern durch Ihre an sich gewiß so sehr achtungswerte Wirtin mitspielt … Könnten Sie, mein hochverehrter Herr Doktor, denn nicht im Sinne einer Verhinderung weiterer derartiger Zwischenfälle auf die Dame wirken? Ich habe leider nicht die Ehre, mit ihr bekannt zu sein …“
In diesem Augenblicke öffnete sich die Thür, und die Frau Collega erschien in der Küchenschürze, einen Teller dampfender Pfannküchlein in der Hand.
„Ach,“ sagte sie, „da muß ich um Entschuldigung bitten. Ich dachte, Sie seien ausgegangen, Herr Collega, und wollte Sie bei Ihrer Rückkehr mit einer Probe von meinen Kuchen überraschen. Und nun erlebe ich ja selber eine Ueberraschung! Der Herr Doktor Weichselreis, nicht wahr? Wollten mir gewiß auch einen Besuch machen, um die alte Freundschaft zu erneuern?
Aber wie Sie sehen, ich bin eben beschäftigt. Wollen Sie nicht auch einmal versuchen, Herr Doktor Weichselreis? Ich backe sie noch nach demselben Rezept wie damals im Dorfe, wo Sie mir die drei vom Teller gestohlen hatten, den ich vors Küchenfenster gestellt, und wo ich Ihnen zwei Ohrfeigen gab, einmal fürs Stehlen und dann fürs Lügenwollen. O, ich weiß noch genau, was für ein durchtriebener Schlingel Sie damals waren. Und nun sind Sie so ein feiner Herr geworden und steuern ja wohl direkt auf den Hofrat los! Da sieht man doch: man soll keinen jungen Hund ins Wasser werfen, man kann nie wissen, was aus ihm werden kann. Na, wollen Sie meine Kuchen nicht ’mal probieren?“
Doktor Weichselreis lächelte ungemein künstlich. „In der That, gnädige Frau,“ stotterte er – – „sehr verbunden – aber ich will wirklich nicht länger stören, Herr Doktor! Ihr Diener, gnädige Frau!“
„Wissen Sie, Frau Collega,“ sagte der Kollege Schneider, nachdem er den Besuch hinausgeleitet hatte, „er hat mir eigentlich etwas an Sie aufgetragen, ich weiß nur nicht recht, ob ich’s bestellen soll –“
„Dann lassen Sie ’s nur ruhig, Herr Collega,“ antwortete die alte Dame. „Benutzen Sie lieber den freien Nachmittag zu einem Brief an Ihre liebe kleine Braut und vergessen Sie den Gruß von mir nicht.“
Doktor Weichselreis ließ sich nicht wieder sehen. Aber am nächsten Montag stellten sich jenseit der Hecke etliche Maurer ein, um die schadhafte Gartenscheide durch eine nette kleine Schutzmauer gegen Hühner und Menschen zu verstärken. Die Frau Collega sah ihnen vom Fenster aus mit vielem Behagen zu, und Doktor Weichselreis that dasselbe von der Villa aus, während er über den Entwurf des ersten Bandes seiner „Geschichte des fürstlichen Hauses Rosenstein“ nachdachte.
Am Mittwoch nachmittag war das Mäuerchen fertig. Die Arbeiter zogen mit höflichen Grüßen an dem kleinen Prinzen, der ihnen eine Weile neugierig zugesehen hatte, vorüber, um in der nächsten Kneipe das Werk zu begießen, und ließen ihr Handwerkszeug zurück.
„Das soll eine Mauer gegen Hühner sein?“ sagte die Frau Collega verächtlich und guckte über die Hecke. „Nicht gegen meine! Da fliegt ja ein Kücken drüber.“
„Sollen wir sie noch etwas höher machen?“ fragte der Prinz eifrig und griff nach einer Kelle. „Da liegen noch Steine.“
„Meinetwegen, mein Junge – aber sag ’mal, wie nennen Dich Deine Lehrer?“
„In der Schule werde ich Alfons gerufen,“ berichtete der Prinz.
[323] „Schön,“ meinte die Frau Collega, „der Zuname wäre auch zu lang. Also, Alfons, mauere Du ’mal ruhig weiter! Weißt Du denn auch, wer ich bin?“
Der Knabe lächelte verlegen. „Wenn Sie gestatten – man nennt Sie nur immer die Frau Collega.“
„Das genügt auch,“ erwiderte sie. „Aber hör’ ’mal, Alfons, wer mauert denn so? Halb auf halb mußt Du die Steine legen, nicht einen auf den andern. Und ordentlich Mörtel dazwischen. Schau her, so!“
Während sie zusammen arbeiteten, sagte der Prinz: „Ich habe eben an Mama geschrieben.“
„Wo ist denn Deine Mama?“
„In Wien.“
„Warum ist sie denn da?“
„Wegen der Güter in Böhmen,“ antwortete der Prinz. „Wir müssen darum mit Onkel Rudolf prozessieren, weil Mama nicht – nicht – ebenbürtig –“ Er verstummte und errötete sehr.
„Herr Gott!“ dachte die Frau Collega und klopfte heftig auf einen Ziegelstein, „also davon muß das Kind auch schon wissen!“ Laut sagte sie: „Wo ist denn Dein Hofmeister?“
„Der Herr Doktor schreibt eben seinen Bericht an die Mama. Nachher mache ich mit ihm zusammen mein lateinisches Skriptum für die Schule. Heute wird es wohl schnell gehen, denn er hat noch für sich zu arbeiten.“
„So?“ brummte die Frau Collega und horchte in eine Gartenecke, wo eben ein Huhn lebhaft zu gackern anfing.
„Hat das nun ein Ei gelegt?“ fragte der Prinz.
„Das ist je nachdem,“ erklärte die Frau Collega und sah ihn fest an. „Welche thun auch nur so und lassen die anderen das Ei legen. Weißt Du, Alfons, das ist wie mit dem lateinischen Skriptum.“
Als sie eben ausgesprochen, kam der Doktor Weichselreis um die Ecke und blieb beim Anblick der Gruppe sprachlos stehen.
„Guten Abend, Herr Doktor,“ sagte die Frau Collega. „Wir mauern hier zusammen, aber jetzt kann ich Ihnen wohl den Unterricht überlassen.“
Tags darauf vor der Lateinstunde meldete sich Alfons bei dem Lehrer. Er sah so fiebrig und erschöpft aus und seine Stimme klang so heiser, daß der Lehrer erschrak. „Herr Doktor,“ sagte er so laut, daß seine Mitschüler es hören konnten, „mein Gouverneur hat Ihnen heute früh ein Briefchen geschickt, ich hätte wegen Unwohlseins mein Skriptum nicht so gut machen können wie sonst. Das ist aber nicht wahr, wenn ich mich auch jetzt wirklich schlecht fühle. Ich habe mir sonst immer bei allen häuslichen Arbeiten von ihm helfen lassen, und ich wollte das nicht länger und habe es diesmal allein gemacht, und darum wird es wohl sehr schlecht geraten sein. Ich bitte um Verzeihung!“
Bei den letzten Worten fing er bitterlich an zu weinen. Der Lehrer sagte ein paar tröstende Worte, dann ließ er den Prinzen, da sein Wagen noch nicht vorgefahren war, durch zwei Mitschüler nach Hause geleiten, denn der Knabe war sichtlich krank. Die Klasse blickte ihm betreten und teilnahmvoll nach.
„Das ist ja eine verzweifelte Geschichte,“ sagte der Direktor, als ihm der Fall gemeldet wurde. „Uebrigens gedacht haben wir es uns ja alle. Nun, von dem Knaben freut es mich auf jeden Fall. Aber wissen Sie, dahinter steckt wieder die Frau Collega!“
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Vierzehn Tage später saß die schöne Fürstin-Witwe von Rosenstein-Waldau in einem Zimmer ihrer Villa der Frau Collega gegenüber. Ihre Wangen, erblaßt und eingefallen in wenigen Tagen namenloser Angst, blühten wieder auf in einer seligen Gewißheit: ihr Kind war gerettet.
Als die Fürstin auf das dringende Telegramm des Doktors Weichselreis herbeigeeilt war, hatte sie an dem Lager des kleinen Kranken eine Wärterin getroffen, wie sie in allen Hospitälern Wiens keine bessere gefunden hätte. Die Frau Collega hatte die Pflege des Kindes mit derselben ruhigen Rücksichtslosigkeit an sich genommen, mit der sie die Hecken und Mauern menschlicher Eitelkeit zu überschreiten pflegte. Die Ansteckungsgefahr war ihr dabei ebenso gleichgültig wie der passive Widerstand des Doktors Weichselreis oder das Lob des alten Stadtphysikus, der ihren Beistand der Fürstin gegenüber als die beste Gewähr für einen günstigen Ausgang pries. Sie hatte sich wahrhaftig nicht geschont in diesen Tagen und Nächten. Nun aber, da ihr Pflegling, wie sie sagte, „nur noch ein paar Hühnersuppen brauchte, um wieder herumzulaufen,“ war sie wieder ganz Frau Collega und schenkte einer Fürstin so wenig etwas wie der jüngsten Lehrersfrau.
„Sehen Sie, Durchlaucht,“ sagte sie, „von den üblichen wilden Vorwürfen, dergleichen Sie sich ab und zu machten, davon sehe ich ab. Das ist so eine Art mütterliche Begleiterscheinung bei jeder Kinderkrankheit. Aber nun haben wir ihn Gott sei Dank so weit, nun lassen Sie uns einmal vernünftig erwägen. Sehen Sie, ich hab’ Sie ja noch gekannt, als Sie zwei Waschkleider hatten und ein gutes halbseidenes zum Ausgehen. Sie waren ein braves Mädchen und sind in Ehren zu Ihrem hohen Rang gekommen, sollen eine gute Gattin gewesen sein, und daß Sie eine gute Mutter sind, weiß ich jetzt. Aber eine kluge Mutter waren Sie nicht. Es ging Ihnen alles zu sehr durcheinander. Die und die königliche Hoheit ist Pate von dem Jungen, soll ihn später voranbringen und will, daß er aufs Gymnasium kommt wie andere Jungen – also los, aufs Gymnasium! Aber da ist nun wieder sein Rang und, entschuldigen Sie, vielleicht auch ein wenig Angst, daß man sonst die bürgerliche Mutter durchmerkt: also allerlei Firlefanz, Hofstaat und Hofmeister. Den Hofmeister lassen wir uns von einem fremden Vertrauensmann aussuchen, denn wir haben keine Erfahrung; und wir lassen ihn gewähren, denn wir müssen nach Wien und was weiß ich wohin, um dem Prinzen noch etliche Güter mehr gegen die Seitenverwandten zu sichern. Ja du lieber Gott, was helfen dem Kind all die Güter! Das braucht eine Mutter! Der Junge steckt in keiner gesunden Haut; der ist wie ein schwaches Kücken, der braucht Wärme – ich meine Liebe; und dazu sind Sie da. Ziehen Sie sich mit ihm auf eins seiner Schlösser zurück, gönnen Sie ihm, was auch ein Bauernjunge hat: Luft, Licht, Bewegung; lassen Sie ihn meinetwegen auf Bäume klettern! Suchen Sie ihm einen Schulmeister aus, es braucht kein Kirchenlicht zu sein, wenn er nur weiß, was Erziehen heißt. Machen Sie ihn zu einem gesunden, fröhlichen, einfachen Menschen, dann kann er hernach noch immer ein Fürst werden, es wird ihm dann nichts mehr schaden. Und dann haben Sie mehr an ihm, als wenn er ein siecher Mensch wäre und könnte sich ganz Böhmen an die Uhrkette hängen.“
Die Fürstin hatte gesenkten Hauptes zugehört. Nun reichte sie der unwirschen Ermahnerin die Hand. „Ich danke Ihnen, Frau Collega,“ sagte sie. „So Gott will, wird Ihr Andenken nicht aussterben in unserem Hause … Sie haben mir mein Kind wiedergegeben … Ich will versuchen, es in Ihrem Sinne zu leiten.“
„Schön!“ sagte die Frau Collega und strich ihr mütterlich über die Hand. „Dann wären wir ja einig – – Nun muß ich aber gehen und ’mal sehen, was meine Hühner anfangen.“