Die Gartenlaube (1873)/Heft 5

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ernst Keil
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Entstehungsdatum: 1873
Erscheinungsdatum: 1873
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 5.   1873.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Herausgeber Ernst Keil.

Wöchentlich bis 2 Bogen.    Vierteljährlich 16 Ngr. – In Heften à 5 Ngr.



Glück auf!
Von E. Werner.


(Fortsetzung.)


Es war wieder Baroneß Windeg in jedem Zoll, die den bürgerlichen Millionär in seine Schranken zurückwies, aber, ob der Anlaß des Streites diesen zu sehr gereizt hatte, oder ob der beim Diner reichlich geflossene Wein nicht ganz ohne Wirkung geblieben war, er zeigte diesmal nicht den sonst unbedingt beobachteten Respect, sondern erwiderte ziemlich erregt:

„Wirklich? Nun, dann möchte ich Sie doch bitten zu bedenken –“ Weiter kam er nicht, denn Arthur, der sich bisher theilnahmlos im Hintergrunde gehalten, stand auf einmal an der Seite seiner Frau und sagte ruhig:

„Vor allen Dingen möchte ich Dich bitten, Papa, diesen unerquicklichen Streit ruhen zu lassen. Ich habe Eugenien bisher die vollste Freiheit des Handelns gelassen, und ich wünsche nicht, daß sie von irgend Jemand darin beschränkt wird.“

Berkow sah seinen Sohn an, als habe er nicht recht gehört; er war gewohnt, daß Arthur alle wichtigen und unwichtigen Scenen mit derselben passiven Gleichgültigkeit an sich vorübergehen ließ, und die plötzliche Einmischung desselben befremdete ihn daher ebenso sehr, wie seine offene Parteinahme.

„Du scheinst ja heute ganz und gar in der Oppositionslaune zu sein!“ spottete er. „Vor diesem vereinten Widerstande werde ich wohl die Flucht nehmen müssen, umsomehr, da ich noch einiges Geschäftliche zu erledigen habe. Ich hoffe, Sie morgen etwas weniger streitsüchtig zu finden, Eugenie, und meinen Herrn Sohn etwas lenksamer, als er den ganzen Tag über gewesen ist. Ich wünsche Euch einen guten Abend!“ –

Berkow hatte, als er mit unterdrücktem Aerger den Salon verließ, wohl keine Ahnung davon, daß er durch seinen plötzlichen und heftigen Aufbruch die beiden Zurückbleibenden in eine Verlegenheit brachte, in welche sie seit dem Abende ihrer Ankunft noch nicht wieder gekommen waren, in die Verlegenheit nämlich, allein mit einander zu sein. Sie hatten sich seitdem nur immer im Beisein Fremder oder bei Tische in Gegenwart der Dienerschaft gesehen, und dieses unerwartete tête-à-tête schien Beiden gleich unwillkommen. Arthur mochte doch wohl fühlen, daß er seinem Vater nicht so auf dem Fuße folgen konnte, ohne vorher wenigstens einige Worte an seine Gattin zu richten, aber es vergingen mehrere Secunden, ehe er sich dazu entschloß, und als es endlich geschah, kam Eugenie ihm zuvor.

„Es war nicht nöthig, daß Du mir zu Hülfe kamst!“ sagte sie kalt. „Ich hätte meine Selbstständigkeit Deinem Vater gegenüber wohl auch allein behauptet.“

„Ich zweifle nicht im Geringsten an Deiner Selbstständigkeit!“ gab Arthur in dem gleichen kühlen Tone zurück, „aber ich zweifle an dem Zartgefühl meines Vaters, gewissen Dingen gegenüber. Er stand im Begriff eine Erinnerung auszusprechen, die ich Dir und mir denn doch zu ersparen wünschte. Das war der alleinige Grund meiner Einmischung.“

Die junge Frau schwieg und lehnte sich in ihren Sessel zurück, während ihr Gatte, der am Tische stand, den dort liegenden Fächer ergriff und mit anscheinender Aufmerksamkeit die Arabesken desselben studirte. Es trat eine zweite noch unbehaglichere Pause ein, bis er endlich wieder das Wort nahm.

„Was übrigens die Angelegenheit des Hartmann betrifft, so bewundere ich aufrichtig die Selbstverleugnung, die Du dabei entwickelst. Dir grade müssen doch solche Kreise und solche Persönlichkeiten im höchsten Grade antipathisch sein.“

Eugenie schlug das große Auge voll und finster auf. „Mir ist nur die Schwäche und die Gemeinheit antipathisch, sonst nichts! Ich achte Jeden, der voll und energisch seinen Platz im Leben ausfüllt, gleichviel ob es oben auf der Höhe oder unten im Thale geschieht!“

Es war ein harter Klang in ihrer Stimme. Arthur’s Hand spielte noch immer achtlos mit dem Fächer, aber es lag etwas Nervöses in diesem Spiel und in dem leichten Zittern seiner Lippen. Er war leise zusammengezuckt, als sie von der „Schwäche“ und der „Gemeinheit“ sprach, obgleich sein Antlitz noch immer die vollkommenste Gleichgültigkeit zeigte.

„Eine sehr erhabene Anschauung!“ sagte er nachlässig. „Nur würde sie, fürchte ich, einige Aenderung erleiden, wenn Du in näherer Berührung mit dem wilden rohen Wesen kämst, das gewöhnlich unten im Thale herrscht.“

„Dieser junge Bergmann gehört aber nicht zu den blos Gewöhnlichen!“ erklärte Eugenie sehr entschieden. „Er mag wild und unbändig sein, wie eine Naturkraft, die zur Gefahr werden kann, wenn sie nicht in die rechte Bahn gelenkt wird – roh habe ich ihn nicht gefunden.“

Ihr Ton hatte unwillkürlich einige Wärme angenommen. In Arthur’s Auge zeigte sich wieder das eigenthümliche, halb verschleierte Aufglimmen, als er es jetzt auf sie richtete.

„Du scheinst ja bereits eine ganz wunderbare Macht über diese ‚wilde ungebändigte Naturkraft‘ auszuüben! Sie war im Begriff meinem Vater gegenüber in etwas ungeziemender Weise hervorzubrechen. Du hobst nur den Fächer, und der gereizte [74] Löwe wurde sanft wie ein Lamm.“ Die schlanke weiße Hand des jungen Mannes drückte hier selbst den besprochenen Fächer so heftig zusammen, daß das kostbare Spielzeug in ernstliche Gefahr gerieth, während er spottend fortfuhr: „Und wie ritterlich er sich über Deine Hand hinneigte. Wären wir nicht dazu gekommen, ich glaube, er hätte, trotz des besten Cavaliers, einen Handkuß versucht!“

Mit einer heftigen Bewegung erhob sich Eugenie. „Ich fürchte, Arthur, dieser Mann wird Dir und Deinem Vater noch einmal etwas Anderes abzwingen, als bloßen Spott, und ich weiß nicht, ob der Letztere gerade wohl daran thut, seine Untergebenen in eine immer schärfere Opposition hineinzutreiben; die Folgen könnten einst auf ihn selbst zurückfallen.“

Ihr Gatte sah sie noch immer unverwandt an, während sie so vor ihm stand, und ihm waren doch dieses rauschende Seidengewand, dieser Spitzenduft mit den eingestreuten Rosen und dieser Perlenglanz nichts Neues mehr, so wenig wie das schöne blonde Haupt, mit den stolzen Zügen und den dunklen, jetzt in Entrüstung funkelnden Augen. Vielleicht war ihm die lebhafte Parteinahme neu, die sie für ihren Schützling zeigte. Er behielt noch den nachlässig-höhnischen Ton bei, den er während des ganzen Gespräches festgehalten, aber es barg sich dahinter etwas wie wühlende Gereiztheit, und der Fächer hatte entschiedenes Unglück in seinen Händen; das zarte, kunstvoll geschnitzte Elfenbein war zerbrochen, als er es auf den Fauteuil mehr schleuderte als warf.

„Unser ‚Lebensretter‘ hat Dir wohl eine sociale Vorlesung gehalten? Ich bedaure, derselben verlustig gegangen zu sein, aber eine Merkwürdigkeit ist dieser Hartmann jedenfalls. Er brachte zu Stande, was bisher noch keinem anderen Gegenstande möglich war, er veranlaßte uns zu einer lebhaften Unterhaltung. Aber das Interesse an diesem Thema dürfte sich nun auch wohl erschöpft haben. Meinst Du nicht?“

Das Erscheinen des Dieners, der mit einer Meldung eintrat, machte jetzt dem Gespräche ein Ende. Arthur benutzte sofort diesen Vorwand zu seiner Entfernung; er verabschiedete sich von seiner Gattin so kalt und ceremoniös, wie gewöhnlich der Verkehr zwischen ihnen war. Eugenie sah sich, nachdem auch der Diener gegangen, kaum allein, als sie in mühsam unterdrückter Erregung im Zimmer auf und ab zu schreiten begann. Sie war empört über die Kälte und Herzlosigkeit, die man gegen Ulrich’s That zeigte, aber das war es nicht allein, was ihren Schritt so heftig machte und ihr die Röthe des Zornes in die Wangen trieb.

Warum konnte sie ihrem Gatten nie mit der vollen Verachtung entgegentreten, die ihr doch seinem Vater gegenüber so leicht wurde? War er etwa Besseres werth? Es lag in dieser grenzenlosen Indolenz Arthur’s Etwas, das jeden Schlag parirte und ihm in manchen Augenblicken sogar ein geheimes Uebergewicht über die stolze, leidenschaftliche Frau gab, die sich nur zu oft von ihrem Temperamente hinreißen ließ. Er war der tief Gedemüthigte gewesen an jenem Abende, wo sie ihm mit so vernichtender Offenheit die Wahrheit enthüllte; er war der im schwersten Unrecht Befindliche heute, wo sie ihm zeigte, wie falsch er seinen und ihren Retter beurtheilt, und beide Male hatte er ihr in einer Art gegenübergestanden, die sich nicht ohne Weiteres mit Verachtung abthun und niederschmettern ließ. Sie wollte das nicht anerkennen und sie wollte es sich auch nicht eingestehen, wie es sie verletzte, daß er seit jener Erklärung zwischen ihnen nicht den leisesten Versuch mehr gemacht hatte, das wahrhaft eisige Verhältniß auch nur mit einem Worte zu mildern. Freilich hätte sie jeden solchen Versuch mit dem verächtlichsten Stolze zurückgewiesen, der ihr nur zu Gebote stand, aber daß sie gar nicht in den Fall kam, dies zu thun, daß er sich nie die Mühe nahm, auch nur einen Schritt über das hinauszugehen, was die Convenienz verlangte, das reizte sie wider ihren Willen. Eugenie pflegte sonst schnell fertig zu sein mit ihrer Liebe wie mit ihrem Haß, und dem Gatten gegenüber war ihre Empfindung entschieden, noch ehe sie ihm die Hand reichte – aber es ließ sich auf ihn nun einmal nicht aus so unerreichbarer Höhe niedersehen, wie auf seinen Vater. Die junge Frau fühlte das dunkel, wenn sie sich auch keine Rechenschaft darüber geben konnte, wodurch er dieses Gefühl erzwang.

Arthur war eben im Begriff, den Corridor zu durchschreiten, als er dem Director und dem Ober-Ingenieur begegnete, die beide, noch durch eine Besprechung mit Berkow zurückgehalten, erst jetzt im Begriff standen, das Haus zu verlassen; der junge Berkow blieb plötzlich stehen.

„Darf ich fragen, Herr Director, weshalb die Weigerung Hartmann’s, die ihm ausgesetzte Summe anzunehmen, zuerst und allein der gnädigen Frau gemeldet wurde, während ich kein Wort davon erfuhr?“ fragte er scharf.

„Mein Gott!“ sagte der Director etwas verlegen, „ich wußte nicht, daß Sie irgend welchen Werth darauf legten, Herr Berkow. Sie lehnten jedes persönliche Eingehen in diese Angelegenheit so entschieden ab, während die gnädige Frau von Anfang an ein so großes Interesse dafür kund gab, daß ich mich verpflichtet glaubte –“

„So?“ unterbrach ihn Arthur, wieder mit dem leichten, nervösen Zucken seiner Lippen, „nun, die Wünsche der gnädigen Frau müssen allerdings befolgt werden, aber ich möchte Sie denn doch ersuchen, mich bei dergleichen Geschäftsangelegenheiten,“ er legte einen Nachdruck auf das letzte Wort, „nicht so völlig zu übergehen, wie es diesmal der Fall war. Ich wünsche in Zukunft gleichfalls und zuerst davon unterrichtet zu werden, ich bitte Sie ganz entschieden darum.“

Damit ließ er den verblüfften Beamten stehen und ging in seine Zimmer hinüber. Der Director sah seinen Collegen an. „Was sagen Sie dazu?“

Der Ober-Ingenieur lachte: „Es geschehen Zeichen und Wunder! Herr Arthur fängt an, sich um Geschäftssachen zu kümmern! Herr Arthur verlangt ‚ganz entschieden‘ etwas! Das ist allerdings noch nicht dagewesen, so lange ich ihn kenne.“

„Aber dies ist ja ganz und gar keine Geschäftsangelegenheit!“ rief der Director ärgerlich. „Es ist eine reine Privatsache, und ich kann mir auch denken, wie die Geschichte zusammenhängt. Hartmann wird sich der gnädigen Frau gegenüber wohl wieder in seiner bekannten liebenswürdigen Art benommen haben. Ich fand es gleich bedenklich, daß sie ihn rufen lassen wollte – der mit seiner Unbändigkeit und Rücksichtslosigkeit im Salon! Er ist im Stande gewesen, ihr in’s Gesicht zu sagen, was er mir heut Morgen auf dem Bureau sagte: er brauche keine Bezahlung und habe sein Leben nicht für Geld in die Schanze geschlagen. Die gnädige Frau wird empört darüber sein und der junge Herr gleichfalls, und von Herrn Berkow werde ich auch wohl Artigkeiten anzuhören bekommen, weil ich diese Audienz überhaupt zugelassen habe.“

„Nun, es wäre das erste Mal, daß Herr Arthur über etwas empört ist, was seine junge Frau angeht,“ meinte der College gleichmüthig, während sie zusammen die Treppe hinunterstiegen. „Ich finde, daß die Gletscher-Atmosphäre, die in dieser Ehe herrscht, allmählich anfängt, sich auf die ganze Umgebung auszudehnen. Man spürt die Eisregion, sobald man nur in ihre Nähe kommt. Meinen Sie das nicht auch?“

„Ich fand, daß Frau Berkow heut hinreißend schön aussah! Sie war allerdings etwas sehr kühl, etwas sehr vornehm, aber doch ganz hinreißend schön!“

Der Ober-Ingenieur machte eine komische Geberde des Entsetzens.

„Um des Himmels willen! Sie fallen ja ganz in den Styl Wilberg’s; gut, daß Sie bereits in den Fünfzigen stehen! Apropos Wilberg! Der schwimmt bereits ganz und gar in romantischer Anbetung, aber ich glaube nicht, daß diese und seine unvermeidlichen Verse höheren Ortes Eifersucht erwecken. Herr Arthur scheint so wenig geneigt, seiner schönen Frau Anbetung zu widmen, als sie, solche anzunehmen. Ich kann mir nicht helfen, es werden ja täglich Convenienzehen geschlossen, aber ich habe bei dieser immer das Gefühl, als könnte sie nicht den gewöhnlichen Verlauf nehmen, als läge unter all dem Gletschereis so etwas wie ein Vulcan verborgen, der eines schönen Tages mit Donner und Blitz losbricht und uns ein Stückchen Erdbeben und ein Stückchen Weltuntergang erleben läßt. Freilich, ‚das wäre doch etwas Poesie in dieser öden Steppe des Alltagslebens!‘ würde Wilberg sagen, vorausgesetzt nämlich, daß die Eruption ihn und seine Guitarre verschont! Aber da sind wir unten. Glück auf, Herr College!“




[75] Mehr als vier Wochen waren seit der Festlichkeit vergangen, aber Herr Berkow schien bei der „Ueberraschung seiner Kinder“, wie er seinen allerdings etwas frühen Besuch bei den Neuvermählten nannte, keineswegs die gehoffte Freude gefunden zu haben; er war bereits nach einigen Tagen wieder nach der Residenz zurückgekehrt, wo allerdings eine ganze Last von Geschäften auf ihn harrte. Erst jetzt wurde er zu einem zweiten, diesmal längeren Aufenthalte hier erwartet. In dem Leben des jungen Paares hatte sich inzwischen nichts verändert, nur daß es womöglich noch getrennter, noch kälter und aristokratischer war, als im Anfange. Man schien auf beiden Seiten gleich sehr das Ende dieser „Flitterwochen“ herbeizusehnen, die man sich nun einmal vorgenommen hatte, hier in der Landeinsamkeit zuzubringen, bis der Sommer eine größere Reise möglich machte, von der man dann im Herbste in die Residenz zurückkehren wollte, um dort den ständigen Aufenthalt zu nehmen. Der künftige Haushalt wurde bereits von Seiten Berkow’s mit verschwenderischem Aufwande eingerichtet.

Es war nach eben vollendeter Frühschicht, als Ulrich Hartmann nach dem Hause seines Vaters zurückkehrte, aber er war diesmal genöthigt, seinen sonst raschen Schritt bedeutend zu mäßigen, denn an seiner Seite ging Herr Wilberg, der, gleichfalls vom Bureau kommend, ihn glücklich abgefangen und sich ihm angeschlossen hatte. Es war immerhin auffallend, einen der Beamten in solcher Vertraulichkeit mit dem Steiger Hartmann zu sehen, der sich sonst in jenen Kreisen nicht der geringsten Sympathie erfreute, und noch auffallender, daß diese Vertraulichkeit[WS 1] gerade von Herrn Wilberg ausging, wenn man nicht die alte Lehre von den Extremen, die stets einander suchen, als Erklärung gelten lassen wollte – aber hier lag doch noch etwas Anderes vor. Der Ober-Ingenieur wußte freilich nicht, was er wieder mit seinen Spöttereien angerichtet hatte, aber seine lediglich als Spott hingeworfene Aeußerung von dem interessanten Balladenstoff war leider nur auf einen allzu empfänglichen Boden gefallen. Wilberg war im vollen Ernste daran, den Stoff poetisch zu verarbeiten, nur daß er sich selbst noch im Zweifel befand, ob das zu schaffende Meisterwerk Ballade, Epos oder Drama werden würde; vorläufig stand nur eins fest, daß es die sämmtlichen Vortrefflichkeiten dieser drei Dichtungsarten in sich vereinen werde. Zum Unglück für Ulrich aber hatte dessen energische und muthvolle That den angehenden Dichter auf die Idee gebracht, daß der junge Retter sich außerordentlich zu einem tragischen Helden eigne, und er lief ihm deshalb auf Schritt und Tritt nach, um diesen höchst interessanten Charakter zu studiren. Als dieser sich nun gar noch beikommen ließ, die ihm angebotene bedeutende Belohnung mit einem Stolze auszuschlagen, der selbst den Director kleinlaut machte, da wuchs der romantische Nimbus in den Augen Wilberg’s zu einer Höhe, die nichts zu erschüttern vermochte, selbst nicht die rücksichtsloseste Grobheit von Seiten des Bewunderten und die scharfen Bemerkungen der Vorgesetzten, die diese Intimität nicht gerade gern sahen. In der That zeigte sich Ulrich sehr wenig entgegenkommend bei den „Studien“, die man an ihm machte; er versuchte oft genug ungeduldig, die ihm aufgedrungene Gesellschaft abzuschütteln, wie man etwa eine lästige Fliege abschüttelt, aber das half ihm wenig. Herr Wilberg hatte sich nun einmal in den Kopf gesetzt, einen Helden in ihm zu sehen, allerdings einen rauhen, wilden, unbändigen Helden, und je ärger er sich in dieser Hinsicht benahm, desto entzückter war jener, sein Charakterbild sich so klar entwickeln zu sehen, desto eifriger studirte er an ihm herum. Der junge Bergmann zuckte schließlich die Achseln und ließ das Unvermeidliche über sich ergehen; endlich that die Gewohnheit das Ihrige, so daß die Beiden doch immerhin zu einer Art von Vertraulichkeit gelangten, bei der allerdings das Respectverhältniß übel fortkam.

Der Wind blies noch ziemlich kalt von Norden her. Herr Wilberg knöpfte vorsichtig seinen Paletot zu und schlang die Enden seines dicken wollenen Shawls sorgfältig ineinander, während er seufzend sagte:

„Sie sind doch ein glücklicher Mensch, Hartmann, mit Ihrer Riesennatur und Ihrer Riesengesundheit. Das fährt die Schachte herauf und herunter, von der Hitze in die Kälte, und steht dann wieder in dem scharfen Winde hier oben, während ich mich ängstlich vor jedem Temperaturwechsel hüten muß. Und dabei bin ich so nervös, so angegriffen, so reizbar – das kommt davon, wenn der Geist den Körper allzu sehr beherrscht! Ja, Hartmann, es kommt von dem Uebermaße der Gefühle und Gedanken!“

„Ich glaube, Herr Wilberg, es kommt von Ihrem ewigen Theewassertrinken,“ meinte Ulrich mit einem halb mitleidigen Blicke auf den kleinen schwächlichen Beamten. „Wenn Sie Morgens und Abends immer nur das dünne heiße Zeug schlucken, kommen Sie nie zu Kräften.“

Wilberg sah mit unendlicher Ueberlegenheit an seinem Rathgeber in die Höhe. „Das verstehen Sie nicht, Hartmann! Ich könnte unmöglich eine so derbe Kost wie Sie ertragen; meine Constitution ist nicht danach, und überdies ist der Thee ein höchst ästhetisches Getränk. Er belebt mich; er regt mich an, wenn ich das gemeine Tagewerk hinter mir habe und Abends in stillen Stunden die Muse sich mir naht –“

„Sie meinen, wenn Sie Verse machen?“ unterbrach ihn Ulrich trocken. „Also dazu brauchen Sie den Thee? Nun, es wird auch danach!“

Es war ein Glück, daß dem schwer beleidigten Dichter in diesem Moment gerade ein Reim durch den Kopf ging, den er festzuhalten strebte; er überhörte auf diese Weise die Ungezogenheit seines Begleiters gänzlich und wandte sich in der nächsten Minute wieder ganz freundlich zu ihm.

„Ich habe eine Bitte an Sie, Hartmann, ein Verlangen, eine Forderung!“ sagte er, sich im regelrechten Klimax steigernd, „die Sie mir gewähren müssen um jeden Preis. Sie sind im Besitze eines Gegenstandes, der für Sie völlig werthlos ist und der mich zum Glücklichsten der Sterblichen machen würde; Sie müssen ihn mir abtreten.“

„Was muß ich Ihnen abtreten?“ fragte Ulrich, der wie gewöhnlich, wenn Wilberg sprach, nur halb hingehört hatte, mit gleichgültiger Miene.

Herr Wilberg erröthete, seufzte, blickte zu Boden, seufzte zum zweiten Male und hielt es nach diesen Vorbereitungen für passend, mit der Sprache vorzugehen.

„Sie werden sich des Tages erinnern, an dem Sie die gnädige Frau retteten. Ach, Hartmann, es ist ewig schade, daß Sie so gar kein Verständniß für die Poesie dieser Situation haben; wenn ich an Ihrer Stelle gewesen wäre! Doch lassen wir das! Die gnädige Frau bot Ihnen ihr eigenes Taschentuch an, als sie Sie bluten sah. Sie behielten es in der Hand, weil sofort Hülfe von anderer Seite herbeikam. Mein Gott, Sie können solch ein Ereigniß doch unmöglich vergessen haben!“

„Nun, was ist’s mit dem Tuche?“ fragte Ulrich, der plötzlich aufmerksam geworden war.

„Ich wünsche es zu besitzen,“ murmelte Wilberg, melancholisch die Augen niederschlagend. „Fordern Sie von mir, was Sie wollen! aber überlassen Sie mir dieses theure Andenken von einer Frau, die ich anbete!“

„Sie?“ rief Ulrich mit einem Tone, daß sein Begleiter zurückprallte und sich ängstlich umsah, ob Niemand in der Nähe sei.

„Schreien Sie doch nicht so, Hartmann! Sie brauchen sich durchaus nicht zu entsetzen, daß ich die Gemahlin unseres künftigen Chefs anbete. Das ist etwas ganz Anderes, als was Sie gewohnt sind, sich unter Liebe vorzustellen; das ist – ja, Sie wissen freilich nicht, was platonische Liebe heißt.“

„Nein!“ entgegnete der junge Bergmann kurz, seinen Schritt beschleunigend und augenscheinlich beflissen, das Gespräch abzubrechen.

„Sie können das auch unmöglich begreifen!“ erklärte Herr Wilberg mit unendlicher Selbstzufriedenheit, „denn Sie können und werden sich nie zu der erhabenen Reinheit von Gefühlen aufschwingen, deren nur die höchste Bildung fähig ist, von Gefühlen, die ohne jede Hoffnung, ja selbst ohne Wunsch, sich nur mit stummer seliger Anbetung aus der Ferne begnügen. Oder was meinen Sie denn, daß man anders thun könnte, wenn man eine Frau liebt, die nun einmal einem Andern angehört?“

„Man überwindet’s eben!“ sagte Ulrich dumpf, „oder –“

„Oder?“

„– man schlägt den Andern nieder.“

Herr Wilberg retirirte mit außerordentlicher Schnelligkeit nach der andern Seite des Weges hinüber, wo er im vollsten Entsetzen stehen blieb.

[76] „Welche Rohheit! Welche haarsträubenden Grundsätze! Also mit Mord und Todtschlag würden Sie Ihre Liebe documentiren? Sie sind ein entsetzlicher Mensch, Hartmann, und Sie sagen das mit einem Tone, einem Blicke – die gnädige Frau hat ganz Recht, wenn sie Sie eine unbändige Naturgewalt nennt, die –“

„Wer nennt mich so?“ unterbrach ihn Ulrich heftig und finster blickend.

„Die gnädige Frau! ‚Eine wilde ungebändigte Naturgewalt‘ hat sie gesagt. Ein höchst geistreicher Ausspruch und unendlich zutreffend in diesem Falle. Hartmann“ – der junge Beamte wagte es allmählich, wenn auch noch ziemlich schüchtern, sich seinem Begleiter wieder zu nähern – „Hartmann, ich wollte Ihnen Alles verzeihen, Alles, sogar das, was Sie eben gesagt haben; aber was ich Ihnen nicht verzeihe, das ist Ihr abscheuliches Benehmen der gnädigen Frau gegenüber. Haben Sie denn allein keine Augen für diese Schönheit und Anmuth, die selbst die rohesten Ihrer Cameraden entwaffnet, daß Sie ihren Anblick scheuen, als brächte er Ihnen irgend ein Unglück? Wenn ihr Wagen nur in der Ferne sichtbar wird, kehren Sie um und weichen ihm aus; wenn sie vorüberreitet, treten Sie in’s erste beste Haus, und ich wette, Sie machen nur deshalb den täglichen Umgang bei der Wohnung des Directors vorüber, weil Sie ihr drüben am Parkgitter einmal begegnen könnten und dann in die Nothwendigkeit kämen, sie grüßen zu müssen. O, über diesen starren Classenhaß, der selbst die Frauen nicht verschont. Ich wiederhole es Ihnen, Sie sind ein entsetzlicher Mensch!“

Ulrich schwieg; er ließ wider seine Gewohnheit die Vorwürfe über sich ergehen, ohne auch nur eine Silbe zu erwidern, und bestärke Herrn Wilberg dadurch in dem glücklichen Wahne, daß seine Vorstellungen doch endlich einmal etwas genützt hätten. Ermuthigt dadurch, begann er von Neuem:

„Um nun aber auf den Hauptgegenstand zurückzukommen – das Taschentuch –“

„Was weiß ich, wo das Ding geblieben ist!“ unterbrach ihn Ulrich rauh. „Es wird verloren gegangen sein, oder die Martha wird es zurückgegeben haben. Ich weiß nichts davon!“

Wilberg war im Begriff, außer sich zu gerathen über die Gleichgültigkeit, mit der man einen in seinen Augen so unendlich kostbaren Gegenstand behandelte, als er auf einmal Martha erblickte, die vor dem Hause des Schichtmeisters stand, dem man sich inzwischen genähert hatte. Wie ein Stoßvogel schoß der junge Beamte auf sie zu und begann sie zu examiniren, wo das fragliche Tuch geblieben sei, ob sie es wirklich zurückgegeben habe, ob es nicht möglicher Weise noch irgendwo existire. Das Mädchen schien ihn anfangs nicht zu verstehen; als sie aber begriff, um was es sich handelte, verfinsterte sich ihr Gesicht auffallend.

„Das Tuch ist noch da!“ sagte sie bestimmt. „Ich dachte es gut zu machen, als ich es eines Tages vornahm und von dem Blute reinigte; aber Ulrich geberdete sich ja wie ein Wüthrich, daß ich es ihm auch nur angerührt hatte. Er hat es in seiner Lade.“

„Ah, es war also nur ein Vorwand, um mir das Gewünschte zu verweigern!“ rief Wilberg gekränkt und mit einem Blicke des Vorwurfs auf Ulrich, der mit verbissenem Aerger zugehört hatte und jetzt beinahe höhnisch sagte:

„Geben Sie sich nur zufrieden, Herr Wilberg! das Tuch bekommen Sie doch nicht!“

„Und weshalb nicht, wenn ich fragen darf?“

„Weil ich es behalte!“ erklärte Ulrich lakonisch.

„Aber, Hartmann –“

„Wenn ich einmal Nein gesagt habe, dann bleibt es dabei; das wissen Sie doch, Herr Wilberg!“

Wilberg hob Augen und Hände zum Himmel empor, als wolle er diesen zum Zeugen der ihm widerfahrenen Beleidigung anrufen, aber plötzlich sanken seine Arme schlaff hernieder und er selber schnellte ebenso plötzlich in die Höhe, als eine Stimme hinter Martha sagte:

„Können Sie mir nicht Auskunft geben, liebes Kind – Ah, Herr Wilberg! Ich störe wohl eine lebhafte Unterhaltung?“

Der Angeredete stand sprachlos, aber mindestens ebenso sehr vor Verzweiflung als vor Entzücken über diese unerwartete Begegnung, denn ihn überkam das vernichtende Bewußtsein, daß er vor der gnädigen Frau, die ihn bisher immer nur im feinsten Gesellschaftsanzuge gesehen hatte, sich jetzt in blauem Paletot, grünem Shawl und einer von dem scharfen Winde arg gerötheten Nasenspitze präsentiren müsse. Er wußte, wie unvortheilhaft ihm diese Farbenzusammenstellung zu Gesicht ließ, und hatte sich erst vor einer Stunde feierlichst gelobt, wenigstens den grünen Shawl durch einen kleidsameren zu ersetzen, und nun führte ihn der tückische Zufall so vor die Augen seines Ideals! Herr Wilberg wünschte sich in die tiefsten Tiefen der Schachte und behielt nichtsdestoweniger noch Besinnung genug, sich über Hartmann zu ärgern, der noch mit dem ganzen Staube der Arbeit auf den Kleidern dicht vor der gnädigen Frau stand, und noch dazu wie eine Bildsäule dastand, ohne sich auch nur zu regen.

Eugenie war den Weg entlang gekommen, der an dem Hause vorüberführte, und unbemerkt in das Gärtchen getreten, wo sie zunächst nur das junge Mädchen bemerkt hatte. Sie erhielt vorläufig keine Antwort auf ihre letzte Frage; die beiden Männer schwiegen, bis Martha das Wort nahm; sie hatte nur einen einzigen Blick auf ihren Vetter geworfen bei dem plötzlichen Erscheinen der Dame, und wandte sich jetzt rasch zu ihr.

„Wir redeten gerade von dem Spitzentuche, das die gnädige Frau damals zum Verbinden hergab, und das noch immer nicht zurückgegeben ist.“

„Ah so, mein Tuch!“ sagte Eugenie gleichgültig. „Das hatte ich in der That ganz vergessen, aber da Sie es so sorgfältig aufbewahrt haben, mein Kind, so geben Sie es mir zurück.“

„Ich nicht, Ulrich hat es!“ Martha’s Blick flog wieder zu ihm hinüber, so finster forschend, wie das erste Mal, und auch Eugenie schaute etwas befremdet auf den jungen Mann hin, der noch nicht einmal gegrüßt hatte.

„Nun denn Sie, Hartmann! Oder wollen Sie es mir nicht zurückgeben?“


(Fortsetzung folgt.)




Orientalische Palast- und Hofbilder.
Von Heinrich Freiherrn von Maltzan.
Nr. 2.
Empfangsfeierlichkeiten im Thronsaal. – Ein falscher Pückler-Muskau statt des echten empfangen. – Ein wanderndes Ministerium. – Der Beiram.


Wir haben schon zu lange bei den Schauern der Hinterkammern des fürstlichen Palastes verweilt. Begeben wir uns wieder in die Vordergemächer, so wird sich eine lebensfrohere Stimmung unser bemächtigen. Nicht, als ob diese gerade durch guten Geschmack glänzten, denn das Orientalische ist in den modernen Palästen arabischer Großen mit einer häßlichen Zuthat schlechter europäischer Nachahmung verquickt und verhunzt. Betreten wir zum Beispiel den Thronsaal des Bey von Tunis: wahrlich nicht häßlich nach dem ersten oberflächlichen Eindruck; Alles glänzt und funkelt. Aber welch ein Zwitterding der Geschmacksrichtungen! Die Decke orientalisch, edel und schön im Styl gehalten; die rechte Wand europäisch, auch noch edel, wenn man will; sie wird nämlich von einer Bildergalerie ausgefüllt, bestehend aus einigen dreißig lebensgroßen in ganzer Figur gemalten Portraits europäischer Fürsten, meist wirklich werthvoll, da diese Fürsten sie selbst geschenkt haben – ältere und neuere, große und kleine, heilige und unheilige neben einander; Napoleon neben Louis Philippe, Victor Emanuel neben Ferdinand von Neapel. Sogar der heilige Marinus, Schutzpatron der gleichnamigen Republik, hängt dort neben Isabella von Spanien. Auch der Fürst von Monaco ist hier ebenso groß abgebildet, wie der Kaiser von Rußland. Eine solche Galerie in einem orientalischen Thronsaal überrascht uns, aber sie ist nicht gerade unschön. Ganz lächerlich, ja kindisch ist dagegen die Ausschmückung der linken Seite des Thronsaales. Hier

[77]
Sonntägliche Entdeckung.

„Ist das auch ein Lesezeichen?“
Nach dem Oelgemälde von R. Hornemann in Düsseldorf.

„Kein Feuer, keine Kohle
Kann brennen so heiß,
Als heimliche Liebe,
Von der Niemand nichts weiß.“

5
So hast du’s gehalten,

Du liebliche Maid –
Wie Vater und Mutter
Zu ihrer Zeit.

Warum nun der Zorn

10
In des Vaters Gesicht?

Und die Mutter thut auch fast,
Als wüßt’ sie es nicht!

Was hilft’s, daß der Brief
Zu der Bibel sich fand,

15
Wo geschrieben steht „Liebt euch

Unter einand’“

Du hast gar zu fromm
Deine Liebe versteckt –
Und die Frömmigkeit hat sie

20
Am Sonntag entdeckt.


Konnt’ am Herzen dir sicher
Sein Brieflein nicht ruh’n?
Was hat denn dein Schatz,
In der Bibel zu thun?

H. v. C.

[78] befinden sich die Fenster, etwa zwölf an der Zahl. Der Zwischenraum zwischen einem und dem andern wird jedesmal durch eine Spiegelconsole mit einer Stutzuhr und zwei falschen Blumensträußen unter Glasglocken ausgefüllt. Alle diese Uhren gehen zwar, aber alle falsch; nach ihnen kann jeder die Tageszeit finden, die ihm gerade am besten gefällt. Die Blumen sind solche, wie in keinem, selbst dem exotischsten Klima, welche wachsen. Aber sie sind in Paris gemacht, und das genügt dem modernen Reformtürken, um sie reizend zu finden.

Dieser Saal war vor etlichen dreißig Jahren eben in all’ seiner Pracht und Bizarrerie fertig geworden, als ein denkwürdiges Ereigniß stattfand, wodurch man ihn würdig einzuweihen hoffte. Es war die Anwesenheit eines lebendigen europäischen Fürsten in Tunis. Heutzutage ist man selbst in Tunis gegenüber solchen Besuchen blasirt, aber damals waren sie noch nicht vorgekommen. Zudem war gerade am Hofe die Reform eingerissen; man hatte sich europäisch möblirt, gekleidet, sich uniformirt und besternt, alles aus Paris verschrieben, und nun mußte man doch Jemand haben, dem man diese Herrlichkeiten zeigen konnte, denn die Araber verstanden ihre Schönheiten nicht und unter den in Tunis lebenden Europäern waren so schrecklich wenig hoffähige Leute. Der Fürst war zwar ein mediatisirter, aber er hatte doch wenigstens den Titel. Man erräth wohl, wer er war: der „Verstorbene“ nämlich, Semilasso, vulgo Pückler-Muskau genannt. Dieser war zur Audienz bei Hofe angemeldet worden. Alles erwartete ihn, der Bey von Gold und Diamantsternen strahlend, auf seinem Thron, rings um ihn seine zahllosen Vettern, die Prinzen (die gerade eingesperrten natürlich abgerechnet), die Minister und an den Wänden, steif wie Schildwachen aufgestellt, die vielen, allzuvielen Generale, welche diese kleine Armee damals commandirten oder vielmehr vernachlässigten, um Thürsteherdienste bei Hofe zu thun. Der richtige Moment kam; ein Wagen rollte vor. Aus demselben stieg eine lange kerzengerade Figur in schmucker grüner Uniform mit silbernen Epauletten, einer glänzenden Waffe an der Seite und – Schönstes von Allem – einem hohen dreieckigen Hut mit einem mächtigen, bunten und weißen Federbusch. Der Ceremonienmeister empfing den Ankömmling. Dieser erwiderte ehrfurchtsvoll die Bücklinge. Alles war entzückt über seine stramme militärische Haltung, sein nobles Aussehen, seine leutseligen Begrüßungen. Plötzlich aber begann die hohe Person sich auf eine Weise zu benehmen, die man nicht verstand. Sie hielt ein Papier in der Hand, übergab dies dem Ceremonienmeister und dann, hastig wie der Wind, wollte sie davon eilen. Allein man zog und zerrte den hohen Herrn mit Gewalt in den Thronsaal. Man glaubte nämlich jetzt begriffen zu haben, daß es bei europäischen Fürsten guter Ton sei, sich entsetzlich gegen Ehrenbezeigungen zu sträuben, sogar an der Pforte des Ehrentempels noch einen Fluchtversuch zu machen, und nahm an, daß diese hohen Personen genöthigt sein wollten, das Füllhorn der Ehren zu empfangen, etwa wie eine junge Dame, die zwar vor Begierde brennt, sich hören zu lassen, dennoch fast gewaltsam an’s Piano gezogen werden muß. Der Fürst – denn wer sollte er anders sein? – gelangte so ohne sein Zuthun bis an die Stufen des Thrones. Er sträubte sich zwar noch immer, da er aber entdeckte, daß, je mehr er sich sträubte, desto mehr Nöthigung und Gewalt ihm angethan wurde, um ihn zu all’ den ihm zugedachten Ehren zu zwingen, so wurde er zuletzt lammfromm und ließ sich Alles gefallen, was man mit ihm vornehmen wollte.

Man nöthigte ihn niederzusitzen, denn damals saß man noch am tunesischen Hof (auch heute geschieht dies noch zuweilen, das heißt: nur der Bey, sein Gast und der erste Minister sitzen). Man reichte ihm Kaffee, gab ihm eine lange Pfeife: Alles damals noch übliche Dinge, jetzt von der europäisirenden Etiquette abgeschafft. Dann begann die Conversation, oder vielmehr, sie sollte beginnen. Der Dolmetscher sprach französisch und übersetzte der Durchlaucht einige höfliche Phrasen seines Gastherrn. Aber leider schaute dieser den Beamten nur groß an und erwiderte kein Wort. War es möglich, daß der Fürst ihn nicht verstand? Oder war er taub? Oder huldigte die Etiquette seines Vaterlandes dem Grundsatz: „Schweigen ist Gold“? Kurz, es war kein Wort aus ihm herauszubringen. Mit dem Französisch ging es nicht. Damals war leider der preußische Deserteur Schulze, dessen Leben ich im „Globus“ beschrieben habe, noch nicht Throntrabant bei Seiner Hoheit, sonst hätte der Mann doch eine Seele hier gefunden, die ihn verstand.

Da es mit dem Sprechen nicht vorwärts wollte, so verfiel man auf die Zeichensprache. Der Bey deutete auf Brust, Mund und Stirn und wollte damit die Frage andeuten, ob diese drei wichtigen Organe sich bei seinem Gast wohl befänden. Dieser verstand nur die letzte Geste und glaubte, sein Federbusch sei gemeint. Er reichte dem Bey den Hut und dieser machte unter Lobeserhebungen über den schönen bunten Federbusch die Runde durch den Hofcirkel. Nun deutete der Bey auf das Herz, die beredteste Sprache, um dem Gast seine Gefühle auszudrücken. Dieser aber schüttelte bedeutsam den Kopf und brummte so etwa wie „Nix“, den ersten Laut, den man von ihm vernommen. Diese Geberde war indeß doch ausdrucksvoll genug, um dem Bey nicht unverständlich zu bleiben. Er deutete sie ganz richtig auf die Abwesenheit eines Ordenssterns auf der Brust der hohen Person. Nun entstand aber eine wichtige Discussion. Warum trug der Fürst keinen Orden? Er selbst sagte es nicht, wollte oder konnte es nicht sagen. Aus übertriebener Bescheidenheit ohne Zweifel. Dem mußte abgeholfen werden. Der Bey löste eigenhändig einen Stern von seiner Brust ab und machte Miene, ihn seinem Gast anheften zu wollen. Aber dessen Bescheidenheit war so unverbesserlich, daß dies nicht ohne drastische Maßregeln gelang. Wenn es süß ist, zu Ehren gezwungen zu werden und selbst unter diesem Zwang, der zum Ruhmestempel führt, physische Unannehmlichkeiten, wie Püffe und Faustdruck, zu erleiden, so konnte der Fürst jetzt diese Süßigkeiten schmecken. Da aber alles Sträuben doch nichts half, so wurde er zuletzt wieder sanft wie eine Taube und wartete mit Spannung der weiteren Dinge, die mit ihm geschehen sollten.

Jetzt deutete der Bey auf die Waffe, welche die hohe Person an der Seite trug. Diese nahm sie sogleich ab und überreichte sie seinem erlauchten Gastfreunde. Diese Waffe war ungewöhnlich für einen höheren Militär. Sie war nämlich kurz und gerade, etwa wie ein römisches Schwert. Dem Bey schien sie vortrefflich geeignet, um damit ein Thier auf der Jagd niederzustechen. Er machte deshalb mit einem fragenden Blick gegen seinen Gast die Geberde des Ziehen einer Jagdwaffe und des Niederstechens eines Wildes. Jetzt schien er das Richtige getroffen zu haben. Plötzlich verklärten sich die Augen des hohen Fremden. Er wurde ganz freundlich und lebhaft, wenn auch nicht mit Worten, so doch in seinen Mienen, welche deutlich zu sagen schienen: „Endlich doch einmal etwas, was ich verstehe!“ Da der Gast im besten Zuge schien gemüthlich zu werden, so wurde es der Bey auch. Jagdgespräche sind selbst unter den höchsten Herren nicht gegen die Etiquette. Weil aber hier ein eigentliches Gespräch nicht möglich war und der Beherrscher von Tunis doch gern seinen Gast befragen wollte, welcherlei Wild er zu erlegen pflege, so ließ er einen jungen Pagen kommen, der die geniale Gabe besaß, die Töne aller Thiere täuschend nachzuahmen. Zuerst brüllte er wie ein Löwe. Dieser Laut machte auf den Europäer einen so schrecklichen Eindruck, daß er fast vom Sitze aufsprang; dann kamen der Panther, die Hyäne, der Schakal; auch diese Thiere waren dem Fremden gänzlich unbekannt. Als er den Hasen, den Hirsch, das Reh, den Luchs, den Fuchs nachahmte, hatte dies Alles nur einen Ehrenerfolg. Der mit solchen Thierlauten Angeschrieene schien zwar die Töne zu kennen, aber sie klangen nicht in seinem Herzen wieder. Der Bey richtete einen fragenden Blick auf den Fürsten, als ob er sagen wollte: Nun, was giebt’s sonst noch für ein Thier? Diesem war inzwischen das Verständniß der Zeichensprache immer mehr aufgegangen. Um nun die Antwort nicht schuldig zu bleiben, hielt er beide Zeigefinger mit den Nägeln nach außen an seine Mundwinkel, grunzte dabei und im Uebereifer des Erklärenwollens stieß er endlich die Worte „Sau, Sau“ (womit er jedenfalls einen Eber meinte) aus. Wenn auch nicht diese Worte, so verstand man doch durch die Pantomime, welches unaussprechliche Thier der berühmte Reisende meine. Nun giebt es zwar auch in Afrika Wildschweine. Sie gelten aber für ebenso unrein, wie ihre zahmen Brüder, und man erwähnt ihrer nicht unter höflichen Orientalen, besonders da ihr Name ein gemeines Schimpfwort im Arabischen ist. Der geehrte Fremde hatte dadurch den ganzen Hof in Verlegenheit gesetzt. Man kämpfte mit den Gefühlen beleidigten Anstands und der Ehrerbietung, die man dem Gast erweisen wollte. Dies erleichterte sehr den Aufbruch. Kein Mensch machte Miene, den Besucher zurückhalten zu wollen, als er bald darauf steif und gravitätisch wie ein Ladstock (denn mit der Gemüthlichkeit war’s

[79] vorbei) sich zurückzog. Nur die niederen Hofleute wagten es, sich geheimnißvoll fragend die einzigen Worte „Nix“ und „Sau“, die der Fremde gesprochen, zu wiederholen.

Als der hohe Besuch sich entfernt hatte, trat der Ceremonienmeister vor die Stufen des Thrones. In der Hand hielt er das Papier, welches jener bei der Ankunft übergeben hatte. Es war ein Brief in französischer Sprache. Man rief den Dolmetscher, um ihn zu übersetzen. Dieser wurde zwar sehr verlegen, als er das Schreiben las; da aber sein Herr sich ungeduldig zeigte, so theilte er zitternd den Inhalt mit. Derselbe war unerwartet. Es hieß darin, der Fürst sei plötzlich krank geworden und könnte heute nicht kommen. Also war es nicht der Richtige gewesen, dem man so viel Ehre erwiesen hatte! Wer aber konnte es sein? Jedenfalls eine hohe Person, denn sie trug ja Generalsuniform mit großen Epauletten und einen prächtigen Federbusch und der Federbusch sollte ja ein Zeichen hohen Ranges bei Europäern sein! Der erste Minister versprach, die Wahrheit von dem Consul des Betheiligten zu erfahren, aber er hat seinem Herrn nie das Erkundigte zu enthüllen gewagt, daß nämlich der so wider seinen Willen Geehrte und gar Decorirte der – man wird es errathen haben – Leibjäger des Fürsten Pückler-Muskau war. Dem Minister blieb nun noch übrig, von dem biedern schlesischen Bauernsohne den ihm aus Versehen geschenkten Ordensstern zurückzuverlangen, welchen dieser auch, da er ihm gänzlich überflüssig und die Diamanten wahrscheinlich falsch waren, gegen ein gutes Trinkgeld mit Freuden abtrat. Uebrigens haben die allerwenigsten tunesischen Hofleute jemals erfahren, welch’ ein Schnitzer hier gemacht worden war.

Heut zu Tage wäre ein solcher Irrthum nicht mehr möglich. Es sind jetzt zu viele Europäer bei Hofe, namentlich beim sogenannten Ministerium des Aeußern angestellt. Das Ministerium! Es verdient wohl eine Beschreibung, da in Europa dergleichen gänzlich unbekannt ist. Es ist nämlich ein wanderndes Ministerium. Alle seine Mitglieder, mit einziger Ausnahme des Ministers, wandeln beständig, huschen wie arme Seelen, die zur Strafe für ihre im Leben begangenen Sünden umgehen müssen, in den Gängen des Palastes umher, oder, wenn sie recht müde von dieser angreifenden Beschäftigung sind, lehnen sie an einen Thürpfosten, als Karyatiden am Tempel der ministerlichen Unfehlbarkeit. Denn der Minister ist eigentlich allein das Ministerium. Er thut Alles; alle Andern dienen nur dazu, seine Größe zu verherrlichen, indem sie den Kometenschweif dieses leuchtenden Gestirns bilden.

Morgens, wenn der Meister noch in seiner Villa weilt, findet sich das Ministerium an den Thoren dieses Gebäudes ein. Dort hat es einige Stunden Muße, die Blumen im Garten zu betrachten, oder, wenn es glücklich ist, mit dem einflußreichen, mit Oberstenrang geehrten Haremseunuchen des Ministers zu plaudern. Dieser weiß allein, wo die Excellenz weilt und wann sie zum Vorschein kommen wird. Ist endlich die Sonne aufgegangen, d. h. der Minister aus seinem Harem hervorgekommen, so begiebt er sich eilig in seinen Wagen, um zu Hofe zu fahren. Das Ministerium würdigt er keines Blickes, aber die zwanzig oder dreißig Personen, welche näher oder entfernter zu ihm gehören, sind desto aufmerksamer auf ihn und drängen sich zur Ehre des Handkusses. Die wenigsten kommen dazu; viele begnügen sich damit, daß sie einen Aermel, Rockzipfel oder Mantelkragen erhaschen und mit Inbrunst an ihre Lippen drücken. Die Europäer verstehen dieses Manöver gerade so gut, wie die Einheimischen, d. h. natürlich nur die im Dienst des Bey stehenden. Sie sind wahre Fanatiker des Handkusses. Die Excellenz kümmert sich gar nicht darum, wie das Ministerium ihr nachkommt. Sie weiß, daß der Kometenschweif nicht ausbleibt. Er folgt den Gesetzen der natürlichen Anziehungskraft.

Der Weg nach dem Bardo beträgt eine halbe Stunde, ist im Sommer sehr staubig, im Winter ein Sumpf. Durch diese Wüste oder diesen Sumpf watet nun das Ministerium, trübselig mit Ueberschuhen, Regenschirmen, aufgekappten Beinkeidern gegen die Terrainschwierigkeiten ankämpfend, welche ihrer harmonischen Erscheinung so gefährlich werden können, denn alle diese Herren sind ganz europäisch elegant gekleidet, frisirt und geschniegelt, tragen Glacéhandschuhe, kurz sehen aus, wie wenn sie aus dem Toilettenkasten kämen, d. h. nicht nach ihrer langen Wanderung. Nach dieser folgt erst ein halbstündiges Gebürste, dann geht das Wandern in den Gängen an. Zuweilen bleibt der Minister über Mittag im Palast. In diesem Fall hungert das Ministerium oder es kauft sich in einem der kleinen Läden im Bardo Brod und schlürft als Zuspeise die Gerüche der fürstlichen Küche ein. Einmal soll es vorgekommen sein, daß der Minister, von Mitleid über das hungernde Ministerium beschlichen, Befehl gab, man solle ihm aus der fürstlichen Küche ein Frühstück vorsetzen. Aber das war leichter gesagt, als gethan. An gutem Willen fehlte es zwar nicht. Jedoch bei arabischen Großen pflegt ein Paar Minuten nach dem Essen gar nichts Genießbares mehr vorhanden zu sein. Ihr Dienertroß ist ein Abgrund, der Alles verschlingt. So erinnere ich mich, daß einmal beim Besuch eines englischen Fregattenpersonals mit Officieren und Seecadetten, einige dreißig Köpfe stark, ein ähnlicher Befehl vom Bey selbst gegeben wurde, aber es fand sich nichts Eßbares, als ein großer Käse, den soeben ein europäischer Kaufmann als Geschenk gebracht hatte, sonst wäre er auch schon aufgegessen gewesen. Verläßt der Minister den Palast, so läuft das Ministerium voraus, denn es muß ja da sein, wenn die Excellenz aus dem Wagen steigt, um schnell in den Harem zu huschen, sonst bekommt es ihn nicht mehr zu sehen. Dies sind die einzigen Gelegenheiten, Fortschritte in der Carrière zu machen. Den Beamten wäre deshalb gar nicht damit gedient, wenn sie das Wandeln lassen müßten. Man hat es einmal versucht, Bureaux, wie sie in europäischen Ministerien sind, zu errichten, aber die Beamten hielten es nicht aus. Sie waren zu fern von der Sonne. Zu thun haben sie übrigens selten etwas; Gehalt bekommen sie auch nur auf dem Papier, aber der Dienst wirft einige Nebenvortheile ab und das tröstet sie.

Der Glanzpunkt des tunesischen Hoflebens ist das Beiramsfest. An dessen drei ersten Tagen finden die officiellen Begrüßungen statt. Da strahlt Alles in den prächtigsten Uniformen. Selbst diejenigen, welche ihre Epauletten und Orden (denn Orden regnet es hier) das ganze Jahr hindurch verpfändet haben, tragen sie heute und sie glänzen gerade so helle, als ob sie ihnen selbst und nicht dem gnädigen Pfandleiher gehörten, der sie für eine Vergütung heute hergeliehen hat. Wer nicht das Geld hat, die seinem Grad zugehörige Uniform sich machen zu lassen (und so geht’s den Meisten), leiht sie sich, einerlei ob sie paßt oder nicht, wenn sie nur glänzt.

Der erste Festtag gehört den Einheimischen, der zweite den Europäern, welche dem Bey aufwarten wollen. Am Morgen kommt die mohammedanische Geistlichkeit, naht sich mit feierlichem Singsang dem Thron und segnet den Fürsten. Dieser Auftritt ist würdig, weil unverfälscht orientalisch, denn in Tunis hat sich die Geistlichkeit noch nicht einmal im Costüm europäisirt. Dann folgt die endlose Reihe hoher und niederer Staatsbeamten oder Officiere (die Sache ist hier ungefähr gleich, denn auch die Civilbeamten führen militärische Titel und Uniformen). Die höheren sind alle „Generale“. Es giebt Finanzbeamte, die ihr früheres Geschäft nicht aufgaben und noch Wechselbuden besitzen und dennoch gleichfalls Generale sind. Alle diese Personen küssen dem Bey die Hand, d. h. die innere Seite, und so muß der hohe Herr sechs Stunden mit verdrehter Hand dasitzen. Nicht alle Ehren sind mühelos.

Die Vorstellung der Europäer am zweiten Tage findet nicht so en bloc statt, sondern der Consul und die Angehörigen jeder Nation treten nacheinander, einer den andern ablösend, in den Audienzsaal. Die Audienzen selbst sind nichtssagend, eigenthümlich dagegen ihr Vorspiel. Alle Europäer, und gewöhnlich findet sich außer den Consulatsbeamten noch eine beträchtliche Anzahl von Privaten, Kaufleuten und Reisenden ein, werden in einem abgelegenen Sale vom Ceremonienmeister empfangen. Sind sämmtliche Nationen vertreten, welche hier Consuln haben, so tritt der erste Minister mit seinem „Generalstab“ ein. Er richtet an Jeden ein paar Worte, dann stellt er sich in die Mitte und hält eine Rede. Diese Rede ist arabisch, also den Meisten unverständlich. Aber es fehlt nicht an einem Uebersetzer; nämlich ein Italiener ist beauftragt, sie so wörtlich als möglich wiederzugeben. Früher kam es vor, daß dieser Mann sich bemühte, die Rede des Ministers auch in der Uebersetzung in elegante Sprache zu kleiden. Da aber dies zu allerlei diplomatischen Zwischenfällen Anlaß gab, so wurde ihm eine buchstäbliche Uebersetzung zur Pflicht gemacht. Nichts lautet komischer, [80] als solche buchstäbliche Uebertragung dieser meist verblümten arabischen Phrasen. Eigentlich kommen sie dadurch viel unverständlicher heraus, aber die Diplomatie hat ihren Willen erfüllt gesehen und das ist die Hauptsache.

Dies sind die glänzenden Augenblicke des tunesischen Hofes. Hinter dieser Pracht lauert aber eine entsetzliche Misère, verursacht durch die beständige Geldklemme, in welcher Groß und Klein vom Bey bis zum untersten Beamten (den einzigen ersten Minister ausgenommen) steckt. Nicht selten offenbart sich diese Geldklemme in einer für den Hof sehr ungünstigen Weise. Als z. B. vor einigen Jahren ein deutscher Prinz den Bey besuchte und dieser ihm zur Abreise sein Dampfschiff zur Verfügung stellte, weigerten sich die europäischen Maschinisten auf offenem Meer, weiter zu fahren, wenn sie nicht ihren rückständigen Gehalt bekämen. Ein englischer Prinz, den man im Stadtpalast von Tunis beherbergte, mußte die Miethe der für ihn geliehenen Möbel bezahlen; daß einem Prinzen der Wagen oder sonst ein Gegenstand, welchen er nicht bezahlen konnte, auf offener Straße weggenommen wird, daß man in den europäischen Läden dem Bey selbst allen Credit verweigert, kommt täglich vor. So wechselt Glanz und Elend, Heiterkeit und namenloser Jammer tagtäglich an einem orientalischen Hofe.



Goethe.
Sein Leben und Dichten in Vorträgen für Frauen geschildert.
Von Johannes Scherr.
II.

Als, auf des Daseins Gipfel angelangt, der sechzigjährige Goethe seine Erinnerungen niederzuschreiben unternahm, da gestaltete sich das Buch derselben „Aus meinem Leben“ unter seiner schaffenden Hand zu einem Kunstwerke, welchem er feinfühlig den Titel „Dichtung und Wahrheit“ vorsetzte. Er wollte damit andeuten, daß diese Geschichte seiner Jugend – denn das Buch reicht bekanntlich nur bis zur Uebersiedelung des Dichters nach Weimar – blos im dichterischen Sinne eine wahrhafte sei. Damit traf er das Richtige. Ueber diese Denkwürdigkeiten ist

„Aus Morgenduft gewebt und Sonnenklarheit,
der Dichtung Schleier aus der Hand der Wahrheit“

hingebreitet. Dem sechzigjährigen Dichterkönig erschien beim Rückblick auf seine Jugend dieselbe da in verschönerndem Lichte, dort in verhäßlichendem Schatten. Personen, Ereignisse und Zeitbestimmungen verschoben sich in seinem Gedächtnisse oder wurden auch wohl ganz willkürlich zurechtgerückt und Thatsachen den Bedürfnissen und Forderungen der künstlerischen Auffassung und Darstellung anbequemt. So verdampfte nicht selten das Wirkliche auf dem Herde der Phantasie, wandelte sich blos Gewünschtes und Gewolltes zum deutlich geschauten Fata-Morgana-Bild und steigerten sich Lust und Leid aus dem ursprünglich Naiven zum reflectirt Pathetischen. Damit will nicht gesagt sein, daß einzelnes, manches, vieles sogar in „Dichtung und Wahrheit“ der Verläßlichkeit entbehrte oder daß am Ende gar nichts für buchstäblich wahr zu halten wäre; nein, sondern vielmehr nur, daß die Selbstbiographie im Ganzen und Großen uns zwar die jugendliche Entwicklungsgeschichte des Dichters, nicht aber die Lebensgeschichte des Knaben und Jünglings Goethe authentisch erzähle. Fehlgehen würde demnach, wer alles das, was der Verfasser symbolisch gemeint hat, substantiell nehmen und als Thatsächliches verwenden wollte. Als Material zu Goethe’s wirklicher Jugendgeschichte angesehen, verlangt das Buch „Aus meinem Leben“ eine unablässige und genaue Controle mittels der Acten, und ich möchte sagen, der Inhalt von diesen verhalte sich zu des Dichters selbstbiographischer Darstellung etwa so, wie sich die Thatsache, daß der kleine Wolfgang zur Weihnacht von 1753 von seiner Großmutter Cornelia mit einem Puppenspiel beschenkt wurde, zu alledem verhält, was im ersten Buch vom „Wilhelm Meister“ dieser der Marianne von den Puppenspiel-Freuden und Leiden seiner Knabenjahre zu erzählen weiß. Im Uebrigen muß man das Buch nehmen, wie es Goethe gegeben, und muß es genießen und bewundern. Den Inhalt nacherzählen zu wollen, wäre nicht nur unnütz, sondern auch lächerlich-anmaßlich. Ich werde mich daher begnügen, bündig-thatsächlich zu skizziren, wie unser junger Titan vom Knaben zum Jüngling aufgewachsen ist.

Der Boden seines Wachsthums war eine der bevorzugtesten Stellen im damaligen Deutschland. Die Bürgerschaft von Städten wie Hamburg, Leipzig und Frankfurt durften geradezu als der Kern der Nation, als die Bewahrer und Förderer alles Tüchtigen, Guten und Besten vom deutschen Wesen angesehen werden. Residenzen wie Wien, Berlin, München etc. übten auf die nationale Cultur nicht nur keinen wohlthätigen, sondern vielmehr einen geradezu schädlichen Einfluß. Die deutsche Aristokratie, ihre Spitzen, die Fürsten, inbegriffen, war vollständig entnationalisirt, verfranzos’t bis in die Knochen. Am Rhein, Main, in Baiern, in Oesterreich ein stupides Pfaffenregiment in höchster Instanz alles entscheidend. Im protestantischen Deutschland der aufgeklärte Despotismus, wo er nach dem Vorgange Preußens platzgegriffen, sclavisch die französische Schablone nachpinselnd. Der Zusammenhang des Bewußtsteins unseres Volkes mit seiner historischen Vergangenheit zerstört und die Erinnerung an die Errungenschaften früherer Bildungsepochen der Nation vergessen und verschollen. An allen Höfen, in allen vornehmen Kreisen das Heimische hintenangesetzt, das Vaterländische verachtet. In Berlin, wohin sich aus der hülf- und trostlosen Reichsverwaltung heraus die Blicke der Patrioten allenfalls wenden konnten und mochten, ein erleuchteter Despot genial-energisch sein Stockscepter handhabend und unter ungeheuren Schwierigkeiten das Fundament der deutschen Zukunft legend, aber daneben ein „Fremdling im Heimischen“, wahrhaft äffisch für die Franzoserei eingenommen, allem Deutschen absichtlich aus dem Wege gehend und verschmähend, von dem Reformator der nationalen Literatur, von Lessing, auch nur Notiz zu nehmen, selbst dann noch diesen großen Culturheros schnöde übersehend, als das Erscheinen der „Minna von Barnhelm“ das Anbrechen eines neuen Geisterfrühlings schon ganz zweifellos signalisirt hatte.

Nicht von oben herab also kam die Erlösung unseres Volkes von fremden Geistesfesseln und ausländischen Bildungsformen. Auch nicht ganz von unten herauf, sondern aus der Mitte, d. h. aus dem deutschen Bürgerthume, welches ja überhaupt seit dem Aufblühen der Städte der eigentliche Träger aller gesunden und nachhaltigen Culturarbeit gewesen war. Mit in der ersten Reihe der deutschen Städte aber stand Frankfurt am Main, althergebrachten Ansehens und Wohlstandes froh, von regsamer Gewerkigkeit, blühend durch weitreichende Handelsthätigkeit, belebt durch reichen Fremdenverkehr, als kaiserliche Wahl- und Krönungsstadt der Schauplatz von mancherlei Haupt- und Staatsactionen mit ihrem mittelalterlich-romantischen Apparat und Pomp, geistigen Interessen mit Theilnahme zugewandt, in Förderung von Wissenschaft und Kunst nach Maßgabe der Zeit und der Kräfte nicht karg, bewohnt von echten Main- und Rheingaumenschen, welche, dem auch hier nicht fehlenden äußerlich französischen Zuschnitt des geselligen Thuns und Treibens zum Trotz eine kernhaft deutsche Fühl- und Denkweise besaßen und mit bürgerlicher Tüchtigkeit, Rührigkeit und Ehrenhaftigkeit eine bewegliche, frohsinnige und leichtlebige Führung des Daseins verbanden. Zu alledem kam noch, daß in Frankfurt die Gegensätze des Jahrhunderts so merkbar zu Trage traten wie irgendwo und gerade auch im elterlichen Hause unseres Dichters häufig genug sich kreuzten. Auch in religiöser Beziehung; denn wenn Herr Johann Kaspar in seiner trockenen Verständigkeit für einen richtigen Rationalisten gelten konnte, so war Frau Katharina Elisabeth ihrerseits zu Zeiten nicht abgeneigt, die gemüthlichere Auffassung des Christenthums, wie sie in den frommen Kreisen der Stadt heimisch, auf das eigene reiche Gemüthsleben wirken zu lassen. Hatte sich doch hier in Frankfurt, wo der Gründer oder wenigstens der Organisator des Pietismus, Philipp Jakob Spener, zuerst (im Jahre 1670) seine „Collegia pietatis“ aufgethan, die pietistische Ueberlieferung [81] stets lebendig erhalten, und von einem solchen frommen Kreise, dessen Seele das Fräulein Susanna Katharina von Klettenberg gewesen ist, gingen religiöse Einwirkungen auf den Knaben und den werdenden Jüngling Goethe aus, welche, wie nicht allein die „Bekenntnisse einer schönen Seele“ im Wilhelm Meister beweisen, ebenso tief wie nachhaltig sich erwiesen haben. Das mag Solchen verwunderlich erscheinen, welche das gedankenlose Pfaffengeträtsche vom „großen Heiden“ Goethe gedankenlos nachschwatzen, nicht aber Wissenden und Urtheilsfähigen, die zu erwägen vermögen, daß im alten und echten Pietismus ein pantheistischer Hauch wehte, welcher den genialen Knaben, der zum Dichter des Pantheismus werden sollte, wohl sympathisch ansprechen konnte und mußte.

Die Eindrücke einer Heimath nun, wie Frankfurt eine war, verbunden mit der sorgsamen Behütung und Führung von Seiten der Eltern, konnten zunächst durchaus nur förderlich auf den jungen Wolfgang wirken. Die Frage freilich, ob sich in ihm nicht Manches vortheilhafter entwickelt hätte, so Herrn Johann Kaspar’s Erziehungsmethode eine weniger exclusiv häusliche, eine auf die Fernhaltung und Abschließung seines Sohnes von Altersgenossen weniger pedantisch bedachte gewesen wäre, bleibt eine offene. Die Goethe-Legende, wie sie insbesondere von der allerdings dreist in’s Blaue hineinfabulirenden Bettina von Arnim ausgebildet worden ist, weiß an dem Knaben Wolfgang Züge von Steifigkeit, Grandezza und Altklugheit aufzuzeigen, welche ihn nicht gerade anmuthig erscheinen lassen, obzwar sein Körper ein würdig schönes Gefäß seines Geistes von Kindheit auf gewesen und, wie bekannt, bis in’s höchste Alter geblieben ist.

Eines Tages – so will die Legende – habe die Mutter den Wolfgang getadelt, weil er, mit anderen Knaben über die Straße gehend, durch steifaufrechte Haltung und gravitätischen Schritt sich auszuzeichnen suchte. Darauf habe der Getadelte die Antwort gegeben: „Damit mach’ ich den Anfang; später werde ich mich noch durch Allerlei auszeichnen.“ Eine andere legendenhafte Ueberlieferung deutet an, daß schon in dem siebenjährigen Knaben das Gefühl, ein Berufener, ein Auserwählter zu sein, instinctmäßig sich geregt habe. Der Kleine nämlich liebte es, am gestirnten Himmel die Sterne herauszufinden, von welchen ihm die Mutter gesagt, daß sie über der Stunde seiner Geburt geleuchtet hätten, und eines Abends bemerkte er ernsthaft und sorgenvoll:

„Die Sterne werden mich doch nicht vergessen und werden halten, was sie versprachen?“

„Was willst Du nur mit dem Beistand der Sterne?“ erwiderte die Mutter. „Wir Anderen müssen ja auch ohne sie fertig werden.“

„Mit dem, was anderen Leuten genügt, kann ich nicht fertig werden,“ entgegnete der Wolfgang.

Die Mutter und Spielgenossin hat von früh auf ganz wesentlich dazu beigetragen, den freien, offenen Blick in Natur und Menschheit, sowie das frische, muthige Erfassen der Wirklichkeit – beides Hauptmerkmale von Goethe’s Dichtergröße – in dem geliebten Sohne zu entwickeln. Selber an quillender Einbildungskraft reich, wie sie war, umgab ihre begeisterungsvolle Zärtlichkeit den heranwachsenden Sohn so zu sagen mit einer Atmosphäre von Poesie. Sie nährte, hegte und pflegte in ihm das „Schoßkind Jovis“, die Phantasie, und wußte stetsfort den allfälligen Verschüchterungen, welche das „zarte Seelchen“ von seiten der „alten Schwiegermutter Weisheit“, d. h. von seiten der Schulmeisterlaunen des gestrengen Eheherrn zu befahren hatte, mit Erfolg entgegenzutreten. Sie war es, welche durch ihre Unermüdlichkeit im Erzählen von Märchen und Geschichten die Pforten der idealen Welt zuerst dem begierig aufhorchenden Knaben erschloß und ihm diese Welt mit den Gestalten unserer alten Volksbücherpoesie bevölkerte. Diese hat dann, verbunden mit den Einwirkungen der mancherlei vaterstädtischen Alterthümer und Alterthümlichkeiten, die erwachende Dichtung Goethe’s, wie Jedermann weiß, bedeutsam beeinflußt und hat mit der erwachten so unlöslich sich verbunden, daß er eine nationale, germanische Natur und Art typisch darstellende Sagengestalt zum Helden der Hauptschöpfung seines Lebens und der modernen Literatur machte …. Frau Katharina Elisabeth trug in ihrem mütterlich-stolzen Herzen die helle Hoffnung, daß ihr Wolfgang „was Extraordinäres“ werden würde, und diese Hoffnung verlieh ihr Schick und Tact, ihren Sohn das Allerkostbarste zu lehren: – Lebensfreudigkeit. Ihre gleichmäßig gute Laune, ihr spielendes Bewältigen der großen Aerger wie der kleinen Verdrießlichkeiten des Lebens, ihre Art und Weise, das Rechte und Schickliche zu thun, ohne viel Aufhebens davon zu machen, ja, diese mütterlichen Eigenschaften der Frau Aja haben dem Dichterknaben die Grazien beigesellt, welche ihn bis zu seinem Lebensende nicht mehr verließen. Und wie geschickt und sanft wußten die mütterlichen Hände die wilden Ranken, welche Wolfgang’s Jugend trieb, zu wenden, zu biegen und zu beschneiden, ohne die Triebkraft selbst zum Stocken zu bringen! Es darf ohne Widerrede angenommen werden, daß alle bedeutenden, alle großen Männer ihr Bestes zumeist von ihren Müttern haben. Aber das Auszeichnende an der Mutter Goethe’s ist, daß sie den Genius in ihrem Knaben nicht nur frühzeitig erkannte, sondern auch den himmlischen Gast mit der Ambrosia verständnißvollster Mutterliebe zu speisen verstand.

Auch der sorgliche Vater wurde frühzeitig gewahr, daß, wie er sich später ausdrückte, sein Sohn ein „singulärer Mensch“ sei, und er hat es sich redlich angelegen sein lassen, den großen Gaben desselben zur Entfaltung zu verhelfen. Dabei ist ihm nachzurühmen, daß er keineswegs Pedant genug war, die Wichtigkeit auch der körperlichen Ausbildung des Knaben zu übersehen. Die leiblichen Anlagen Wolfgang’s wurden demnach von früh an entwickelt und geübt, so daß er in Jünglingsjahren ein rüstiger Fußgänger, Schlittschuhläufer und Reiter, sowie ein tüchtiger Fechter und Tänzer war. Was die geistige Pflege betrifft, welche Herr Johann Kaspar dem Sohne angedeihen ließ, so wurde die Aufmerksamkeit, Fassungsgabe und Lernbegierde desselben von ihm zeitig auf die Gebiete des Alterthums und der bildenden Kunst in ihren verschiedenen Erscheinungsformen hingelenkt. Selber ziemlich fest in den alten Sprachen und der italienischen vollkommen mächtig, unterwies der Rath seinen Sohn mit gutem Erfolg im Lateinischen, Griechischen und Italienischen und wußte nicht weniger erfolgreich in seinem Zögling den Kunstsinn zu wecken, welcher ja zudem im Goethe’schen Hause so zu sagen von jeder Wand herab gepredigt wurde, maßen der Hausherr auf die Mehrung und wirksame Ordnung seiner Sammlungen fortwährend Bedacht nahm. Für den Unterricht in der französischen und englischen Sprache, sowie in den Realien war durch Annahme möglichst guter Privatlehrer gesorgt. Der Vater sah es dem Sohne nach, daß dieser das mit Ach und Krach angefangene Clavierspiel bald wieder aufgab, weil er merkte, daß es mit seinem musikalischen Talent gar nicht weit her sei. Dagegen hielt der väterliche Pädagogarch nachdrücklich darauf, daß der Wolfgang fleißig im Zeichnen sich übte. Er erlangte hierin auch eine hübsche, durch später fortgesetzte Uebung gesteigerte Fertigkeit und diese ist ohne Frage, wie sein Kunstverständniß, auch seinem Dichten nicht wenig zu Gute gekommen. Die Benutzung seiner stattlichen Bibliothek gestattete der Vater dem heranwachsenden Sohn in liberalster Weise, und so machte dieser frühzeitig Bekanntschaft mit ausländischen und heimischen Poeten. Von letzteren fanden sich namentlich Haller, Drollinger, Hagedorn, Kramer, Kanitz und Gellert in der väterlichen Bücherei. Weiter aber wollte der Herr Rath von keinen deutschen Dichtern wissen, insbesondere nichts von Klopstock, dessen „Messias“ damals alle jungen Herzen in Deutschland so gewaltsam ergriff. Herrn Johann Kaspar waren die reimlosen Verse Klopstock’s und namentlich die Hexameter ein Gräuel. Er ließ sich nicht träumen, daß sein Wolfgang gerade in diesem Versmaß eine Dichtung schreiben werde, welche von der dankbaren Nachwelt als „der Stolz Deutschlands und die Perle der Kunst“ anerkannt sein würde. Lieb Mütterlein sorgte derweil schon dafür, daß der „Messias“, von dessen elektrisirender Wirkung auf die Menschen von damals wir uns heutzutage kaum noch eine ausreichende Vorstellung zu machen vermögen, auch in dem Hause im Hirschgraben seinen triumphirenden Einzug halten konnte. Und wie sie selbst von dem Gedichte lebhaft ergriffen wurde, hatte sie auch ihre Freude an dem Entzücken, womit ihr Wolfgang und ihre Cornelia dasselbe in sich aufnahmen. Bruder und Schwester liebten sich innig, waren unzertrennlich, theilten redlich Freude und Leid und bildeten natürlich nebenbei gemeinsam mit der Mutter eine permanente Verschwörung gegen den Vater, welche nicht gerade immer so harmlos gewesen ist wie jetzt, wo sie verpönte Messiaslesung hieß und in drastische Komik auslief. Saßen nämlich eines Sonnabends, während der Herr Rath vorn in [82] der Stube sich rasiren ließ, der Wolfgang und das Cornelchen hinter dem Ofen und recitirten, wie gewohnt, um die Wette Stellen aus dem „Messias“. Diesmal mit vertheilten Rollen das wilde Gespräch zwischen Satan und Adramelech, erst leise, dann, fortgerissen und alles Andere vergessend, immer lauter und leidenschaftlicher, bis endlich das junge Mädchen den Vers: „Oh, ich bin wie zermalmt“ – mit voller Kraft der Stimme herausschrie. Adramelech’s Verzweiflungsschrei wirkte so gewaltig auf den Barbier, daß er, im Begriffe, den Hausherrn einzuseifen, den ganzen Inhalt des Seifebeckens dem Herrn Johann Kaspar in den Brustlatz goß. Daraufhin großer Aufstand, geflügelte Untersuchung, Eingeständniß des verbotenen Klopstockapfelgenusses von Seiten der Delinquenten, summarische Procedur und schließlich der Wahrspruch: Fort aus dem Hause mit dem Hexameterzeug! Selbstverständlich war dieses väterliche Verdict gerade so nachhaltig wirksam, wie ähnliche väterliche Verdicte eben zu allen Zeiten zu sein pflegten und pflegen. …

Große und dauernde Wirkung übte auf den jungen Wolfgang die Bekanntschaft mit der Bibel, und vor allem sprach das Naive, Naturzuständliche der Patriarchengeschichten ein verwandtes Gefühl in dem Knaben ergreifend und fesselnd an. Die Bibel, Homer und Shakespeare sind die drei Jungbrunnen der Poesie gewesen, aus welchen unser Dichter die bedeutungsvollsten Inspirationen getrunken hat. Biblische, homerische und shakespearesche Elemente lassen sich in Goethe’s Dichtung deutlich nachweisen, aber nicht als etwas Entlehntes, Fremdartiges, Nachgeahmtes, sondern als in Fleisch und Blut Verwandeltes, zu goetheschem Ichor (Götterblut) Potenzirtes. Was seine biblischen Jugendstudien angeht, so hat er selber angedeutet, daß ihn die Dürre des trocken-moralischen Religionsunterrichts, den er in Knabenjahren ausstehen mußte, dazu getrieben habe. Das seellose, verknöcherte, officielle Lutherthum jener Zeit war auch ganz dazu angethan, gefühlvolle Gemüther für die Poesie des alten Testaments wie für pietistische Einflüsse empfänglich zu machen.

Der geregelte Verlauf von Wolfgang’s Erziehung und Unterricht hatte indessen eine unliebsame, dauernd nachtheilige Unterbrechung erfahren durch die Ereignisse, welche in Folge des siebenjährigen Krieges über die Reichsstadt Frankfurt hereingebrochen waren. Es ist bekannt, daß alles, was gesund und wissend in der deutschen Nation, für Friedrich von Preußen Partei nahm. So war auch Herr Johann Kaspar ein entschiedener Friedrichist und that alles, um den Wolfgang ebenfalls zu einem solchen zu machen. Wie schwer also mußte es dem Manne fallen, als die Franzosen, rechts- und vertragswidrig vorgehend, im Jahre 1759 die Reichsstadt Frankfurt überfielen und besetzten, ihm selber die Widerwärtigkeit bleibender Einquartierung aufhalsend! Es besserte in seinen Augen die Sache wenig, daß die Einquartierung aus einem höheren, feingebildeten Officier bestand, dem sogenannten „Königslieutenant“, Grafen Thorane, welcher seine Anwesenheit so wenig unangenehm als möglich zu machen suchte. Die Stimmung des Hausherrn war so gedrückt und zerfahren, daß er für eine geraume Weile sogar seine pädagogische Mühewaltung nur obenhin fortsetzte oder auch wohl ganz ruhen ließ. Der fortwährend handgreiflich sich aufdrängende Gedanke, die Feinde seines hochverehrten großen Fritz in seinem Hause beherbergen und bewirthen zu müssen, scheint den sonst so besonnenen Herrn völlig aus seiner gewohnten Fassung und Haltung gebracht zu haben. Als der Angriff, welchen Prinz Ferdinand von Braunschweig bei Bergen unweit Frankfurt auf die französischen Stellungen an der Mainlinie machte, mißlungen war, brach Goethe’s Vater dem Königslieutenant in’s Angesicht in die Worte aus: „Ich wollte, sie hätten Euch zum Teufel gejagt, und wenn ich hätte mitfahren müssen!“ und brachte dadurch den Franzosen so in Wuth, daß nur mit Mühe eine Katastrophe abgewendet wurde. Viel leichter und lieber als der Vater schickte sich der Sohn in die Franzoserei, welche etliche Jahre in Frankfurt obenauf war. Wolfgang hatte das Nachlassen der Zügel väterlicher Pädagogik kaum verspürt, als er von der neuen Freiheit ausgiebigen Gebrauch zu machen begann. Er verkehrte viel mit den Franzosen, besuchte das Theater, welches sie sofort in Frankfurt eingerichtet hatten, gerieth auch hinter die Coulissen und erlebte allerhand kleine Abenteuer, welche er nachmals in seinen Denkwürdigkeiten behaglich-dichterisch ausgemalt hat. Das Thatsächliche davon klar zu stellen, dürfte unmöglich sein. Sicher jedoch ist, daß in dem allgemeinen Trubel jener Frankfurter Franzosenzeit der Junge sich als angehendes Herrchen zu fühlen und zu gehaben begann. Er selbst hat uns in seinem Märchen „Der neue Paris“ beschrieben, wie das angehende Herrchen äußerlich sich darstellte: in Schuhen von sauberem Leder mit großen silbernen Schnallen, feinen baumwollenen Strümpfen, schwarzen Beinkleidern von Sarsche, einer aus des Vaters Bräutigamsweste geschnittenen Weste aus Goldstoff und einem Rock von grünem Berkan mit goldenen Balletten, das Haar gepudert und an den Schläfen in weitabstehende Lockenflügelchen frisirt, im Nacken ein Haarbeutelchen, unter dem Arme ein Dreimasterchen, an der Seite ein Degelchen, dessen Bügel mit einer großen Seidenschleife geschmückt war.

So angethan, im vollen Glanz und Wichs des Rococo, ging unser halbwüchsiger Stutzer auf Eroberungen aus. Ja, auf Eroberungen. Denn wie vordem Boccaccio, so konnte auch Goethe von sich sagen, er habe von Kindesbeinen auf in der Knechtschaft Amors („in servigio d’Amore“) gestanden. Es war nun schon so, und wir müssen die Sache nehmen, wie sie war. Ein Dichter, und vollends ein großer, ein größter Dichter will, was sein Verhalten zum schöneren und besseren Geschlechte betrifft, ganz entschieden anders angesehen und beurtheilt sein, als irgend ein beliebiger Prosaicus Ordinarius Lederherz. Der Ueberschwang von Phantasie und Gefühl, welcher den Dichter macht, zwingt ihn, zu lieben, ohne Aufhören zu lieben, so daß fürwahr das Wort des Paulus an die Corinther: „Die Liebe höret nimmer auf“ wie eigens für dichterisch angelegte Naturen gesprochen erscheint. Dieselbe Macht der Liebe, welche schon in dem Knaben Goethe gebieterisch sich regte, hat sich auch in dem Greise Goethe nicht minder gebieterisch geregt. Und es mußte so sein; denn Wolfgang der Große hat ja bis zuletzt gedichtet, und so lange ein Mensch dichten muß, muß er auch lieben. Mit der Liebe lebt im jungen Dichter die Poesie auf, mit der Liebe stirbt sie im alten. Liebe und Poesie sind ja nur zwei geschwisterliche Flammenstrahlen, welche aus einer und derselben Gluth emporsteigen, aus jenem Feuerfluidum der Seele, aus welchem alles kommt, was himmlisch ist in dem armen Erdenkloß Mensch.

Wie hieß nun aber, wer war das weibliche Wesen, welches das frühwache Herz unseres Dichters zuerst knabenhaft leidenschaftlich pulsiren machte? Es läßt sich nicht mit auch nur einiger Bestimmtheit sagen. War es eine blos mit dem Anfangsbuchstaben W. angedeutete Unbekannte? War es die schöne Charitas Meixner aus Worms? War es das „unglaublich schöne“ Gretchen in der „Rose“ zu Offenbach? Aber dieses Offenbacher Gretchen muß jetzt entschieden für eine Mythe gelten, obzwar Bettina hoch und heilig versichert, von der Frau Aja „wohl zwanzig Mal“ gehört zu haben, dieses Gretchen „sei die Erste gewesen, welche der Wolfgang lieb hatte“. In Frankfurt geht die bestimmte Sage, das wirkliche, das echte Gretchen, welches schwesterlich besorgt den heftig in sie verliebten Knaben vor den Machenschaften der lockeren Gesellen warnte, in deren Gesellschaft er zu dieser Zeit gerathen war, sei Kellnerin in der Wirthschaft „Zum Puppenschänkelchen“ in der Weißadlergasse gewesen. Wer und was jedoch immer Gretchen war, das Mädchen kann kein bloßes Phantom, es muß Wirklichkeit gewesen sein. Allerdings war es unter den Poeten der Klopstock’schen Schule Mode, für „die unbekannte Geliebte“ zu schwärmen; aber vor solcher Abstraction und Verhimmelei war Goethe schon in jungen Jahren durch den kräftig realistischen Zug seines Genius gesichert. Es muß ein Gretchen wirklich gegeben haben; denn kein Phantom vermag einen so tiefen und dauernden Eindruck hervorzubringen, wie unser Dichter ihn von seiner Gretchenliebe empfing. Das Gretchen freilich, welches Goethe in seinen alten Tagen im fünften Buche von „Dichtung und Wahrheit“ zum Mittelpunkte eines reizenden episodischen Gemäldes aus seiner Jugend gemacht hat, ist wohl nur für eine dichterische Caprice anzusehen. Aber die Züge des echten und wirklichen Gretchens hat er aus frisch lebendiger Erinnerung heraufgeholt und für die Ewigkeit nachgeschaffen in der Gestalt des Faust-Gretchens. Tifteler meinen zwar, Goethe habe in dieser einzig schönen Figur das Ideal deutscher Mädchenhaftigkeit a priori construiren wollen und wirklich construirt; allein das ist nur eine jener sogenannten ästhetischen Flausen, deren die Herren Goethe-Commentatoren nicht wenige aufgebracht haben. Das Gretchen im Faust ist vom [83] Scheitel bis zur Sohle, ist in jeder Ader und Fiber dichterischer Realismus, und auf diese unvergleichliche Schöpfung darf, wie übrigens auf die Goethe’schen Frauen- und Mädchengestalten überhaupt, mit vollem Recht angewandt werden, was der Dichter seinen Tasso mit weit geringerer Berechtigung von dessen Gebilden sagen ließ:

„Es sind nicht Schatten, die der Wahn erzeugte;
Ich weiß es, sie sind ewig, denn sie sind.“




Das Inquisitionsverfahren gegen den Dr. Sydow.


Seit dem Vorgange jener gegen Twesten eingeleiteten Untersuchung hat keine Procedur der preußischen Behörden ein so allgemeines Erstaunen hervorgerufen, wie das am 2. December vor. J. vom Berliner Consistorium gefällte Erkenntniß, durch welches der Berliner Prediger Dr. Sydow seines geistlichen Amtes wegen grober Irrlehre entsetzt worden ist. Wer da wußte, was die im Geiste strenger Rechtgläubigkeit besetzten und geleiteten Consistorien auch jetzt noch in Preußen bedeuten, konnte von dem Ausgang der Untersuchung nicht gerade überrascht sein, zumal das Berliner Consistorium von Zeit zu Zeit ein Lebenszeichen von sich gegeben hatte, das sich wie die Stimme des alten Moor aus tiefem und dunklem Kellergeschoß anhörte. Es hat über den Stillstand der Erde und den Rundgang der Sonne, welche ein Berliner Pastor, Herr Knak, freudig bekennt, seine Belehrung und Beschwichtigung veröffentlicht. Es hat ohne irgend welche Mißbilligung es geschehen lassen, daß auf einer Berliner Synode die Fanatiker der Orthodoxie die Entfernung ihrer zum Protestantenverein gehörenden Amtsgenossen fordern durften. Es hatte vor kurzem Dr. Lisco wegen eines über das apostolische Glaubensbekenntniß gehaltenen Vortrages zur Rechenschaft gezogen und abgekanzelt. Es hatte etwas längere Zeit vorher exorcistische Formeln zum Gebrauch auf der Kanzel verordnet gegen Christen, welche zum Judenthum übergetreten waren, und dabei eine Ansicht vom Judenthum kund gegeben, welche zu den Zeiten des Papstes Sylvester die herrschende war. Warum sollte diese selbige Behörde, welche die Monotonie der Berliner Börsen- und Gründergeschichten so oft durch gelegentliche Ueberraschungen unterbrochen hatte, nicht auch zu einer Absetzung angesehener Geistlichen schreiten?

Auch der Papst muß seine Allocutionen nach und nach stärker würzen, wenn sie Aufmerksamkeit erregen sollen. Wenn nichtsdestoweniger, und obwohl man dem brandenburgischen Consistorium neben geringer Erkenntniß der Zeit alle möglichen Erkenntnisse, also auch Ketzergerichte zutrauen konnte, der durch Sydow’s Absetzung hervorgebrachte Eindruck ein so allgemein überraschender war, so erklärt sich diese Erscheinung durch die heutigen Zeitverhältnisse, durch das ungewöhnliche Ansehen des verurtheilten Geistlichen und durch die Erwartung, daß das Berliner Inquisitionstribunal wahrscheinlich durch sein Vorgehen einen Anstoß zu weitgreifenden Veränderungen in der evangelischen Landeskirche Preußens darbieten könnte.

Besinnen wir uns einen Augenblick auf die Zeitverhältnisse. Preußen tritt an die Spitze des deutschen Reichs. Berlin beansprucht seinen Rang als Weltstadt. Der Minister Mühler ist aus der Weltstadt abgezogen und schreibt mit Hülfe seiner Lebensgefährtin einige Grundlinien alttestamentarisch-brandenburgischer Rechtsphilosophie auf Grund von Offenbarungen, die erst in Potsdam zur völligen Unklarheit herangewachsen sind. Gegen den unfehlbar gewordenen Papst in Rom beginnt der Reichskanzler und der Reichstag, gegen seine schwachen Söldlingstruppen der Minister Falk einen Feldzug, dessen Schlachten gewiß nicht mit der Schnelligkeit von Wörth und Sedan gewonnen werden. Deutschland schickt sich an, die weltgeschichtliche Aufgabe zu lösen, welche den Hohenstaufen den Untergang brachte und Deutschland zerriß, welche Luther’s Kräfte überstieg und seit der französischen Revolution die besten Geister lahm legte. In dieser Epoche, in welcher, wie durch einen wunderbaren Lichtglanz erleuchtet, Deutschland die Nothwendigkeit begreift, die Fundamente der mittelalterlichen Hierarchie zu zertrümmern, damit ein auf Wahrheitssinn, Frömmigkeit, Wissenschaft und Volksthümlichkeit gegründetes Staatswesen aufwachsen kann, erklärt eine protestantische Kirchenbehörde in Berlin unter den Augen des Kaisers die Unfehlbarkeit von Bekenntnissen, welche theils vor dreihundert, theils vor fünfzehnhundert Jahren entstanden sind, indem sie sich selbst die Befugniß beilegt, in einer die protestantischen Gewissen bindenden, die gesammte historische Wissenschaft schlechthin verleugnenden Auslegung zu beschließen, was und wieviel von den Geistlichen bei Vermeidung des Amtsverlustes geglaubt werden soll. In der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts führt dieses Collegium eine an Papiergeschwulst leidende Disciplinaruntersuchung, die man einen theologischen Competenzconflict zwischen dem Zimmermann Joseph von Nazareth, einem überirdischen Wesen und der Jungfrau Maria nennen könnte. Das Consistorium examinirt einen Geistlichen, ob seiner Auffassung nach Joseph an der Entstehung Christi betheiligt, mitbetheiligt oder nicht betheiligt sei. Wenn Heine noch unter den Lebenden wäre, würde er in seinem Romanzero hinter dem Pater José noch ein Kampfgedicht zur Verherrlichung dieser Disputation eingeschaltet haben.

Wer den Hergang dieses Verfahrens genauer kennen zu lernen wünscht, möge die eben jetzt von Sydow selbst herausgegebenen „Actenstücke betreffend das vom königlichen Consistorium der Provinz Brandenburg über mich verhängte Disciplinarverfahren wegen meines Vortrags ‚über die wunderbare Geburt Jesu‘“ (Berlin 1873) nachlesen. Für die Gartenlaube eignet sich weder eine Recension noch eine Kritik, noch ein Auszug dieser Urkunden. Unsere Aufgabe, verschieden von derjenigen der politischen Presse, und derjenigen einer theologischen oder juristischen Zeitschrift, kann nur darin bestehen, in seinen allgemeinen Grundzügen ein Ereigniß zu schildern, welches keineswegs eine geringere Bedeutung hat, als etwa die Wiederholung eines Hexenprocesses haben würde. Denn dies darf allerdings behauptet werden: dem Bewußtsein der denkenden und gebildeten Protestanten bedeutet die Absetzung Sydow’s nicht viel weniger, als die Verbrennung einer Hexe.

Freilich giebt es auf der anderen Seite Pastoren genug, die, in dem Zeitalter der dogmatischen Pfahlbauten lebend, fest davon durchdrungen sind, daß solche Männer, wie Sydow und Lisco, völlig unberechtigt sind, die Kanzel zu besteigen. Wie der Katholicismus, ebenso hat auch der Protestantismus seine „jüngere Generation“. Diese „Jungen“ zwitschern aber ganz anders, als die Alten sungen. Wie bei den Katholiken Wessenberg sich verhält zu dem Bischof Ketteler oder Martin, so verhält sich bei den preußischen Protestanten Schleiermacher zu Hengstenberg und Stahl. Der theologische Unterricht an den preußischen Universitäten hat deshalb geleistet, was die Knabenseminare katholischer Bischöfe zu Wege gebracht haben. Auf allen Synoden, in den Pastoralconferenzen, in den Consistorien sind es die „Jungen“, welche auf Vernunft und Wissenschaft wie auf überwundene Standpunkte hinabblicken und bemüht sind, die Verbindung zwischen Religion und Leben zu zersetzen, indem sie mit den Reagentien einer stets bereiten Verfolgungssucht ein dogmatisches Präparat herstellen, welches sie die „reine lutheranische Lehre“ nennen.

Unter diesen Geisteszwergen ragt, einem anderen Zeitalter angehörend, Sydow’s hohe Priestergestalt mächtig empor. Wer dem Greise zufällig in den Straßen begegnet und die Gesichtszüge der Straßenwanderer mit Aufmerksamkeit und Theilnahme beobachtet, bleibt sicherlich einen Augenblick stehen, um sich noch einmal umzuschauen nach dem Bilde, das ihm in Sydow entgegentrat. Ebensowenig vergessen ihn diejenigen, die seine klangvoll tiefe Stimme reden hörten. Wofür er zu halten ist, wird der nicht errathen, der ihm zum ersten Mal begegnet. Es fehlt ihm ganz und gar, was wir das „Pastorenwesen“ nennen möchten, der moderne Stempel des consistorialen Typus, jene Selbstgerechtigkeit, welche in Blick und Geberde, in Tracht und Rede theologischen Sauerstoff ausathmet.

Sydow ist am 23. November 1800 in Charlottenburg geboren. Nach beendigten Universitätsstudien am 1. März 1822 als Repetent beim Berliner Cadettenhaus angestellt, bestand er [84] 1827 vor dem Consistorium der Provinz Brandenburg das erste theologische Examen mit dem Prädicat „vorzüglich gut“, in Rücksicht worauf er von der zweiten theologischen Prüfung entbunden ward. Ein Jahr später erhielt er die Stelle als Prediger am Cadettenhause. Schleiermacher und Neander waren ihm Lehrer, Vorbilder und Freunde. Nach weiteren acht Jahren ward er 1836 als Hof- und Garnisonprediger nach Potsdam versetzt. Endlich trat er 1846 in diejenige Stellung, aus welcher ihn soeben das Consistorium vertreibt. Vom Berliner Magistrat berufen, erhielt er die Parochie der „Neuen Kirche“. Schon vorher war er durch das Vertrauen Friedrich Wilhelm’s des Vierten ausgezeichnet und als Mitglied einer Sachverständigen-Commission nach Schottland entsendet worden, um über den dortigen religiösen Zustand und die Bemühungen der anglikanischen Kirche um Erbauung von Kirchen und Errichtung geistlicher Stellen Kenntniß zu nehmen.

Dr. Sydow.

Ob er damals den Erwartungen des Königs entsprach? Kaum! Denn er faßte seine Erfahrungen in dem Satze zusammen, daß mit dem Kirchenbau zu warten wäre und es zunächst darauf ankomme, eine angemessene Kirchenverfassung herzustellen. Wirklich erhielt Sydow bald darauf Gelegenheit, seine Grundsätze in kirchenpolitischer Beziehung zu bethätigen. Er ward 1844 zur brandenburgischen Provinzialsynode abgeordnet und nahm an den wichtigen, leider erfolglosen Verhandlungen der Generalsynode von 1846 Theil. Hier gehörte er einer Commission an, welche die Aufgabe hatte, über die Verpflichtung der Geistlichen auf die Bekenntnißschriften zu berichten. Damals war die Ueberzeugung allgemein verbreitet, daß die Verpflichtung auf die Bekenntnisse im freien Sinne aufzufassen und auszudrücken sei, auch ging Sydow in der Geltendmachung dieses Grundsatzes etwas weiter als seine Gesinnungsgenossen.

Den Wendepunkt in Sydow’s äußerem Leben bezeichnet das Jahr 1848. In die preußische Verfassung ward der Grundsatz der Selbständigkeit und Freiheit der Kirche eingetragen. Aber in der Nähe des Hofes und in der unmittelbaren Umgebung des Königs nistete sich eine verderbliche Rechtgläubigkeit ein, welche lehrte, daß die Kirche den Staat aus seiner Erniedrigung erretten müsse, daß die königliche Gewalt nicht aus Gewohnheit, Geschichte, Vernunft und Verfassung, sondern aus dem mystischen Dunkel himmlischer Berufung „von Gottes Gnaden“ allein abstamme und deswegen an menschliche Satzungen nicht gebunden werden könne, daß die lebenden Geschlechter vor allem Buße zu thun hätten für den politischen Sündenfall im Jahre der Schande 1848. Friedrich Wilhelm der Vierte ward durch seine Hofgeistlichkeit dem Verständnisse seiner Zeit mehr und mehr entfremdet. Ueberall entstand jenes Einverständniß zwischen den Höfen und der Geistlichkeit, welches man ein Bündniß zwischen Altar und militärischem Standrecht nennen könnte. Die Staatsregierungen verfielen in Frömmelei; die Kirche ward von politischen Machtgelüsten erfaßt.

Der ehemalige Prediger der Cadetten und der Officiere, der Gewissensberather des Königs, stand am 22. März 1848 am Grabe Derer, die auf den Barricaden in Berlin gefallen, auf den Straßen verunglückt oder wehrlos niedergemacht worden waren. Vor jenen Särgen, die Friedrich Wilhelm der Vierte entblößten Hauptes voraustragen sah, die damals die Geistlichen aller Confessionen in brüderlicher Eintracht umstanden, hielt Sydow eine die Gemüther tief ergreifende Leichenrede. Er mußte aussprechen, daß der Vorhang vor dem Tempel des preußischen Absolutismus zerrissen war. In dem Urtheile des Consistoriums, welches aller Wahrscheinlichkeit nach auch von dem obersten Kirchenherrn, dem König, gelesen werden wird, sind in leicht erkennbarer Absicht auch diese Erinnerungen aus Sydow’s Leben berichtet worden: „In dem Inhalte und in der Fassung wohlüberlegter Rede konnte er aussprechen, daß sie, welche im Straßenkampfe gegen die Obrigkeit und den Landesherrn den Tod gefunden hatten, gefallen sind für die Zukunft eines in Gottesfurcht, Verstand und Sitte zur Freiheit gereiften Volkes, daß sie mit ihrem Blute uns, den Ueberlebenden, die erhabensten Güter versiegelt haben, für die das Leben des Menschen kein zu hoher Preis ist.“

Sydow stand damals auf der Höhe der Beliebtheit. Aus einem Hofprediger war er ein Volksredner geworden. Aber wie er die Gunst eines Königs dahingab, um die Todten des Volkes zu ehren, so war er auch innerlich völlig entfernt davon, um die Gunst der Menge zu buhlen. Zwar ward er in die Nationalversammlung gewählt, um die preußische Verfassung mit der Krone zu vereinbaren. Seine politische Wirksamkeit war indessen weder von längerer Dauer noch von größerer Bedeutung. Er schied bald vom politischen Kampfplatze; denn er erkannte bald, daß seine milde, stets zur Versöhnung geneigte Natur keinen Platz fand in der Kluft, die sich damals aufthat zwischen einem auf die Revolution ständig zählenden Radicalismus und einer der Finsterniß zugewandten Reaction. Sydow war frei von jener Eitelkeit, eine politische Rolle spielen zu wollen, und hat sich sicherlich manche Enttäuschung erspart, als er sich in der Erkenntnis seiner selbst auf andere Thätigkeitsgebiete zurückzog.

Was Sydow seit 1850 gewirkt hat, ist nicht leicht zusammenzufassen. In der Kürze dies: Er fehlte bei keiner Gelegenheit, wenn es galt, die der evangelischen Kirche vom König verheißenen und in die Verfassung eingetragenen Selbstständigkeitsrechte zu fordern, den Feinden der evangelischen Religion entgegenzutreten und die Regierung von dem Wege abzumahnen, den sie 1850 mit der Einsetzung des Oberkirchenrathes beschritten hatte. Wie viele ehemals freisinnige Geistliche verstummten oder fielen ab, als 1850 der Sieg der kirchlichen und politischen Reaction in Berlin entschieden war! Es kam die Zeit, in der man Schleiermacher verhöhnte und die menschliche Vernunft als sogenannten „Aufkläricht“ verspottete. In solcher Zeit auf einem anscheinend hoffnungslosen Posten ausharren, ist die That des Leidens. In Verbindung mit Jonas, Krause, Eltester und einigen anderen wackeren Männern hielt Sydow die Fahne der Gewissensfreiheit hoch empor. Freudig theilte er den Aufschwung, den das Regentschaftsprogramm 1858 hervorrief, bis dann nochmals jene fast unbegreifliche kirchliche Umwendung eintrat, die sich an den

[85] 

Burg Eltz.
Nach der Natur aufgenommen von R. Cronau.

[86] Namen des Herrn von Mühler knüpft. Selbst das Consistorium erkennt an, daß Sydow sich mit besonderer Hingebung und Treue dem Gustav-Adolphs-Vereine gewidmet habe.

Dieselben Männer, die Sydow absetzten, sagen in ihren Urtheilsgründen: „Dr. Sydow beruft sich auf die vielen ehrenden Zeugnisse der Liebe, der Zustimmung und des Vertrauens, welche ihm auch nach der Veröffentlichung seines Vortrags zugegangen sind. Es soll dies nicht bezweifelt, vielmehr anerkannt werden, daß er durch sein freundliches, heiter-gemüthliches und wohlwollendes Wesen, seine vielseitige humanistische und auf das Sittliche gerichtete Bildung, bei einer reichen natürlichen Begabung, welche er nur nicht zu theologischen Studien genügend verwendet hat (obwohl die Facultät von Jena ihm die theologische Doctorwürde verlieh!), und ebenso durch seinen rechtschaffenen, anständigen und mit würdiger Repräsentation geführten Wandel sich in ausgedehnten Lebenskreisen große persönliche Achtung und herzliche und dankbare Zuneigung erworben hat. Diese guten und liebenswerthen Eigenschaften müssen für ihn die menschliche Theilnahme kräftig erregen; sie reichen aber nicht aus und bestimmen nicht die Befähigung und Würdigkeit zum geistlichen Amte in der evangelischen Kirche.“

Weswegen ist nun Sydow abgesetzt worden? Weil er, außerhalb seiner Gemeinde, am 12. Januar 1872 im Saale des Berliner Rathhauses im Berliner Protestantenvereine, zu dessen Vorstandsmitgliedern er gehört, einen Vortrag über die wunderbare Geburt Christi gehalten und darin gegen die nach der Meinung des Consistoriums fundamentale Wahrheit verstoßen hat, welche in den Worten des Glaubensbekenntnisses ausgedrückt ist: „Empfangen vom heiligen Geist, geboren von der Jungfrau Maria.“ Sydow suchte in diesem Vortrage aus der Schrift selbst nachzuweisen, daß die jüdische Vorstellung der Gottessohnschaft oder Messianität eine völlig andere gewesen sei als die später aufgekommene christliche Lehre, die Jesus eine Person in der Trinität sein läßt, und daß im Neuen Testamente selbst an den entscheidenden Stellen Jesus als Joseph’s Sohn bezeichnet werde, also auch in natürlicher Ordnung der Dinge entstanden sei, wobei seine einzigartige Begabung allerdings feststehe. Sydow bezeichnet sich selbst als Monarchianer, d. h. als einen Theologen, der an strenger Einheit Gottes festhält und die erst spät abgeschlossene, Jahrhunderte hindurch streitig gewesene Lehre von der Dreieinigkeit verwirft.

Die Aufregung, welche dieser Vortrag hervorrief, war sehr bedeutend. Alle freisinnigen Protestanten in Berlin waren freudig bewegt durch die entschiedene Offenheit, welche in Sydow’s Erklärungen lag; die strenggläubigen zeterten in der „Kreuzzeitung“ und in den theologischen Fachzeitschriften; sie waren der Zuversicht, daß ihnen ein Schlachtopfer dargebracht werden müsse.

Am 14. März 1872 erfolgte Sydow’s Vernehmung vor dem Consistorium, wobei theils der Vorsitzende, theils der Generalsuperintendent Dr. Brückner als Inquirenten thätig waren. Die Fragen, auf welche sich der Angeschuldigte zu erklären hatte, waren diese: 1) Erkennen Sie eine Einwirkung des heiligen Geistes blos auf die menschliche, persönliche, insbesondere die sittliche Entwickelung Jesu oder auch eine solche auf seine menschliche Entstehung an? 2) In welchem Sinne bekennen Sie Christum als den Sohn des lebendigen Gottes? 3) In wie weit gestehen Sie die normative Auctorität der heiligen Schrift des Neuen Testamentes zu? 4) Wie verhalten Sie sich solchen von Ihnen bestrittenen Punkten des Glaubensbekenntnisses gegenüber in Predigt und Confirmandenunterricht?

Sydow hält in seinen Antworten an dem hohen Bilde der Persönlichkeit Jesu fest, beharrt aber in seinen Ausführungen bei seiner Ueberzeugung von der menschlichen Entstehung Christi als des Sohnes Joseph’s und der Maria. Auf den Einwurf, daß er doch das apostolische Glaubensbekenntniß in seinem Amte bekennen müsse, erwidert Sydow: „Bekennen? Ich muß es lesen“ und führt dabei weiter aus, daß der einzelne Geistliche sich derartigen Vorschriften nicht widersetzen könne. Noch weiter auf die geistvollen Auseinandersetzungen Sydow’s hier einzugehen, fehlt uns der Raum. Wir verweisen deshalb nochmals auf das Vernehmungsprotocoll, in welchem Sydow’s Antworten niedergelegt sind. Es macht den Eindruck, als ob Sydow dem Consistorium Confirmandenunterricht ertheilte. Klar, bestimmt, schneidend vorwurfsvoll sind seine Antworten. Gegen den Vorwurf, das Ordinationsgelübde gebrochen zu haben, sagt er würdevoll:

„Als ich mich durch das Ordinationsgelübde verpflichtet habe, bei meinem Amtsantritte, bestanden andere Auffassungen. Daß jeweilig Sie einen andern Standpunkt einnehmen, kann aber in der Sache nichts ändern. Auch ich hätte mich den Veränderungen anbequemen können, wenn mich Orden und äußere Vortheile gelockt hätten. Aber Ueberzeugung und Treue haben mir eine Aenderung meines Standpunktes unmöglich gemacht. Ich habe die Ueberzeugung, daß die evangelische Kirche seit einem Menschenalter mißregiert wird.“

Das Urtheil des Consistoriums spricht die Absetzung deßwegen aus, weil Sydow durch öffentliche Angriffe gegen die Grundlagen der christlichen Lehre, wie sie in der heiligen Schrift geoffenbart und in den allgemeinen christlichen Glaubensbekenntnissen, sowie in der Augsburgischen Confession der evangelischen Kirche bezeugt ist, seine Amtspflichten als evangelischer Geistlicher wesentlich und schwer verletzt hat.

Es ist berechtigt, zu fragen, wer die Richter Sydow’s gewesen sind. Nach glaubhaften widerspruchslos gebliebenen Mittheilungen der öffentlichen Blätter haben vier Mitglieder des Consistoriums für Freisprechung gestimmt; es waren dies die beiden wissenschaftlich hervorragenden und die beiden juristisch gebildeten Mitglieder: Probst Dr. Brückner, Professor Dr. Semisch, Graf von Unruh, Consistorialrath Schmidt. Mit einer Stimme Mehrheit verurtheilten fünf Beisitzer den Angeklagten, nachdem ein Versuch, ihn zur Emeritirung zu bewegen, an Sydow’s Festigkeit gescheitert war.

Diese fünf Mitglieder verdienen der völligen Unbekanntschaft entrissen zu werden, der sie sich bisher erfreut haben. Der Präsident des Consistoriums ist der Träger eines der berühmtesten Namen, der Sohn Hegel’s. Er ist so fest im Glauben, daß die Darwinsche Descendenztheorie angesichts seiner in’s Stocken gerathen muß; vergleicht man ihn seinem Vater, so muß man sagen, daß seine Abstammung zwar kein biblisches, wohl aber ein anderes Wunder ist. Zweitens: der Rede mächtig ist der Generalsuperintendent Büchsel; er fesselt die vornehme, der Buße und Gnade besonders bedürftige Berliner Welt durch seine körnige, mit munteren Anekdoten gewürzten Predigten und durch die tatentvolle Art seiner Kirchenzucht; sein Einfluß ist groß, seine Befähigung anerkannt; unter den Gegnern der freisinnigen Theologie ragt er entschieden hervor. Als Dritter erscheint Consistorialrath Bachmann. Von seinen Liebhabereien kennt man in Berlin diejenige für saftreiche Gesangbuchpoesie. Er verfaßte den Entwurf eines neuen Gesangbuches, welches die Kirchenliedermumien des siebenzehnten Jahrhunderts enthielt und die Entrüstung vieler Berliner Gemeinden hervorrief. Von zwei andern Mitgliedern der Majorität weiß man nur die Namen; es sind die beiden Prediger Stahn und Souchon.

Zwischen der Absetzung Sydow’s und dem Richterspruch gegen Twesten besteht die Aehnlichkeit, daß in beiden Fällen eine Stimme Majorität entschied und daß man die Namen der für Freisprechung Stimmenden sehr bald erfahren hat. Es ist das immer ein Zeichen, daß die Ueberzeugungen von Recht und Unrecht sich schroff gegenüberstanden und daß die Ueberstimmten die Verpflichtung fühlen, sich von der Verantwortlichkeit für das Geschehene in der Oeffentlichkeit loszusagen.

Auch dem ungerechten Richterspruch fehlt es nicht an Gesetzes-Paragraphen. Aber wenn man auch hundert Gesetzesstellen anzuführen vermöchte, sie wären nicht ausreichend, die Gewissen evangelischer Christen darüber zu beruhigen, daß ein Geistlicher nach einem musterhaft geführten Leben, im hohen Alter, seines Amtes entsetzt wird, obwohl er in seiner Gemeinde geehrt und geliebt dasteht, lediglich weil er Ueberzeugungen festgehalten hat und aussprach, die in seiner Jugend auf den Universitäten gelehrt wurden und heute in die Denkweise der zumeist Gebildeten übergegangen sind. Wenn das Christentum wirklich an Ketzergerichte, Concilienbeschlüsse, veraltete Glaubensbekenntnisse und Consistorialregierung untrennbar gebunden wäre, so würden wir glauben, daß wir dereinst noch das Grabgeläute desselben vernehmen könnten. Deutschland hat zu viel geschichtlichen Sinn und zu große Pietät für die Vergangenheit, als daß es Denjenigen, die an alterthümlichen Glaubensvorstellungen hängen, jemals die Erbauung ihrer Herzen verkümmern möchte. Aber [87] es verlangt auch, daß der Wissenschaft und der Freiheit der Gewissen in der evangelischen Kirche das volle Anerkenntniß der Gleichberechtigung zu Theil werde.

Ein Zeichen der hoffentlich zur Verjüngung führenden Krisis ist auch das Ketzergericht über Sydow; denn er hat nur ausgesprochen, was in den Gesinnungen seiner Gemeinde lebt. Es ist ein schlechthin unhaltbarer Standpunkt, den Geistlichen auf Bekenntnisse zu vereidigen, welche der ungeheuren Mehrheit innerlich fremd geworden sind. Das Consistorium hat einen Scheiterhaufen angezündet, dessen Flamme über Berlin weit hinausleuchtet. Wenn irgend etwas auf ihm verbrennt, so können es nur die Actenstöße geistlicher Behörden sein! Die Windrichtung der Zeit treibt den Qualm Denjenigen in die Gesichter, die nicht sehen wollen. Männer wie Sydow brauchen es nicht zu scheuen, von der Brandfackel kirchlicher Verfolgung beleuchtet zu werden.




Eishandel und Eismaschinen.


Allem Anscheine nach wird der Winter des Jahres 1872 auf 1873 das gerade Gegentheil des von 1870 auf 1871 sein, und wird die Witterung in Mittel-Europa wohl eine so milde bleiben, daß es schwer, wenn nicht unmöglich werden wird, den Bedarf eines Artikels zu decken, dessen Verbrauch für Technik und Luxus in dem letzten Jahrzehnt eine colossale Ausdehnung angenommen hat.

Dieser Artikel, das Eis, wird bekanntlich außer seinem allgemeinen Gebrauch in Hospitälern schon seit langer Zeit als Kühlungsmittel zur Herstellung von Gefrornem und zur Erkaltung moussirender Getränke verwandt; eine größere, fast allgemeine Anwendung zur Abkühlung des Bieres und Wassers hat aber das Eis bei uns erst in neuerer Zeit gefunden.

Der Beginn des Eishandels datirt aus den dreißiger Jahren, zu welcher Zeit der praktische Nordamerikaner den Süden seines Continents, sowie Großbritannien und Ostindien, mit Eis zu versorgen anfing. Von da an blüht dieser Handel in ungeahnter Weise auf; die Versendungs- und Aufbewahrungsmethoden wurden immer vollkommener, und die amerikanischen Eismagazine (Eishäuser über der Erde) stehen jetzt noch unübertroffen da. Schon im Jahre 1860 beschäftigte der Eishandel allein in den Vereinigten Staaten zehntausend Personen und repräsentirte ein Capital von sechs Millionen Dollars, gegenwärtig sicher das Doppelte. Auch in Deutschland hat der Eishandel eine ganz bedeutende Ausdehnung angenommen, erinnern wir uns nur einer der neueren Gründungen, der Actiengesellschaft „Norddeutsche Eiswerke in Berlin“, deren Actiencapital über eine halbe Million Thaler beträgt, und welche eine Filiale nach Wien verlegt hat, um bei der diesjährigen Weltausstellung die österreichische Kaiserstadt mit Eis zu versehen.

Ist nun bei uns der Eisverbrauch zu Luxuszwecken, wenn dieser Ausdruck überhaupt noch anwendbar, schon ein ganz bedeutender, so steht derselbe doch in keinem Verhältniß zu dem Verbrauche von Eis zu technischen Zwecken und zwar hauptsächlich zur Bierbrauerei, zur Paraffin- und Chocoladen-Fabrikation.

Welch’ großer Nachtheil diesen wichtigen und ausgedehnten Fabrikationszweigen, besonders der Bierbrauerei, durch den Mangel an Eis erwächst, leuchtet aber jedermann ein, welcher nur einigermaßen einen Begriff von deren Herstellungsmethode hat, und so beschäftigen sich seit Decennien eine Reihe von Technikern mit der Frage, Eis in größerem Maßstabe auf künstlichem Wege zu erzeugen. Wie weit dies gelungen, soll in den folgenden Zeilen zu erläutern versucht werden.

Bekanntlich erzeugen schnell verdunstende Flüssigkeiten, wie zum Beispiel Aether, die man auf die Hand gießt, beim Verdampfen das Gefühl der Kälte. Bei dem Uebergang aus dem flüssigen in den gasförmigen Zustand nämlich muß der betreffende Körper eine bestimmte Wärmemenge aufnehmen, die er seiner Umgebung entzieht und diese abkühlt. Es benutzen dies zum Beispiel die Spanier zur Herstellung kalten Wassers. Sie bringen das Wasser in poröse Thongefäße, an deren Außenfläche die Flüssigkeit verdunstet und so die Temperatur des inwendig befindlichen Wassers erniedrigt. Aber nicht nur der Uebergang aus dem flüssigen in den gasförmigen Zustand ist mit einem Wärmeverbrauch verbunden, sondern es tritt ein solcher auch bei der Ausdehnung eines Gases ein. Umgekehrt ist die Compression eines Gases wieder mit einer Erwärmung verbunden, die sehr bedeutend sein und nutzbar gemacht werden kann, wie zum Beispiel bei dem pneumatischen oder Schlagfeuerzeug. Die Bindung der Wärme bei der Verdampfung bildet die Grundlage der Einrichtung und Wirkung der Eismaschinen.

Bekanntlich siedet nun aber Wasser bei um so niedrigeren Temperaturen, je dünner die umgebende Luft ist, so zum Beispiel auf dem Montblanc bei schon 84 Grad Celsius. Dasselbe gilt auch für den Aether und eine hierauf und auf die bei der Verdunstung des Aethers eintretende Abkühlung gegründete Eismaschine hat sich J. Harrison schon im Jahre 1856 patentiren lassen; sie bildete auf der Industrieausstellung in London im Jahre 1863 in einer von Siebe verbesserten Form einen der interessantesten Gegenstände. Der Amerikaner J. Gorrie wendete als wärmeentziehende Substanz comprimirte Luft an, welche bei ihrer Ausdehnung die erforderliche Wärme einem Wasservorrathe entzog und diesen in Eis verwandelte. Eismaschinen nach diesem Systeme werden in Deutschland in Braunschweig gebaut; dieselben haben sich auch bewährt, bedürfen aber zu ihrem Betriebe einer so bedeutenden bewegenden Kraft, daß dieselben nur für die allergrößten Verhältnisse passend und von Vortheil sind.

Die verbreitetsten Eismaschinen, welche je nach Größe fünfzig bis tausend Pfund Eis per Stunde produciren und demnach auch für den Kleinbetrieb und -Bedarf nutzbringend Anwendung finden, sind die von dem Franzosen Carré hergestellten Ammoniakmaschinen. Die sehr sinnreiche Einrichtung derselben beruht auf der Eigenschaft des Ammoniakgases, sich bei gewöhnlichem Druck bei –40 Grad C (es ist dies eine Temperatur, bei der Quecksilber gefriert) oder bei einem Druck von 6½ Atmosphären bei gewöhnlicher Temperatur zu einer farblosen Flüssigkeit zu verdichten, die unter gewöhnlichem Druck schon bei –33 Grad C., wie das Wasser bei + 100 Grad C., siedet. Solch verdichtetes Ammoniak wird mithin durch bloßes Aufheben des Druckes zum Sieden gebracht und dadurch eine bedeutende Abkühlung erzielt. Carré unterstützt die Wirkung des Ammoniaks durch eine andere hervorragende Eigenschaft dieses Gases, nämlich sein Verhalten zum Wasser, von welchem es mit großer Bereitwilligkeit schon bei gewöhnlicher Temperatur absorbirt, d. h. gelöst wird. Eine völlig gesättigte Lösung siedet schon unter 0 Grad, eine solche von fünfzehn Procent bei + 50 Grad C. Man verwendet bei der Carré’schen Maschine eine Lösung von achtundzwanzig Procent Ammoniakgehalt, da eine concentrirtere nicht versendbar ist.

Die Construction dieser Eismaschinen, welche in Deutschland zuerst und hauptsächlich von C. Kropf in Nordhausen gebaut worden sind, ist sehr complicirt, doch wollen wir versuchen, auch ohne Abbildung ein deutliches Bild einer solchen zu geben. Die Haupttheile der Maschine sind:

1) Der Kessel, welcher, stehend und nur zur Hälfte eingemauert, zur Aufnahme des wässerigen Ammoniaks und zur Entwickelung des Ammoniakgases dient. Derselbe wird durch Steinkohlenfeuer erhitzt, wobei dann alles Ammoniak gasförmig entweicht.

2) Der Condensator, in welchem sich das durch eine Kühlschlange geleitete Gas mit dem gleichfalls zum Theil übergegangenen Wasser zu einer sehr concentrirten Ammoniaklösung verdichtet.

3) Der Gefriertrog, welcher mit einer so concentrirten Lösung von Chlorcalcium angefüllt ist, daß selbige bei der erzielten niedrigen Temperatur (– 15 Grad C.) nicht gefriert.

Der Trog enthält ein System von Schlangenröhren, in welchen das condensirte Ammoniak verdampft. Es kühlt hierdurch die umgebende Chlorcalcium-Lösung ab und diese verwandelt das in eingehängten Blechkästen in sie gebrachte Wasser in circa zehn Pfund schwere Eistafeln. Das entstehende Ammoniakgas nimmt seinen Weg durch eine andere Reihe von Röhren und Gefäßen wieder zurück und wird, nachdem es unterwegs zu wässeriger Ammoniaklösung geworden, mittelst einer Pumpe vollends in den Kessel zurückgeführt. Hierauf beginnt [88] dasselbe Spiel von Neuem, und die Maschine kann somit continuirlich arbeiten und je nach ihrer Größe eine kleinere oder größere Menge Wasser in Eis verwandeln. Zur Bedienung einer Maschine, welche per Stunde fünfzig Pfund Eis liefert, ist ein Arbeiter hinreichend, doch muß eine Vorrichtung vorhanden sein, daß die beträchtlichen Mengen Kühlwasser durch eine andere Kraft der Maschine zugeführt werden. Eine solche Maschine kostet inclusive aller Zubehör fünfzehnhundert Thaler und stellt sich der Preis des Centners Eis auf siebenzehn und einen halben Groschen, bei größeren Maschinen selbstverständlich billiger, so daß bei gesichertem Absatze eine Concurrenz mit dem Natureise immerhin zu ermöglichen ist.

Wie aber schon Eingangs dieses Artikels gesagt ist, der volle Bedarf an Eis wird sich in diesem Jahre trotz aller vorhandenen Eismaschinen wohl nur zum kleinsten Theile durch in Deutschland gewonnenes Eis decken lassen, und die norwegischen und schweizerischen Gletscher werden sicher zur Abhülfe des Eismangels einen großen Antheil beitragen müssen, wahrscheinlich einen so großen Antheil wie nie zuvor.

L. im Januar.
G. B.




Blätter und Blüthen.

Burg und Geschlecht – gleich alt und echt. Aus einer Reiseerinnerung. (Mit Abbildung S. 85.) „Mann, Dir kann geholfen werden!“ sagte ich nach einer abgethanen Rheinreise in Coblenz zu meinem dicken Freunde, dem das mit stillem Vergnügen gepflegte fränkische Landrichter-Bierbäuchlein endlich doch den Athem schwer machte. „Mit Deiner Reiserei ist’s nichts. Vom Waggon in den Fiacre, vom Fiacre in’s Dampfschiff, dort gleich wieder auf einen Stuhl, keinen vernünftigen Schritt gegangen und doch keine Mahlzeit versäumt – was soll denn aus Dir werden? Morgen in aller Frühe besteigen wir das Dampfschiff nach Trier, nicht wegen des heiligen Rocks, sondern wegen der Moselfahrt, die soll einen schlanken Menschen aus Dir machen.“

„Wie so?“ fragte mein Landrichter. „Mit dem Dampfschiff – das heißt doch wieder fahren? Zehrt denn etwa die Luft der Mosel so?“

„Nein, Liebster, sondern das Wegabschneiden thut’s. Der gerade Weg nach Trier würde nur fünfzehn Meilen betragen, aber der Mosel gefällt’s so wohl in dem reizenden Lande, daß sie sich bald links, bald rechts abkrümmt und fast fünfzig Stunden auf der Strecke zubringt. Da steigt man denn an mancher Krümmung aus, klettert auf den Berg und kommt auf der andern Seite unten alleweil zeitig genug an, um das Dampfschiff wieder zu erlangen mit dem stolzen Bewußtsein, ein Stück Weg abgeschnitten zu haben. Merkst Du nun was?“

Ein bedenkliches Kopfschütteln war die Antwort. Ich mußte stärker locken. „Für Dich Actenmann winkt besonders ein Ausflug mit einer Kunde von einem Riesenprocesse, die Dich für’s ganze Leben freuen wird. Wir brauchen dazu nur bis Moselkern, kaum zwei bis drei Meilen weit, zu fahren, und bis dahin ist noch nichts abzuschneiden.“

Das half durch die Doppelwirkung der Beruhigung und der erregten Neugierde. Der andere Morgen fand uns auf der Fahrt.

In Moselkern verließen wir das Boot, denn mein Sinn stand nach der Burg Eltz, von welcher auch Meyer’s Reisehandbuch („Westdeutschland“) ein verlockendes Bildchen giebt. Mein Reisegenosse stutzte zwar, als er von anderthalb Stunden Wegs dahin hörte, und hatte schon wieder Lust zu fahren; aber der Wirth, bei dem wir uns stärken, war so ehrlich, zu versichern, daß fast alle Reisende zu Fuß dahin gingen, weil der Fahrweg gar zu schlecht und der Fußweg angenehm sei.

Und so war’s, und so ging’s; wir wandelten am rechten Ufer der rauschenden Eltz in dem engen Thalgrunde dahin, oft erfreut von romantischen Fels- und Waldpartien, und kamen endlich, Beide wohlgemach, an’s Ziel. Da stand er vor uns, der wunderliche Bau auf seiner Felsenkuppe, den die Eltz auf drei Seiten wie ein Wallgraben umfließt. Nur die vierte Seite hängt mit dem Bergzuge zusammen und machte einen künstlichen Wallgraben nöthig, den jetzt eine feste Brücke überspannt. Ein frisch grüner Wald- und Wiesberghintergrund hob das Bild des grauen kühnen Mauerwerks mit seinen spitzen Thürmen, Dächern und den zierlichen Giebeln und Erkern. Das Gesammtbild ist so reich an Formen und Farben der Landschaft und Architektur, daß man sich ungern davon trennt und gern dahin zurückkehrt.

Ein Knabe, der aus dem Thore kam und uns seinen traulichen Gruß bot, zeigte auch gleich seine Heimathkunde, indem er auf einen Nachbarberg aufmerksam machte, auf welchem die Ruinen einer feindlichen Burg noch ständen, die Trutz-Eltz oder Balden-Eltz, oder gleich allzusammen Balden-Trutz-Eltz geheißen. Was das für ein gefährlich Nest gewesen, würden wir schon drinnen im Schloßhof sehen und erfahren.

Also vorwärts! Links begrenzen den innern Burgraum vor dem Schloß Stein- und Balkenhäuser, wahrscheinlich einst Wohnungen der Burgleute; rechts erheben sich die Schloßgebäude zu einer Höhe, die an die jetzigen Miethhäuser großer Städte gemahnt, – bei beiden bewirkt durch dieselbe Ursache. Hier zwang der enge Raum der Felskoppe dazu, und dort ist’s der theure Grund und Boden, der das Aufstreben in die freie Luft zur Nothwendigkeit macht. Am Baustil der einzelnen (vier oder fünf) Burgtheile, die den Hof umschließen, erkennt man, daß verschiedene Jahrhunderte am Ganzen gearbeitet, daß aber auch das Aelteste wie das Jüngste noch wohl erhalten sei. Dieser Umstand giebt der Burg besonderes Interesse, denn so reich wir an Burgruinen und restaurirten Bergschlössern sind, so gering ist die Zahl der noch vollständig erhaltenen Zeugen aus ältester deutscher Vorzeit. Ebenso bemerkenswerth ist es, daß auch das Geschlecht der Eltze sich vom Anfang seiner Geschichte bis heute erhalten hat. Die Habsburg steht auch noch, aber die Habsburger sind längst dahin; und wie stattlich die Hohenzollernburg noch heut auf ihrem Felsberg thront, ihr Geschlecht ist ja den Rittern von der Krautmark viel zu jung, denn „wir sind älter hier im Lande“.

Durch einen sehr hoch gewölbten Thorgang gelangt man zu einer schmalen Pforte, die in den Burghof führt. Unser Blick fiel auf wohlgeschichtete Haufen mächtiger Steinkugeln. Sollten diese mit dem „gefährlichen Nest“ des Knaben zusammenhängen? Wir blieben nicht lange im Ungewissen. Der Verwalter und zugleich Herumführer im Schlosse war rasch zur Stelle, und er führte uns ohne Umstände mitten hinein in die Geschichte der Burg. „Das war Anno 1331, da erhob der hochwürdige Herr Erzbischof Balduin von Trier eine Fehde gegen die Herren, Ritter und Grafen von Eltz, Ehrenburg, Schöneck und Waldeck, und um den Eltzern den Weg gen Münstermayfeld zu verlegen, von wannen sie ihre Leibesnahrung holten, erbaute er die Veste Trutz-Eltz und ließ von da diese Steinkugeln gegen Eltz schleudern. Die Burgmannen wehrten sich bis zum 10. Januar 1335, da bezwang der Hunger die Burg. Aber so hoch hielt Herr Balduin diese Tapferkeit, daß er den Ritter auf Eltz zum Burgvogt über Trutz-Eltz setzte. Daran gemahnen hier die Kugeln und drüben die Burgtrümmer.“

„Hängt denn das etwa mit dem verheißenen Riesenproceß zusammen?“ fragte der Landrichter. Schon setzte der Verwalter zu einer Rede darüber an, als ich dazwischen fuhr:

„Verehrteste, das sparen wir zum Schluß auf. Jetzt in’s Innere der alten Herrlichkeit.“

Besonderes bietet allerdings das Schloß, außer der erhaltenen alten Einrichtung selbst, nicht dar. Wir finden hier eine Rüstkammer, wie auf vielen anderen Burgen. Da dieselbe aber die Schutz- und Trutzwaffen des Mittelalters ziemlich vollständig und in vielen gut erhaltenen Stücken enthält, so freut man sich ihrer doch. Es sind weitläufige Räume und Gänge treppab, treppauf; man sieht, wie Nothwendigkeit und Zweckmäßigkeit allein hier ein Fenster, dort einen Vorbau und Wendeltreppenthüren und Erker oder Söller entstehen ließen, denn die Alten bauten von innen heraus, während heutzutage oft genug schöne Bilder von außen gebaut werden, nach welchen die innere Einrichtung sich richten muß.

Unser letzter Gang brachte uns in die Schloßcapelle, deren Glasmalereien unsere Beachtung verdienen. Wir ließen es uns gefallen, daß der Verwalter von den Vorfahren seiner jetzigen Herrschaft und dem Ansehen und Ruhme des Geschlechts mit warmen Worten sprach. Nicht blos viele Amtleute, Pröbste, Domherren und Hofmeister der umliegenden Städte und Stifte gingen aus ihm hervor, sondern auch zwei Erzbischöfe von Trier und von Mainz, der eine Jacob, der andere Philipp Karl, und Erzbischof Jacob hat diese Kirche gebaut.

„Halt!“ sprach ich da, „nun komm’ ich! Aber laßt uns wieder in den Hof gehen, denn meine weltliche Notiz gehört nicht in heilige Hallen.“ Und als wir nun im Hof standen, trat ich vor meinen Freund Landrichter mit der Frage: „Mann der Acten, wie viel hat wohl der längste Proceß Deines Landgerichts Bogen Papier gekostet?“

„Na,“ meinte er, „ein paar Hundert können schon herauskommen.“

„Dann,“ sprach ich mit gehobener Stimme, „rede Niemand mehr von unserem papiernen Jahrhundert! Dieser Erzbischof Jacob, das war der wahre Jacob des verheißenen Riesenprocesses. Der streitbare Diener des Herrn und Oberpriester der christlichen Liebe führte nicht blos einen dreizehnjährigen Waffenkrieg mit seinen Unterthanen, sondern auch einen Proceß-Federkrieg, der wohl ebenso lange dauerte, und als ein Befehl des Reichshofraths demselben am 15. März 1580 mit Gewalt ein Ende machte, war eben der einhundertfünfzehnte Actenband geschlossen und damit der zweiunddreißigtausendste Bogen vollgeschrieben.“

Mein Landrichter war außer sich vor Freude, riß eifrigst das Notizbuch aus der Brusttasche und hörte gar nicht auf die Versicherungen des Verwalters, daß das eine wahre Geschichte sei.

Der Verwalter begleitete uns bis auf die Brücke, und beim Umblick nach dem Schloß konnte ich mich der Frage nicht enthalten, wie es gekommen, daß diese Burg so ganz allein der allgemeinen Verwüstung bei den weltberüchtigten französischen Mordbrennereien in diesen Rheinlanden entgangen sei.

„Das war einfach,“ erklärte der Mann. „Damals war ein Herr von Eltz ein hoher General der Franzosen; sonst hätten wir hier auch nur Trümmer und kein Schloß.“ Für diesen einen Fall ertheilte ich dem unpatriotischen Eltzer Absolution; für die Folge wird’s nicht mehr nöthig sein.

Wir waren auf dem Rückweg. „Zweiunddreißigtausend Bogen!“ schrie und lachte mein Landrichter in Thal und Wald hinein. „Der Fund ist die ganze Reise werth!“

„Wirst Du nun auch bis nach Trier mit fahren und Berge besteigen?“ fragte ich, „Ja und Handschlag darauf!“ und so geschah’s. Die ebenso reizende als mitunter mühsame Tour befreite die Lunge meines Freundes von dem überflüssigen Fett; frisch und gesund kam er heim. Und wenn ihm in seinem fränkischen Städtchen dieses Blatt der „Gartenlaube“ mit dem Bilde von Eltz vor Augen kommt, so wird er mir nicht zürnen, sondern daraus einen Gruß lesen von seinem treuen Reisegenossen und Freund.



Verantwortlicher Redacteur Ernst Keil in Leipzig. – Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Vertraulichlichkeit