Die Gartenlaube (1856)/Heft 25

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[325]
Mesmer in Wien.
Von L. Mühlbach.
(Fortsetzung.)

„Mein Gott, mein Gott,“ flüsterte sie, sich angstvoll an Mesmer’s Arm klammernd, „sehen Sie nur, wie alle diese Dinge auf mich zuschreiten, sie werden über uns zusammenstürzen und uns zerschmettern.“

Mesmer lächelte, „Diese Dinge stehen fest,“ sagte er, „und wir sind es allein, welche sich bewegen. Sie werden sich an alle diese neuen Eindrücke gewöhnen, Sie werden durch die Erfahrung die Gesetze der Optik begreifen und die Größe der Gegenstände ermessen lernen.“

„Aber was ist denn das?“ rief Therese verwundert, indem sie sich eben dem großen Wandspiegel näherte, der zwischen den Fenstern angebracht war.

„Das ist ein Spiegel, Therese.“

„Aber darin sind Sie ja zum zweiten Mal? Wer ist es, der es wagt, so auszusehen wie Mesmer?“

„Das ist mein Spiegelbild, Therese!“

„Aber welch’ eine wunderliche Gestalt mit der abscheulichen Matignonfrisur hängt da am Arm Ihres Spiegelbildes?“

„Das sind Sie, Therese!“

„Das bin ich,“ rief sie lebhaft, indem sie hastig auf den Spiegel zuschritt. Aber plötzlich wich sie entsetzt zurück.

„Mein Gott,“ sagte sie, „diese Person kommt gerade auf uns zu. Lassen Sie uns zurücktreten, oder sie wird uns umstoßen!“

Und sie wich ängstlich und scheu zurück; auf einmal aber lachte sie fröhlich auf. „O,“ sagte sie, „dieses Mädchen hat eben so wenig Muth wie ich. Je weiter ich mich von ihr entferne, desto ängstlicher weicht sie vor mir zurück.“

„Aber das ist auch nur eine optische Täuschung, Therese.

Das junge Mädchen, welches Sie da sehen, ist auch nur ein Spiegelbild, Ihr Bild!“

„Ach, es ist wahr, ich vergaß es,“ sagte sie, müde, indem sie ihre Hände gegen ihre Stirn drückte. „Kommen Sie, führen Sie mich dicht an den Spiegel, daß ich mich betrachten kann! Ich werde die Augen schließen, um nicht vor der Erscheinung zu erschrecken.“

Sie schloß die Augen und lehnte sich fester auf den Arm Mesmer’s, der sie jetzt zu dem Spiegel geleitete.

„Das also bin ich,“ flüsterte Therese, ihre Augen wieder öffnend, und mit prüfenden Blicken ihr Spiegelbild betrachtend.

„Meine Mutter hat Unrecht,“ sagte sie dann nach einer Pause.

„Das Gesicht da ist nicht hübsch, denn es ist langweilig; die Seele hat noch nichts auf dieses Gesicht geschrieben. Kommen Sie, Meister, beschäftigen wir uns nicht mehr mit diesem langweiligen Gesicht, lassen Sie mich den Himmel sehen!“

„Erst wollen wir versuchen, ob Sie das Tageslicht auch schon in seiner unverhüllten Gewalt ertragen können, Therese. Bleiben Sie hier stehen, ich werde den Vorhang des Fensters öffnen.“

Mesmer trat an das Fenster und ließ den Vorhang langsam aufrollen. Aber Therese stieß einen Schrei des Entsetzenn aus und verhüllte sich das Gesicht.

„Das bohrt in meinen Augen wie Dolchspitzen,“ ächzte sie.

„Ich wußte es wohl,“ sagte Mesmer, „Ihre Augen müssen sich erst an den Tag gewöhnen. Ich werde Ihnen den Himmel heute Abend zeigen. Jetzt, Therese, müssen Sie es sich schon gefallen lassen, die Binde wieder vor Ihr Antlitz zu legen, denn Ihre Augen bedürfen der Ruhe!“



III.
Das Concert.

Die ganze vornehme Welt Wiens war in dem großen Concertsaal versammelt, in welchem Therese von Paradies heute ihr erstes Concert geben wollte, seit sie durch die Wunderkur Mesmer’s ihr Augenlicht wieder erhalten hatte. Jedermann war daher neugierig und gespannt, sich selber durch den Augenschein zu überzeugen, wer von den streitenden Parteien Recht habe, der Doctor Mesmer und die Familie Paradies, welche behaupteten, daß Therese wirklich geheilt sei, oder die Herren Barth und Ingenhaus und das ganze Corps der Aerzte, welche sagten, eine solche Heilung sei ganz unmöglich, und das Ganze sei nur eine Betrügerei Mesmer’s, zu deren Ausführung die Familie von Paradies ihre Hand geboten.

Man war also heute nicht gekommen, um dem wundervollen Spiel Theresens zuzuhören, sondern um sie zu sehen und sein Urtheil zu fällen. Dieses Concert sollte zugleich eine öffentliche Prüfung sein, und Herr von Paradies hatte daher öffentlich in den Zeitungen bekannt machen lassen, daß in den Pausen des Concerts Therese bereit sei, sich mit Jedermann zu unterhalten und Proben abzulegen, daß sie wirklich sehend, und daß ihre wunderbare Heilung keine Chimaire sei.

Auch Herr Professor Barth mit seinen Freunden, dem Doctor Ingenhaus und Pater Hell, war zu dem Concert gekommen und hatte mit triumphirender Miene und einem klugen Lächeln auf [326] der ersten Reihe des Zuschauerraums Platz genommen. Als er jetzt den Herrn von Paradies erblickte, der in den Saal getreten war, mit vergnügtem Gesicht das zahlreiche Publikum überschauend, und sich den reichen Gewinn dieses Abends berechnend, stand Professor Barth auf und ging zu ihm hin.

„Sie sind also noch immer überzeugt, daß Ihre Tochter wirklich sehen kann?“ fragte der Professor.

„Nun, ich denke, Sie sind es eben so gut wie ich,“ sagte Herr von Paradies lächelnd. „Waren Sie nicht zugegen als Theresen zum ersten Mal die Binde abgenommen ward, gaben Sie nicht laut und öffentlich Zeugniß ab, daß sie wirklich sehend sei?“

„Ja, ich machte mir den Spaß,“ rief Herr Barth lachend, „wollte sehen, wie weit die Leichtgläubigkeit der Menschen gehe, wollte auch durch mein Zeugniß den Herrn Mesmer sicher machen, um ihn nachher desto sicherer zu fangen. Und ich denke, es ist mir gelungen, man erzählt sich schon allerlei seltsame Geschichten von Ihrer Tochter, welche gerade nicht dafür sprechen, daß sie besser sehen kann wie früher. Hat sie nicht vor einigen Tagen, als man ihr eine Blume zeigte, gemeint, daß sei ein gar schöner Stern? Und hat sie nicht auch, obwohl sie sehen kann, mit der Nadel, die sie zum Haar ihrer Mutter führen wollte, sich in die Wange gestochen?“

„Allerdings, dergleichen kommt vor,“ sagte Herr von Paradies lächelnd, „aber das gerade spricht für ihr Sehen. Sie ist noch wie ein junges Kind, das die Namen der Dinge, die sie umgeben, nicht kennt und sie oft verwechselt; auch hat sie noch keinen Begriff von Entfernungen, und die entfernten Gegenstände scheinen ihr oft nahe, daß sie nach ihnen greift, die nahen so entfernt, daß sie gerade auf sie zugeht und sich an ihnen stößt. Aber das Alles wird sich durch die Uebung verlieren, und wenn Therese, wie das bald geschehen kann, ganz allein durch die Straßen geht, so wird wohl Niemand mehr zweifeln, daß sie sehen kann.“

„Sie also sind fest davon überzeugt?“

„Ja, ich bin fest davon überzeugt!“

„Es ist von Ihnen wahrhaft großmüthig, dies so offen zu bekennen,“ sagte Professor Barth, ihn starr ansehend. „Dies Bekenntniß wird Ihnen viel Geld kosten!“

„Wie,“ fragte Herr von Paradies erschrocken, „wie kann es mir Geld kosten, wenn Therese sehen kann?“

„Nun, das ist ganz einfach,“ sagte Professor Barth gleichgültig. „Haben Sie, oder vielmehr hat nicht Ihre Tochter eine Pension von der Kaiserin?“

„Gewiß, und eine sehr bedeutende.“

„Nun, diese Pension werden sie natürlich verlieren,“ fuhr Professor Barth fort, indem er mit Vergnügen das plötzliche Erblassen und Zittern des Herrn von Paradies bemerkte. „Die Kaiserin hat diese Pension an Ihre Tochter gegeben, weil sie blind war, jetzt, da sie sehen kann, bedarf sie dieser Pension nicht mehr, weil sie nun selber für sich sorgen kann. Eine Pension, welche nur der Blinden bewilligt worden, kann der Sehenden nicht zu Gute kommen! Ich selber habe heute bei dem zweiten Leibarzt Ihrer Majestät, dem Herrn von Störk, darauf angetragen, daß, wenn sich heute das Sehen Ihrer Tochter bestätigt, Herr von Störk die Kaiserin ersucht, ihr die Pension zu entziehen, um sie einer andern Bedürftigen zuzuwenden.“

„Aber wissen Sie,“ sagte Herr von Paradies entsetzt, „daß Sie dadurch mich und meine ganze Familie in’s Elend stürzen würden? Wir haben nichts als diese Pension, und sie ist groß genug, daß wir anständig von ihr leben können. Wenn uns dieselbe entzogen wird, sind wir Bettler!“

„Pensionen können doch nur Solchen bewilligt werden, die sich entweder um den Staat verdient gemacht oder durch unverdientes Unglück Ansprüche auf eine Staatsunterstützung haben. Der erstere Grund ist bei Ihnen nie vorhanden gewesen, der zweite Grund fällt weg, sobald Ihre Tochter nicht mehr blind ist. Sie ist durch die Gnade der Kaiserin zu einer Künstlerin ausgebildet, und damit ist ihr ein Kapital gegeben, das sie jetzt verwerthen kann. Sie wird Unterricht ertheilen und Concerte geben.“

„Aber es ist unmöglich, davon mit einer Familie zu leben,“ sagte Herr von Paradies ängstlich.

„Sie werden vielleicht nicht so bequem und anständig leben können, wie von der großmüthigen und großartigen Pension der Kaiserin, aber enfin, Sie werden wenigstens das Nothdürftigste haben und nicht zu verhungern brauchen. Die kaiserliche Pension aber bekommt eine arme blinde Gräfin, die ich seit einiger Zeit behandele, und die nach meiner Meinung ebenso unheilbar blind ist, wie Ihre Tochter es war. Ich habe Alles mit dem Herrn von Störk verabredet. Schon morgen früh wird die Kaiserin die Pension, welche bisher das blinde Fräulein von Paradies erhielt, und die ihr jetzt nicht mehr zusteht, auf die blinde Gräfin Dalkeith übertragen, und diese, das versichere ich Sie, wird die Pension ihr Leben lang behalten, denn sie wird niemals daran denken, sich von Herrn Mesmer curiren zu lassen.“

„Aber, mein theuerster Herr Professor,“ flüsterte Herr von Paradies, „haben Sie doch Erbarmen mit mir, mit meiner ganzen Familie. Seit sechzehn Jahren haben wir diese Pension, und sie ist uns zugesichert für Theresens ganze Lebensdauer. Sie uns jetzt nehmen, heißt eine ganze Familie in’s Elend stürzen!“

„Wenn Ihre Tochter sehen kann, verliert sie die Pension, und meine Gräfin bekommt sie. Herr von Störk hat mir sein Ehrenwort gegeben, und die Kaiserin hat ihm noch niemals eine Bitte abgeschlagen, weil er niemals Ungerechtes bittet.“

„So sind wir also verloren,“ murmelte Herr von Paradies dumpf in sich hinein.

„Alles kommt darauf an, ob Ihre Tochter wirklich sehen kann,“ sagte der Professor mit scharfer Betonung. „Wenn sie blind ist, sind Sie gerettet, denn Sie behalten die Pension, und es ist möglich, daß Herr von Störk dann die Kaiserin bewegt, dieselbe noch ein wenig zu erhöhen, in Anbetracht der vielen Leiden und Täuschungen, die Sie und Ihre Familie erduldet haben. Nun, das Alles wird sich ja heute Abend noch entscheiden, und wir Alle werden dann wissen, was wir zu thun haben!“

Er grüßte Theresens Vater mit einem flüchtigen Kopfnicken und kehrte zu seinem Platz zurück, von wo aus er seine Blicke auf das junge Mädchen hinwandte, das bald darauf in den Saal trat.

Ein allgemeines Gemurmel, eine sichtbare Aufregung entstand in dem Publikum. Jedermann erhob sich ein wenig, um Therese anzusehen, die, obwohl man sie seit Jahren kannte, doch heute Alle als eine fremde, nie gesehene Erscheinung interessirte. Eine Blinde, welche alle Aerzte, sogar der berühmte Augenarzt Professor Barth, für unheilbar erklärt hatten, und die Mesmer jetzt durch seine bloße Berührung, durch das bloße Auflegen seiner Hand curirt hatte, das war wohl geeignet, Staunen und Neugierde zu erregen, und selbst das eleganteste Publikum in einige Aufregung zu versetzen.

Vielleicht war Therese sich dieses Eindrucks bewußt, den ihre Erscheinung erregte, denn während sie sonst, wenn sie als Blinde Concerte gab, leicht und lächelnd in den Saal getreten war, kaum geleitet von der Hand ihrer Mutter, schlich sie jetzt schüchtern mit niedergeschlagenen Augen, mit gebeugtem Haupt, linkisch in jeder Bewegung, langsam daher. Sonst hatte das Publikum, sobald Therese in dem Saal erschien, sie mit lautem Applaus begrüßt, heute empfing es sie schweigend, athemlos, in der Spannung der Neugier, alle gewohnte Freundlichkeit gegen die Künstlerin vergessend.

Mit staunendem Interesse sah man indeß wie Therese jetzt langsam den Raum durchschritt, welcher zwischen der Thür und dem in der Mitte des Saals aufgestellten Flügel sich befand. Vielleicht durch ein Versehen oder mit Absicht, standen drei Stühle dicht zusammengestellt, gerade in ihrem Weg. Therese umging sie mit Leichtigkeit, und kam an ihnen vorüber, ohne sie auch nur mit dem Saum ihres weißen Atlaskleides zu berühren.

Eine allgemeine Bewegung entstand in dem Saal. „Sie sieht wirklich! Sie ist wirklich geheilt! Sie ist nicht mehr blind!“ flüsterte und murmelte das Publikum unter einander, und mit erneuerter Theilnahme schaueten Alle wieder auf sie hin.

Drei Personen waren es indessen, auf welche dieses Beifallsgemurmel des Publikums einen ganz andern und verschiedenen Eindruck machte.

Professor Barth vernahm es mit innerer Wuth und legte seine Stirn in finstere Falten, Herr von Paradies erblaßte und fühlte sich von tödtlicher Angst ergriffen, Mesmer aber, welcher da drüben unweit des Flügels an der Wand lehnte, vernahm dieses Beifallsgemurmel mit unaussprechlichem Entzücken, und seine großen, leuchtenden, Augen wandten sich mit einem strahlenden Ausdruck des Glückes auf Therese hin.

Und wie von diesem Blick und diesem Anschauen bezaubert, schlug jetzt Therese von Paradies ihre Augen auf und wandte sie mit einem freudigen Ausdruck gerade hinüber auf Mesmer.

[327] Wieder entstand ein Gemurmel des Beifalls, denn der strahlende, seelenvolle Blick dieser Augen, welche sonst immer stier und seelenlos in das Leere geschaut, war ein neuer Beweis, daß Therese wirklich sehen konnte.

Aber dieses Gemurmel des Publikums erinnerte das junge Mädchen, welche bis jetzt nur Mesmer gesehen, daran, daß sie nicht allein mit ihm sei. Gleichsam erschrocken, wandte sie das Auge von ihm ab und richtete es jetzt zum ersten Mal auf das Publikum, auf dieses Publikum, das da, Kopf an Kopf gedrängt, mit glühenden Augen, mit Blicken kalter prüfender Neugierde sie anstarrte.

Das Anschauen dieser Masse Menschen, diese vielen Gesichter, diese blitzenden Augen, dieses viele Durcheinander machte Therese stutzen und erfüllte sie mit einem unerklärlichen Gefühl der Angst und des Entsetzens. Sie that einen Schritt rückwärts als wolle sie zurückweichen vor diesen vielen Augen, welche auf sie eindrangen, dann griff sie hastig mit ihren Händen umher als suche sie nach einem Stützpunkt, um nicht umzusinken, und sah doch den Stuhl nicht, der dicht neben ihr stand, und auf den sie sehr bequem ihre Hand hätte lehnen können.

Staunend blickte das Publikum sie an, und jetzt waren es die Gesichter des Professor Barth und des Herrn von Paradies, welche einen freudigen Ausdruck annahmen, während Mesmer’s Antlitz sich umdüsterte und eine finstere Wolke sich auf seine Stirn lagerte.

Therese stand noch immer schwankend allein da, verwirrt einige Schritte vorwärtsgehend, und dann wieder angstvoll und zitternd still stehend.

In athemlosem Schweigen starrte das Publikum sie an, und inmitten dieses Schweigens vernahm man auf einmal aus dem Hintergründe des Saals eine Stimme, welche rief: „will denn Niemand dem armen Mädchen die Hand reichen und sie zum Flügel führen? Man sieht ja, daß sie noch immer blind ist!“

Therese zuckte zusammen und schleuderte einen zornigen Blick hinüber nach jener Richtung, von woher die Stimme erschallte.

„Ich bin nicht blind!“ rief sie heftig und als habe diese Beschuldigung ihr ihre ganze Energie und Thatkraft wieder gegeben, schritt sie rasch vorwärts und ging gerade auf das Instrument hin.

Ein rauschender Sturm des Beifalls erschallte durch den ganzen Saal, Therese dankte mit einem freundlichen Lächeln und einer Verneigung, und während sie dann die Handschuh auszog, um zu spielen, blickte sie hinüber zu Mesmer, dessen Stirn jetzt wieder heiter war, und der sie anschauete mit strahlenden Augen.

Ganz befangen von diesem Anschauen, kaum wissend, was sie that, glitt das junge Mädchen auf den Sessel nieder und begann zu spielen. Nicht einmal, während sie spielte, warf sie den Blick auf die Tasten hin, nicht einmal sah sie hinüber nach dem Publikum, wie gebannt schauten ihre Augen hinüber nach Mesmer, dessen Blicke den ihren begegneten und sich mit gebieterischem Willen in ihr Antlitz bohrten. Und unter diesen Blicken jauchzte ihre Seele auf in Entzücken und Wonne, wie getragen von Begeisterung flatterten ihre Finger über die Tasten hin, in schmelzenden und weichen, in starken und mächtigen Klängen alle diese so glühenden und gewaltigen, so geheimnißvollen und zarten Gefühle verkündend, welche die Seele des jungen Mädchens erfüllten.

Man hatte Therese oft schon so auf dem Flügel in freien Phantasien sich ergehen hören, aber niemals waren ihre Phantasien so voll der edelsten Musik, niemals mit so vollendeter Meisterschaft ausgeführt gewesen.

Als Therese daher geendet hatte, und mit einem Seufzer, als erwache sie eben aus einem entzückenden Traum, ihre Hände von den Tasten gleiten ließ, brach das Publikum wieder in einen lauten, einstimmigen Applaus aus, aber dieser Applaus galt diesmal nicht den Augen Theresens, sondern ihrer Künstlerschaft und ihrem wunderschönen Spiel. Therese fühlte das, und mit einem wunderlieblichen Lächeln ihr Haupt dem Publikum zuwendend, grüßte sie es mit einer leichten Verbeugung.

Aber mit dieser freien Phantasie sollten für heute die Produktionen der Künstlerin beendet sein, und die Productionen der geheilten Blinden beginnen. Herr von Paradies hatte in den Annoncen, welche das Concert seiner Tochter betrafen, das Publikum aufgefordert, Notenhefte und Bücher mitzubringen, damit Therese das Publikum von ihrer Heilung überzeuge, indem sie nach den ihr unbekannten Noten spiele und aus den fremden Büchern lese.

Diesem Programm zufolge trat jetzt Herr von Paradies, welcher sich, während seine Tochter spielte, in finsterm, unheilvollem Nachsinnen in eine Fensternische zurückgezogen hatte, an das Instrument heran, und sich tief vor dem Publikum verneigend, sprach er mit lauter Stimme: „Ich ersuche diejenigen verehrten Damen und Herren, welche meiner Bitte gemäß Noten oder Bücher mitgebracht haben, sie gefälligst mir überliefern zu wollen, damit ich sie meiner Tochter gebe, und sie aus denselben spiele oder lese, auf daß das geehrte Publikum selbst erkennt und entscheidet, ob Therese sehend oder blind ist. Ich ersuche Sie um so mehr, mir diesen Liebesdienst zu erzeigen,“ fuhr Herr von Paradies mit zitternder Stimme fort, „als mein geängstetes Vaterherz durch diese Probe doch endlich seine Zweifel gelöst sehen, und mit Bestimmtheit erfahren wird, wer Recht hat, der Herr Doctor Mesmer, welcher behauptet, daß meine Tochter sehen kann, oder ich, welcher leider befürchtet, daß sie noch immer blind ist!“

Ein Gemurmel des Erstaunens durchrauschte das Publikum, ein Schrei des Entsetzens tönte von Theresens Lippen, und mit einem Ausdrucke schmerzlichen Flehens richtete sie ihre Blicke hinüber zu Mesmer, der todesbleich, wie gelähmt vor Schrecken, unbeweglich dastand, und in dessen Augen für einen Moment das mächtige Feuer erloschen war, mit dem er sonst Alle, die ihn anschauten, zu bannen wußte.

Professor Barth hatte mit einem behaglichen Lächeln diese schnelle, unerwartete Scene beobachtet, und sich an Doctor Ingenhaus wendend, flüsterte er diesem einige Worte zu.

Aus den Reihen des Publikums erhoben sich jetzt zwei Herren und näherten sich Herrn von Paradies. Der Eine überreichte ihm ein Buch, der Andere ein Notenheft.

Herr von Paradies hielt Beides seiner Tochter hin. Sie griff, mit einem vorwurfsvollen Blick auf ihren Vater, zuerst nach dem Buch und schlug es auf.

„Emilia Galotti von Gotthold Ephraim Lessing“, las sie mit lauter, silberheller Stimme.

„Sie kann sehen! Es ist unzweifelhaft, sie sieht!“ flüsterten die Zuschauer untereinander. „Sie konnte doch nicht wissen, was für ein Buch man ihr gab! Sie ist nicht mehr blind!“

Theresens scharfes Ohr hatte dieses Geflüster mit Entzücken vernommen, und sie wollte jetzt dem Urtheil des Publikums eine neue Bestätigung geben.

Sie wandte sich daher wieder dem Publikum zu, und mit einem bezaubernden Lächeln sagte sie: „ich bitte eine der Damen um die Gefälligkeit, mir die Seite bezeichnen zu wollen, welche ich lesen soll, und eine andere Dame, gnädigst hierher zu kommen, und zuzusehen, ob ich die Seitenzahl richtig treffe.“

Sofort erhoben sich zwei Damen. Die Eine, den vornehmsten und größten Kreisen Wiens angehörend, näherte sich Theresen, die andere, eine allbekannte und berühmte Künstlerin des Theaters, sprach: „Ich bitte, Fräulein Therese, gefälligst Seite 71 aufschlagen zu wollen.“

Therese blätterte mit hastiger Hand in dem Buch und reichte es dann lächelnd der Gräfin hin.

„Es ist richtig, meine Liebe,“ sagte die Dame freundlich. „Seite 71! Haben Sie die Güte, zu lesen!“

Immer höher stieg jetzt der Enthusiasmus des gläubigen Publikums. Man flüsterte es jetzt nicht mehr, sondern man sagte es ganz laut: „Sie kann sehen! Es ist keine Lüge! Die Wunderkur ist eine Wahrheit!“

Und immer grollender ward das Gesicht des Herrn Professor Barth, immer ängstlicher und bleicher das des Herrn von Paradies, immer freudiger und strahlender das des Doctor Mesmer.

Therese hatte gewartet, bis die gefällige Gräfin auf ihren Platz zurückgekehrt war, alsdann las sie die ihr von der Schauspielerin bezeichnete Seite des Lessing’schen Trauerspiels, das erst seit kurzer Zeit in Wien bekannt geworden war.

Ein Jubel, stärker noch als derjenige, mit welchem man ihr meisterhaftes Klavierspiel belohnt hatte, erschallte jetzt, als die Lektüre beendet war. Er galt indeß nun nicht wieder der Künstlerin, sondern der geheilten Blinden.

Und aus dem Hintergründe des Saales rief jetzt eine Stimme: „Ich dächte, es wären genug der Proben, und Fräulein von Paradies erfreute uns lieber mit einer ihrer herrlichen musikalischen [328] Leistungen. Jedermann wird sich wohl jetzt überzeugt haben, daß das Fräulein nicht mehr blind, sondern vollkommen sehend ist.“

Eine allgemeine Stille folgte diesen Worten. Herr von, Paradies war es, welcher dieselbe unterbrach.

„Ich kann mich der Meinung des geehrten unbekannten Gönners des Doctor Mesmer nicht anschließen,“ sagte er mit scharfer Betonung. „Ich suche in diesem Streit ganz zu vergessen, daß ich der Vater des Fräuleins von Paradies bin, und stelle mich auf Seiten des zweifelnden, ungläubigen Publikums, welches durchaus mit positiver Bestimmtheit erfahren will, ob wirklich in unsern Tagen noch Wunder geschehen, und ob es möglich ist, daß ein Mensch wie wir durch das bloße Auflegen seiner Hand Lahme gehend und Blinde sehend machen kann.“

„Der Mann spricht plötzlich sehr vernünftig,“ murmelte Professor Barth seinem Freunde zu.

Herr von Paradies fuhr fort: „Indem ich mich aber so auf Seiten des zweifelnden Publikums stelle, muß ich mir eingestehen, daß die eben geleistete Probe mich nicht hat überzeugen können, ja daß es möglich wäre, Zweifel an ihrer Aechtheit zu erheben. Es wäre möglich, zu denken, daß Herr Doctor Mesmer die große Künstlerin, welche die Gnade hatte, die Seitenzahl zu bestimmen, um die Gunst angefleht hätte, gerade diese Seitenzahl zu nennen, und daß sie es in der Großmuth ihres Zutrauens zu Mesmer, der seit einiger Zeit ihr Arzt ist, ihm bewilligt hätte. Es wäre möglich, daß die gnädige Gräfin nicht bemerkt hätte, daß gerade die Seite durch einen schrägen Kniff am obern Ende bezeichnet war, und demgemäß auch von einer Blinden leicht gefunden werden konnte. Daß dem aber so ist, davon bitte ich Jedermann sich zu überzeugen.“

Er nahm das Buch, welches Therese eben auf das Instrument gelegt hatte, und blätterte darin.

„Hier ist Seite 71, und hier ist der Kniff!“ sagte er, das aufgeschlagene Buch in die Höhe haltend.

„Vater, Du hast soeben einen Kniff in das Papier geschlagen, ich hab’s gesehen!“ rief Therese, alles Andere vergessend, glühend vor Zorn.

Ihr Vater wandte das Haupt halb zu ihr hin. „Gesehen!“ sagte er achselzuckend, und sich dann wieder dem Publikum zuwendend, fuhr er fort: „Es wäre ferner möglich, daß der Herr Baron von Horka, einer der gläubigsten Mesmerianer, welcher die Güte hatte, das Buch hier mir zu übergeben, im Auftrage Mesmer’s gerade dies Buch gebracht, und daß Therese dies durch Mesmer erfahren habe. Wer von einer Sache gründlich überzeugt zu sein wünscht, muß mit dem größten Mißtrauen diese Sache prüfen. Nur von dem glühenden Verlangen beseelt, fest und unumstößlich, von der Heilung meiner geliebten Tochter überzeugt zu werden, ersuche ich das hochgeehrte Publikum, zu erlauben, daß Therese jetzt auch versuche, aus diesen Noten zu spielen.“

Das Publikum gab durch allgemeines Applaudiren seine Zustimmung zu erkennen, und Herr von Paradies reichte daher das Notenheft seiner Tochter dar.

Sie achtete nicht darauf und nahm es nicht an. Sie schien ganz und gar der Gegenwart entrückt, sich gar nicht bewußt zu sein, was hier geschah. Die Hand aufgestützt auf die Lehne des Stuhls, welcher vor dem Instrument stand, schaute sie hinüber zu Mesmer, dessen große, glühende Augen jetzt wieder mit feuriger Glut auf sie gerichtet waren, dessen wunderbar schönes und stolzes Angesicht mit dem Ausdruck eines gebietenden Herrschers ihr zugewandt war. Ihre Blicke wurzelten fest in einander, und aus den seinen schien Therese Trost und Freudigkeit zu empfangen, denn ihre Wangen, welche, während ihr Vater sprach, anfangs marmorbleich geworden, strahlten jetzt wieder im schönsten Incarnat, und ein glückliches Lächeln umspielte ihre schmalen Lippen.

Ihr Vater hielt ihr noch immer, das Notenblatt hin, ohne daß sie es bemerkte. Im Publikum entstand ein leichtes Murren und Zischeln, eine unruhige Bewegung und sofort wandte Mesmer seine Blicke von Theresen ab, dieser Menge zu, welche ihn heute schon so vielfach in Aufregung versetzt hatte.

Jetzt durchflog ein leichten Beben Theresens ganze Gestalt, und wie aus einer seligen Verzückung erwachend, wandte sie den Blick wieder der Erde zu.

Mit einer Geberde des Schreckens nahm sie das aufgeschlagene Notenblatt aus den Händen ihres Vaters, der sie mit einem kalten, spöttischen Lächeln anblickte, und legte es auf das Pult vor dem Instrument.

„Marsch aus Oedipus von Gluck!“ sagte sie mit lauter Stimme, indem sie sich vor dem Instrument niedersetzte.

„Mein Gott, Therese, Du liesest den Titel, ohne das Titelblatt aufgeschlagen zu haben?“ fragte ihr Vater laut.

Sie schrak zusammen und schlug die Augen zu ihm empor. „Ich habe ihn vorher schon gelesen, als der Herr Kapellmeister Ritter von Gluck die Güte hatte, die Noten zu überreichen.“

„Wie, Du kennst den Herrn Ritter von Gluck?“ fragte ihr Vater verwundert. „Er ist niemals in unserm Hause gewesen.“

„Ich habe ihn bei Herrn Doctor Mesmer gesehen,“ antwortete sie schüchtern.

„Ah, der Ritter von Gluck, der die Noten brachte, ist also gleich dem Baron von Horka, der das Buch überreichte, auch ein Freund des Herrn Doctor Mesmer!“ rief Herr von Paradies mit einem Lachen, welches seine Tochter erbeben machte. Um ihn zum Schweigen zu bringen, legte sie ihre Finger auf die Tasten, und begann ein Präludium, das durch feine Kunstfertigkeit, seine perlenden Läufe, seine klaren doppelten Triller, seine kunstvollen harmonischen Uebergänge Jedermann entzückte und in Staunen versetzte.

(Schluß folgt.)




Ein Abend bei Levassor während seines Gastspiels in Leipzig.

Es ist ein wohlthuender Anblick, wenn man alte Herren weinen sieht – vor Lachen, wenn junge Damen ihre glühenden Gesichter kichernd hinter Fächer oder Taschentuch verstecken, wenn sonst trockne Käuze sich ausschütten wollen vor Vergnügen, wenn selbst der vornehme Mann auf einen Augenblick die Contenance verliert – und all’ diese Gemüthsbewegungen durch einen Einzigen hervorgerufen werden, der von der Bühne herab die Herzen seiner Zuschauer gleichsam an einer Drahtsaite hat, die er so geschickt anzuschlagen weiß, daß sie bei Jenen genau so wiederklingt, wie der Spielmann es wollte.

Ein solcher Spielmann ist Levassor, französischer erster Komiker, der uns in einem Spiegel eine Reihe von Charakteren zeigt, die unsere angeregte Lachlust oft bis zur Ausgelassenheit steigern. Dieser Spiegel des Künstlers ist die Wahrheit seines Spiels, die Klarheit und Bedeutsamkeit seiner Gesten und Attitüden[WS 1], der sprechende Ausdruck seiner Mimik, die feinste Charakteristik menschlicher Schwächen, Lächerlichkeiten, Absurditäten, die hinreißende Gewandtheit seiner Zunge – kurz, sein Genie, das hier im Auslande eben so zündet, als auf heimischem Boden.

Levassor erschien an jenem Abend zuerst in einem kleinen Lustspiel als Sir John Esbrouff, wobei er von Fräulein Teisseire vom Théâtre du Gymnase, einer höchst anziehenden Erscheinung, und einigen weniger bedeutenden Kräften, unterstützt wurde. Dieser Sir John, ein Typus der aufgeblasensten Bornirtheit und des englischen Phlegma’s, mit steifem, eingezogenem Rücken, schläfrigem Auge, wohlgepflegtem Backenbart, und dabei fortwährend die Hände in den Rocktaschen, hat eine unbeschreibliche Wuth, die er durch die Zähne herauszischt, über einen jungen französischen Maler, weil dieser ihn karrikirt hat. Einige Tausend Exemplare der schändlichen Conterfei’s hat er schon verbrannt, und immer schießen wieder Hunderte wie Pilze aus der Erde! Zudem ist noch Monsieur Léonard der Geliebte seiner Mündel, Miß Georgine, die er selbst liebt und heirathen will. Der Zufall führt ihn mit dem Maler Léonard zusammen, er fordert ihn auf Pistolen – schießt jedoch fehl, weil, während er auf seinen Gegner zielt, dieser schnell sein Skizzenbuch heraus nimmt, ihn portraitirt, worüber dieser außer sich vor Wuth ist, und nach gefallenem Schuß starr vor Verwunderung dasteht, daß der Maler nicht todt im Sande liegt.

Diese ganze Scene – erst das lange Zielen, dann das unbeschreiblich einfältige Gesicht, mit dem er seinen Gegner fragt: „Sie sind

[329]

Sir John Esbrouff. Ein Chorist. Ein alter Tanzmeister.
Damen-Friseur. Poltron. I. Advocat. Prückemacher.
Ein alter Präsident. Mr: Levassor. Ein Richter.
I. Advocat. Ein Dandy.

[330] nicht todt?“ spielte Levassor unnachahmlich. Nachdem er sich, zuletzt sogar durch vorsichtiges Betasten überzeugt hatte, sein Schuß sei fehl gegangen, zeigten sich in seinem Wesen die lächerlichsten Symptome von Unbehaglichkeit und Verlegenheit, jedoch verleugnete er dabei keinen Augenblick den vornehmen Mann, den Gentleman. Sich mehrmals an den Hals fühlend, die Brauen heftig zusammenziehend, stellt er nun sich seinem Gegner zur Disposition. Mr. Léonard zielt lange – aber Sir John wartet den ominösen Schuß nicht ab. Mit mächtigen Schritten kommt er vor, tritt hart an den Maler heran, schlägt leicht mit dem Lauf seines Pistols an das seines Gegners und fragt äußerst ruhig: „Was kostet das – ich will Ihnen den Schuß abkaufen etc.“ Diese allerdings höchst drastische Wendung der Situation erhebt den Darsteller zum Gipfelpunkt seiner Rolle.

Das Stückchen schloß, wie alle solcher Gattung, mit einer Verbindung der Liebenden und einem Gefoppten – hier war es natürlich Sir John.

Von jetzt an beherrschte Levassor allein die Bühne, indem er nach und nach eine Reihe komischer Scenen vorführte, von denen die vorletzte: „Die Liebesabenteuer eines Friseurs“ jedenfalls das Bedeutendste war, was man auf der Bühne gesehen hat, und wodurch der Künstler seinen schönsten Triumph feierte.

Angesichts des Publikums entwickelte er acht Charaktere, verschieden in Maske, Sprachton und Haltung! – Ein junges, blondes, gelocktes Herrchen erscheint vor uns in der Gestalt des Damenfriseurs. Alles ist zart und süß in ihm, Alles scheint von Odeurs und Pomaden zu duften und der dünne Haarkranz, der sich um das sonst völlig kahle Haupt schlingt, ist auf’s Sorgfältigste gekräuselt. Nur in diesem Augenblick scheint er entrüstet zu sein; wüthend wirft er den Hut in eine Ecke des Zimmers, denn er glaubt seine Pamela treulos. Eine Menge Perrücken stehen zierlich geordnet auf saubern Stöcken umher, deren Anblick den Besitzer nur noch wüthender zu machen scheint, und die er sogar verbrennen will, nachdem er ihnen feierlich Lebewohl gesagt hat. Aber nach einem langen Monolog scheint sich sein heißes Blut abzukühlen. Er gedenkt alles dessen, was er erlebt hat – wie viele Menschen er auf seinem Wanderpfade kennen gelernt hat – er erinnert sich dieses Advokaten, jenes Richters und des alten Präsidenten. Er spricht mit Verachtung von dem jammervollen Perrückenmacher, von dem unausstehlichen Poltron, aber mit Ehrfurcht von einem jungen, feinen Dandy. Kaum hat er seinen Monolog geschlossen, tritt er zum Spiegel, nimmt die nächste Perrücke vom Stock, stülpt sie im Nu über, wirft rasch seinen Paletot ab, und vor uns steht im eleganten Salonfrack ein Modegeck, oder was dasselbe ist, ein Dandy comme il faut. Kaum haben wir Zeit über diese Metamorphose frappirt zu sein, bekleidet sich der Friseur im Fluge mit einem gelben, schwerstoffenen Schlafrock, den er bis an die Ohren zieht, schneeweißes Haar bedeckt seinen Kopf (diese Verwandlungen geschehen immer, indem er uns dabei leicht den Rücken zuwendet), und zeigt uns einen jener alten Präsidenten, die „mit wenig Witz und viel Behagen“ ihre große unverdiente Pension verzehren, und ewig lächeln, ewig schmunzeln. Der gelbseidene Schlafrock, das silberweiße Haar verschwindet – ein Perrückenmacher offerirt seine Dienste zum geneigten Wohlwollen - - nicht so der Poltron, der uns beinahe zu haranguiren scheint. Als der alte Präsident seinen Schlafrock auszog, wendete er ihn vollständig um, so daß ein schwarzer Talar daraus wurde. Der zarte Friseur stellt einen Stuhl mitten auf die Bühne – in einem Moment sehen wir den ersten Advokaten (wir befinden uns jetzt plötzlich in den Assisen), mit einem sehr wunderlichen Haarschmuck, in den Talar gehüllt, wie er hinter dem Stuhle steht, und sich gewichtig auf die Lehne desselben stützt, um seine Vertheidigungsrede zu beginnen. Dieser Herr scheint seiner Sache sehr gewiß; er kneift die Augen zusammen, räuspert sich nach jeder Periode und exponirt im schwerfälligsten Predigertone. Da fliegt auf einmal die vogelnestartige Perrücke herunter, und auf dem Stuhle sitzt ein altersschwacher, gebückter Greis mit zahnlosem Munde – das ist der Richter!

Man versteht ihm, wie vielen Richtern, kein Wort, weil er an jedem einzelnen kaut, ehe er es ausspricht. Kurz, der ganze Mensch ist eine jener absterbenden Maschinen, die nur noch aus einer falsch verstandenen Pietät vor Alter und Dienstjahren in Amt und Würden geduldet werden, und ein Hemmschuh der jüngeren Generation sind. – Mit Mühe erhebt sich endlich der alte Mann. – Plötzlich steht hinterm Stuhle – aber nicht der erste, nein, schon der zweite Advocat, ein fanatischer Mensch mit geisterbleichem Antlitz, eingefallenen Wangen, tiefliegenden Augen und spärlichem Haar, das wie lange Fäden über Stirn und Schläfe herabhängt. Seine durchdringende Stimme spielt in den höchsten Tönen, sein Auge schleudert Blitze, seine Faust ist geballt, und mit dem vorgestreckten Zeigefinger scheint er die Luft durchbohren zu wollen, so rasch, so unbändig, so wild sind seine Gesten und seine Mimik. Aber noch hat er nicht die Spitze seiner Rede erreicht, mit der er das Publikum, das heißt, die Geschworenen vollständig gewinnen will. Weit beugt er sich mit dem Oberkörper vor, schwingt das rechte Bein über die Stuhllehne, stützt den Ellenbogen auf das Knie, und in dieser herausfordernden Stellung raset er weiter. Es ist dieser Mensch ein treues Abbild jener furchtbaren Naturen, wie sie nur der Süden erzeugt, die Blut wie Tinte mit gleicher Leichtigkeit verspritzen, in deren Nähe uns ein heimliches Grauen anwandelt, selbst wenn sie zu lächeln versuchen. – Wir waren noch nicht zu Athem gekommen – und der alte Richter, das durch und durch gebrochene Männlein saß wieder auf seinem Stuhle und murmelte einige unverständliche Worte – doch gleich darauf sehen wir hinterm Stuhle wieder den ersten Advocaten, der eben beginnen will, als ihn schon wieder der wüthende Zweite verdrängt, der dann auch das Feld behauptet, bis wir durch das Niederrauschen der Gardine daran erinnert werden, daß hier nicht über Leben und Tod gesprochen – sondern nur Comödie gespielt wird.

Die beiden Scenen, die dieser großartigen vorausgingen: „Adelaide“ und die „Pirouetten eines alten Tanzmeisters,“ waren, wenn auch nicht von so hoher künstlerischer Bedeutung, doch nicht minder geistvoll und lebendig ausgeführt. In „Adelaide“ stellt Levassor einen jungen Menschen dar, der mit vielem Selbstgefühl in einem Cirkel obiges Lied vortragen will, und niemals weiter kommt als bis „Adelaide!“ Er erschien hierbei ohne jede Zuthat von Schminke und Kostüm – sondern rein als Herr Levassor in modernem Kleid, was diese höchst ergötzliche Leistung nur um so anerkennungswerther machte. – Die „Pirouetten des alten Tanzmeisters“ zeigten uns einen Künstler dieser Gattung aus der Kaiserzeit, was seine Titus-Perrücke nicht bezweifeln ließ. Dieser stellt das Tanzen über alle andern Künste, behauptet, nur mit den Beinen ließe sich ein Gedanke gehörig ausdrücken, viel deutlicher, viel präciser als durch Rede und Gesang. Dabei sieht der arme Teufel doch ein, daß es mit ihm nicht mehr recht gehen will – immer muß er sich daran erinnern, nicht so krumm zu gehen, aber dennoch verachtet er die Epigonen gründlich.

Eine Dame von sehr geläutertem Kunstgeschmack äußerte einmal in der Oper: „Ja, die Chöre hätte ich schon gern, wenn es nur keine Choristen gäbe.“ Levassor commentirt diese Aeußerung am Glücklichsten durch die Darstellung seiner „Choristen.“ Welch’ lächerliche Geschmacklosigkeit in Kostüm wie Erscheinung, welche Versumpftheit, und dabei welcher Dünkel – denn dieser Chorist spricht immer von seinem Freunde Talma, der nur mehr Glück gehabt habe als er! Gleich dem alten Tanzmeister, der mit seinen Pirouetten zu beweisen sucht, wie allein in den Beinen der Ausdruck liege, so unser Chorist, der durch schreckliche Chorgesänge, durch Marschiren, Schwertziehen und Fechten, uns zeigen will, wie schwierig seine Stellung sei, die er in der Welt einnimmt. Der Levassor-Chorist schreit wie wirkliche Choristen, er schlägt mit der Stimme über wie seine Leidensgefährten, kratzt sich am Halse während eines Trauerchors, und starrt dabei gedankenlos und unverschämt in’s Parterre und von da zur Gallerie hinauf.

Dieser Chorist wird unvergeßlich bleiben, und wir wollen nur noch von den Urbildern wünschen, sie möchten sich bestreben, bald nicht mehr zu sein wie dieser!

Levassor nahm Abschied von uns – anerkannt und bewundert. Betritt einmal ein großer deutscher Schauspieler die pariser Bühnen, so möge ihm das französische Publikum ebenso vorurtheilsfrei Beifall spenden, wie es das deutsche Publikum gegenüber unserm französischen Gaste gethan hat.

[331]
Das Auge des Menschen.
I. Symbolik des Auges.

Was das Licht in der Landschaft, ist das Auge in dem Menschengesichte, und wie Sonnenschein selbst einer traurigen Gegend eine gewisse Schönheit geben kann, so adelt und verschönt das Auge ein sonst wenig anziehendes Gesicht. Der Blick ist das Erste, das wir an einem Menschen beachten, der uns gegenübertritt, und aufmerksamer als auf die Worte oder auf den Ton der Stimme sind wir auf den Ausdruck des Auges. Gleicht der Zornblick in einem finstern Gesichte nicht dem Blitzstrahl, der aus schwarzen Wolken zündet? Und wie weit, wie unermeßlich weit bleibt selbst das innigste Liebeswort zurück hinter einem Liebesblicke, und wer gäbe nicht die aufrichtigste und wärmste Liebesbetheuerung für einen Blick in die Tiefe eines Liebe verkündenden Auges?

Die Schönheit des menschlichen Auges an sich hängt indeß wesentlich auch von seiner Umgebung, besonders des Schädels (der Stirn) ab. Es darf nicht zu groß sein, denn die Größe ist Thieren charakteristisch; bei Raubvögeln z. B. ist das Auge größer als das ganze Gehirn, und bei den meisten Säugethieren verhältnißmäßig viel größer als bei den Menschen. Große vorstehende Augen erinnern uns deshalb, uns selbst unbewußt, an niedriger stehende Geschöpfe, an rohe Körperkraft, keineswegs an Ueberlegenheit des Geistes. Das entgegengesetzte Extrem gibt aber eben so wenig einen günstigen Eindruck; nur bei wenigen Thieren liegen die Augen halb versteckt in ihren Höhlen, wie bei dem Maulwurfe, welcher aber auch nicht darauf angewiesen ist, das Himmelslicht zu sehen. Kleine versteckte Augen in einem Menschengesichte deuten nun zwar nicht auf geistige Beschränktheit, denn manche geniale Männer besaßen solche Augen, die unter buschigen Brauen gewaltig hervorblitzten, aber sie geben den Zügen ein verkümmertes oder schmerzliches Aussehen, und machen in der Regel den Eindruck, als wollten sie vor Andern die Seele mehr verbergen als enthüllen.

Die eigenthümliche Wirkung, welche die Größe des Augensterns (d. i. die bunte ringförmige Regenbogenhaut mit der runden schwarzen Pupille in ihrer Mitte und der durchsichtigen Hornhaut davor) hervorbringt, hängt mit seinem Verhältniß zu dem umliegenden Weißen des Auges zusammen. Je mehr Weiß man zwischen den geöffneten Augenlidern sieht, um so mächtiger der Eindruck. Bei Thieren wie bei Kindern ist der Augenstern verhältnißmäßig groß gegen das Weiß, daher der geringe Ausdruck. Bei dem Erwachsenen dagegen ist der Augenstern von Jahr zu Jahr kleiner geworden im Verhältniß zu den übrigen Theilen des Augapfels, und damit hat sich gleicher Weise der Ausdruck gesteigert. Das Vorwiegen des Weißen in dem Auge macht demnach einen bisher wenig berücksichtigten wesentlichen Unterschied zwischen dem thierischen und dem menschlichen Auge aus. Nur die großen Maler der frühern Zeit, z. B. Fiesole und seine ganze Schule folgten, vielleicht unbewußt, den von der Natur gegebenen Andeutungen. Sie wichen von dem wirklichen Verhältniß etwas ab und gaben ihren Engeln und Heiligen lange, weit geöffnete Augen mit vielem Weiß und einen nur kleinen dunkeln Augenstern in der Mitte. Jedem aufmerksamen Beschauer fällt es sofort auf, wie sehr der geistige Ausdruck des Auges dadurch erhöhet worden ist. Im gewöhnlichen Leben finden wir überdies, daß jenes Verhältniß eines kleinen Augensterns zu vielem Weiß den Eindruck von feinem Gefühl und großer Reinheit macht, während man bei dem Anblick großer Augensterne sofort an Kraft und Stärke denkt. Deshalb gaben wohl auch die griechischen Bildhauer und Dichter ihren Göttern und Helden große Augen; der alte Homer z. B. nennt die Juno fast nie anders als die „ochsenäugige.“

Auch die Stellung der Augen in ihrem Verhältniß zu den andern Theilen des Gesichtes ist nicht von geringerer Wichtigkeit.

Bei den niedern Thieren sind sie bekanntlich fast wie auf Geradewohl angebracht, weil der Gesichtssinn bei ihnen, wenn nicht ganz fehlt, doch sehr unvollkommen ist. Selbst bei den Insekten scheint er eben erst aus dem Tastsinn herauszutreten, welcher bei den einfacher organisirten Wesen denselben vertritt. Wahrscheinlich können sie z. B. keine Farben unterscheiden und kennen nur Licht und Dunkel. Bei den höhern Thieren haben die Augen fast stets eine schiefe Neigung nach der Nase hin; nur bei dem Menschen stehen sie horizontal. Portraitmaler und aufmerksame Beobachter haben indeß die Bemerkung gemacht, daß in den meisten Gesichtern das eine Auge etwas über oder unter der geraden Linie steht und höchst merkwürdig ist, daß man bei fast allen großen Denkern, bei fast allen genialen Menschen eine leichte Abweichung nach oben gefunden hat. Weichen beide Augen von der horizontalen Linie ab, wie es bei ganzen Racen, z. B. den Chinesen der Fall ist, so erhält das Gesicht einen höchst auffallenden Charakter. Wo eine Neigung nach dem innern Winkel zu als Ausnahme erscheint, soll sie religiöse Schwärmerei, begeisterte Frömmigkeit oder schlaue Heuchelei andeuten. Immer gibt sie dem Blicke etwas magnetisch Anziehendes und darum auch große Macht über Andere. Kummer und Sorge lies’t man leicht in Augen, deren äußerer Winkel niedriger ist als der innere, und der sonach der abfallenden Linie des Mundwinkels folgt; aber auch der träge Träumer wird dadurch charakterisirt.

Weit geöffnete Augen galten zu allen Zeiten und gelten heute noch in dem Oriente für ganz besondere Schönheit; die Orientalen lieben den sehnenden und verlangenden Ausdruck, den das Gesicht dadurch erhält, und manchem Mädchen in Georgien und Circassien werden in der Kindheit die Augenlider weiter aufgeschlitzt, um bei Zeiten ihre Schönheit für den Sclavenmarkt zu erhöhen. Das Auge der alten Egypter ist fast unnatürlich lang und weit geöffnet, was uns beweist, daß die Vorliebe dafür schon in uralter Zeit bestand. Aber auch bei uns finden sehr schmale Augen, wenn sie überdies sehr kurz sind, durchaus keine Gunst, und es kann nicht geläugnet werden, daß sie dem Gesicht etwas Schwerfälliges und Schläfriges geben.

Auch die Nähe, in welcher die beiden Augen zu einander stehen, ist von Bedeutung, und die, welche zu weit abstehen, gefallen so wenig wie die zu nahgerückten. Merkwürdig ist es, daß die Juden als Nation durch die letztere Eigenthümlichkeit charakterisirt werden, und davon, namentlich in den spätern Lebensjahren, einen eigenthümlichen, aber keineswegs angenehmen Ausdruck erhalten. Unter den Thieren sind die Affen so gezeichnet, und daher haben sie ihr Aussehen von komischer Pfiffigkeit.

Was der Rahmen für das Gemälde, ist das Augenlid für das Auge. Die Lider sind bewegliche Laden oder Jalousien vor den zarten Fenstern unsers Körpers und hüten dieselben sorgsam vor zu starkem Licht wie vor andern Gefahren. Es versteht sich ganz von selbst, daß ein wohlgestaltetes Auge mit hellem Blick nicht hinter schweren plumpen Vorhängen versteckt sein darf, und wenn wir nach Schönheit suchen, erwarten wir dünne und durchscheinende, nicht mit Fleisch und Fett ausgestopfte Lider. Die letztern geben dem ganzen Gesicht einen schweren phlegmatischen Ausdruck, die erstern aber nehmen uns sogleich für den Geist ein, der Licht liebt, selbst wenn er sich auf einige Zeit verhüllt. Sogar im Schlafe sind die Augenlider von Bedeutung, denn, wie das Auge der einzige Sinn, sind sie der einzige Theil des Körpers, der durch äußere Zeichen die Ruhe des Geistes innen verräth.

Nicht alle Nationen halten wie wir lange Wimpern für schön. Die Chinesen, welche die Natur überhaupt kärglich mit Haaren begabt hat, halten die kurzen für die besten; andere Nationen gehen sogar so weit, sie sorgfältig auszurupfen. Wir dagegen meinen, kurze, lichte und dünne Wimpern gäben den Augen einen matten, stieren Ausdruck, während lange und dunkle Wimpern die Schönheit des Auges wie die Gewalt des Blickes erhöheten.

Von allen äußern Theilen des Auges sind die wichtigsten die Brauen, und zwar so bedeutungsvoll nicht blos wegen ihrer eigenen schönen Form, sondern weil sie die große Grenzlinie zwischen der Sinnes-Gegend des Kopfes darunter und der geistigen darüber bilden. Sind sie sehr dick und ziehen sie sich zu weit hin, so erinnern sie an thierische Natur; in dem Verhältniß aber, wie sie sich in seinen, wohlgerundeten Bogen erheben, erwecken sie eine bessere Meinung. Der Bogen namentlich ist von Wichtigkeit, denn je höher er steigt, um so weiter hinauf reicht die Sinnes-Region und hinein in die höhern geistigen Fähigkeiten, während niedrige und geradlaufende Brauen keine solche Gemeinschaft verkündigen. Hier auch erkennt man die noch unerklärliche Sympathie, die einen Zug mit dem andern verbindet: in den Bogen, die sich über den Augen wölben, wiederholt sich die lächelnde Lippe mit [332] dem leicht aufwärts gezogenen Mundwinkel, während der kummervoll sich senkende Mund die Augenbraue ebenfalls an der äußern Seite verzweifelnd sinken sieht. Das Temperament und oft wiederholte Empfindungen drücken sich natürlich den Zügen ebenfalls ein und geben ihnen etwas Festes. Heitere und offene Herzen werden sich deshalb durch offene, gehobene Augenbrauen ankündigen, während die Denker, wie man auf allen Gesichtern derselben sieht, sie herabziehen in dem unablässigen Bemühen, gleichsam in das Licht der Wahrheit hineinzuschauen. An ruhelosen, sehr veränderlichen Personen bemerkt man sogar bisweilen, daß die Brauen in mehrere kleinere Bogen zerbrochen oder durch heftige Leidenschaften gleichsam zerrissen sind.

Von außerordentlicher Bedeutung ist die Farbe des Augapfels und Augensterns. Den erstern sehen wir am liebsten weiß, zwar lebensvoll, aber doch so, daß seine fleckenlose Reinheit unwillkürlich ein reines, fleckenloses inneres Leben anzeigt. Einen ganz andern Eindruck macht eine grauliche oder gelbliche Farbe. Ein bläulicher Schein, der den Kindesaugen eigenthümlich ist, gibt Erwachsenen ein Aussehen von unvollkommener Entwickelung. Wir dürfen indeß nicht vergessen, daß andere Einflüsse diese Erscheinungen herbeigeführt haben können. Der Augapfel, der von starken Adern durchzogen ist, verräth Leidenschaftlichkeit, denn jede Aufregung treibt das Blut im stärkern oder geringern Grade nach dem Kopfe und oft wiederholte solche Blutanhäufungen in die Augenadern lassen endlich Spuren zurück als unverkennbare Charakterzeichen.

Jeder Mensch auf Erden hat einen ihm eigenen Blick. Die Anatomen finden ihn nicht, die Physiologen können ihn nicht erklären, aber wir Alle wissen, daß er da ist. Er ist das Resultat des Gesammtausdrucks aller Theile des Auges, der nach vielfachen Wiederholungen endlich dauernd bleibt. Er wird deshalb der charakteristischste Zug des Menschen, der wirkliche Spiegel seines Lebens, der Dolmetsch aller seiner Gedanken und Gefühle. Er bindet auch einen Menschen an den andern durch das Band der Sympathie. Freilich können wir das weder erklären noch vorzeigen, aber jeder Mensch fühlt es und handelt darnach. Ein Blick oft bindet zu ewiger Liebe; ein Blick scheidet für immer. Seine Macht ist um so größer, je weniger der Wille entwickelt ist. Dieser allein vermag einigermaßen die Macht zu brechen, und lehrt den Menschen, nicht nach seinem Gefühl zu handeln, sondern nach „Berechnung.“ Aber seinen eigenthümlichen Blick behält trotzdem ein Jeder. Jeder große Mann namentlich hat einen Augenausdruck, den Niemand nachzuahmen vermag und der selbst einen Socrates schön machen kann.

Gern und mit Wohlgefallen sehen wir den ruhigen, liebevollen Blick der Freunde, aber den stieren Blick vermögen wir nicht zu ertragen, selbst wenn er nicht auf unser Auge, sondern auf einen Theil unseres Anzuges gerichtet ist. Mit strengem Tadel oder stiller Verurtheilung gleitet der Blick des Vorgesetzten von Kopf bis zu dem Fuße, während das Auge des Neidischen hastig und von der Seite die Größe und Gestalt des Gegenstandes seiner häßlichen Leidenschaft mustert. Der Blick der Verachtung geht über den Gegenstand derselben gleichsam hinaus, als wollte er ihn aus seinem Sehkreise ganz ausschließen. Begeisterung und Fanatismus blickt nach oben zu, nach Höherem, während der Geizige, der Habsüchtige und Selbstsüchtige niederwärts sieht auf den Staub, an dem seine Seele klebt.

Das Auge des Greises hat wie das des Kindes einen unsichern Blick; der erstere fühlt sich allmälig von den Banden des Lebens gelöset und sein Auge wendet sich mehr und mehr von der äußern Welt ab, während das des Kindes noch Alles verwundert anstarrt und noch nicht dahin gekommen ist, Einzelnheiten scharf zu beobachten.

So kann man in dem Blicke des Auges das lesen, was in der Seele des Menschen vorgeht, und was sein Schicksal in der Zukunft bestimmen wird. Ein gewisser Blick wird allmälig feststehend, denn die Augen nehmen, wenn sie nicht zu einem besondern Zweck verwendet werden, den Ausdruck unwillkürlich an, den sie am häufigsten haben. Dieser Blick ist der charakteristische Zug eines Gesichts und darum für den Maler und Bildhauer von der größten Wichtigkeit.


II. Bau des Auges; von Bock.

Daß das Auge, außer Empfindungsorgan für Licht und Farbe (in Bildern) zu sein, auch der Spiegel des Geistes und eine der Hauptpforten ist, durch welche letzterer allmälig in unsern Körper (Gehirn) einzieht, verdankt dasselbe seinem Baue und seinem unmittelbaren nahen Zusammenhange mit dem Gehirne, an welchem es, wie ein Apfel an einem vom Sehnerven gebildeten Stiele ansitzt. Es stellt nämlich das nach den optischen Gesetzen der camera obscura gebaute Sehorgan eine hohle, kugelförmige, von drei zwiebelschalenartig (concentrisch) um einander herumliegenden Hautlagen gebildete Blase oder Hohlkugel, Augapfel genannt, dar, in deren Innerm durchsichtige, mehr und minder feste und flüssige Materien verborgen sind. Diese letzteren, den Lichtberechnungsapparat bildend, brechen die von leuchtenden Punkten nach allen Richtungen hin kegelförmig ausgehenden und in das Äuge fallenden Lichtstrahlen so, daß sich dieselben wieder in einem Punkte (Bilde) sammeln, der auf den hinter diesem Lichtbrechungsapparate hautartig (als Netz- oder Nervenhaut) ausgebreiteten Sehnerven trifft und durch diesen zum Gehirn (Bewußtsein) fortgeleitet wird. – Der Augapfel selbst liegt aber geschützt und umhüllt von einem elastischen Fettpolster in der trichterförmigen knöchernen Augenhöhle, wird äußerlich von den Augenlidern bedeckt, mit Hülfe des Thränenapparates stets rein erhalten und kann durch sechs Muskeln willkürlich nach allen Richtungen hin gedreht werden, wobei dem Bewußtsein durch die mit jeder Bewegung verbundenen Muskelgefühle eine Vorstellung von der Größe und Richtung der geschehenen Bewegung, so aber Aufschluß über Größe und Entfernung der gesehenen Gegenstände verschafft wird.

Die erste oder äußerste Hautlage, welche für sich allein eine vollständig geschlossene Hohlkugel bilden würde, soll dem Augapfel seine Gestalt verleihen und besteht deshalb aus zwei ziemlich derben, starren Häuten, von denen diejenige, welche den größern Theil (fast fünf Sechstel) und den hintern Umfang des Augapfels bildet, die harte oder weiße Augenhaut (Sclerotica; c) heißt, perlmutterweiß, undurchsichtig, von faserigem Baue, sehr gefäß- und nervenarm, und hinten vom Sehnerven (a), dessen Scheide (b) sich unmittelbar in diese Haut fortsetzt, durchbohrt ist, während sich vorn die Augenmuskeln an sie anheften. Sieht man Jemand in das offenstehende Auge, so erblickt man am innern und äußern Augenwinkel und besonders beim Verdrehen des Auges den vordersten Theil dieser Haut als „das Weiße des Auges.“ – Den vordersten (6ten) Theil der äußern Hautlage oder Hohlkugel bildet die durchsichtige, uhrglasähnliche und stärker als die weiße Haut gewölbte Hornhaut (Cornea; d). Sie hängt nach hinten ununterbrochen mit der weißen Augenhaut zusammen, besteht aus einer äußerst gefäß- und nervenarmen knorpelartigen Masse (mit Fasern, Zellen und Flüssigkeit) und wird äußerlich von einem dünnen Oberhäutchen (Bindehaut; f), an ihrer innern ausgehöhlten Fläche aber, welche in die vordere, mit Wasser erfüllte Augenkammer (n) sieht, von der zarten Wasserhaut (e) überkleidet. Die Hornhaut, welche ihrer Durchsichtigkeit wegen den Lichtstrahlen in das Auge einzutreten erlaubt, zeigt sich bei offenem Auge als das Spiegelnde vor dem sogen. Augensterne (der bunten ringförmigen Regenbogenhaut und der schwarzen Pupille).

Die zweite oder mittlere Hautlage, welche eine, vorn platte und mit einer runden Oeffnung (Pupille; m) versehene Hohlkugel darstellt, die innerhalb der äußeren, von der Hornhaut und weißen Augenhaut gebildeten Hohlkugel steckt, besteht aus zwei sehr gefäß- und nervenreichen, dunkelgefärbten und muskulösen Membranen, der Gefäß- und Regenbogenhaut, so daß sie hauptsächlich der Ernährung, Verdunklung und Bewegung der innern Augentheile dient. – Die Aderhaut, Gefäßhaut, schwarze Augenhaut (Chorioidea; g), deren hinterer Theil ebenfalls vom Sehnerven (a) durchbohrt wird, liegt dicht an der innern Fläche der weißen Augenhaut an und reicht vorwärts bis an den Rand der Hornhaut, wo sie sich theils mit einer dickern Portion, mit dem Spannmuskel der Aderhaut (Strahlenbande; i) anheftet, theils nach innen zu einen aus einigen 70 Strahlen zusammengesetzten Faltenkranz (Strahlenkörper; h) rings um die Linse bildet. Was den Bau der Aderhaut betrifft, so besteht ihre äußere Schicht vorzugsweise aus größern Blutgefäßen und sternförmigen, mit schwarzen Körnchen erfüllten Zellen, die mittlere Schicht aus einem sehr engmaschigen Haargefäßnetze und die innerste Schicht aus schwarzen Farbezellen. – Da wo sich vorn die Aderhaut an den Rand der weißen Augenhaut befestigt und wo diese letztere in die Hornhaut übergeht, zieht sich ein Blutkanal (u) kreisförmig in der Augenwand herum, und hier hängt die Regenbogenhaut [333] (Iris; l) in Gestalt einer Scheibe, in deren Mittelpunkte sich ein runden Loch, die Pupille oder Sehe (m) befindet, senkrecht hinter der Hornhaut (d) und vor der, vom Faltenkranze umgebenen Linse (p) herab. Die Iris erscheint, wenn man durch die Hornhaut hindurch in das Auge sieht, als ein bunt (braun, blau, graugrün) gefärbter Ring, der die Sehe oder Pupille umgibt, welche letztere, die doch eine Oeffnung zum Durchtritt der Lichtstrahlen ist, sich als runder schwarzer Fleck darstellt. Durch die Iris, deren hintere Fläche tief schwarz aussieht, ist der vordere mit Augenwasser angefüllte und zwischen Hornhaut und Linse befindliche Hohlraum des Auges in die vordere (n) und hintere Augenkammer (o) geschieden; beide Kammern stehen natürlich durch die Pupille (m), welche sich übrigens ebenso verengern wie erweitern kann, mit einander im Zusammenhange.

a) Sehnerv. b) Scheide des Sehnerven. c) Weiße Augenhaut. d) Hornhaut. e) Wasserhaut, f) Bindehaut, g) Aderhaut. h) Faltenkranz oder Strahlenkörper. i) Strahlenband (Spannmuskel der Aderhaut). k) Strahlen des Faltenkranzes. l) Regenbogenhaut, Iris, m) Pupille, n) Vordere und o) hintere Augenkammer (mit Kammerwasser). p) Linse in der Linsenkammer. q) Glaskörper mit r) der Glashaut, und s) dem Linsenkanale. t) Netz- oder Nervenhaut, Retina. u) Blutkanal (in der Grenze zwischen Hornhaut, Iris und weißer Augenhaut).

Hinsichtlich ihres Baues ist die Iris faserig und muskulös, sowie sehr gefäß- und nervenreich; rings an ihrem innern, die Sehe begrenzenden Rande enthält die Iris einen ringförmigen Schließmuskel, den Verengerer der Pupille, während sich von diesem strahlenförmig zum äußern Irisrande der Erweiterer der Pupille hinzieht. – Die bunte Farbe der vordern Irisfläche hängt von der Gegenwart und Menge gesternter Farbezellen ab. Bei blauen Augen fehlen dieselben gänzlich; entwickeln sie sich in geringer Anzahl, dann entsteht die lichtbraune Farbe; bei großer Menge sieht die Iris schwarzbraun; zerstreute Anhäufungen erzeugen die sogen. Rostflecke der Regenbogenhaut.

Die dritte oder innerste Hautlage, welche nur eine halbe Hohlkugel bildet, weil sie sich blos im hintern Theile des Augapfels, vorwärts bis zum Faltenkranze befindet, wird von der, zum Sehen allerwichtigsten Membran, nämlich der Nerven- oder Netzhaut (Retina; t), der hautartigen Ausbreitung des Sehnerven (a) gebildet. Sie umgibt den Glaskörper, ist im Leben vollkommen durchsichtig, hat in der Mitte ihres hintern Theiles, nach außen von der hügelförmigen Eintrittsstelle des Sehnerven, einen kleinen runden gelben Fleck und besteht aus fünf Schichten, die aber durch feine Fädchen innig unter einander zusammenhängen. Diese Schichten folgen von außen nach innen so auf einander: die Stäbchen- und Zapfenschicht, aus unzählichen, das Licht stark reflektirenden und pallisadenartig dicht neben einander stehenden schmalen Stäbchen und rübenähnlichen Zapfen; die Körnerschicht, aus dunklen, das Licht stark zurückwerfenden, runden oder ovalen, kernhaltigen Zellen; die Zellenschicht, eine Lage grauer Nervenzellen; die Nervenfaserschicht, die hautartige Ausbreitung der Fasern des Sehnerven; die Begrenzungsschicht, ein zartes Häutchen, welches die Netzhaut vom Glaskörper (q) abgränzt. Am gelben Flecke fehlt die Nervenfaserschicht, sowie im Centrum desselben die Körnerschicht.

Der Lichtbrechungsapparat, welcher den von den genannten 3 Hautlagen umgränzten Hohlraum des Augapfels ausfüllt und aus glashellen, durchsichtigen, theils festen, theils flüssigen Materien gebildet wird, besteht aus dem Kammerwasser (das Augenwasser in der vordern und hintern Augenkammer; n o), der Krystalllinse (p) und aus dem Glaskörper (q). Dieser durchsichtige Kern des Auges (ein dioptrischer Apparat) wird an seinem hintern Umfange (Glaskörper; q) von der Netzhaut (t) umfaßt, so daß alle durch den Lichtbrechungsapparat hindurchdringenden und gebrochenen Lichtstrahlen auf diese fallen müssen. – Die Linse (p), in der wasserhellen, durchsichtigen und etwas Flüssigkeit enthaltenden Linsenkapsel eingeschlossen, gleicht einem stark gewölbten Brennglase und hat ihre Lage dicht hinter der Regenbogenhaut (Pupille; q m), in einer schüsselförmigen Vertiefung des Glaskörpers (q), rings vom Faltenkranze (h) umgeben. Sie besteht durch und durch aus Schichten von blassen wasserhellen sechsseitigen Fasern oder Röhren (Linsenfasern), welche mit sägeartig gezähnten Rändern fest ineinander greifen. Die Consistenz der Linsenmasse nimmt vom Umfange nach ihrem Mittelunkte hin (d. i. der Linsenkern) zu: im Alter wird sie gelblich und trübe. – Der Glaskörper (q), welcher eine wasserhelle Kugel darstellt, füllt hinter der Linse und dem Faltenkranze den von der Netzhaut umgebenden Raum aus, nimmt vorn die Linse in einer tellerförmigen Vertiefung auf und wird von der durchsichtigen Glashaut (r) umschlossen. Diese Glashaut heftet sich vorn mit zwei Blättern, welche einen dreieckigen, sich rings um den Linsenrand herumziehenden Kanal (s) zwischen sich lassen, an die vordere und hintere Fläche der Linsenkapsel an. Was den Bau des Glaskörpers betrifft, so ist dieser zur Zeit noch nicht genau gekannt. (Ueber das Sehen später; über die Pflege des Auges s. Gartenlaube 1854. Nr. 39 und 40.)




Jagd- und Lebensbilder aus Amerika.
12. Eine Treibjagd.

Das Guanaco[1] ist eins der scheuesten Thiere, das ich je gejagt habe und dabei ist seine Stellung fast immer der Art, daß es sich über dem Jäger befindet und dessen Bewegungen erspähen kann. Wenn man sich indessen vorsichtig heranschleicht und durch die Felsenvorhänge deckt, so kann man zum Schuß kommen. Dieser muß aber tödtlich sein, denn wenn man das Guanaco nur verwundet, so setzt es über die Klippen und stürzt vielleicht in einen Abgrund, aus dem es der Jäger nie herausholt.

Während ich bei einem Gastfreunde war, hörte ich von einer eigenthümlichen Art der Indianer, das Vicuña in großer Anzahl zu erlegen, welche sie „Chacu“ nennen, und da mich diese sehr anzog, ersuchte ich meinen Freund, mir zu einer solchen zu verhelfen. Es war gerade die Zeit dazu, und der Stamm, zu dem er gehörte, beabsichtigte eine solche Jagd zu halten, und da er für einen alten kunstgerechten Jäger galt, mußte ihm eine Hauptrolle dabei zufallen.

Einen Tag vor der Expedition begaben wir uns nach dem Dorf seines Stammes, d. h. einer Anzahl roher Hütten, die in dem Grunde einer der tiefen Klüfte der Cordilleren aufgepflanzt waren. Da es mehrere tausend Fuß unterhalb der Puna-Ebene lag, herrschte dort ein ungleich wärmeres Klima, und in den Gärten gewahrte man häufig Zuckerrohr und die Yukka-Pflanze und Welschkorn auf den Feldern.

[334] Die Einwohner gehörten zu den Indios mansos, den gezähmten Indianern, und trieben Ackerbau oder lebten von der Jagd. Sie hatten auch das Christenthum angenommen, und auf einer erhöhten Stelle des Dorfes prangte eine Kirche mit dem Kreuz. Der Priester war der einzige Weiße in dem Dorfe, und auch er konnte nur vergleichsweise dafür gelten. Obwohl von spanischem Blut, würde er in jedem Theil Amerika’s oder Europa’s für einen „farbigen alten Gentleman“ gegolten haben.

Mein Gastfreund führte mich zu dem Pater, der mich herzlich aufnahm, und zu meinem Erstaunen erfuhr ich, daß er das Chacu begleiten, ja, die Führung desselben übernehmen würde. Er hatte das größte Interesse daran, bald sah ich indessen auch, weshalb dies der Fall war. Der Ertrag dieser jährlichen Jagd bildete einen Theil seines Einkommens. Die Vließe der Vicuña’s gehörten der Kirche, und da diese an Ort und Stelle mindestens einen Dollar pro Stück werth waren, so bildete diese Einnahme keinen üblen Zehnten. Den ganzen Tag über war er daher beschäftigt, seinen Pfarrkindern Rath in Bezug auf die Jagd zu ertheilen. Ich mußte bei ihm wohnen. Er hatte das beste Haus im Dorfe, unsere Mahlzeit bestand aus einem gebratenen Huhn, zu dem wir „Chika“ tranken, und nachher fehlten auch die Cigaretten nicht.

Es war ein ächtes Bild eines südamerikanischen Missions-Priesters. Außerordentlich gewissenhaft in Bezug auf die Moral seiner Heerde, und dabei selbst fett und liederlich, und auf gute Mahlzeiten, ein Glas „Yea-Brandy“ und Cigaretten erpicht. Er lebte indessen ganz patriarchalisch mit seinen Pfarrkindern und diese hatten ihn gerne.

Am Morgen zog die Expedition aus, jedoch erst, nachdem eine Messe für den guten Erfolg der Jagd gehalten war. Dann setzte sich die Cavalcade in Bewegung und zog den sich windenden Bergpfad nach den „Altos“ oder den Puna-Höhen hinauf, ganz nach der entgegengesetzten Richtung, von der ich gekommen war.

Die Expedition sah außerordentlich malerisch aus. Da waren Pferde, Maulesel und Lama’s, Männer, Weiber, Kinder und Hunde, was nur in dem Dorfe kriechen konnte, zog mit. Die „Chacu“ dauert nämlich Wochen lang. Es waren daher Zelte und Kochapparate mitgenommen, und die Weiber waren deshalb ebenfalls nothwendig. Sie hatten das Lager in Ordnung zu halten und für das Essen zu sorgen.

In beliebiger Ordnung oder vielmehr Unordnung erklommen wir das Gebirge, und unser Zug gewährte einen höchst malerischen Anblick: die Männer in ihren farbigen Poncho’s von Lammwolle und die Weiber in hellen Mänteln von Bageta, einem groben Tuch, das sie selbst bereiten. Mehrere Maulthiere trugen Bündel mit Lumpen nebst Stricken und Stäben, deren Gebrauch mir erst später erklärt wurde.

Etwa eine Meile von dem Dorfe wurde Halt geboten und ich fragte nach der Ursache. „Der Hunro,“ hieß es, und ich vernahm darauf, daß der Hunro eine Brücke sei, die über einen Abgrund geschlagen werde. Als ich näher ritt, sah ich darauf diesen und lernte die wunderliche Struktur der Brücke kennen.

Sie besteht aus einem Seile, das über den Abgrund gespannt und an beiden Enden befestigt wird. Darauf legt man ein Stück Holz, das die Form eines U hat und an einer Rolle über dem Seile läuft und durch diese nach beiden Seiten gezogen werden kann.

Auf dieses Stück Holz wird der Passagier festgebunden, indem er sich in die Höhlung hineinlegt, dann richtet man ihn wieder auf und kreuzt seine Beine über dem Hauptstrick und sagt ihm, daß er sich aufrecht und den Kopf so gerade als möglich halten soll, während er sich mit den Händen an die Seiten des Holzes klammert. Ich hatte schon die „Sogabrücken“ und die „Barbacoas“ in Peru passirt, aber diese Brücke kam mir denn doch etwas spanisch vor, und ich werde die Passage über dieselbe nie vergessen. Als man mich auf die beschriebene Weise festgebunden und ausgerichtet hatte, schob man mich ohne Weiteres vorwärts, und ich fühlte, daß ich über einem 200 Fuß tiefen Abgrund schwebte, den unten ein wilder Bergstrom durchtoste. Meine Knöchel glitten an dem Seil entlang, und dies gab mir eine so sonderbare Empfindung, daß ich mehrere Mal auf dem Punkte stand, sie hinweggleiten zu lassen. Dann wäre aber meine Lage noch gefahrvoller gewesen, denn dann hätte ich nur meine Arme als Stützpunkt gehabt. Ich hielt daher so fest als möglich, weil es mir immer vorkam, das Seil, mit dem ich an das Joch gebunden war, gäbe nach.

Nachdem ich eine Zeit lang rufen und jauchzen gehört, sah ich mich auf der andern Seite und wieder auf festem Boden.

Für die Angst, die ich ausgestanden, wurde ich darauf beinahe belohnt, als ich den dicken Pater hinüberziehen sah. Dies sah ungemein komisch aus, und ich lachte laut auf, weil ich mir einbildete, er habe auch über mich gelacht. Er nahm dies indessen ganz gut auf und versicherte mir, ihm mache es keine Furcht, da er an derlei Brücken gewohnt sei. Dies ist die gewöhnliche Art in den Andes, über Ströme und Abgründe zu setzen, da die dünne Bevölkerung es nicht dazu bringen kann, wirkliche Brücken zu bauen. Die Pferde und Maulthiere können natürlich nicht über den Hunro befördert werden, sondern müssen durch den Strom geführt werden, was oft äußerst gefährlich ist.

Diesmal kam Alles glücklich hinüber, und wir setzten unsern Zug nach den Altos fort, die wir gegen Abend erreichten. Dann wurden die Zelte aufgeschlagen. Das des Paters war natürlich das größte und ich theilte es mit ihm. Die Pferde und Lastthiere wurden angekoppelt und weideten auf der Ebene.

Die Luft war schon kalt und frostig, denn wir befanden uns beinahe drei Meilen Über der Meeresfläche. Die Frauen und Kinder suchten Paquia, trockenen Mist, um Feuer zu zünden, und diese loderten bald überall lustig empor, da es hier, wo große Heerden Lama’s und Hornvieh zu weiden pflegten, nicht an diesem Material fehlte. Um zu den Vicuña’s zu kommen, mußten wir noch mehre Altos ersteigen.

Als wir uns am nächsten Morgen in Bewegung setzten, theilte sich der Zug. Eine Parthie Jäger nahm die Lastthiere mit den Seilen, Pfählen und Lumpen mit sich und ihr folgten sämmtliche Weiber und Kinder, sowie die Hunde. Sie hatten die Bestimmung, wie ich jetzt erfuhr, das Treiben zu beginnen, indem sie eine weite Kette um die Ebene schlossen. Die Pfähle wurden in den Boden getrieben, die Stricke daran befestigt und die Lumpen an letztere angehängt; dieses Netz wagt kein Vicuña zu überspringen.

Als die Kette fertig war, die wohl sechs Meilen umfaßte, hörten wir aus weiter Ferne von verschiedenen Seiten den Hallohruf der Treiber, und es währte nicht lange, so sahen wir an unserm Gesichtskreis sich etwas regen. Ich stand mit dem Pater auf einer Anhöhe, von der aus wir den Kreis sehr gut übersehen konnten. Richtig, es waren die Vicuña’s, wir sahen ihr orange-farbenes Vließ deutlich schimmern, und sahen darauf, wie die einzelnen Rudel, von ihrem Leibhirsch geführt, sich nahten, dann wieder Halt machten und nach verschiedenen Richtungen ausbrachen. Der alte Pater war ganz entzückt, als er so viele Rudel erblickte.

Mira,“ rief er aus, mira, Señor, ein, zwei, drei, vier Rudel – und wie stark sind sie. Ah! Carambo – Jesus!“ fuhr er dann fort, plötzlich den Ton ändernd, carrambo malditos esos guanacos (die verdammten Guanaco’s).“

Ich sah nach der Richtung, welche er bezeichnete und gewahrte ein schwaches Rudel Guanaco’s, das über die Ebene setzte. Ich konnte sie sehr wohl von den Vicuña’s unterscheiden, weil sie größer und röthlicher waren. Doch was ärgerte sich der Pater so sehr über sie? !

„Ah, Señor,“ sagte er seufzend zu mir, „diese Guanaco’s werden Alles verderben – sie werden die ganze Jagd zu Grunde richten, Caspita!“

„Wie so?“

„Ah,“ rief der Pater aus, „diese Guanaco’s sind rücksichtslose Biester. Sie kehren sich nicht an die Stricke, sondern rennen sie durch und lassen die Andern entwischen. – Santissima virgen!“

„Was sollen wir thun?“

„Nichts, als der Sache ihren Lauf lassen.“ !

Nach kurzer Frist erschienen die berittenen Jäger und schlossen den verhängnißvollen Kreis immer enger. Die Vicuña’s stürzten in einzelnen Rudeln wild nach allen Seiten, wendeten aber immer wieder kurz um, wenn sie die Frauen und Kinder vor sich erblickten. Es waren im Ganzen gegen sechzig Stück, die zuletzt in einem einzigen, verwirrten Haufen zusammenliefen, und mitten unter ihnen waren die Guanaco’s, acht bis zehn an Zahl. Zuletzt brach einer ihrer Leithirsche nach einer Seite hin auf, wo er einen Ausgang entdeckt zu haben glaubte; das ganze Rudel folgte und stürzte gegen die Kette. Die Jäger, welche zu Fuß waren, so wie die [335] Weiber und Kinder schützten sie aber überall und stellten sie rasch wieder her, wo sie etwa zerriß. Inzwischen kamen die berittnen Jäger heran, sprangen von ihren Pferden, faßten Posto und rückten, ihre „Bolas“ (Büchsen) schwingend, im Kreise vor, einander zurufend, den Angriff zu beginnen. Bald krachten die Büchsen gegen die rathlos umherirrenden Vicuña’s, und der Rasen wurde mit Thieren bedeckt, die im Todeskampfe zuckten. Ein merkwürdiges, höchst lebendiges Bild. Da stand ein Jäger, die Bola über den Kopf wirbelnd, da stürzte ein anderer auf ein getroffenes Vicuña, und ein Dritter beugte sich über ein schon am Boden liegendes mit flammendem Jagdmesser, um es abzufangen, und stürzte sich dann abermals in den Kampf.

Ein interessantes Zwischenspiel bildete es, als mein alter Jagdfreund so gescheut war, das Rudel Guanaco’s gesondert zu verfolgen, um sie aus dem Felde zu treiben. Er jagte sie den Stricken zu, und als die an diesen Stehenden sie zurückjagen wollten, rief er ihnen zu, sie sollten sie laufen lassen. So trieb er sie immer näher an die Stricke, bis sie durchbrachen und verschwanden.

Die armen Vicuña’s, nahe an fünfzig, wurden sämmtlich erlegt oder gefangen. Sie wagten es nie, bis an die Stricke zu laufen oder hinüber zu springen, sondern kehrten immer wieder um und ließen sich umzingeln.

Am Interessantesten wurde die Jagd, als nur noch wenige Thiere übrig waren, denn ihnen wandten sich eine Menge Jäger zu, welche sie nach den verschiedensten Richtungen trieben, bis sie endlich von einer Menge Schüsse zugleich getroffen niederstürzten. Etwa zwanzig Minuten nach dem Beginn der Jagd fiel das letzte Thier. Dann wurden sie abgeledert, die Felle auf einen Haufen gepackt, und das Fleisch an die Familien vertheilt, welche an der Chacu Theil genommen hatten. Mein Pater hatte alle Ursache, mit der Jagd zufrieden zu sein.

Schließlich wurden die Pfähle ausgezogen und mit den Seilen und Lumpen zusammengelegt, damit sie am nächsten Tage den gleichen Dienst leisten können, das Fleisch auf die Pferde und Maulthiere gepackt, und hierauf nach dem Lager gezogen, wo sodann eine Fest- und Freudenscene folgte, wie sie dem armen Volke nur einmal des Jahres zu Theil wird.

Die Jagd dauerte zehn Tage, und ich blieb während dieser ganzen Zeit bei meinen halbwilden Freunden. Im Ganzen wurden etwas mehr als 500 Vicuña’s, ein paar Guanaco’s, einiges Rothwild der Andes (Cervus antisensis) und ein halbes Dutzend schwarze Bären (Ursus ornatus) getödtet. Natürlich wurden nur die Vicuña’s in dem Treiben erlegt, die andern Thiere schossen die Jäger gelegentlich, so wie sie dieselben aufgespürt hatten.

In ähnlicher Weise, wie hier die Vicuña’s, jagen die indianischen Jäger in Nordamerika die Büffel, indem sie dieselben zu Pferde umzingeln und dann einzeln erlegen.




13. Ein Abenteuer auf der Bärenjagd.

Der schwarze oder amerikanische Bär (Ursus americanus) ist der bekannteste von allen. Ihn sieht man am Häufigsten in Menagerien und zoologischen Gärten, weil auf ihn am meisten Jagd gemacht und er überall hin ausgeführt wird. Man unterscheidet ihn leicht von den braunen Bären Europa’s, sowohl durch seine Farbe, seinen geschickteren Gliederbau und durch sein glätteres Fell. Im Norden von Amerika giebt es außerdem noch den grauen, den braunen und den weißen Polarbären. Dem letzteren gleicht er im Bau am meisten, auch sind beider Felle gleich glatt, der schwarze Bär ist jedoch kleiner und erreicht höchstens zwei Drittheile vom Gewicht des Polarbären. Seine Farbe ist gewöhnlich dunkelschwarz, bis auf einen röthlichen Strich um die Schnauze. Er ist sehr gefräßig und verschlingt sowohl Fleisch als Früchte, Nüsse und Wurzeln. Für gewöhnlich frißt er jedoch nicht Fleisch, und wird er durch Hunger dazu getrieben, so zerreißt und verschlingt er sein Opfer, während es noch schreit, und man kann sagen, daß er es zuweilen lebendig verschlingt. Seine Lieblingsspeise bildet bekanntlich Honig und er weiß desselben sehr geschickt habhaft zu werden, indem er die Höhlung der Bäume, in welcher die Bienen bauen, mit seinen scharfen Klauen so erweitert, daß er dazu kann. Die Stiche der Bienen kümmern ihn dabei wenig, da sie ihn nicht verletzen. Er erklimmt die Bäume rutschend, und wenn er hinabsteigt, läßt er sich hinabgleiten, wie es der Mensch thut. Er ist durch die Waldregionen von ganz Nord- und Südamerika verbreitet. In dem letzteren giebt es jedoch auch noch eine andere Art desselben, Ursus ornatus.

In den offenen Prairie-Distrikten haust der graue Bär, und nur in den Waldthälern der Rocky Mountains findet man ihn in Gemeinschaft mit dem schwarzen Bären. Den braunen Bären, der mit dem europäischen identisch ist, findet man in den öden baumlosen Steppen, welche sich im Norden durch den ganzen Kontinent Amerika’s bis zum Eismeere hinziehen. Hohle Bäume bilden gewöhnlich seine Wohnung, häufig genügt ihm auch ein umgestürzter Baumstamm, sich dahinter zu verbergen. Ferner benutzt er Felsenhöhlen, sobald sie ihm einen sichern Versteck bieten. Im Winter schläft er, jedoch nur während der Kälte; sobald das Wetter wärmer wird, wacht er auf, und im südlichern Klima ist er das ganze Jahr hindurch sichtbar.

Man jagt ihn mit Hunden und wenn er sich in seine Höhle rettet, räuchert man ihn hinaus. Ehe er nicht verwundet wird, greift er den Menschen nicht an, aber wenn er es thut, ist er sehr gefährlich. Die Kraft seiner Vorderklauen ist so groß, daß er den Menschen leicht darin erstickt. Er ist jedoch sehr empfindlich an der Schnauze, und wenn der Jäger kaltblütig genug ist, ihm darauf einen tüchtigen Schlag zu versetzen, wendet er sich erschreckt waldeinwärts.

Häufig fängt man ihn in Fallen, welche so eingerichtet sind, daß zwei starke Holzstücke nach Entfernung des Sperrholzes, das sie oben auseinander hält, zusammenschlagen. Oft tödten sie den Bären auf der Stelle, es genügt aber auch, wenn sie nur eine Klaue desselben festhalten, da er nicht im Stande ist, sich daraus zu befreien.

Als ich einmal in den nordamerikanischen Wäldern auf der Bärenjagd war, wo wir das Glück gehabt hatten, einen Bären nach kurzem Spüren von dem Baume herunter zu schießen, auf den er sich gerettet hatte, erzählte uns, nachdem wir uns im Walde gelagert, ein alter Trapper eine merkwürdige Geschichte, die ihm vor Jahren auf der Bärenjagd begegnet war, und ich kann mich nicht enthalten, sie nachzuerzählen, da der alte Mann für durchaus wahrheitsliebend galt, und die Art seiner Mittheilung durchweg davon zeugte, daß er wirklich Erlebtes schilderte.

„Ich wohnte damals,“ begann er, „in Ost-Tennessee am Tennesseefluß, mit einer alten Mutter in einer ärmlichen Hütte, und wenn ich die nöthigsten Feldarbeiten gethan hatte, dachte ich natürlich an nichts Anderes als an die Jagd, denn diese brachte uns immer etwas zu leben, und die Felle rentirten besser als unser Acker. Ich mochte wohl achtzehn Jahre alt sein, als ich einen Morgens am Ufer des Flusses im Schlamme die Spuren eines Bären fand. Ich folgte ihnen, sie gingen mir aber verloren als ich an härteren Boden kam. Da war so dichtes Buschwerk, daß keine Katze, geschweige denn der Bär hätte hinein kriechen können; ich ging daher zurück und spürte nach andern Richtungen. Endlich sah ich einen umgestürzten Baumstamm liegen, der Spuren von Schmutz hatte, den war der Bär offenbar entlang gelaufen. Ich folgte, ging bis an’s Ende und sah die Höhlung, die sich der Bär gemacht hatte, als er durch dns Buschwerk kroch. Da mußte ich nach, kostete es auch, was es wolle. Es war keine leichte Arbeit, denn da waren Disteln, Brennesseln und Dornen, so scharf wie ein Angelhaken.

„Mit Mühe und Noth kroch ich durch das Dickicht, wobei ich ein paar Mal daran dachte, wie angenehm es sein würde, wenn mir der Bär auf diesem Wege entgegen käme. Es geschah aber nicht, und als das Gesträuch dünner wurde, sah ich plötzlich ein Stück Fels vor mir. Darin mußte der Bär seine Höhle haben, und richtig, bald sah ich auch den Eingang, vor den der Bär Steine und Lehm gehäuft hatte, um ihn zu verdecken. Natürlich lauerte ich nun noch eine Weile, ob der Bär sich nicht zeigen würde und hielt meine Büchse fertig, um ihm eine Hand voll Blei zuzuschicken, wenn er seine Schnautze zeigte. Er kam aber nicht, und ich mußte an meinen Rückzug denken, weil es allmälig dunkelte und ich sonst den Weg nicht wieder gefunden hätte.

„Ich ging also nach Hause. Der Bär lag mir aber fortwährend im Sinn, und es stand fest bei mir, ich mußte ihn aus seinen Schuhen treiben und sollte ich ihm auch acht Tage nachstellen. Am nächsten Morgen machte ich mich daher wieder nach der Höhle auf und nahm außer meiner Büchse noch eine Axt, einen Topf [336] mit Syrup und ein paar Büschel Welschkorn mit, um dem Bären eine Falle zu bereiten. Ich fand auch bald ein paar tüchtige Holzstücke, die ich dazu brauchen konnte, hieb sie zurecht und richtete sie mit der ganzen Kraft meines Leibes auf. Wenn sie auf den Bären niederfielen, sollten sie ihn wohl festhalten. Just war ich so weit mit der Falle fertig, daß ich den Köder darin zurecht legte und den Syrup aufschmierte, als ich hinter mir das Schnüffeln des Bären hörte. Rasch drehe ich mich um, nach ihm zu sehen, und erblicke ihn aufrecht vor seiner Höhle stehen, da fühle ich auch in demselben Augenblick einen Schlag von hinten und falle auf die Erde flach wie ein Pfannkuchen.

„Ich dachte zuerst, es hätte mir Einer einen Schlag versetzt. Wäre es nur so gewesen, aber es war was viel Schlimmeres. Die Falle hatte mich gefaßt, und lag mit ihrem ganzen Gewicht auf mir, indem sie meine beiden Schenkel einklemmte. In der Eile des Umdrehens hatte ich den Drücker berührt und das verdammte Holz hatte meine Schinken gefaßt.

„Ich war zwar etwas verletzt, aber das ging noch, und anfangs hoffte ich, ich würde mich herausziehen können, aber je mehr ich zog, je schlimmer wurde es, desto weher thaten mir meine Beine und desto fester hielt sie das Holz. Ich konnte sie weder bewegen noch mich umdrehen und mit den Händen an den Block kommen. Meine eigene Falle hatte mich gefangen und ich war in einer furchtbaren Lage. Vor mir der Bär und die Hütte meiner Mutter zwei Meilen weit entfernt. Und selbst darauf konnte ich nicht rechnen, daß sie mich suchen würde, denn sie war daran gewöhnt, daß ich vier Tage lang auf der Jagd ausblieb. Ich konnte also nur darauf rechnen, daß zufällig einer meiner Nachbarn des Weges käme. Ich rief daher so laut als ich konnte. Das schreckte den Bären und er kroch in seine Höhle zurück. Das war nun allerdings ein Gewinn, denn ich hatte dadurch das Mittel gefunden, ihn von mir fern zu hallen. Ich rief und rief, aber immer kam nur mein eigener Wiederhall zurück, und es schien mir zuletzt, als verspotte mich dieser. Mein nächster Nachbar wohnte freilich fünf Meilen weit, wie konnte ich darauf denken, daß er mich hörte? Ich hatte also die fröhliche Aussicht, hier zu verkommen und zu verhungern, wenn die Bären mich nicht fraßen. – So kam und verging die Nacht, die längste und furchtbarste, die ich je durchlebt habe. Vor Schmerzen konnte ich nicht schlafen und hörte daher das Krächzen der Eulen und zuletzt auch, als es graute, das Schüffeln des Bären, der aus seiner Höhle kroch, und bald darauf gewahrte ich, daß es gar zwei waren. Sie bewegten sich mit ihren dicken Leibern wie dunkle Schatten um mich herum, und standen zuweilen aufgerichtet vor mir wie ein paar schwarze Teufel. Sie hatten offenbar die Furcht vor mir verloren, denn sie kamen immer näher, und ich mußte erwarten, daß sie mich angreifen würden. Die Angst, welche ich hiervor empfand, gab mir auch zugleich Muth. Dicht vor mir lag meine Büchse, ich ergriff diese, und strengte alle Kraft an, mich so weit aufzurichten, daß ich sie in schußgerechte Lage bringen konnte. Ein Bär stand nur vier Schritt weit von mir, ich säumte daher nicht länger, sondem sandte ihm ohne Weiteres die volle Ladung in’s Gesicht. Er fiel um und blieb liegen wie ein gefällter Stier. Er war mausetodt. Das war gut, nun konnte ich auch darauf rechnen, daß die Bärin, denn ich hatte das Männchen geschossen, alsbald zurückkehren und mich mit doppelter Wuth angreifen würde. Ich beeilte mich daher, wieder zu laden, da ich glücklicher Weise auch zu meiner Jagdtasche gelangen konnte. Es währte auch nicht lange, so kam die Bärin. Als sie ihren Gatten am Boden liegen sah, gab sie ein lautes Gebrumm von sich, stand dann still, als sei sie höchlichst überrascht und lief dann auf den Cadaver zu, ihn zu beschnüffeln. Jetzt konnte ich darauf rechnen, daß sie sich nach zwei Sekunden auf mich losstürzen würde und säumte nicht, ihr meine Kugel vor die Stirn zu senden. Das that’s. Ich hatte sie durch’s Auge in’s Gehirn getroffen, und sie stürzte rücklings auf ihren Bärengatten nieder.

„Nun bekam ich wieder frischen Muth. Die Bären hatten mich also wenigstens nicht fressen sollen, und ich mußte noch zu etwas Besserem bestimmt sein. Ich beschloß daher, auszuharren. Endlich mußte man mich ja doch vermissen und suchen, und dann mußte man meinen Ruf hören. Aber der Hunger peinigte mich. Wie zum Hohn lagen da die beiden Bären vor mir und ich konnte sie nicht erreichen. Die Noth macht indessen erfinderisch. Ich hatte ein Seil mitgebracht, um die Falle in die Höhe ziehen zu können, und da ich es nicht gebraucht hatte, lag es am Boden. Das haschte ich, machte eine Schlinge, warf sie nach dem Bären aus, zog diesen an mich, schnitt die Zunge heraus und aß diese roh. Das stillte meinen Hunger, aber dafür plagte mich nachher der Durst. Ich zog den Bären näher und schnitt seine Gurgel durch, aber sein Blut war festgefroren, und ich konnte mir nur helfen, indem ich es aus dem Fleisch, das ich ausschnitt, aufsog. So verging der Tag und es kam die zweite Nacht. Dann und wann hatte ich Eulen und auch noch andere Kreaturen, die eine, glaub’ ich, war ein Fuchs, zur Gesellschaft, schreckte sie aber mit meiner Stimme zurück. Am nächsten Morgen raffte ich meine Kräfte auf’s Neue zusammen, um zu rufen, denn nun rückte ja die Hoffnung immer näher, daß man mich suchen würde, und richtig, eine Stunde nach Sonnenaufgang hörte ich eine Stimme. Das Herz pochte mir gegen die Rippen, so groß war meine Freude. Ich rief noch lauter und lauschte. Es kam eine Antwort.

„Hol’ Euch – was brüllt Ihr denn so?“ rief die Stimme.

„Ich schrie laut: „Hallo!“

„Wer zum Teufel ist denn das?“ fragte die Stimme.

„Casey,“ rief ich zurück, die Stimme meines Nachbarn erkennend, „um’s Himmels willen hierher.“

„Ja, ja, ich komme schon, es ist nicht leicht hier durch das Gestrüpp zu kommen.“

„Seid Ihr das, Redword?“

„Was zum – habt Ihr? – Hol’ der Teufel das Gestrüpp!“

„Endlich brach er sich zu mir Bahn und schlug die Hände über den Kopf zusammen als er mich und daneben die Bären sah.

„Natürlich machte er mich so schnell als möglich frei, aber ich konnte meine Füße nicht gebrauchen. Casey mußte mich nach Hause tragen, und ich lag sechs Wochen bis ich wieder gehen konnte, und hab’s auch nie ganz überwunden.“

Damit endet Redword’s Geschichte.




Blätter und Blüthen.

Der Bart als Medicin. Wir meinen nicht, daß man den Bart auf Flaschen füllen lassen und einnehmen solle, wie jener Bauer, der vom Arzte beauftragt, seinem kranken Sohne ein Fußbad zu geben, ihn zwang, es auszutrinken. Der Bart hat sich in seinem natürlichen Wachsthume am Kinn und unter der Nase als gesundheitschützender Respirator besonders in England wieder Ruhe vor dem wüthenden Rasirmesser und gegen die frühere Verfolgung von Seiten der „backenbärtigen Sclaven des Geldmachens“ verschafft. Noch vor vier bis fünf Jahren war kein Fremder mit einem Barte in England eines ungeschornen, unverhöhnten Schrittes fähig, und in manchen abgelegenen Gegenden ist’s noch so. Aber in den größeren Städten, wo Einsicht und Fremde überhand genommen haben, wächst der Bart auch auf englischen Lippen bereits ganz ungeschoren. In Edinburg sogar haben über 500 Maurer einen Verein zu Wachsthum und Pflege ihrer Bärte als Schutzmittel gegen Staub und dergleichen Lungengifte in der Luft gegründet, und erfreuen sich seitdem einer viel bessern Gesundheit als früher. Englische Aerzte haben eine früher aufgestellte Behauptung tausendfältig bewährt gefunden, daß auch viele Augenkrankheiten, Zahn- und Halsschmerzen von der Wuth, sich möglichst jeden Morgen Kinn und Oberlippen einzuseifen und abzuschaben, herrühren. Schwache entzündete Augen wurden nach dem Wachsthume des Bartes wieder stark und gesund, Zahnschmerzen verschwanden auf immer, und Halsentzündungen, Lungenleiden wurden von den dichten Speeren des Bartes „außerhalb der Thore“ gehalten und zurückgetrieben. Diese Ansichten haben sich in England ziemlich allgemein verbreitet, so daß sich der Bart immer häufiger und stärker als Medicin unter den arbeitenden Klassen einstellt. Gentlemen, Künstler, Krieger tragen ihn längst aus ästhetischen Gründen, so daß das einst terroristisch und exclusiv backenbärtige, steifvatermörderliche, hinten haargescheitelte England eine ganz andere Physiognomie bekommen hat. Kommt noch die Sonntagsmusik hinzu, so hat das alte England aufgehört und ein neues tritt auf die Lebensbühne. Die Sonntagsmnsik ist wichtiger, als ein halbes Tausend Parlamentsbills und russel-palmerston’sche „Reformen.“


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Attütiden