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Die Gartenlaube (1856)/Heft 29

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
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Autor: Verschiedene
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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1856
Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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[381]
Spiele des Zufalls.
Novelle von August Schrader.
(Fortsetzung.)

Wilhelmine liebte ihren Mann mit der ganzen Fülle ihres jugendlichen Herzens; es läßt sich denken, daß sie jetzt, wo er sich ihr als Märtyrer seiner Liebe zeigte, mit einer Dankbarkeit an ihm hing, die ihre Liebe heiligte und ihrer Ehe eine neue Weihe gab. Sie setzte sich zu ihm, strich das feuchte Haar aus seiner Stirn, und küßte ihn.

„Woran denkst Du, Cäsar?“ fragte sie schmeichelnd.

„An unsere Vergangenheit, Wilhelmine!“

„Macht sie Dir Kummer?“

„In einer Beziehung, ja!“

„Darf ich diese Beziehung wissen?“

„Daß Dir Deine Liebe zu mir den Haß Deiner Mutter zugezogen hat.“

„Ist es das?“ fragte sie, schmerzlich lächelnd.

„Ich weiß nicht, woher es kommt – aber dieser Gedanke lastet jetzt mehr als je auf meiner Seele. Mir ist, als ob ich unfähig wäre, Dich je für das Opfer zu belohnen, das Du mir gebracht hast.“

„Cäsar,“ flüsterte sie, „liebst Du mich nicht mehr?“

Der junge Mann umschlang sie und sah sie mit einem Blicke an, der seine ganze schwärmerische Leidenschaft verrieth, in dem seine ganze Seele lag.

„Ich kann nur dann aufhören Dich zu lieben, wenn ich zu leben aufhöre!“ rief er aus.

„Dann, mein Geliebter, beklage mich nicht, denn ich bin beneidenswerth glücklich!“

Wie zwei Kinder, die sich das erste Liebesgeständniß gemacht, umschlangen und küßten sie sich.

„Wie fühlst Du Dich heute?“ fragte Cäsar in seinem zärtlichsten Tone.

Die junge Frau stellte sich, als ob sie erstaunte.

„Wie ich mich heute fühle? Wie gestern, wie jeden Tag – sehr wohl!“

„Und doch scheint mir, als ob Du bleicher wärst.“

„Die kalte Luft hat mich vielleicht ein wenig angegriffen. Cäsar, sagtest Du nicht, daß mich die Blässe interessant mache?“

„Gewiß, mein Kind! Sie ist selbst ein Hauptbestandtheil Deiner Schönheit.“

„Schmeichler!“ rief sie lächelnd. „Fast möchte ich glauben, daß Du mich eitel machen wolltest. Aber ohne eitel zu sein, wird sich Deine Frau bemühen, Dir stets elegant und interessant zu erscheinen. In der nächsten Soirée wirst Du mich in einem neuen Kleide erblicken, das ohne Zweifel Deinen Beifall haben wird. Vor Tische habe ich den Stoff dazu gekauft. Es ist drei Uhr vorbei – die Putzmacherin wird angekommen sein, um mir das Maaß zu nehmen. Erlaube mir, daß ich mich auf kurze Zeit entferne!“

Bei der letzten Umarmung brachte Wilhelmine den Brief des Doctors geschickt in die Tasche Cäsars. Dann verließ sie hüpfend das Zimmer.

„Mein Gott,“ murmelte Cäsar, „wie furchtbar ist der Gedanke, daß dieses himmlische Wesen durch eine schleichende Krankheit zerstört wird! Der Doctor hat Recht, sie darf nicht ahnen, daß sie bereits den Weg zum Grabe angetreten hat. O, wäre es mir vergönnt, ihr den kurzen Rest des Lebens mit den Freuden des Himmels zu versüßen!“

Dann zog er das Couvert und den Brief aus der Tasche, und warf beides in den Ofen. Kaum hatte er den alten verbrannt, als er durch die Post einen neuen Brief erhielt. Ein Advokat schrieb ihm, daß er beauftragt sei, eine Wechselschuld von hundert Louisd’or von ihm einzuziehen und auf Personalarrest anzutragen, wenn bis morgen Mittag nicht Zahlung geleistet sei. Auch diesen Brief verbrannte Cäsar. Dann öffnete er einen Secretair und untersuchte seine Kasse; sie enthielt zweiundzwanzig Louisd’or.

„Ich muß noch einmal reisen,“ flüsterte er vor sich hin; „Muth, Cäsar, Muth, es gilt ja das Leben Deiner Wilhelmine. Gott wird mir verzeihen, daß ich sie täusche, denn ich täusche sie, weil ich sie heiß und innig liebe!“

Eine Stunde später sagte er zu seiner Frau: „Wilhelmine, ich bin für diesen Abend zu einer Gesellschaft geladen, die aus Männern besteht, deren nähere Bekanntschaft mir wünschenswerth ist.“

„O, mein Freund, so zögere nicht, diese Gesellschaft zu besuchen!“ antwortete rasch die junge Frau.

„Man sagte mir, daß man sich oft erst am Morgen trenne.“

„Ich werde ruhig schlafen, da ich weiß, daß Du Dich amüsirst. Wird auch Rudolphi dort sein?“ fragte sie, indem sie mit Mühe ihre Unbefangenheit bewahrte.

„Ich zweifle daran, da die Gesellschaft aus adeligen Personen besteht.“

Wilhelminen war ein Stein vom Herzen genommen.

„Gehe, mein Freund; ich wünsche Dir einen recht heitern Abend!“ sagte sie, indem sie ihren Mann küßte.

[382] „Warum fragt sie nach Rudolphi?“ dachte Cäsar. „Doch nein,“ fügte er sich beruhigend hinzu, „das Gerücht hat eine leere Vermuthung ausgesprochen, wozu die innige Freundschaft der beiden Frauen Anlaß gegeben. Es ist eben so lächerlich, wenn man sagen wollte: Cäsar von Beck macht Madame Rudolphi den Hof. Uebrigens habe ich vorgebeugt, und Rudolphi wird sein gegebenes Versprechen erfüllen.“

Cäsar machte Gesellschaftstoilette, um seine Frau zu täuschen, warf einen Pelz über, und bestieg einen Fiaker. Er ließ sich nach dem Magdeburger Bahnhofe fahren.

Um diese Zeit empfing Wilhelmine von Elisen einen Brief.




IV.

Bernhard Rudolphi hatte von seinem Vater ein großes Vermögen geerbt, er galt für einen der reichsten Männer der Stadt. Mehr der Unterhaltung als des Gewinnes wegen hatte er sich bei verschiedenen Bank- und Actienunternehmungen betheiligt, wodurch er mit auswärtigen Geschäftsleuten bekannt geworden war. Auf einer Vergnügungsreise lernte er in K. Elisen kennen, die um jene Zeit die gefeierteste Schönheit der Residenz war. Elise gehörte nämlich als tragische Liebhaberin dem Hoftheater an. Bernhard bewunderte die Kunst und liebte die Künstlerin, die nach seiner Ansicht das Ideal weiblicher Schönheit war. Der unabhängige reiche Mann, gewohnt, sich Nichts zu entsagen, befriedigte die brennenden Wünsche seines Herzens, indem er sich um Elisens Gunst bewarb, diese erhielt, und das schöne Mädchen, wegen dessen ein Gardeoffizier den andern im Duell erschossen, heirathete, ohne sich um die Meinung der Welt und die Klage der Recensenten zu kümmern, die da meinten, daß die Liebe der deutschen Bühne einen unersetzlichen Verlust bereitet habe. Das erste Jahr lebte Madame Rudolphi völlig glücklich, sie liebte ihren Mann, und ihr Mann betete sie an. Im zweiten Jahre kamen die ersten Stunden, in denen sie mit Sehnsucht an die Bühne zurückdachte, denn Bernhard war mehr tragischer Liebhaber als Gatte. Im dritten Jahre bedauerte sie, die freie Künstlerlaufbahn mit dem Joche vertauscht zu haben, das ihr die Eifersucht ihres Mannes auferlegte. Der Leser kennt bereits die Art und Weise, wie sich diese Eifersucht äußerte.

Es giebt Heirathen, welche die Liebe, andere, welche der Verstand contrahirt – Bernhard Rudolphi hatte aus Eitelkeit geheirathet. Zu dieser dritten Kategorie zählen, mit wenigen Ausnahmen, alle Verbindungen, die zwischen reichen Männern und Künstlerinnen geschlossen werden. Der Mann ist eitel auf den Ruhm seiner Frau, und die Frau auf das Geld ihres Mannes. Aber leider ist diese Eitelkeit nur von kurzer Dauer; schwindet sie, so schwindet auch die Grundlage des ehelichen Glücks.

Die Eitelkeitsheirath, die wir zu schildern versuchen, war in das erste Stadium der Entwickelung getreten. Bernhard war eifersüchtig, weil er des frühern Standes seiner schönen Frau gedachte, und Elise fühlte sich in ihrer Würde gekränkt, weil sie sich ihres Ruhmes erinnerte. Die Liebe war durch eine dreijährige Ehe ein wenig abgekühlt.

Seit dem letzten Besuche Wilhelminens im Hause des Particuliers waren acht Tage verflossen. Die beiden Gatten beobachteten der Welt und den Domestiken gegenüber ein Betragen, das durchaus nichts von ihrem Seelenzustande verrieth; sie affectirten den Ton, den man bei ihnen gewohnt war. Diese Ueberwindung vermehrte die Unzufriedenheit eines Jeden mit der eingetretenen Situation. Bernhard beharrte in seinem Entschlusse, der koketten Gattin die Nichtigkeit seines Verfahrens zu beweisen – und Elise ward in dem Vorsatze bestärkt, ihrem Gatten die Lächerlichkeit seiner ungegründeten Eifersucht darzuthun. Beide hatten ihre Pläne eingeleitet.

Eines Morgens hatte Bernhard seine Toilette vollendet, um auszugehen. Da trat Fritz, der Kammerdiener, in das Zimmer, und überreichte seinem Herrn eine Karte.

„Der Ueberbringer wünscht den Herrn zu sprechen!“ sagte er.

Bernhard warf einen Blick auf das feine, glänzende Blatt.

Er las: Gottfried Christian Beck, Senator.

„Beck?“ fragte er sich verwundert. „Sollte er zu Cäsar von Beck in Beziehung stehen? Der Mann ist Senator, ich darf ihn nicht abweisen.“

Er gab Befehl, den Fremden einzuführen.

Nach einer Minute trat unser Senator ein, den wir auf der Reise kennen gelernt haben. Den Pelz hatte er im Vorzimmer abgelegt, er erschien schwarz gekleidet und mit dem weißen Halstuche, ohne das kein Senator einen schwarzen Frack tragen darf. Gottfried Christian Beck sah einem gutbepfründeten und zum Gustav-Adolf-Vereine gehörenden Geistlichen eben so ähnlich, als einem Senator. Mit der Gravität, die bei einem kurzen, dicken Manne stets etwas Lächerliches trägt, verneigte er sich.

„Herr Rudolphi?“ fragte er lächelnd.

Bernhard verneigte sich so aristokratisch, als möglich.

„Der Weinhändler Flemming in Bremen, mein Freund, den ich um eine Empfehlung für Leipzig bat, hat mich an Herrn Rudolphi adressirt. Ich gedenke mich einige Zeit hier auszuhalten, und erlaube mir, mich auf meinen Freund zu beziehen. Hier ist sein Brief.“

„Herr Senator,“ sagte Bernhard, nachdem er den schmeichelhaften Empfehlungsbrief gelesen, „ich schätze mich glücklich, daß Herr Flemming, dessen Vater mit dem meinigen lange in Geschäftsverbindung stand, mir die Ehre Ihrer Bekanntschaft verschafft. Verfügen Sie über den ganzen Einfluß, den ich in meiner Vaterstadt besitze.“

Rudolphi bot seinem Gaste einen Sessel an. Der Senator, ein taktvoller Mann, ließ sich zu gleicher Zeit nieder, als Bernhard ihm gegenüber Platz nahm.

„Mein Herr,“ begann der Senator, indem er seine fleischigen Hände über dem runden Bauche faltete und einen Daumen um den andern spielen ließ – eine Gewohnheit, die er von seinem Amtsvorgänger adoptirt hatte – „mein Herr, ich benutze sofort Ihre Gefälligkeit und bitte Sie, mir ein halbes Stündchen zu widmen. Eine Reise im Winter ist selbstverständlich keine Vergnügungsreise –“

„So sind Sie in Geschäften nach Leipzig gekommen?“

„Nein, eigentlich nicht, wenn man Familienangelegenheiten nicht als Geschäfte betrachtet.“

„Ah, in Familienangelegenheiten!“ sagte Bernhard gedehnt, denn er dachte an Cäsar von Beck, und wunderte sich, warum der Senator sich gerade an ihn wendete.

„Mein jüngerer Bruder war Legationsrath in O … schen, Diensten. Als er starb, hinterließ er einen Sohn und ein sehr mäßiges Vermögen. Der Sohn, Cäsar von Beck, sollte Cameralwissenschaft studiren; zu diesem Zwecke brachte man ihn nach Braunschweig auf das Gymnasium, und später ließ man ihn die Universität Göttingen beziehen. Nach beendeten Studien hielt sich mein Neffe in Braunschweig auf, weil er Lust hatte, in herzogliche Dienste zu treten. Das Todesjahr seines Vaters war auch das seiner Großjährigkeit, und er empfing die Hinterlassenschaft des Legationsraths. Herr Cäsar schien darauf gewartet zu haben, denn vier Wochen nach dem Antritte der Erbschaft verheirathete er sich mit einer jungen Sängerin, die er vom Parterre aus lieben gelernt hatte. Die Einzelnheiten dieser Heirath kenne ich nicht, mir ist selbst der Name der Sängerin unbekannt; ich weiß nur so viel, daß sie sehr schön und ein unbescholtenes Mädchen ist. Cäsar ist ein wenig Schwärmer, aber er war stets ein guter Junge, dem ich ein recht glückliches Loos gewünscht hätte. Nach der Hochzeit, die in aller Stille abgemacht wurde, ging er mit seiner jungen Frau auf Reisen, und es verflossen mehrere Jahre, ohne daß ich etwas von ihm hörte. Da erhielt ich vor vier Wochen einen Brief von Frau von Beck, in dem sie mir anzeigt, daß Cäsar gemüthskrank zu werden scheine, wenn er es nicht schon sei; sie glaube, schrieb sie, die Schwermuth ihres Mannes sei vorzüglich dadurch entstanden, daß der Bruder seines Vaters, der einzige Verwandte auf dieser Welt, ihm zürne, und sie könne begreifen, daß ihre Heirath der Grund dieses Zerwürfnisses sei. Darum bitte sie mich, dem Neffen ein freundlicher Onkel zu sein und ihm die Freudigkeit des Gemüths durch einen väterlichen Brief zurückzugeben. Die Frau schreibt vortrefflich, und ich muß bekennen, daß mich ihre zärtliche Liebe zu Cäsar tief gerührt hat. Nun aber möchte ich wissen, in welcher Beziehung mein Neffe sich über mich zu beklagen hat?“ rief der Senator. „Ich habe mich nicht von ihm, sondern er hat sich von mir zurückgezogen. Hätte er an mich geschrieben, so würde ich ihm freundlich geantwortet haben, denn die Heirath mit seiner Sängerin kümmert mich nicht, weil er, und nicht ich, mit seiner Frau zu leben hat. Ich bin und bleibe [383] Garçon, so lange ich athme. Die Sache machte mir Sorgen, denn Cäsar ist mein einziger Verwandter und ein guter Junge, ich möchte nicht, daß er durch ein Vorurtheil unglücklich würde. Er glaubt, ich sei ihm böse – und doch hat er keine Beweise davon. Dies läßt allerdings auf Hypochondrie schließen, eine Krankheit, an der auch sein Vater gelitten hat, und die ihm das Leben bis zur Unleidlichkeit verbitterte. Ich hielt es für Pflicht, dem Fortschreiten des Uebels, zu dem ich Anlaß gegeben haben soll, vorzubeugen, und entschloß mich zu einer Reise nach Leipzig, um meinen hypochondrischen Neffen zu beobachten, ohne daß er es weiß, denn es soll nicht scheinen, als ob ich ihm nachliefe. Nun bin ich seit einigen Tagen in Leipzig, und zog unter der Hand Erkundigungen ein. Niemand konnte mir nähere Auskunft geben, weil Cäsar sich nur kurze Zeit hier aufhält und wenig bekannt ist. Gestern erfuhr ich, daß Herr Bernhard Rudolphi mit Cäsar, und Madame Rudolphi mit Frau von Beck in sehr freundschaftlichen Verhältnissen stehen; da der glückliche Zufall es außerdem auch wollte, daß ich an Sie empfohlen war, so zögerte ich nicht einen Augenblick, mich Ihnen vorzustellen, um Sie zu bitten, mir in der Erreichung meines Zwecks behülflich zu sein.“

Bernhard hatte mit Erstaunen zugehört. Das Leben des Mannes, auf den er einen glühenden Haß geworfen, lag jetzt klar vor ihm. Daß Wilhelmine früher dramatische Künstlerin gewesen, hatte er nicht gewußt – er glaubte sich jetzt die besondere Freundschaft zwischen ihr und Elisen erklären zu können. Aber auch sein Verdacht erhielt dadurch neue Nahrung, und Elise erschien ihm doppelt strafbar.

„Mein Herr,“ fragte er nach einer Pause, „auf welche Weise, kann ich Ihnen nützlich sein?“

„Zunächst dadurch, daß Sie mich den Zustand meines Neffen kennen lehren, den wohl Niemand besser wissen kann, als Sie, da Sie mit ihm befreundet sind. Aus Offenheit glaube ich um so mehr rechnen zu können, da Sie Ihrem Freunde einen Dienst erzeigen, den er Ihnen von Herzen danken wird.“

„O gewiß, Sie können auf meine Offenheit rechnen!“ rief Bernhard mit einem Anfluge von Bitterkeit, denn er fühlte das Bedürfniß, dem Senator, der ihm ein würdiger Mann zu sein schien, sein Herz auszuschütten. „Aber ich sende die Bemerkung voraus, daß ich durch meine Offenheit nicht dem Neffen, sondern nur dem Onkel einen Dienst leiste.“

„Wie?“ fragte erstaunt der Senator. „Demnach werde ich nichts Gutes hören.“

Bernhard war so aufgeregt, daß sich sein Gesicht röthete. Der Zorn darüber, daß ihm Elise den frühern Stand Wilhelminens verschwiegen, also ein Geheimniß vor ihm hatte, trieb ihm die Galle in das Blut.

„Urtheilen Sie selbst, mein Herr!“ fuhr er fort. „Wir lernten Herrn von Beck und Gattin in Karlsbad kennen, oder richtiger gesagt, unsere beiden Frauen lernten sich kennen, denn ich verhehle es nicht, daß Herr von Beck nie meine Sympathie gehabt hat. Nach beendeter Kur entschloß sich Ihr Neffe, aus Rücksicht für seine Frau, wie er sagte, den Winter in Leipzig zu verleben. Hier ward die Freundschaft der beiden Frauen so innig, daß sie einen Reflex auf die beiden Männer warf. Kurz, mein Herr, das Gerücht amalgamirte Elisen, Cäsar, Wilhelmine und Bernhard Rudolphi. Die Welt weiß, daß auch meine Frau einst der Bühne angehörte, und Sie, Herr Senator, wissen ohne Zweifel, daß eine Schauspielerin, wenn sie in das Privatleben übergetreten ist, immer noch mit Vorurtheilen zu kämpfen hat. Aus diesem Grunde veranlaßte ich meine Frau, den intimen Umgang mit Frau von Beck aufzugeben.“

„So!“ murmelte der Senator. „Und Cäsar?“

„Cäsar ist derselbe geblieben.“

„Hypochonder?“

„Wenn Sie zugeben, daß man aus Hypochondrie ein Spieler ist – ja!“

„Wie, Cäsar spielt? Natürlich Whist, L’hombre –“

„Nein, mein Herr, er spielt an der Spielbank in Köthen, wo man ihn noch vor kurzer Zeit die ganze Nacht gesehen hat. Abends fährt er still und heimlich hinüber, und Morgens kommt er zurück. Ich überlasse es Ihrem Ermessen, ob dies ein Zug von Hypochondrie ist. Und dazu kommt noch, daß er bedeutende Schulden gemacht hat. Ein Mann, der mit reichen Leuten verkehrt, hat Kredit.“

„Was ist das?“ dachte der Senator. „Sollte man auch mit meiner Gutmüthigkeit spielen wollen? Will die Schauspielerin mich zu einem Komödien-Onkel machen?“

„Dies ist Alles, mein Herr, was ich Ihnen über Cäsar von Beck sagen kann.“

„Es genügt, um meine Ansicht festzustellen,“ antwortete der Senator, indem er aufstand. „Nehmen Sie meinen Dank und die Versicherung, daß ich zu Gegendiensten bereit bin.“

„Diskretion empfehle ich nicht, da Sie es begreiflich finden werden, daß sie nur unter den obwaltenden Umständen angenehm ist.“

Der Senator reichte dem jungen Mann die Hand, nahm seinen Hut, und verließ das Zimmer. Gleich nach dem Senator verließ auch Rudolphi das Haus.




V.

Es war gegen drei Uhr Nachmittags, als Lorenz zu seinem Herrn in das Zimmer des Hotels trat, das er seit acht Tagen bewohnte. Der Senator befleißigte sich der Verdauung eines reichlich genossenen Mittagsmahls; er befand sich in einer gewissen behaglichen Ruhe, in dem glücklichen Zustande, der genau die Mitte hält zwischen dem Tiefsinne des philosophischen Denkers und der Zufriedenheit wiederkäuender Thiere. Ein Psycholog, – ich erinnere mich seines Namens nicht mehr – nennt diesen Zustand die materielle Melancholie der Gastronomie. Wie man sieht, hatten die übeln Nachrichten von dem Neffen dem Onkel den Appetit nicht verdorben.

„Was willst Du, Lorenz?“

„Herr Senator, ich habe eine Wohnung gefunden, die für uns paßt.“

„Hast Du sie gemiethet?“

„Nein; die Besitzerin des Hauses verlangt, daß Sie selbst den Kontract mit ihr abschließen.

„Die Besitzerin?“ murmelte der Senator in einem Tone, der sein Mißfallen über dieses Wort verrieth.

„Mir wäre freilich ein Besitzer lieber gewesen; aber da die Zimmer elegant und bequem sind, und das Haus in der Nähe der Wohnung Ihres Neffen liegt, so halte ich dafür, daß wir ein Auge zudrücken.“

„Laß einen Fiaker kommen!“

„Herr Senator.“

„Lorenz?“

„Ich glaube nicht daran, daß Herr Cäsar ein Spieler geworden ist. Man hat ihn verleumdet.“

„Mir wäre es lieb, wenn Du Recht hättest. Um die Wahrheit zu erfahren, werden wir einige Zeit hier bleiben.“

„Das beruhigt mich; ich hole den Fiaker.“

Nach einer Viertelstunde bestiegen Herr und Diener den Wagen, der bald darauf vor einem großen, unfreundlichen Hause hielt. Lorenz ging durch die offene Hausflur in den Hof, und zog dort an einer Glocke, die sich neben der Thür des Hintern Hauses befand. An dieser Thür war ein Schild mit der Aufschrift befestigt: „Dr. Nataß, praktischer Arzt und Geburtshelfer.“ Eine Magd öffnete.

„Wir wünschen Madame zu sprechen!“ sagte Lorenz.

„Treten Sie gefälligst in dieses Zimmer; ich werde Madame rufen.“

Die Magd ließ den Senator in ein kleines Vorzimmer treten. Lorenz, der seine Pflicht kannte, blieb auf der schmalen Hausflur zurück. Der Senator ließ sich auf einem Stuhle nieder, und wartete. Da hörte er in dem angrenzenden Zimmer, dessen Thür geschlossen war, Stimmen. Bei der tiefen Stille, die in dem Hause herrschte, konnte er jedes Wort verstehen. Ohne es zu wollen, ward er Zeuge folgenden Gesprächs: „Herr Doctor,“ sagte eine Frauenstimme, „es liegt mir viel, sehr viel daran, Gewißheit über den Gesundheitszustand der jungen Dame zu erhalten. Man sagte mir, sie habe die Schwindsucht.“

„Und Sie glauben nicht daran, Madame?“ fragte die sanfte Stimme des Arztes.

„Ja, ich habe Gründe dazu. Von Ihrem Ausspruche hängt mein Entschluß ab, der für die betreffende Dame von Wichtigkeit ist.“

[384] „Um ein richtiges, gewissenhaftes Urtheil zu geben, müßte ich die Dame ärztlich untersuchen.“

„Dies möchte ich vermeiden. Die Leidende soll nicht ahnen, daß etwas geschieht, um ihren Gesundheitszustand zu erforschen, viel weniger noch, daß ich ein lebhaftes Interesse an ihr nehme. Um Ihnen Alles zu sagen: ich halte die Krankheit für erdichtet, man will eigennützig einen Zweck erreichen.“

„Wie aber soll ich es anfangen, mich der Dame zu nähern, die ich nicht kenne?“

„Das wird schwer, aber nicht unmöglich sein, mein Herr. Für jetzt liegt mir daran, zu erfahren, ob Sie geneigt sind, sich der Untersuchung gegen ein Honorar von zehn Louisd’or zu unterziehen.“

„Sie sehen mich bereit,“ antwortete der Doctor.

„Und Sie glauben, daß eine Unterhaltung oder Beobachtung genügt, um Gewißheit zu erhalten?“

„Es giebt Zeichen, die den Augen des erfahrenen Arztes nicht entgehen. Uebrigens werde ich mich bemühen, genau zu beobachten. Ob ein Leiden vorhanden ist, läßt sich auf diese Weise wohl erkennen; aber die Natur dieses Leidens – –“

„Gleichviel, ich erwarte das Resultat Ihrer Beobachtungen, Herr Doctor.“

„Wie aber nähere ich mich der Dame, ohne Verdacht zu erwecken?“

„Ich habe bereits ein Mittel ersonnen. Die junge Frau wird zu Ihnen kommen, um Nachrichten von ihrer Mutter in Empfang zu nehmen, mit der sie seit langer Zeit auf einem gespannten Fuße lebt. Die Mutter nun beauftragt Sie, der Tochter mitzutheilen, daß sie bereit sei, Unterstützung zu gewähren, wenn das Geld nicht in die Hände ihres Mannes geräth, der ein leidenschaftlicher Spieler sein soll. Ich bitte Sie, diese fünfhundert Thaler der jungen Dame einzuhändigen. Während der Unterhaltung wird es Ihnen wohl möglich sein, die vermeintliche Kranke zu beobachten und eine Ansicht von ihrem Zustande zu gewinnen.“

„So habe ich wohl die Ehre, die Mutter der Dame vor mir zu sehen?“

„Nein, mein Herr; Madame Bertram in Braunschweig, die Mutter, ist meine Freundin, die durch Kränklichkeit abgehalten wird, zu reisen. Ich leiste ihr diesen Dienst bei Gelegenheit meines Aufenthaltes in Leipzig. In einigen Tagen werde ich mir erlauben, Sie wieder zu besuchen.“

„Ich werde nicht verfehlen, den mir gewordenen Auftrag zu realisiren!“

Jetzt ward die Thür geöffnet, und eine reichgekleidete Dame erschien. Sie trug einen weißen Atlashut mit Straußfedern und einen kostbaren mit Zobel verbrämten Pelzmantel. Die Hände staken in einem großen Muffe, ebenfalls aus Zobelpelz. Der Senator erhob sich. Ueberrascht trat er einen Schritt zurück, als er in der Dame seine feindliche Reisegefährtin erkannte. Mit einem ironischen Lächeln verneigte er sich. Schon wollte die Landdrostin danken; da aber erkannte sie auch ihren Feind – sie warf den Kopf zurück, daß die Locken über ihre leicht geschminkten Wangen fielen, und verließ hastig das Zimmer und das Haus.

„Entschuldigen Sie!“ sagte der Doctor, indem er an dem Senator vorüberging und der davoneilenden Dame das Geleit gab.

Gottfried Christian Beck hatte nicht lange Zeit, über dieses zufällige Zusammentreffen sich zu wundern und zu lächeln, denn gleich nach der Entfernung des Doctors trat eine Frau ein, die seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Diese Frau war groß und korpulent; trotzdem aber schien ihr Kopf unverhältnißmäßig dick zu sein. Die Backen – wir würden Wangen sagen, wenn der Ausdruck nicht zu zart wäre – die Backen, die Stirn, die Nase und das fette Kinn waren von einem scharlachrothen Firniß überzogen, in dem sich an manchen Stellen kleine Erhöhungen zeigten. Durch die schmalen braunen Lippen schimmerte ein scharfes, schneeweißes Gebiß. Ein schwarzes Flortuch, dessen Spitze in den Nacken hinabsank, bedeckte das dünne flachsgelbe Haar, das über der kugelrunden Stirn gewaltsam zu einem Scheitel geordnet war. In dem linken Arme trug die Frau ein zierliches schwarzes Körbchen, in dem ihr weißes Schnupftuch und ein Schlüsselbund lagen. Mit einem holdseligen Lächeln und einer Verneigung à la Gurli grüßte die Frau vom Hause.

Hätte sich der gute Senator nicht in der Melancholie der Gastronomie befunden, so würde es ihm unmöglich gewesen sein, bei diesem naiven Gruße das laute Lachen zu unterdrücken. Es gelang ihm, seinen Ernst zu bewahren.

„Sie haben sich diesen Morgen nach meublirten Zimmern erkundigen lassen?“

„Ja, Madame!“

„Wie viel gedenken Sie monatlich anzulegen?“

„Der Preis gilt mir gleich, wenn ich elegant und bequem wohne.“

„Ich bitte, folgen Sie mir, ich werde Ihnen die Localität zeigen.“

Man stieg zu dem ersten Stocke hinan. Die Zimmer, die der Senator hier sah, fanden seinen Beifall.

„Was fordern Sie Miethzins?“ fragte er.

„Monatlich fünfzehn Thaler.“

„Gut, so werde ich mit dem Herrn Doctor Nataß abschließen.“

„Verzeihung, dies ist meine Sache!“ sagte die Dame pikirt.

Gottfried Christian Beck war Senator, mithin ein wenig Jurist. Außerdem ließ er sich in Geschäftsangelegenheiten nicht gern mit Frauen ein.

„Ein rechtsgültiger Abschluß kann aber doch nur stattfinden, wenn der Herr Doctor – –“

„Ich kontrahire unter Beitritt meines Mannes – der Form wegen!“

„Ah, unter Beitritt Ihres Mannes!“ antwortete gedehnt der Senator, den die Herabsetzung der Manneswürde pikirte. „Kontrahiren Sie gefälligst mit meinem Bedienten, ich werde dann dem Kontracte beitreten.“

Das flammende Gesicht der Hausfrau schien Funken zu sprühen. Ihr blaugrünes Auge warf durchbohrende Blicke auf den kleinen, dicken Mann, der ruhig die Einrichtung des Zimmers betrachtete. Gern hätte sie den Unverschämten, der ihre Autorität nicht anerkennen wollte, abgewiesen; aber die Aussicht auf den reichen Gewinn und die Lust, sich an ihm zu rächen, mäßigte den Zorn.

„Wenn wollen Sie das Zimmer beziehen?“ fragte sie lächelnd.

„Lieber heute, als morgen; das Getümmel in dem Hotel ist mir lästig.“

„Morgen früh werden Sie alles bereit finden.“

„Nehmen Sie diesen Doppellouisd’or als Angeld. Nicht wahr, der vollkommensten Ruhe darf ich mich versichert halten?“

„Es wird Sie keine Fliege stören, mein Herr!“

„Und darf ich dieses Piano benützen?“

„Es gehört zur Ausstattung des Zimmers.“

Der Senator grüßte, und entfernte sich. Er trat mit Lorenz, der im Hause gewartet hatte, auf die Straße. Dem drüben Himmel entströmte ein dichter Regen.

„Wo ist unser Wagen, Lorenz?“

Beide sahen sich vergebens nach dem Fiaker um, er war verschwunden.

„Das begreife ich nicht,“ murmelte der lange Bediente; „ich habe den Kutscher noch nicht bezahlt. Vielleicht hat ihn die Dame genommen, die vorhin den Doctor verließ.“

„Hast Du der Dame näher in das Gesicht gesehen, Lorenz?“

„Nein, sie zog den Schleier herab, als sie an mir vorüberging.“

Der Senator schwieg; aber er dachte daran, daß die Landdrostin eine kleine Rache an ihm geübt haben könne, indem sie sich bei diesem schlechten Wetter seines Miethswagens bemächtigt. Und er täuschte sich nicht: die alte Dame hatte dem Kutscher zwei Thaler geboten, und dieser war eigennützig genug, um das Geld auf Kosten seines ersten Passagiers zu verdienen. Was war nun zu thun? Lorenz wußte aus Erfahrung, daß es bei schlechtem Wetter schwer sei, einen Fiaker aufzutreiben; er wollte so eben den Vorschlag aussprechen, der Herr möge in dem Zimmer des Doctors warten, bis er einen Wagen besorgt hätte – da rasselte ein Fiaker die Straße herab. Nach einigen Augenblicken erkannte er den treulosen Kutscher, der rasch vorüberfahren wollte, als er die beiden betrogenen Passagiere sah. Der lange Bediente, ein Feind aller Unredlichkeiten, rief dem Kutscher zu; als dieser nicht hörte, griff er ohne Bedenken dem Pferde in die Zügel.

„Halt,“ rief er, „wir haben den Wagen gemiethet!“

„Er ist besetzt!“ antwortete der Kutscher.

„Gleichviel, mein Herr hat erste Recht!“ antwortete der erbitterte [385] Lorenz, indem er den Schlag aufriß. „Wenn Sie nicht halten, melde ich Ihre Nummer der Polizeibehörde.“

Diese Drohung wirkte; der Kutscher ließ sich auf Unterhandlungen ein.

„Die Dame erlaubt wohl, daß Sie meinen Wagen mit benutzen,“ sagte er. „Ich wollte sie an Ort und Stelle bringen, und dann zurückkommen. Das Wetter ist schlecht, Sie müssen sich vereinigen. Außerdem weiß Madame, daß ich engagirt war, ich habe es ihr gesagt.“

Der Senator erkannte seine Feindin, die ruhig in dem Wagen saß.

„Ah,“ dachte er, „jetzt kann ich Gleiches mit Gleichem vergelten.“

Er trat an den Wagen und stieg ein.

(Fortsetzung folgt.)




Noch ein Besuch im zoologischen Garten des Regentsparks zu London.

Das Eland.

Die bell- und lancaster’sche Lehr- und Unterrichtsmethode erfreut sich nicht nur einer in Tausenden steigenden Anzahl von Schülern, sondern auch der prächtigsten und großartigsten Schulen. Keine noch so gelehrte, zünftige, vierfacultätige Universität der Welt kann sich mit der lancaster’schen zoologischen Hochschule im Regentsparke zu London vergleichen. Die Naturwissenschaft, auf den Universitäten veralteten Stils ein Winkel, ein geduldeter Eindringling, hat sich überall in der goldenen Breite und Thätigkeit des grünen Lebens Säulen und Tempel und Universitäten aufgebaut und fragt nicht mehr nach den vier Facultäten und Examinatoren in langem Talar und mit ciceronianischem Latein, nicht mehr nach Abiturienten-Zeugnissen, Matrikeln und dergleichen Firlefanz von schutzzöllnerischen Zunftartikeln. Sie öffnet ihre Hör- und Schausäle Jedem, der da kommen und sehen und sich durch die landlebendigen Formen und Gestalten der Natur freudig belehren und belehrend erfreuen will. Jede große Hauptstadt Europa’s hat bereits ihre Museen, zoologischen, botanischen und andern Gärten, Gartenlauben und Anstalten als blühende Lancasterschulen. Künftig werden sich auch kleinere Städte und Gemeinden mit diesen neuen Schulhäusern versorgen. Bis jetzt kann sich kein Ort der Welt so großartiger Anstalten dieser Art rühmen, als London mit seinem Krystallpalaste,[1] diesem lebendig gewordenen, in Fleisch und Blut verwandelten Conversations-Lexikon, seinen vielen botanischen [386] Gärten, Treibpalästen und zoologischen Parks. Keiner ist größer, reizender und vollständiger, als mein berühmter Nachbar hier, der zoologische Garten im Regentspark, in welchem seit seinem 26jährigen Bestehen über 14,000 fremde Thiere als – Professoren der Naturwissenschaft Millionen von Menschen durch ihr bloßes Dasein Anschauungsunterricht gaben. Jetzt beträgt die Zahl dieser Professoren zwischen 14 und 1500 Exemplaren, darunter manche, die noch nie anderswo in Europa gesehen wurden. (Die gewaltigste und umfangreichste dieser Raritäten hier, das Nilpferd, Hippopotamos, soll in einen gußeisernen Palast mit dem gehörigen Wasser gepackt werden, und auf dem Kontinente, durch Frankreich, Deutschland u. s. w. Kunstreisen machen.) Der naturwissenschaftliche Werth des zoologischen Gartens besteht aber weniger in solchen einzelnen Raritäten, als in ganzen Kolonieen solcher anderswo bis jetzt unmöglichen Seltenheiten, besonders Mollusken, Zoophyten und sonstiger niedriger und niedrigster Formen animalischen Lebens, die neuerdings solches Interesse erregen, daß Marine-Aquarien in England rasch zur herrschenden, ersten „nobeln Passion“ werden und die etwas geschmacklose Poultromanie, Leidenschaft für Vogel, besonders Hühnervieh, gänzlich verdrängen. Die Aufschließung der Meerestiefen mit ihren Millionen sonderbarer Pflanzen, Thieren und Feenpalästen durch das Zoophytenhaus in Regentspark giebt dieser Anstalt allein den höchsten, nicht leicht anderweitig erreichbaren Werth für die lebendige Naturwissenschaft, die von 1848 bis 1854 blos allein Montags (dem wohlfeilen Volkstage mit 6 Pence Entrée) über 700,000 Menschen zu Gute kam.

Ein anderweitiges, nicht hoch genug zu schätzendes Verdienst dieser zoologischen Hochschule ist ihre praktische Anweisung und Experimentirung, Geschöpfe anderer Klimate zu acclimatisiren und einzubürgern, in Haus und Hof einzuführen und für Industrie, Ackerbau, Leibesnahrung und Nothdurft zu verwerthen. In dieser Sphäre sind schon überraschende Ergebnisse erzielt worden. Alte Aeffinnen laufen mit ihren putzigen Säuglingen, ganz wahnsinnig vor Zärtlichkeit und „Affenliebe“ umher und drücken sie, daß die kleinen Monstra oft jämmerlich schreien und dadurch die Zärtlichkeiten der Alten nur leidenschaftlicher machen, so daß die Wärter oft die Mutter prügeln müssen, um ihre Liebe abzukühlen. Allerliebste, schlanke, graziöse Giraffenfüllen springen lustig umher um die endlos langen Beine der Mutter und guken schelmisch hoch hinauf zu den Augen, die im kleinen Kopfe hoch in der Lust schweben, und immer noch voller Verwunderung auf den dicken, tückischen Nachbar, das Flußpferd, herabstaunen. Schlangen haben Eier gelegt und aus den Eiern sind Junge herausgekrochen und gedeihen. Diese bürgerliche Häuslichkeit und das Familienglück von Bewohnern der heißen Klimate bekommt besondern Werth, wenn die Familien fähig werden, sich unsern Haus- und Nutzthieren anzuschließen. Auch hier kann man sich schon erfreulicher Resultate rühmen. Hühner-, Schafe-, Schweine-, Kuh-, Ziegen- und Pferdearten ferner Zonen sind auf dem Wege, nützliche Mitglieder unserer „gemäßigten“ bürgerlichen Gesellschaft zu werden.

Zu den interessantesten und nützlichsten dieser Bereicherung unseres Geldes, welches im Lateinischen direct von „Vieh“ herkommt (pecus Reichthum in Thieren, pecunia Geld), gehört die größte Sorte von Antelopen aus den südafrikanischen Wildnissen, das Eland. Ueberhaupt ist diese heitere, reiche Variation der Naturthemata: Hirsch, Reh, Schaf, Kuh, Ochse u. s. w., welche in den Antelopen von der Größe eines Hasen bis zu der eines Gemeindeochsen durchgespielt werden, im Regentsparke besonders reich vertreten. Die Elands kamen zuerst 1851 als Geschenk des ehemaligen Premierministers, Earl von Derby, in fünf Exemplaren in den zoologischen Garten. Jetzt sind es aus eigenen Mitteln derselben fünfzehn, und eines der hier Gebornen ist in diesem wunderschönen Monat Mai 1856 bereits wieder Mutter geworden. Sie haben in ihrer Gefangenschaft einen ziemlich großen Spielraum von Freiheit, kommen aber doch in ihren lustigen Sprüngen nach allen Seiten immer bald auf Eisenstäbe, vor welchen die Leute stehen und die Kinder ihre Händchen durchstecken, um sie an der Nase oder am Halse zu krauen und ihnen so die Sklaverei zu versüßen. Doch sie sind der Wildniß und uneingehegter Ebenen und Wälder ihrer Ahnen eingedenk und bedürfen jedenfalls wie fast jeder Sterbliche in der Civilisation, größerer Freiheit, um zu gedeihen. Und so nahte ihnen auch ein Befreier in der Person des Viscount Hill, eines mit Leiden- und Wissenschaft Ackerbau treibenden englischen Noblen, der einige der jungen Elands kaufte, um sie in die gesundere, sonnigere Atmosphäre seines großen Parks zu Hawkstone zu bringen, und sie zu Haus- und Nutzthieren zu bilden. Ihr Fleisch gilt als eine der größten Delikatessen der Jagd in Südafrika. Und da sie leicht fett werden und der Großvater im Regentspark ohne besondere Mast über 2000 Pfund schwer geworden, hat man alle Aussicht auf ein kostbares Stück Elandbraten in künftigen Hotels. Sie wachsen sehr schnell, und da ihre Fortpflanzungsfähigkeit in dem feuchten englischen Klima sich mehrfach bewährte, können unsere Gasttische in einer nicht zu fernen Zeit auf einen neuen, delikaten Gaumenluxus rechnen, und unsere Ackerbau und Viehzucht treibenden Männer praktischer Naturwissenschaft (das sollte jeder Bauer werden) auf eine eben so substantielle, als anmuthige Bereicherung seines lebendigen Vermögens.

Die Gruppe von Elands, nach dem Leben gezeichnet von dem deutschen Maler J. Wolf, dem speciellen Künstler der zoologischen Gesellschaft, redet für sich selbst und bedarf daher weiter keiner Erklärung. Namentlich ergiebt sich die Combination verschiedener Thiergebilde in Form und Gestaltung derselben sofort aus unmittelbarer Anschauung.




Land und Leute.
Nr. 5. Die Ruhl und die Rühler.
(Schluß.)
Die häusliche Einrichtung und die Blumenleidenschaft der Ruhler. – Ihre Hahnenkämpfe, Spiele und Tänze. – Das Glockenläuten. – Ihre Sprache.

Im Sommer wurden im Walde Erdbeeren, Himbeeren, Heidelbeeren, Brombeeren und Preißelsbeeren gesammelt, im Herbst Haselnüsse, Bucheckern und Eicheln. Die Bucheckern gedeihen nur in einem Zwischenraume von mehren Jahren. Im Spätherbst eines Eckernjahres lag dann die ganze Einwohnerschaft des Orts in den Buchenwäldern und kehrte und siebte die ölige Frucht zusammen, oder schüttelte sie von den Aesten auf unten ausgebreitete Tücher. Da gewann man das kostbare Schmalzöl für Kuchen und Suppen auf mehre Jahre. –

Es gab nur wenige sogenannte Kaufleute, „Kauf- und Handelsherren“ in der Ruhl, welche mit großen Waarenvorräthen die Messen bezogen, dagegen eine Menge kleiner Handelsleute, die nur eine Kiste verluden, oder ihre Waaren selbst auf dem Reff trugen. Das Geschäft war in den ersten dreißig Jahren des 18. Jahrhunderts blühend und einträglich. Die Kaufleute waren mäßig reich; die Handelsleute wurden es; die Fabrikanten befanden sich wohl. Der Hauptabsatz des Fabrikats wurde auf den Messen in Breslau, Frankfurt an der Oder, Königsberg und Danzig, überhaupt nach Preußen, Schlesien und Polen gemacht. Die Handelsleute frequentirten zumeist die Messen in Naumburg, Leipzig und Braunschweig. Es gab aber auch eine Anzahl Messerschmiede, welche ihr Fabrikat auf den zuletztgenannten Messen und den Jahrmärkten der thüringischen Städte vertrieben. Manche packten wohl ohne Umstände ihre Messer in das lederne, oft sehr geflickte Schurzfell, banden es auf das Reff, setzten den Bauer mit dem Dußpfeifer darauf, legten die Leimscheide mit den Fangrüthchen, das Gärnchen und die Mehlwürmerschachtel dazu und wanderten so fröhlich von dannen. Nicht selten vervollständigte das Blasrohr den geringen Reiseapparat. So konnten sie in Wald und Feld ihre Vogelfanglust befriedigen. Aber sie fingen den Bauern auch die Tauben weg und ließen sich in den Herbergen eine Mahlzeit daraus zurichten.

Die häusliche Einrichtung der Rühler war ungemein einfach. Von der Straße trat man durch die Hausthür in die reinliche Küche, die ihr Licht durch die offne Oberthür empfing und mit der reich versehenen Töpfenbank geziert war. Von hier trat man [387] in die Stube, an deren aus runden in Blei gefaßten Glasscheiben bestehenden Fenstern die mit mehreren Schraubstöcken garnirte Werkbank hinlief. Ueber derselben, an den Fenstern in der Stube und außen am Hause hingen die kleinen hölzernen Gitterbauer mit den Finken, Rothkehlchen, Zeischen, Drosseln, Meisen, Amseln, Plattenmönchen und Nachtigallen, der Dußpfeiser dem Meister zunächst, denn das war der Liebling, und Mancher hätte lieber Frau und Kind gemißt, als den Vogel. Man erzählt Beispiele, daß für einen gutgelernten Schläger eine Kalbe hingegeben wurde. An die Schmiedeesse stieß in der Regel der Kuhstall; denn eine oder zwei gute Kühe hatten die Meisten. In der Nähe war auch der kleine Hühnerstall, wo die Kampfhähne bestens verwahrt und gepflegt wurden.

Vor den Fenstern des Hauses waren die Blumenbrete befestigt und mit Scherbengewächsen dicht besetzt. An das Haus grenzte das freundliche Blumengärtchen. Hier und dort war der prächtige Nelken- und Aurikelflor zu schauen. Die Narzisse, die Glokkenblume, die Kaiserkrone, die Tulpe, die weiße, die Schwert- und die Feuerlilie, das Gartenhähnchen (Eberraute), Pfeffer- und Krausemünze waren die vorzüglichsten Ziergewächse ihrer Gärten; in den Töpfen hielten sie das Aschenkraut, das starkduftende Katzenkraut, den Rosmarin, den Lack, die Winterlevkoie. Ihre Leidenschaft für ausgezeichnete Nelken erinnert an die Tulpenliebhaberei der Holländer. Kenner fanden bei einfachen Messerschmieden in der Ruhl so seltne, kostbare und ausgezeichnete Nelkenblumen, wie fast in der ganzen Welt nicht weiter. Auch die Nelken hatten ihre Nomenklatur, z. B. die rothe, blaue, fleischfarbne Flammös; die weiße, rothe doppelte Henne; die Prinzessin Amalie; der Prinz Friedrich; der alte Fritz mit der Schnupftabacksnase; der alte Dessauer; die Krone von Harlem; die Perle von Holland; die Perle von Eisenach; der Prinz Dahlberg; Hektor; der Doktor Storch etc. Für ein Dutzend Nelkenschleißen (Absenker) zahlten jene einfachen Menschen, die keinen Luxus kannten, je nach ihrer Güte einen bis drei Friedrichsd’or.

Wir haben noch von ihren Kampfhähnen und deren Wettkämpfen zu sprechen. Die Hähne heißen mit ihren technischen Namen: Beißer, Hitzige, Kreischer, Giller, Sperber, Latscher, Schwarzköpfe, Rothkämme, Weißkuppen, Heißsporn, Gescheckte, Gesprenkelte etc. Vor dem Kampf wurden sie mit in Branntwein geweichten Gerstenkörnern gefüttert. Die Kämpfe fanden gewöhnlich Sonnabend Nachmittags an bestimmten Plätzen unter großer Zuschauermenge statt. Alle Leidenschaften wurden rege und hohe Wetten gemacht, ganz wie in England. In der Ruhl hat nur ein Hogarth gefehlt, der uns die originellen Gestalten mit den leidenschaftlichen Zügen und den Hahnenkampf verewigt hätte. Gewöhnlich blieb ein Hahn todt auf dem Platze, aber der Hahnenkampf zog auch nicht selten einen Menschenkampf nach sich.

Zum Feierabend besuchten die Messerschmiede einander, um sich am Finkenschlag zu ergötzen, „die Finken zu verhören“, nach ihrem Ausdruck, und die Nelken und Aurikel zu beschauen, oder sie machten (vorzüglich Sonntags) ihre Waldgänge, wo denn auch die freien Finken „verhört“ wurden, oder sie versammelten sich an den Spielplätzen im Ort zu Hahnenkampf und Spiel. Auch ihre Spiele waren so eingerichtet, daß eine große Menge Menschen daran Theil nehmen konnte. An Sonn- und Festtagen kam Jung und Alt zusammen, um sich mit Spielen zu unterhalten. Mit dem Flitschbogen. und dem Blasrohre wurde nach dem (hölzernen gemalten) Vogel, nach Stern- und Ringelscheibe geschossen. Man hatte mehre sehr complicirte Ballspiele, wobei das Verfehlen des Balls beim Schlagen und Fangen mit kurzen Stäben in kleine runde Löcher, welche in den Boden gedreht waren, bemerkt wurde; jeder Mitspieler hatte sein Loch. Das Kegelspiel war ebenfalls verschiedener Art, das älteste und beliebteste mit Kugeln mit Grifflöchern, die im Bogenwurf in die Kegel geschleudert wurden. Ein andres beliebtes Spiel hieß: „nach der Geiß werfen.“ Aus Steinen wurde eine kleine Pyramide aufgebaut und nach dem größern Kuppenstein ein kurzer Knittel geschleudert. Höchst mannigfach und zum Theil sehr complicirt waren die Spiele mit „Stennern“, den kleinen steinernen und thönernen Kugeln (Schustern, Marbeln); man bezeichnete sie mit den Kunstausdrücken schießen („schiß“), fangen („fah“), schacken („schack“), picken („peck“). Es gehörte jahrelange Uebung dazu, um sie und ihre zahlreichen Regeln alle zu kennen und gut zu spielen. Mit bewundernswerther Fertigkeit schnippten (schossen) die Spieler mit den Fingern den Stenner nach andern Stennern in einem Kreise, oder in einer Linie, oder nach einem Pfählchen, auf welchem Geld lag. Wurde das Hölzchen getroffen, so waren die Stücken der herabgefallenen Münzen, welche das Wappen nach oben kehrten, dem Treffer. Es gab da eine Anzahl technischer Ausdrücke, die meistens unerklärlich sind. Oder man „pickte“ die Stenner aus einem glatt gedrehten runden Loche durch Werfen aus kleiner Entfernung, mit einem größern Stenner heraus. Beim „Schacken“ wurde eine Hand voll Stenner nach dem Loche geworfen, und die darin Liegenbleibenden bestimmten Gewinn und Verlust. Beim „Fahen“ mußte der emporgeworfene auf eine Steinplatte zurückgefallene und von da emporgeschnellte Stenner gefangen und in der Zwischenzeit die auf der Platte liegenden „Fahstein’“ weggenommen werden. Dieses war vorzüglich ein Mädchenspiel. An den großen und verwickelten Stennerschießspielen nahm oft eine beträchtliche Anzahl Männer Theil, und ein einziges Spiel dauerte mehre Stunden, einen ganzen, ja wohl mehre Tage.

Nächst diesen uralten Spielen, die hier nur kurz angedeutet und bei weitem nicht alle genannt werden konnten, sind die eigenthümlichen Tänze, die Volksfeste und ihre leidenschaftliche Vorliebe für Musik und Gesang und das Läuten der Glocken zu erwähnen. Die Tänze waren sehr charakteristisch und hatten nichts gemein mit den heutigen. Theils erinnerten sie an die Menuet, theils an die Masurka und die Sabotiere, doch hielten sie ihren ursprünglich deutschen Charakter fest und ähnelten wohl zumeist der Allemande. Einer war ausschließlich Eigenthum der Ruhl und hieß deshalb auch „der rühler Springer“. Die Musik dazu hat sich erhalten, den Tanz selbst kann Niemand mehr ausführen. Andre dieser Tänze hießen „der Birnschüttler“, „der Schlahmöller“ (Schlagmüller d. i. Oelmüller), „die Siebensprünge“. Da man aber nur die mündliche Ueberlieferung davon hat, so kann man sich keine rechte Vorstellung mehr davon machen. So sind auch die alten Volksgesänge verschwunden und nur kleine Bruchstücke daraus haben sich erhalten. Sie deuten auf Gebräuche, die aus dem Heidenthume stammend den Wechsel der Jahreszeiten u. dgl. behandelten. Der Frühling wurde z. B. alljährlich in Person mit Gesang eingeführt; ein Knabe wurde ganz in frisches Buchenreis eingebunden, so daß die Wipfel über dem Kopfe eine Krone bildeten und das Bürschchen einem wandelnden Busche glich. Er hieß „das Laubmännchen“ und bedeutete ursprünglich den wiedergebornen und mit Jubelgesängen eingeholten sonnigen Frühlingsgott Balder.

Die rühler Musikanten waren berühmt, und ihre Kirchenmusiken zogen Fremde an. Johann Sebastian Bach, der große Tonschöpfer, 1685 in Eisenach geboren, ging in seiner Jugend oft in die Ruhl, um diese Musikanten zu hören, und hat Zeit seines Lebens den musikalischen Anregungen, die er unter dem muntern Völkchen im Ruhlathale empfing, ein dankbares Andenken bewahrt.

In der Auszählung der rühler Liebhabereien kommen wir endlich zum Läuten der Kirchenglocken, dem sie sich mit einer Leidenschaftlichkeit und Ausdauer hingaben, die in Erstaunen setzt. Die Glocken hängen nicht auf den Thürmen der beiden Kirchen, sondern in eignen Glockenhäusern, eine Strecke über jenen an den Bergabhängen. Jedes Glockenhaus hat drei Glocken, die große, die mittlere, die kleine; alle sechs sind nach der Tonscala gestimmt, so daß ihr Geläute harmonisch ineinander hallt. Nie wird ein Ohr schönere Glockenklänge vernehmen als die, welche zu Sonn- und Festtagen das Ruhlathal durchzogen; Niemand verstand aber auch besser zu läuten als die rühler Messerschmiede. Sie hatten das Läuten zu einer Kunst ausgebildet, die sie mit derselben unruhigen Lust betrieben, wie den Vogelfang, Tauben- und Blumenzucht, Musik, Tanz und Spiel. Und nirgend wurde mehr geläutet als in der Ruhl. Jeden Tag zu Mittag und Feierabend ertönte die kleine Glocke; zu Kindtaufen, Trauungen und Begräbnissen erschallte Geläute, und Sonntags waren die Glockenhäuser voller kräftiger Menschen, die sich mit Begierde beim Läuten ablösten. Keine Stunde in der Ruhl wurde mit größerm Vergnügen vernommen, als die vom Ableben einer fürstlichen Person aus den resp. Familien der Landesherrschaften oder der freiherrl. von ütterodt’schen Familie; denn da durfte drei bis sechs Wochen lang jeden Tag ein paar Stunden das volle Trauergeläute erschallen, und die Läuter konnten sich ein Genüge thun.

In die Kirche gingen die Rühler wohl, aber doch nur aus [388] Gewohnheit und durchaus nicht aus seelischem Bedürfniß. Nichts war in der Ruhl weniger zu finden als religiöser Sinn, und wie es überhaupt wenig Bücher in den Häusern gab, so gehörte gerade die Bibel auch nicht zu den dort viel gesehenen und gelesenen. Um die widerwärtigen kirchlichen Zänkereien der Zeit bekümmerten sich diese an Geist und Leib gesunden Menschen ganz und gar nicht; sie wußten überhaupt vom Heidenthum viel mehr als vom Christenthum. Mit ihren Pfarrern lebten sie stets auf einem gespannten Fuße; sie thaten diesen würdigen Herren gern allerlei kleinen Schabernack an und machten sie zur Zielscheibe ihres derben Witzes.

Wir können nur noch Weniges über die rühler Mundart hinzufügen, und das führt uns erst auf die eigenthümliche Art des Grußes, sodann auf die noch seltsamere Benennung der Personen in der Ruhl. Man grüßt da keineswegs wie in der übrigen Welt mit einem frommen Wunsch, sondern mit einer Frage. Steht Jemand am Fenster, so grüßt der Vorübergehnde mit der Frage: „settchüch an öm?“ (seht ihr euch denn um?) Ist es spät: „wollt an ball schlaof geh?“ Früh: „haat an uisgeschlaoffen?“ Vormittags: „haot an d’u Brandwin getrounken?“ Der Sitzende wird mit der Frage gegrüßt: „Is an de Rouh gut?“ Ein Besuch im fremden Hause: „Seid an spill gangen?“ Die Antwort ist natürlich entsprechend.

Die eigentlichen gesetzlichen Namen der Leute standen nur in den Kirchen- und Gemeinderegistern. Dort standen sie gut; Niemand bekümmerte sich darum, Niemand konnte; nach einem solchen war kein Mensch im Ort zu erfragen. Da hatten die Leute ganz andre Namen, Namen von der eigenthümlichsten und seltsamsten Bildung. Und diese pflanzten sich nicht nur vom Vater, sondern auch von der Mutter auf die Nachkommenschaft fort, immer mit Anhängung der besondern namentlichen Bezeichnung des Individuums. Waren z. B. drei Söhne in einem Hause, so wurde der Aelteste „der Groß“, der Mittlere „der Deck“ (Dicke, und wenn er ganz dürr war), der Jüngste „der Klenn“ (der Kleine, und wenn er der Längste war), genannt, jedoch mit Vorsetzung des Spitznamens des Vaters oder der Mutter. Diese Spitznamen selbst waren durch die mannigfachsten Zufälligkeiten entstanden, so daß sie zum größten Theil gar nicht mehr zu erklären sind.

Solcher Namen sind: Hopphansen-Balten, Schicken Hannes, Kepp-Kap, Gelen-Dorten-Barlies, Buide-Krischen-Gehennes, Bol-Niklaosen-Hangobes, Kraers-Gretchen-Wölfsdeck, Schloos-Hirzen-Jane, Juiditen-Aller, der Giller, das Buttermesser, der Kuvatsch, Bären-Hantines, Hülers-Hanmerten, Sidonen-Gehennes, der Hähstoffel etc.

Die eigenthümlichen Vokaltöne der Sprache können mit unsern Schriftzeichen nicht ausgedrückt werden. Das a wird meist dumpf, als Mischlaut von a und o ausgesprochen, z. B. Vaoter; e bekommt dagegen oft den a-Laut, wie in laben d. i. leben. ä und nicht selten e haben den hellsten schärfsten a-Laut, z. B. Májen (Mädchen), práchtig (prächtig), der Bást (Beste). Die Infinitivendung en fällt immer weg, dafür erhält das Wort die Participialvorschlagsylbe ge, z. B. gegeh = gehen, gehür = hören. Uebrigens ist die Sprache außerordentlich arm an abstrakten Ausdrücken, so daß viele Begriffe entweder gar nicht, oder nur durch weitschweifige Umschreibung auszudrücken sind. Man sieht sogleich es ist die Sprache von Menschen, die der Geistesbildung ermangeln, aber sie hat primitive frische und kindliche Naivetät. Man erzählt sich, daß Friedrich der Große, der 1747 und in den folgenden Jahren, als die Messerschmiede in Ruhla sehr in Noth gekommen waren, eine nicht unbedeutende Auswanderung nach Neustadt-Eberswalde zur Anlegung einer königlichen Messerfabrik veranlaßte, die Rühler gern sprechen hörte und sich bemühte, ihnen nachzusprechen. Das Unternehmen scheiterte, und die Nachkommen jener Auswanderer leben in einer Vorstadt dort in ärmliche Verhältnissen zusammen und haben Sprache und Sitte noch treuer bewahrt, als der Mutterort.




Drei Frauenbilder in Bayreuth.
1. Die Lieblingsschwester Friedrich den Großen.
(Schluß.)

Es kann nicht in unserer Absicht liegen, hier nochmals die bekannten Intriguen und Machinationen aufzuzählen, welche von der Hofpartei des Königs und der Königin wegen der Heirath der Prinzessin in Bewegung gesetzt wurden. Als trotz der verschiedenen Anfragen der Königin keine bestimmte Antwort aus England eintraf, wollte endlich der König die Prinzessin mit dem Könige von Polen verheirathen, und als dieser Plan mißlang, mit dem Herzog von Weißenfels.

Die Königin forderte die Prinzessin zum Widerstande auf, der Kronprinz, der viel von der Härte des Königs zu leiden hatte, zur Standhaftigkeit. Gewarnt vor der Gefahr, die ihm von Seiten einer erzürnten Mutter und zur Verzweiflung gebrachten Tochter drohte, war der Prinz von Weißenfels klug genug, zurückzutreten.

Nach einer harten Familienscene gab sich der König zufrieden, wenn der Prinz von Wales seine Tochter heirathe; von einer Vermählung des Kronprinzen, „des Thunichtgut“ wollte er nichts wissen; er wolle „der Rotznase von Herrn Fritz eher die Peitsche geben lassen, als ihn vermählen.“

Auf eine wiederholte Anfrage der Königin kam eine sehr ungenügende Antwort von England, welche jene fast zur Verzweiflung brachte. Ein Besuch des Prinzen von Wales, den er im folgenden Jahre 1729 beabsichtigte, um, im geheimen Einverständniß mit seinem Vater, ohne Erlaubniß des Parlaments, sich mit seiner Cousine zu vermählen, wurde durch eine Unvorsichtigkeit der Königin Sophie vereitelt. Auf ihren Gemahl machte diese neue Täuschung den übelsten Eindruck und Gattin und Kinder mußten für die Vereitelung seiner Hoffnungen und Wünsche hart büßen. Anfälle von Podagra verbitterten ihn noch mehr. In seiner harten und derben Weise nannte er die Prinzessin Wilhelmine nur die „englische Kanaille“ und mißhandelte sie, wie den Prinzen rücksichtslos. Unter solchen Umständen konnten die Kinder keine große Liebe zum Vater hegen, vor dessen leidenschaftlichen Ausbrüchen sie stets zittern mußten, und die verletzte und empörte Natur im Kronprinzen und der Prinzessin rächte sich durch Satyren über den König und seinen Anhang.

Die Vergeltung für diese Impietät trat denn auch sofort ein. Nach der Vermählung ihrer jüngern Schwester mit dem Markgrafen von Ansbach, gab es täglich Zank und Streit in der Familie; der König ließ, ausgenommen während der Mahlzeiten, seine beiden ältesten Kinder gar nicht in seine und der Königin Gegenwart; sie mußten tüchtig Hunger leiden und vor aller Welt die schönsten Ehrentitel anhören; der siebzehnjährige Kronprinz mußte sich fortwährend mit dem Stocke drohen lassen. Allerdings übte auf diesen der Umgang Keith’s und Katt’s schlimm ein, indem der Letztere ihn zu einer „zügellosen Liederlichkeit“ hinriß. Manches mochte durch Zwischenträger und Aufpasser vor den König gebracht werden, was den sittenstrengen Mann empörte. Dieser vergaß sich endlich so weit, Hand an den erwachsenen Prinzen zu legen und den Gedanken an Flucht in der Brust des unglücklichen Jünglings zu zeitigen. Die Verhältnisse und Beziehungen in der königlichen Familie liefen immer jäher einer Katastrophe zu. Kurz nach Neujahr 1730 ließ der König seine Gemahlin durch den Grafen Finkenstein und die beiden Staatsminister von Grumbkow und von Bork, denen er den Befehl zu diesem auffälligen Schritte von Potsdam aus hatte zukommen lassen, peremptorisch auffordern, nochmals nach England wegen der Vermählung ihrer Kinder zu schreiben, im Falle einer neuen Vereitelung aber sich einer Vermählung der Prinzessin Wilhelmine mit dem Markgrafen von Schwedt oder dem Herzoge von Weissenfels nicht ferner zu widersetzen. Die drei Herren hatten zugleich der Königin einen in den härtesten Ausdrücken abgefaßten Brief ihres Gemahls zu überreichen. Diese wies mit Festigkeit alle Insinuationen zurück, und begegnete einer zweiten Gesandtschaft vom König mit derselben Ruhe, wie der ersten.

[389] Die heißersehnte Antwort auf die Anfrage in England traf ein, aber wie früher schlug sie alle Hoffnungen und Erwartungen der Königin und ihres Anhanges nieder. Englands Herrscherhaus schien wirklich, wie der König von Preußen argwöhnte, mit der Regentenfamilie in Berlin ein böses Spiel zu treiben. Die Königin erklärte sich, um nur ihre Tochter vor der Vermählung mit dem Markgrafen von Schwedt oder dem Herzog von Weißenfels zu retten, auf den Rath des Marschalls von Bork bereit, den Erbprinzen von Bayreuth als Schwiegersohn anzunehmen. Der König fügte sich, aber er wollte seiner Tochter weder Mitgift, noch Hochzeitsfest, noch Aussteuer geben. Die arme Prinzessin wollte auf diese harten Bedingungen hin nicht auf die Verbindung eingehen, aber von ihrer Mutter und dem Kronprinzen, der des Spiels mit England und des Widerstrebens gegen den Willen seines Vaters überdrüssig war, sehr gedrängt, willigte sie endlich ein, indem sie gleichwie ihre Mutter hoffte, die Sache werde sich verschleppen.

Das üble Verhältniß zwischen dem Könige und dem Kronprinzen führte endlich zu der bekannten Katastrophe. Nach argen Mißhandlungen, in denen sogar sein Leben bedroht war, beschloß Friedrich mit Hülfe Keith’s und Katt’s zu fliehen. Durch Vermittelung des Kaplans der englischen Gesandtschaft hatte sich die Königin aufs Neue wegen der Verheirathung ihrer Kinder nach London gewandt und ihr Bruder schickte den Ritter Hotham als außerordentlichen Gesandten nach Berlin, um die Hand Wilhelminens für den Prinzen von Wales zu fordern. Allein Seckendorf’s und Grumbkow’s Bemühungen, dessen Entfernung der englische Hof verlangte, gelang es, die Werbung zu hintertreiben. Hotham, vom Könige beschimpft, that trotz allen Bemühungen ihn zu versöhnen keine Schritte weiter. In dieser Zeit trat die Familienkatastrophe ein, die so leicht Deutschlands größten Fürsten als Jüngling hinweggerafft hätte.

Die Königin und ihre Tochter waren jedenfalls mit in das Verderben des Kronprinzen verwickelt worden, wenn man ihre Briefe an ihn bei dem verhafteten Katt gefunden hätte, und es gelang in der That ihrer List, sich dieser wichtigen Papiere zu bemächtigen und somit jeden Beweis einer Mitschuld gegen den König zu vertilgen. Dieser kam wie ein gereizter Löwe zurück; zum Gruße streckte er die Prinzessin mit drei Faustschlägen nieder und wurde nur durch seine Gemahlin und die andern Kinder zurückgehalten, sie mit Füßen zu treten. Das schreckliche Jahr 1730 und das Frühjahr 1731 ging der Prinzessin in unbeschreiblichen Qualen und in steter Angst hin, dem Argwohn und der Erbitterung des leidenschaftlichen Vaters als Opfer zu fallen. Im Mai fand sich eine Gesandtschaft, bestehend aus den Herren v. Bork, Grumbkow, Podevils und Thulmeyer bei ihr ein, die ihr den Befehl des Königs mittheilte, den Erbprinzen von Bayreuth zu heirathen. Die arme Gequälte fügte sich; durch ihre Nachgiebigkeit entwaffnete sie zwar den Zorn des Vaters, lud aber den unversöhnlichen Groll der Mutter auf sich. Diese schrieb ihr auf die Meldung des gefaßten Entschlusses: „Du durchbohrst mir das Herz durch die Niederträchtigkeit, die Du begingst, indem Du dem Willen des Königs nachgabst. Ich erkenne Dich nicht mehr für meine Tochter, Du bist dessen unwürdig, und nie in meinem Leben verzeihe ich Dir den grausamen Verdruß, den Du mir machst. Hätte ich Dein böses Herz früher gekannt, so würde ich mir alle den Verdruß erspart haben, den ich um Deinetwillen litt.“ – Arme Königstochter!

Am 26. Mai 1731 langte zum Schrecken von Mutter und Tochter der Erbprinz von Bayreuth an und am folgenden Tage sah die letztere ihren künftigen Gemahl zuerst auf einer Revue, welche der König zu Ehren der Anwesenheit des Herzogs von Würtemberg veranstaltet hatte. Am 1. Juni wurde die Verlobung des jungen Paares gefeiert. Die Prinzessin fühlte weder Liebe noch Abneigung für ihn; ihr einziger Wunsch war, das väterliche Haus zu verlassen, in dem sie ihre Jugend vertrauert hatte, und welches ihr durch das lieblose Benehmen ihrer Mutter und Geschwister noch mehr verleidet wurde. Der Erbprinz von Bayreuth war ebenfalls übel daran. Von seiner Schwiegermutter wußte er sich als Eindringling und Störer ihrer Pläne gehaßt, von seiner Braut sah er sich mit Gleichgültigkeit behandelt, von seinem Schwiegervater verachtet, weil er dessen Passion für Wein und Soldaten nicht theilte. In der That steigerte sich der Widerwille des Königs gegen den Erbprinzen täglich; auf den Rath Seckendorf’s und Grumbkow’s forderte dieser endlich ein preußisches Regiment, um sich den Neigungen seines Schwiegervaters willfährig zu zeigen. Damit war freilich die sklavische Abhängigkeit des Prinzen vom Könige besiegelt, der ihn denn auch sofort bedeuten ließ, sich zu seinem Regimente nach einem pommerschen Landstädtchen zu begeben. Noch im letzten Augenblicke wurden jetzt vom englischen Hofe aus Verhandlungen wegen Vermählung der Prinzessin Wilhelmine mit dem Prinzen von Wales gepflogen, aber der König wies diese Anträge zurück, zur Freude seiner Tochter, welche ihren Verlobten lieb gewonnen, zum Aerger und Verdruß der Königin, welche die Prinzessin für neue Vereitelung ihrer Pläne büßen ließ. Einige Tage nach ihrer Vermählung in Berlin (im November) hatte die Prinzessin die große Freude, ihren Bruder Friedrich, der in Küstrin als Auskultator im Finanzdepartement gearbeitet hatte, auf einem Familienballe zu begrüßen. Sie wurde vor Gemüthsbewegung fast ohnmächtig und rührte den König durch den zärtlichen Dank, welchen sie ihm für dieses ihr gewährte Glück abstattete, zu Thränen. Nach mancherlei Verdrießlichkeiten, die ihren Grund in der stiefmütterlichen Behandlung und Ausstattung der Prinzessin hatten, reiste diese endlich mit ihrem Gemahle von Berlin im Januar 1732 in ihre neue Heimath Bayreuth ab. Am neunten Tage ihrer Reise betrat sie die erste Stadt des Markgrafenthums, Hof, und wurde hier von der Reichsritterschaft des Voigtlandes und der Geistlichkeit begrüßt. Die Schilderung dieses Empfanges, wie ihn die Fürstin in ihren Memoiren gibt, ist ein Meisterstück von scharfer Satyre; ebenso die Beschreibung ihres Einzugs in Bayreuth, der dabei mitspielenden Persönlichkeiten und der Lokalitäten, die sie aufnahmen.

Die Stellung der Erbprinzessin am Hofe wurde sehr bald eine unangenehme, freilich theilweise durch ihre eigne Schuld; sie paßte nicht in diese kleinen Verhältnisse. Sie selbst sagt über diesen Punkt: „Ich muß meine Schwäche nur bekennen; ich war in Berlin in Begriffen von Größe erzogen, bestimmt, vier Kronen zu tragen, die mir alle viere entgangen waren. Ich bildete mir ein, mein Vater könne allen Fürsten des Reiches Gesetze vorschreiben, und es sei für den Markgrafen eine so große Ehre, mich zur Schwiegertochter zu haben, daß er mir nicht Ehrfurcht und Achtung genug zu bezeigen im Stande sei.“ Der Markgraf, ihr Schwiegervater und ihre jüngere Schwägerin Wilhelmine bildeten bald genug mit dem Hofe Partei gegen sie und es fehlte nicht an Verdruß, Zänkerei, Verleumdungen und Zwischenträgereien. Das Verlöbniß des Kronprinzen Friedrich mit der Prinzessin von Bevern, von der die Königin an die Erbprinzessin von Bayreuth schreibt: „sie ist schön, aber dumm wie ein Bund Stroh und ohne die geringste Erziehung. Ich weiß nicht, wie sich Dein Bruder mit dem Dummbart vertragen wird“ – machte der Erbprinzessin zwiefachen Kummer. Einerseits bangte ihr für das Lebensglück des theuern Bruders, wenn er mit einem solchen Wesen verbunden wurde; andrerseits steigerte dieses Ereigniß Abneigung und Haß der Prinzessin Wilhelmine von Bayreuth, die sich mit der Hoffnung geschmeichelt hatte, Kronprinzessin von Preußen zu werden und ihre Schwägerin im Verdacht hatte, diese Verbindung hintertrieben zu haben. Finanzielle Verlegenheiten vermehrten noch die Unannehmlichkeiten der Erbprinzessin, deren einziges Glück der Umgang mit ihrem gutmüthigen Gemahle war, der seinerseits vom Markgrafen viel auszustehen hatte. Diesem war nämlich der Argwohn beigebracht worden, der Erbprinz beabsichtige ihn mit Beistand seines Schwiegervaters und der Reichsritterschaft zur Abdankung zu zwingen. Der kleinen und großen Quälereien müde, beschloß das junge Fürstenpaar endlich, nach Berlin zu reisen, allein der Gesundheitszustand der Erbprinzessin, welche ihrer Niederkunft nahe war, verhinderte die Ausführung des Planes.

Am 31. August 1732 genaß die Erbprinzessin einer Tochter, später Gemahlin des berühmten Herzogs Karl Eugen von Würtemberg. Nur wenige Wochen nach ihrer Niederkunft erfuhr die junge Gattin und Mutter den Schmerz der Trennung von ihrem Gemahle. Ein Brief des Königs, seines Schwiegervaters, befahl ihm, sich zu seinem Regimente zu begeben, ein zweiter lud bald darauf die Tochter ein, nach Berlin zu kommen. Sie hatte kein Geld zur Reise; ihr Schwiegervater verweigerte ihr auf eine impertinente Weise die nöthigen Mittel, und um nur wieder mit ihrem Gemahle vereinigt zu werden, machte sie ein Kapital von zweitausend Thalern flüssig, ein Geschenk ihres Bruders, das einzige Vermögen, das sie auf der Welt besaß. Ein Brief ihres [390] Gemahls schilderte die Gesinnung ihrer Eltern und Geschwister als die aller freundlichste, und sie reiste am 12. November ab.

Der Empfang, der ihr in Berlin zu Theil wurde, war ganz geeignet, alle etwaigen Illusionen bei ihr gründlich zu zerstören. Der König war am Tage ihrer Ankunft nach Potsdam gegangen, die Königin war unentschlossen, ob sie ihre Tochter im Audienzsaale empfangen sollte oder nicht. Sie entschloß sich endlich, umarmte die Erbprinzessin und stellte ihr ihren Gemahl vor. Ohne dem jungen Paare Zeit zu lassen, mit einander zu sprechen, führte sie ihre Tochter in ihr Kabinet, warf sich in einen Lehnsessel, maß jene mit einem strengen Blick und fragte: „Was hast Du hier zu thun?“ Als die bestürzte Erbprinzessin einige Worte von ihrer Sehnsucht, die geliebte Mutter wieder zu sehen, stammelte, unterbrach sie diese: „Sage vielmehr, daß Du ihr den Dolch in’s Herz stößest, und daß Du kommst, um aller Welt zu zeigen, welche Tollheit Du begingst, einen Bettler zu heirathen. Warum bleibst Du nicht in Bayreuth, wo Du Deine Armuth verbergen kannst, statt daß man hier mit Fingern auf sie weist? Ich habe es Dir gesagt, der König wird nichts für Dich thun und läßt sich Alles, was er Dir versprochen schon längst gereuen. Jetzt wirst Du mir zur höchsten Langeweile mit Deinem Elende in den Ohren liegen und uns allen zur Last sein.“ Die weitere Behandlung, welche die Prinzessin erfuhr, entsprach völlig diesem Empfange. Als der König nach Berlin zurückkam, begrüßte er die Tochter sehr kalt, erkundigte sich nach seiner Enkelin und sagte: „Ja, ihr jammert mich, ihr habt das liebe Brot nicht und ohne mich müßtet ihr betteln gehen. Ich bin auch ein armer Schelm, viel kann ich euch nicht geben, aber ich will doch sehen, wie ich’s machen kann. Ich will euch so hin und wieder ein zehn Thaler oder Gulden geben, es hilft euch doch immer fort. Und Sie,“ wandte er sich an die Königin, „geben ihr auch hier und da ein Kleid, denn das arme Kind hat kein Hemd auf dem Leibe.“ Solche unzarte und beleidigende Aeußerungen mußte das junge Paar beständig anhören; nur der Kronprinz behandelte seine Schwester und deren Gemahl liebevoll. Er schenkte ihr sogar tausend Thaler, eine für ihre damaligen Umstände allerdings angenehme Gabe, und vermittelte eine Zusammenkunft zwischen ihr und Seckendorf, die freilich keinen Erfolg hatte. In Folge des fortwährenden Aergers über die niederträchtige Behandlung, welche er und seine Gemahlin erfuhren, sowie des starken Trinkens, zu welchem er genöthigt wurde, erkrankte der Erbprinz ziemlich gefährlich. Die Prinzessin verlebte elende Tage am Hofe ihrer Eltern und sie bereuete oft, auf die leichten Versprechungen ihres Vaters hin die neue Heimath verlassen zu haben. Kaum war ihr Gemahl einigermaßen hergestellt, so mußte er zu seinem Regimente abreisen, das in Pasewalk lag. Auf dem Wege dahin besuchte er seinen Schwager, den Kronprinzen Friedrich in Ruppin. „Dieser war,“ sagt die Prinzessin, „damals sehr liederlich, besuchte alle schlechten Häuser und nahm vorlieb mit dem was er vorfand, ohne sich von den übeln Krankheiten, die er mehrmals davon getragen hatte, witzigen zu lassen. Er wollte den Erbprinzen durchaus zu diesen Ausschweifungen verführen, dieser aber hatte einen Abscheu vor dergleichen Schändlichkeiten.“

Es erhellt aus dieser Stelle, daß Friedrich der Große als junger Mann in Bezug auf Sittlichkeit ziemlich niedrig stand. Derlei sichre Ueberlieferungen, wie dies unstreitig eine ist, sind ganz geeignet, die Vorstellungen von seinem Leben und Charakter, die mehr und mehr in’s Heroisch-Ideale wachsen, auf das richtige menschliche Maß zurückzuführen. Der Schmerz der Trennung von ihrem Gemahle wurde der Prinzessin etwas gelindert durch thatsächliche Beweise von Wohlwollen, die ihr und ihm der in seinen Gemüthsstimmungen so wechselvolle König gab. Freilich währten derlei Sonnenblicke nie lange. Ihre einzige Hoffnung war auf die Rückkehr nach Bayreuth gerichtet und sie ließ sich weder durch Versprechungen noch Schmeichelreden ihres Vaters irre machen; sie hatte hinlängliche Proben seiner wankenden Gesinnung.

Mitte Mai 1735 starb der Markgraf, der in den letzten Jahren durch seine Absicht, eine ihrer Hofdamen zu heirathen, der Schwiegertochter schweren Kummer gemacht hatte. Jetzt traten mit neuen Verhältnissen auch neue Sorgen für die junge Markgräfin ein. Der junge Markgraf, durch die Eifersucht seines Vaters in gänzlicher Unkenntniß der Regierungsgeschäfte aufgewachsen, sah sich anfangs genöthigt, die Verwaltung den Händen seines Staatsrathes zu überlassen. Dieser glaubte sich seine Machtstellung nicht besser sichern zu können, als wenn er dem Markgrafen Mißtrauen vor der vermeintlichen Herrschsucht seiner Gemahlin einflöße. Bei der Liebe und dem Vertrauen, welches zwischen dem jungen Paare herrschte, konnte jedoch ein derartiges Mißverständniß nicht lange währen.

Aeußerlich bedeutende Erlebnisse scheint die Markgräfin ferner nicht viel gehabt zu haben; ihr Leben war der Kunst und Wissenschaft, der Liebe zu Gatten und Kind und der Freude im schönsten Sinne des Wortes gewidmet.

In den Jahren 1743 und 1754 kam Friedrich d. Gr. als Gast nach Bayreuth. Prächtige Feste wurden ihm zu Ehren gegeben, wie dem Prinzen Heinrich von Preußen, der 1751 seine Schwester besuchte. Auch Voltaire lebte eine Zeit lang als Gast der Markgräfin auf der Eremitage.

Im Jahre 1742 unternahm das markgräfliche Paar incognito eine Reise nach Frankfurt a. M., um der Krönung Karl’s VII. beizuwohnen. Um diese Zeit bedrohte die schlimmste Gefahr das Lebensglück der Fürstin; ihr Gemahl begann ein Liebesverhältniß mit einer ihrer Hofdamen, welche die Markgräfin als ihre wahre Freundin zu betrachten seit Jahren gewohnt war. Als würdige Schwester des königlichen Philosophen und als selbstthätige Philosophin, die die schwere Schule des Lebens durchlaufen und ihren Geist durch das Studium mit den Genies aller Jahrhunderte und durch den Umgang mit den bedeutendsten Männern ihrer Zeit gekräftigt hatte, ertrug sie diesen doppelten Treubruch zwar mit tief gekränktem Herzen, doch aber mit Fassung.

Leider brechen die Memoiren der Fürstin hier ab – kein geringer Verlust für die Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts, und dessen merkwürdigsten Manne, über dessen Charakterentwickelung und Geistesleben die Verfasserin als eine ihm so nahe stehende Schwester sicher die vollgültigsten Aufschlüsse gegeben hat, wie sie diese in dem erhaltenen Theile ihres Werkes verspricht. Wie schon erwähnt, ist Hoffnung vorhanden, daß das höchst interessante Buch einst vollständig erscheinen dürfte. Man hat dem Buche und seiner Schreiberin vielfache Vorwürfe gemacht. Man hat die Memoiren eine Satyre genannt. Sie sind es in gewisser Beziehung und mußten es der Natur der Dinge nach sein. Welcher Mensch von Geist konnte in jener wunderbaren Zeit des Kampfes zwischen deutscher Roheit und französischer Verfeinerung, crasser Bornirtheit und raffinirter Geisteskultur leben und schreiben, ohne satyrische Anwandlungen zu spüren?

Es ist wahr, die Markgräfin schont Niemanden, nicht einmal sich selbst. Mit diesem Vorwurf hängt der der Uebertreibung und Unwahrheit zusammen. Es genügt, auf einen Umstand hinzuweisen, um ihn zu entkräften. Die Verfasserin hing mit Leib und Seele an ihrem königlichen Bruder, doch aber hindert sie ihre Verehrung für ihn nicht, ein unbefangenes Bild seines lasterhaften Jugendlebens zu entwerfen. Sie selbst sagt an einer Stelle: „Ich mache mir aus der Wahrhaftigkeit ein Verdienst, daher werde ich die Fehler, die ich mir zu Schulden kommen ließ, nicht verschweigen.“ Ein weiterer Vorwurf, der der Impietät gegen ihre Eltern, ist nicht unbegründet. Allein mehrere Umstände sprechen zur Entschuldigung der Markgräfin. Die Mißhandlungen und die wahnsinnige Erziehung, welche ihr zu Theil wurden, hätten leicht für immer die Liebe zu ihren Eltern ersticken können, aber trotzdem bewies sie stets ein kindliches Gefühl für ihre Eltern. Es kommen in dieser Beziehung wahrhaft rührende Stellen in den Memoiren vor. Ließ sie sich von ihrem Unmuth zu einer Verletzung der Pietät hinreißen, so bereut sie dies fortwährend. Bereits oben ist ein dahin bezüglicher Auszug aus ihren Bekenntnissen mitgetheilt worden. Allein noch mehr spricht zu ihren Gunsten, daß sie diese Memoiren nicht für die Veröffentlichung schrieb. Sie sagt über diesen Punkt ausdrücklich: „Ich schreibe, um mich zu vergnügen und rechne nicht darauf, daß diese Memoiren jemals gedruckt werden sollen. Vielleicht opfere ich sie einst dem Vulcan; vielleicht gebe ich sie meiner Tochter – kurz, ich bin in diesem Stücke eine Pyrrhonistin (d. h. skeptisch gesinnt). Ich wiederhole es, ich schreibe nur zu meinem Zeitvertreib und mache mir eine Freude daraus, nichts von Allem, was mir begegnet ist, nicht einmal meine geheimsten Gedanken, zu verschweigen.“

Einen glänzenden Beweis von der Innigkeit und Liebe, mit der die Prinzessin an ihrem großen Bruder hing, liefert der Briefwechsel [391] zwischen ihr und Friedrich II. Er enthält neben den rührendsten Schwärmereien für die Größe ihres geliebten[WS 1] Bruders so viel Graziöses, Geistreiches und Feindurchdachtes, daß man mit hoher Achtung von dem Geist und den Kenntnissen der Prinzessin erfüllt wird.

Ihr eigenes Charakterbild leuchtet aus ihren Memoiren deutlich hervor. Sie war geistvoll witzig, eine warme Freundin der Kunst und der edeln Genüsse, welche sie gewährt. In der Herstellung derselben ging sie bis zur Verschwendung. Geselliger Verkehr mit geistvollen Leuten war ihr, der trotz steter Kränklichkeit so lebenslustigen Dame, unbedingtes Bedürfniß. Trotz allen Drangsalen ihrer Jugend, den Kümmernissen ihres spätern Lebens ist sie stets geneigt, die flüchtige Freude rasch zu fassen, im frohen und graziösen Tanze alle finstern Gedanken zu vergessen. Oft tritt ein kleiner verzeihlicher Stolz auf ihre königliche Abstammung und auf die vier Kronen hervor, die ihr in der Jugend bestimmt waren, aber sie ist zu edel und zu gebildet, um übermäßigen Werth auf diese Zufälligkeiten zu legen; auf der andern Seite hält sie fest an der Würde ihrer Stellung. Sie selbst sagt von sich: „Ich bin weder stolz noch ränkesüchtig, aber ich will, daß mir ein Jeder das Meinige zugestehe und tritt man mir zu nahe, so weiß ich so gut wie eine Andere auf mein Recht zu halten.“

Ganz vortrefflich ist ihre Ansicht über die Ehe: „Ich wollte einen Prinzen, den ich aus wirklicher Achtung heirathen, den ich als wahren Freund ansehen könnte. Ich wollte, daß gegenseitige Achtung und Zärtlichkeit die Richtschnur unserer Handlungen sei, und aus diesen Empfindungen sollten meine Gefälligkeit und mein Bemühen, ihm zu gefallen, entstehen. Der Begriff Pflicht schließt bei einer Frau alle Freundschaft für ihren Mann aus. Wenn man wahrhaft und aus Grundsätzen liebt, wird nichts mehr schwer, um dem geliebten Gegenstand zu gefallen.“ Das liebenswürdige Bild der geist- und gemüthvollen Dame zu vervollständigen, spreche schließlich ihre Ansicht über das Höchste im Geistesleben der Menschen aus, die Religion. „Der blinde Glaube ist nicht einem Jeden gegeben, ja man wird sogar finden, daß die am moralischsten leben, die am wenigsten glauben; allein ein schiefer Kopf, der keinen Glauben hat, ist ein sehr gefährliches Glied der Gesellschaft. Die meisten Menschen wissen gar nicht, was sie glauben, sie verwerfen die Religion, weil sie ihren Leidenschaften widerspricht; andere, um nach der Mode zu sein, noch andere, um sich den Ruf von gescheidten Leuten zu verschaffen. Diese starken Geister mißbillige ich sehr, aber die kann ich nicht verdammen, welche sich bemühen, die Wahrheit aufzusuchen, um die Vorurtheile los zu werden; ich bin sogar überzeugt, daß Menschen, die sich an’s Nachdenken gewöhnen, tugendhaft sein müssen; indem man die Wahrheit sucht, lernt man richtig räsonniren, und indem man richtig räsonniren lernt, muß man die Tugend lieb gewinnen.“

Um das geistige Wesen der Markgräfin auch von anderer Seite, als aus ihren Memoiren kennen zu lernen, und ihr Charakterbild zu vervollständigen, muß man die schönen und geschmackvollen Straßen Bayreuths durchwandern, die ihr Gemahl, der Markgraf Friedrich (d. h. sie) angelegt und die Schlösser und Häuser besuchen, die sie gebaut hat. Das prachtvolle Opernhaus in Bayreuth, würdig einer Königsresidenz, und das Lustschloß Eremitage sprechen am deutlichsten.

Die Prinzessin starb im Jahre 1758, in der Nacht des Ueberfalls von Hochkirch. Wir führen zum Schluß noch Friedrich des Zweiten eigenes Urtheil an, welches er in seiner Geschichte des siebenjährigen Krieges über sie fällt: „Ihr Geist war gebildet und geschmückt durch die schönsten Kenntnisse; sie hatte Anlagen zu Allem und ein vorzügliches Talent für alle Künste. Diese glücklichen Gaben der Natur waren aber der geringste Theil Dessen, was man zu ihrem Lobe sagen konnte. Ihre Herzensgüte, ihre Neigung zum Wohlthun, der Adel und die Hoheit ihrer Seele, die Sanftheit ihres Charakters verriethen in ihr die glänzenden Vorzüge des Geistes mit einem Kerne solider Tugend, die sich nie verleugnete. Die zarteste und festeste Freundschaft vereinigte den König mit dieser würdigen Schwester. Diese Bande hatten sich seit ihrer ersten Kindheit gebildet; dieselbe Erziehung und dieselbe Empfindung hatten sie fester gezogen, eine unerschütterliche Treue von beiden Seiten machte sie unauflöslich. Sie nahm sich die Gefahren, welche ihre Familie bedrohten, so zu Herzen, daß sie von diesem Grame zu Grunde gegangen ist.“




Die Leber und die Leberleiden.
(Fortsetzung.)

Kann denn der Arzt wirklich ganz sicher wissen, wenn die Leber krank ist? Nur wenn er durch genaues Befühlen und Beklopfen derjenigen Bauchgegend, in welcher die Leber liegt, eine krankhafte Veränderung dieses Organs wahrzunehmen im Stande ist, darf er mit Sicherheit von einer Leberkrankheit sprechen. Dagegen werden widernatürliche Empfindungen und Schmerzen in der Lebergegend oder Störungen in der Verdauung, so wie in Bildung und Ausfuhr der schon gebildeten Galle, einen wissenschaftlich gebildeten und gewissenhaften Arzt niemals veranlassen, mit Bestimmtheit eine Leberkrankheit anzunehmen, da alle diese Krankheitserscheinungen von ganz andern als von Leberleiden herrühren können. Wenn also ein Arzt einem Patienten, ohne dessen Lebergegend genau befühlt und beklopft zu haben, ein Leberleiden schon an der Nasenspitze, an braunen Flecken u. s. w. ansieht oder gar brieflich erkennt, dann kann man gerechtes Mißtrauen entweder gegen das Wissen oder gegen die Gewissenhaftigkeit dieses Arztes fassen. Vom Unterzeichneten möge ein solcher Arzt hiermit die tiefste Verachtung und die Bezeichnung eines gewissenlosen Charlatan entgegennehmen.

Leider ist nun aber der größte Theil der Leber in der rechten Oberbauchgegend (im rechten Hypochondrium) so unter den Rippen der rechten Brusthälfte verborgen, und ihre Größe und Form bietet schon im ganz gesunden Zustande so bedeutende Verschiedenheiten dar, daß in gar nicht wenig Fällen auch die genaueste Untersuchung die gesunde oder kranke Beschaffenheit der Leber nicht gehörig zu ergründen vermag. Glücklicher Weise gehen aber die meisten und wichtigeren Leiden der Leber mit Veränderung der Größe und Consistenz derselben einher und diese ist dann durch das Befühlen und Beklopfen der Oberbauchgegend ziemlich sicher zu erkennen. Denn rings um die Leber lagern lufthaltige Organe (wie Lunge, Magen und Darm), welche beim Beklopfen einen vollen (hohlen) Ton von sich geben, während die dichte luftleere Leber natürlich einen matten (dumpfen, leeren) Ton gibt, dessen Gränze auch ziemlich genau den Umfang der Leber bezeichnet; wie man ja auch durch das Klopfen an ein halbgefülltes Faß die Gränze der Flüssigkeit anzugeben vermag. Trotz dem ist es bei Frauen für den Arzt oft sehr schwierig, von der durch das Beklopfen erkannten Größe und Gestalt der Leber einen richtigen Schluß auf die Beschaffenheit dieses Organs zu machen, denn bei diesen sind in der Regel durch den Druck der Unterrocksbänder und des Schnürleibchens solche Huckel und Buckel, Rinnen und Lücken, Verlängerungen und Verkrüppelungen an der Leber entstanden, daß diese einer Leber gar nicht mehr ähnlich sieht (s. Gartenlaube 1855. Nr. 16. u. 1853. Nr. 26.).

Betrachten wir die Leberleiden nun genauer, so dürften ihres Sitzes und ihrer Krankheitserscheinungen wegen eigentlich nur die Veränderungen des wirklichen Lebergewebes (nämlich der Leberzellen, der feinern Gallengänge und Blutgefäßchen, sowie des diese Theile verbindenden Zell- oder Bindegewebes) als solche bezeichnet werden, nicht aber die Krankheiten des Bauchfellüberzuges der Leber und die der größern Gallenwege. – Von den wenigen Krankheiten des Leberüberzuges, welcher als eine Portion des Bauchfelles ununterbrochen mit dem Ueberzuge der benachbarten Baucheingeweide zusammenhängt, tritt am häufigsten die Entzündung, und zwar am liebsten nach Schlag, Stoß und Druck (vom Schnürleib, Unterrocksbande, Leisten beim Schuhmacher u. s. w.) auf und diese ist also keine Leber-, sondern eine theilweise Bauchfell-Entzündung. Sie macht stechende Schmerzen in der Lebergegend, [392] die n beim Druck, Tiefathmen, Niesen, Husten und Bauchpressen heftiger werden und sich auch ohne Arzt und Arzneimittel (auch ohne Blutegel), am schnellsten bei warmen Breiumschlägen verlieren. Daß gewöhnlich nach solcher Entzündung zeitlebens Verdickung des Leberüberzuges oder Verwachsung der Leber mit einem Nachbartheile zurückbleibt, hat gar nichts oder wenigstens nicht viel zu sagen, läßt sich übrigens auch nicht ändern, ja ist sogar in manchen Fällen von Vortheil. – Unter den Krankheiten der größern Gallenwege, die sich zum größten Theile gar nicht innerhalb der Leber befinden, sondern nur der untern Fläche dieser anliegen, werden diejenigen am störendsten und auffälligsten, welche mit einer Verengerung und Verstopfung dieser Gänge einhergehen (wie der Katarrh und die Gallensteine), weil dadurch die Ausfuhr der in der Leber bereiteten Galle teilweise oder gänzlich gehemmt ist und diese nun als solche in das Leberblut aufgenommen wird. Der Farbstoff dieser stockenden und in das Blut geschafften Galle färbt endlich alles Blut des Körpers gelb und erzeugt so die sogen. Gelbsucht (Icterus), welche übrigens fast stets eine Erscheinung gestörter Gallenausfuhr (also ein Zeichen von Hindernissen in oder an den größern Gallenwegen), nicht aber ein Symptom gehemmter Gallenbildung (also nicht einer wirklichen Leberkrankheit) ist. Was hierbei mit den übrigen Bestandtheilen der in das Blut getretenen Galle wird, ist noch nicht genau ermittelt. Bisweilen scheinen sich einzelne derselben so zu zersetzen (vielleicht das Glycin und Taurin der Glyco- und Taurocholsäure zu kohlensaurem Ammoniak?), daß eine, mit nervösen Erscheinungen einhergehende tödtliche Gallenvergiftung des Blutes zu Stande kommt. Auch bei diesen Uebeln macht die äußere und innere Anwendung der Wärme, neben milder und leicht verdaulicher Kost, jede Arznei entbehrlich.

Was nun die eigentlichen, wahren Leberkrankheiten betrifft, so ist der größte Theil derselben, wie früher schon gesagt wurde, erst die Folge einer andern wichtigern, und zwar entweder einer örtlichen (besonders einer organischen Herz- und Lungen-) oder einer allgemeinen (Blut-)Krankheit und dann ohne große Bedeutung und Beschwerden; alle sind aber von langwierigem Verlaufe. Hierher gehört: die Speckleber, eine Vergrößerung der Leber durch widernatürliche Anhäufung einer eiweißartigen Substanz in den Leberzellen und wahrscheinlich hervorgegangen aus Blutüberfüllung (Anschoppung) der Leberadern; die Fettleber, eine, oft sehr bedeutende, Vergrößerung der Leber durch widernatürliche Anhäufung von Fett in den Leberzellen, bei Säufern, Fettsüchtigen und Leberthran-Consumenten; der Leberkrebs, welcher in Gestalt runder Geschwülste von der verschiedensten Größe, gewöhnlich erst in dem höheren Lebensalter, ebenso mit wie ohne Vergrößerung der Leber auftritt, vielleicht manchmal eine rein örtliche, ein anderes Mal aber die Folge einer Blutkrankheit, übrigens unheilbar ist; die Blutanschoppung der Leber, eine mäßige Vergrößerung dieses Organes durch angehäuftes, mehr oder weniger stockendes Blut in den Leberadern, welches entweder in Folge mechanischen Hindernisses (meistens im Herzen oder in der Lunge) nicht gehörig aus der Leber nach der untern Hohlader hin abfließen kann, oder von der Pfortader aus nicht kräftig genug durch die Leber hindurchgeschoben wird. Die letztere Ursache, auch mit den Namen „Pfortaderstockung, Unterleibsbeschwerden, Abdominalplethora, Unterleibsanschoppung mit Hämorrhoidalbeschwerden“ belegt, die ist es, welche der armen Leber vorzugsweise ein schlechtes Renommee bei aller ihrer Unschuld verschafft hat und der Reinigung und Verjüngung des Blutes durch die Leber hinderlich ist. Wer sich hierüber genauer unterrichten und seine Unterleibsbeschwerden los sein will, der lese in Gartenlaube 1854 Nr. 18.[WS 2] meinen Aufsatz über Unterleibsbeschwerden]] und handele danach.

Welche Krankheiten bleiben denn nun schließlich der Leber ganz eigenthümlich? Außer dem Leberkrebse nur noch: die Leberentzündung (mit Absceß- oder Schwielenbildung im Gefolge), welche stets auf eine kleine Stelle der Leber beschränkt, eine der seltensten Krankheitsformen und fast nie mit Sicherheit zu erkennen ist, übrigens von selbst heilt, wenn sie überhaupt heilt; die unheilbare Schuhzweckenleber oder die körnige Verhärtung mit Verschrumpfung, welche wohl nur bei Säufern (besonders Schnapssäufern) vorkommt und Bauchwassersucht nach sich zieht; die Hülsenwurmblase (Echinococcussack), ein thierischer Parasit, in oder an der Leber, welcher aber auf die eigentliche Leberfunktion keinen nachtheiligen Einfluß ausübt, höchstens bei bedeutender Größe die Lebergegend sehr auftreibt und durch Druck auf den Gallenglanz und die Pfortader Gelbsucht mit Bauchwassersucht erzeugt.

Nach dieser Revue der Leberleiden wird es dem Leser vielleicht klar geworden sein, wie gering die Anzahl derjenigen Uebel ist, welche wirklich den Namen eines Leberleidens verdienen, wie so schwer es oft ist, dieselben mit Sicherheit zu ergründen und wie bequem es sich die Aerzte machen, welche in den meisten über Unterleibsbeschwerden Klagenden sofort Leberleidtragende finden wollen. Sie thun mir leid! Die Aerzte wie die Kranken.

Bock. 




Ein Riesenthier der Vorwelt.

Die Natur scheint in frühern längst vergangenen Zeiten gewissermaßen eine Vorliebe für die Bildung riesenhafter, elephantenartiger Thiere gehabt und jedem Lande eine besondere Art dieser nichts weniger als schönen Geschöpfe zugetheilt zu haben; denn während Asien und Afrika heut zu Tage noch ihre Elephanten haben, lebten solche Geschöpfe, größer als die jetzigen, durch ihr mit Wolle und grobes Haar bekleidetes Fell dem gemäßigten und kalten Klima angepaßt, in Menge in den nördlichen Breiten Asiens, Europa’s, Amerika’s, ja Australiens. Es beweisen dies die zahlreichen Knochenüberreste, die man in allen den genannten Ländern, bis nach Sibirien, findet und die von den Gelehrten einigen vorweltlichen Thieren zugeschrieben werden, welche sie Mammuth, Mastodon u. s. w. nennen, und welche nahe Verwandte unsers wohlbekannten Elephanten waren.

Einzelne Knochen dieser Thiere und mehr oder weniger vollständige Sammlungen aller Knochen eines solchen Geschöpfes kannte man schon längst, und namentlich machte das riesige Geripp eines solchen Aufsehen, das Koch vor etwa fünfzehn Jahren in allen größern Städten Europa’s sehen ließ, und das sich jetzt in London befindet. Koch hatte die ungeheuern, lose gefundenen, Stoßzähne an seinem Exemplar, welchem er den Namen Missurium theristocaulodon gab, falsch eingesetzt, so daß dieselben wie zwei Sicheln horizontal nach rechts und links auswärts gerichtet waren. Wir erwähnen dies deshalb, weil dieser Koch’sche Irrthum durch seine Abbildung in viele andere Werke übergegangen ist. Von größter Merkwürdigkeit ist aber das Gerippe, das man im August 1845 in einer Mergelgrube bei Newburgh in Nordamerika fand und das unsere Abbildung zeigt, weil bei demselben nicht nur alle Knochen in der natürlichen Lage beisammen, sondern sogar Ueberreste der Nahrung vorhanden waren, die das Thier zu sich genommen hatte.

Die Arbeiter in der Mergelgrube stießen auf etwas Hartes. Sie gaben sich Mühe, dasselbe unverletzt zu Tage zu bringen, und bald lag ein riesiger massiver Thierschädel mit zwei langen weißen Stoßzähnen vor ihnen. Der Kopf fand sich nur fünf Fuß tief unter der Erdoberfläche. Nachdem man den Schädel und den Unterkiefer weggenommen hatte, kamen die Halswirbel zum Vorschein und ihnen folgten in natürlicher Lage die Rückenwirbel. Man fand ferner die Rippen, die Schulterblätter und die Knochen der Vorderbeine, die wie zum Gehen nach vorn ausgestreckt waren; endlich das Becken und die Knochen der Hinterbeine, die am tiefsten im Mergel lagen. Kurz, das ganze Geripp des Ungethüms aus der Vorzeit kam nach und nach zu Tage bis zu dem letzten kleinsten Knochen der Schwanzspitze. Der Fund machte großes Aufsehen, und da sich der Ort dicht an einer Straße befand, wurde er von Tausenden betrachtet und bewundert.

Aber nicht nur das vollständige Gerippe eines und desselben Mastodon wurde herausgegraben, nebst der ganzen Zahnreihe des Thieres, sondern auch die Nahrung, die es zuletzt zu sich genommen, ließ sich unzweifelhaft in einer Masse von zermalmten

[393]

Das Mastodon.

Zweigen, Blättern und anderm Pflanzenstoff erkennen, die unter den Rippen, in der Höhlung, welche dieselben einschließen, vom Brustbeine an bis zum Becken, ziemlich fest verbunden mit der concaven Seite der Knochenwände der Bauchhöhle, lag. Die größten Stücke der zerkaueten Zweige hatten ein Viertel bis drei Achtel Zoll im Durchmesser, und waren einen bis anderthalben Zoll lang. – Sie sahen aus „wie in einem Schraubestock zerdrückt.“ Diese grobzermalmten Zweige- und Blätterreste bildeten an der Stelle, wo sich der Magen befunden haben muß, eine Masse von gegen sechs Scheffeln; ein Streifen fein zertheilten Pflanzenstoffes, drei Fuß lang und vier Zoll im Durchmesser, lief in der Richtung des Darmes bis unterhalb des Beckens. Durch mikroskopische Untersuchung der am wenigsten veränderten Zweigreste erkannte man, daß die von röthlicher Farbe von einem fichtenartigen Baume herrührten, während die von schwarzer Farbe von verschiedenen Baumarten waren. Einer der berühmtesten Botaniker, dem Proben davon zur Untersuchung gesandt wurden, erklärte: „Die Struktur ist eine mir unbekannte, obgleich ich etwas Aehnliches in versteinerten Hölzern gesehen habe.“

Der merkwürdige Fund wurde von Dr. Warren in Boston gekauft, der die einzelnen Knochen auf seine Kosten zusammensetzen und das Gerippe in einem eigens dafür aufgeführten feuerfesten Gebäude aufstellen ließ, wo es nun seit 1850 zu sehen ist. Der Eigenthümer ließ ferner von dem Ganzen, wie von verschiedenen Theilen ganz genaue Zeichnungen machen, dieselben sorgfältig in Kupfer stechen und schenkte Abdrücke davon nebst einer äußerst gründlichen, wissenschaftlichen, ausführlichen Abhandlung über dieses vorweltliche Thier an verschiedene Anstalten in Amerika und Europa. Er ist bei seinen Untersuchungen über die wahrscheinliche Lebensweise und Nahrung dieses vorweltlichen Thieres zu dem Resultate gekommen: „Das Mastodon besaß ohne Zweifel auch einen Rüssel, dessen Zweck, wie bei dem noch jetzt lebenden Elephanten, war, Baumzweige als Nahrung zu fassen und abzubrechen und die eigenthümlich eingerichteten sehr harten Zähne waren vollkommen geeignet, solche Nahrungsstoffe genügend zu zermalmen.“

Zum Schlusse noch für unsere Leser die Bemerkung, daß der Name Mastodon, Zitzenzahn, dem Thiere wegen der Form seiner Kau-Zähne gegeben worden ist, die Ähnlichkeit mit den Zitzen eines Kuheuter haben und daß derselbe Mástodon (das o in der Mitte kurz) ausgesprochen wird.




Eine Nacht in Ostindien.

Ich war, erzählte mein Freund, der Oberst Aston, nach Scharwar beordert worden und hatte für die Nacht mein Zelt unter jenen niedrigen, felsigen und unfruchtbaren Bergen aufgeschlagen, auf deren einem die Festung Drug oder Chittledrug sich erhebt. Nachdem ich einen Theil des Tages mit der Besichtigung dieser noch beträchtlichen Besitzung des Rajahs von Mysore zugebracht, entschloß ich mich, den langen Nachmittag mit der Jagdflinte zu verkürzen, denn das edle Waidwerk war von jeher meine liebste Erholung. Meinen Dienern bedeutete ich, mich vor dem Dunkelwerden nicht zu erwarten, sich aber für den nächsten Morgen zum Aufbruch zu rüsten und lenkte denn meine Schritte nach einem der Gehölze, die östlich von der Ebene liegen.

Der junge Bursche, den ich mit mir genommen, um mir gewissermaßen als Führer zu dienen, leistete mir ganz treffliche Dienste, wenn er sich auch einige Male weigerte, mir in gewissen Richtungen zu folgen, indem er behauptete, an jenen Orten befänden sich Tiger und Panther. Das Glück begünstigte mich, denn schon vor fünf Uhr hatte ich ein paar Florikins, die vortrefflichste Art der Trappen, ein paar Hasen und einen Sirus [394] erlegt. Den letztern Vogel schenkte ich dem Knaben, der darüber höchlich erfreut war. Da ich keine Lust hatte, schon jetzt zurückzukehren, so schickte ich meinen Begleiter mit der Beute heim, nachdem ich mir meinen ferneren Weg von ihm genau hatte beschreiben lassen.

Allein geblieben warf ich mich nieder, um auf den Kräutern, welche den Boden bedeckten, zu ruhen, und hier würde ich in den wachen Träumen, welche unter dem blauen Himmel Indiens bei dem Nahen der kühlen Abendlüfte, die gleichsam nur athmen, nicht wehen, eine der schönsten Erholungen bilden, vielleicht ruhig gelegen haben, bis es Zeit war, zu meinem Zelte zurückzukehren, hätte mich nicht das schrille Geschrei eines Pfaues geweckt, der, sich träg hinter mir erhebend, seine Bahn kaum zwei Fuß hoch über dem Boden nach den jenseitigen Wäldern verfolgte.

„Soll ich die Goldader zu gewinnen suchen,“ dachte ich, „oder den weisen Vogel, der sie meidet?“

Ich erinnerte mich nämlich des unter den Hindu’s herrschenden Aberglaubens, wonach der Pfau einen so großen Abscheu vor dem Golde hat, daß er, sobald er dessen Gegenwart merkt, trotz der Abneigung, seine schwerfälligen Schwingen zu brauchen, über die Stellen fliegt, unter denen eine Ader des verderblichen Metalls verborgen liegt. Auch gedachte ich des wahrscheinlicheren Glaubens, daß wo Pfauen sich aufhalten auch Tiger nicht fern sind. Aber ich hatte noch nie Pfauen geschossen und da das Gelüst des Jägers die Habsucht sowohl als die vorsichtige Klugheit überwand, so raffte ich mich aus der angenehmen Ruhe empor und befand mich bereits tief in dem Labyrinth eines, wenn auch nicht dichten Waldes, ehe ich noch merkte, daß dies gerade der Punkt war, den mein kleiner Führer am Eifrigsten vermieden hatte.

Zweimal hatte ich den prachtvollen Vogel aufgetrieben und zweimal vergeblich geschossen. Jetzt überschritt ich einen schmalen „Dongur“ oder Graben, über den er gegangen war und durch welchen eine Quelle rieselte; da wurden meine Blicke plötzlich auf gewisse Spuren in dem sandigen Boden aufmerksam, die unverkennbar die Nähe einer Tschite verriethen. Da ich wußte, daß der Leopard und der Panther am Liebsten tiefe Thalgründe bewohnen und ihr Lager an solchen kühlen Orten aufschlagen, welche Wasser und Schatten zugleich gewähren, so beschloß ich, sogleich umzukehren. Aber noch war ich nicht vierzig Schritt weit gekommen, als ein lautes Gebrüll vor mir eine nahe Gefahr deutlich genug anzeigte. Unfern von mir, fast in derselben Richtung, in der ich gekommen, sah ich zwei feurige Kugeln, die Augen des am Boden lauernden Unthieres, durch die Akazienzweige leuchten und hörte, wie es mit dem Schweife die Erde peitschte. Es mahnte mich, an meine Vertheidigung zu denken.

So viel ich’s berechnen konnte, befand sich das Thier zwei Schritte weit von mir. Mein Gewehr war geladen, aber nicht mit Kugeln; zu meiner Rechten befand sich ein freier Raum, der nach einigen einzeln stehenden Kavis oder Holzäpfelbäumen führte; zwischen diesen Bäumen und mir schien der Boden neuerdings mehrere Schritt weit aufgewühlt zu sein, denn hier und da war er gelockert, vom Rasen entkleidet, welcher umherlag, während darüber Zweige und Aeste verstreut waren. Ein Blick reichte hin, mich zu überzeugen, daß der Stamm des nächsten Baumes, der zugleich der stärkste war, mein Vertheidigungspunkt sein müsse, obgleich ich beinahe daran verzweifelte, ihn zu erreichen, ehe die Tschite ihren Angriff machte. Schnell that ich, statt rückwärts zu gehen, plötzlich einen Sprung zur Rechten und erreichte im nächsten Augenblicke die gewünschte Stelle, gerieth aber dabei in eine andere unerwartete Gefahr. Während mein Fuß nämlich einen Augenblick den zwischenliegenden Boden berührte, fühlte ich, daß der mit Laub und Zweigen übersäete Grund unter mir nachgab und ward inne, daß sich ein Loch oder eine Kluft unter mir befand. Es war eine Fallgrube, in welcher die Bewohner jener Gegenden die gefährlichen Thiere fangen, von denen eins mich als gute Beute ausersehen zu haben schien.

Denn kaum hatte ich den Sprung zur Seite gethan, so war die Tschite mir nachgesprungen und war nur noch einen Fuß breit von mir. Aber es hatte die Fallgrube nicht bemerkt oder ihre Breite nicht genau berechnet, denn sobald es den trügerischen Ueberbau mit seinem schweren Körper berührte, wich derselbe unter ihm und das wüthende Thier sank mit dem Hintertheil des Körpers in die Grube, hielt sich aber mit den Krallen der Vorderfüße am Rande fest, so nahe bei mir, daß mir sein heißer, stinkender Athem in’s Gesicht schlug. Entsetzen erfaßte mich und doch mußte ich, wie in seltsamer Bezauberung befangen, auf die gewaltige aber schreckliche Gestalt des raubgierigen Thieres blicken, das selbst von Furcht und Wuth wechselsweise erfüllt, seine rothen, gierigen Augen fest auf mich gerichtet hielt, während aus seinem weitgeöffneten und mit Schaum bedeckten Rachen der schreckliche Mißklang seiner Stimme ertönte. Dabei bemerkte ich mit wachsendem Entsetzen, daß es sein Hintertheil immer mehr aus der Grube erhob, so daß ich fast den Augenblick vorausberechnen konnte, wo es sich vollkommen befreit haben würde.

Mit einer letzten Anstrengung aller meiner Kräfte erhob ich meine Vogelflinte, zielte dem Thiere auf die Augen und drückte los. Die Tschite stürzte mit gräulichem Geheul in die Grube und ich sank, voll heißen Dankgefühles für meine Errettung, auf den Boden, unfähig, mich länger aufrecht erhalten zu können.

Aber zum Verzug war keine Zeit. Der Abend näherte sich und die Schatten verlängerten sich bereits riesenhaft. Ich war schon so tief in’s Gehölz eingedrungen, daß ich nicht sicher war, ob ich den Weg wieder herausfinden würde; doch ging ich vorwärts bis ich fand, daß ich mich nur immer tiefer verirrte.

Ich stand still, um zu überlegen. Die Sonne ging unter und ihr goldenes Licht, das gleich einer Schaar strahlender Geister auf die grünen Zweige fiel, erinnerte mich, daß ich von West nach Ost gekommen war und also nun meinen Lauf dem sinkenden Tagesgestirn entgegen nehmen müsse. Aber das Dickicht ward immer wilder, die Bäume standen dichter und auf dem Wege, den ich eingeschlagen, befanden sich zahllose Gruben und Klüfte. Meine Lage wurde in der That sehr unbehaglich. Als ich um mich sah, stand ich vor dem Eingang einer Art von Höhle, aber die Besorgniß, es möchte das Lager der Tschite oder ihres Genossen sein, bewog mich, nicht einzutreten, sondern einen kleinen Erdhügel zu ersteigen, der, bedeckt mit Moos und Schlingpflanzen, die Decke dieser Höhle bildete, wie ich sofort entdeckte. Während ich nun auf Händen und Füßen emporkletterte – denn der Abhang war, wenn auch sanft, doch schlüpfrig – vernahm ich in meiner Nähe den dumpfen Klang menschlicher Stimmen und kaum hatte ich still gehalten, um zu lauschen, als der Boden unter mir nachgab und ich, in lächerlicher Nachahmung meines letzten Feindes, zwar unverletzt, aber doch sehr erschrocken unter eine Gesellschaft hinab fiel, die sicherlich noch erschrockener als ich war, denn Geschrei, Ausrufungen und Flüche schallten um mich her.

„Baugh! Baugh! Es ist ein Tiger!“ rief der Eine.

„Afrit! Ghowl! Pischesch! Ein Kobold! Ein Gespenst! Ein Teufel!“ riefen Andere.

Als ich endlich zu mir selbst kam und meine unbeschädigten Glieder und mein Gewehr wieder aufraffte, sah ich mich mitten in einer unterirdischen Hütte, deren Bewohner ein alter Mann, ein Weib und ein Knabe waren. Alle drei waren augenscheinlich an einem großen Feuer beschäftigt gewesen, über welchem sich die einfachen Geräthschaften befanden, welche die Eingebornen zur Destillation geschmuggelten Araks anzuwenden pflegen. Wirklich war es der geheime Schlupfwinkel eines Culel oder Destillateurs geistiger Getränke.

Mit wenigen Worten erklärte ich das ganze Ereigniß – das Abenteuer mit der Tschite – und meinen Wunsch, Demjenigen ein Bakschisch (Trinkgeld) zu geben, der mich auf den richtigen Weg bringen würde.

Die armen Leute freuten sich herzlich, als sie vernahmen, daß die Tschite gefangen sei und versicherten mir, dieselbe könne unmöglich aus der Grube entkommen, ihr Männchen sei aber einige Wochen zuvor getödtet worden. Sie baten mich, das Geheimniß ihres Schlupfwinkels zu bewahren und wiesen den Knaben an, mich auf den rechten Weg zu bringen, von dem ich bedeutend abgekommen war.

So verließ ich sie; allein die Schrecken der Nacht waren noch nicht vorüber.

Es war nun vollkommen finster geworden. Die plötzlich eintretende und fast ebenso schnell verschwindende als entstehende Dämmerung war vorübergegangen, während ich in der Hütte verweilte, welche sich, wie ich bemerkte, hart an der Grenze der Ebene befand, unter den letzten Gebüschen der Waldung verborgen. Wir hatten noch nicht eine von den sechs Meilen zurückgelegt, die ich, wie man mir sagte, zu wandern hätte, als mein [395] kleiner Führer über etwas stolperte, was im schmalen Wege lag, und beim Fallen das Knie gegen einen Stein schlug. Zum Glück hatte ich, wie jeder ostindische Jäger einen Vorrath von Pflaster bei mir, das ich auf die Wunde legte; da aber der Kleine nur mit Schwierigkeit gehen konnte und sich nach der Heimkehr zu sehnen schien, so ließ ich mir die einzuschlagende Richtung beschreiben und entließ ihn, auf unerhörte Weise bereichert, nämlich durch den Besitz einer Rupie.

Er sagte mir, ich dürfe nur der schnurgeraden Richtung folgen, um meinen Lagerplatz zu erreichen und es schien mir nicht sehr wahrscheinlich, von dem einzigen Wege abweichen zu können, der sich von dem holperigen und unbetretenen Boden deutlich unterschied. Der Mond schien noch nicht und die weite, offene Fläche, hier und da von flachen sandigen Gräben durchschnitten, den im Sommer trockenen Betten der Bergströme, die sich zur Zeit der Passatwinde ergießen, dann und wann auch durch ein Gebüsch oder eine Baumgruppe unterbrochen, schien sich in’s Unendliche auszudehnen. Hinter mir konnte ich noch die dunkeln Schatten der Wälder und Hügel unterscheiden, vor mir war aber Alles eine leere Fläche, außer daß in weiter, weiter Ferne ein blinkendes Licht das Nachtfeuer eines Pilgrims, die Wohnung eines Menschen oder das Heiligthum eines Fakirs andeuteten. Dies war der Punkt, auf welchen ich losmarschiren sollte und so lange er sichtbar blieb, ging Alles gut; allein bald verschwand er und ich sah ihn nicht wieder.

Alle die einer asiatischen Nacht eigenthümlichen Töne und Überraschungen sammelten sich um mich, als ich langsam dahin schritt. Die Luft war angenehm kühl, Myriaden von Insekten, von der Nacht geboren, füllten die Atmosphäre: die stinkende, grüne Wanze blieb mir im Haar hängen, Mosquito’s summten hungrig um meine Ohren und große weiß beflügelte Motten hielten mit dummer Hartnäckigkeit meine Augen für ein glänzendes Futter; Grillen und Heuschrecken zirpten laut umher, zuweilen fuhr eine Nachteule quer durch die Oede und als ich einen kleinen Bach überschritt, hob sich eine Schaar der großen, weißen Reiher, die man Paddivögel nennt, weil sie sich häufig in den feuchten Paddi- oder Reisfeldern aufhalten, auf einmal von ihrer Tränke empor und während sie träge hinwegflogen, sahen sie aus wie eine Schaar in schneeweiße Hüllen vermummter Geister. Eine Rohrdommel ließ sich hören und das Quaken vieler Ochsenfrösche; hier und da war auch das Firmament, schön bei der dichten Finsterniß, die dem Aufgange des Mondes vorausgeht, mit Feuerfliegen erfüllt. Sie tanzten und glühten und glitzerten um mich her, wie fliegende Diamanten; sie bedeckten die Bäume eines Wäldchens, durch das ich kam, bis jeder Zweig wie mit Zauberlampen behangen, jedes Blatt mit Tropfen von Diamanten, Rubinen und Smaragden bethaut schien.

In stummer Bewunderung blieb ich stehen und betrachtete sie. Plötzlich, so plötzlich als sie vor mir erschienen waren, verschwanden sie, wie durch ein unbegreifliches, nur ihnen vernehmbares Machtgebot verscheucht und Alles war wieder in Nacht gehüllt.

Es war jetzt in der That so finster, daß ich wußte, der Mond müsse bald aufgehen, und da ich im Stehenbleiben eine gewisse Beruhigung und Sicherheit fühlte, so entschloß ich mich zu warten, bis sich die Nacht etwas aufhellen würde.

Ich war in einen kleinen sandigen Graben hinabgestiegen und hatte mich auf ein Ufer in der Nähe des kleinen Baches gesetzt, der noch keinen Schritt breit war. Die köstliche Kühle des Windes, der reiche Duft, welcher von den Goldblüthen einiger in der Nähe stehender Bebus (Gummi-Arabicum-Bäume) herwehte, die Abwesenheit der plagenden Insekten und ein bedeutender Grad von Müdigkeit vereinigten sich, mich schläfrig zu machen und sorglos überließ ich mich dem unwiderstehlichen Drange nach Schlummer, als urplötzlich etwas an mir vorbeisauste, ein schwirrendes Getös erscholl und ein scharfer Gegenstand mich schmerzhaft an das ausgestreckte Bein traf, ein Schall, als wenn viele Stäbe rasch hintereinander zusammengeschlagen würden, folgte und dann war wieder Alles todtenstill.

Heftig erschrocken fühlte ich mit der Hand nach meinem Beine und fand, daß in der That ein Etwas meine Beinkleider durchbohrt und meinen Fuß verletzt hatte, denn es floß Blut aus der Wunde. Ich konnte nichts sehen; aber meine untersuchende Hand erfaßte einen spitzen Gegenstand – sollte es ein Pfeil sein? Nein, es war der frischausgefallene Stachel eines Stacheligels. Das scheue, so selten gesehene Thier, war hergekommen, um zu trinken und, bei der unvermutheten Berührung mit meinem Beine, eines jener schönen gefleckten Stacheln beraubt worden, aus denen die kunstfertigen Eingebornen einiger Gegenden Indiens so zierliche Arbeitskästchen machen.

Es war noch immer dunkel, obwohl die pechschwarze Dunkelheit der Atmosphäre gewichen war. Ich hielt es indeß für rathsam mich aus der Nähe des Wassers zu entfernen, um ähnlichen Begegnungen vorzubeugen, und schlich mich hinauf nach der Ebene, wo ich mich auf das trockene, rauhe Stechgras niederwarf und einige Minuten wach bleiben wollte. Aber ach! gerade als ich mir noch bewußt war, daß der Horizont sich bereits grau färbe, überfiel mich der Gott des Schlafs und ich unterlag.

Ich schlief fest und süß. Niemals habe ich seitdem im Freien fest und süß geschlafen, denn mein Erwachen war von Entsetzen begleitet. Ehe ich noch vollkommen wach war, hatte ich eine seltsame Vorahnung von Gefahr, die mich an den Boden fesselte und mich vor jeder Bewegung warnte. Ich wußte, daß ein Schatten über mich hinschlich und daß es am Klügsten sei, in stummer Regungslosigkeit unter demselben zu bleiben. Ich fühlte, daß meine Füße unter der Wucht einer lebendigen Kette lagen; aber gleichsam als hätte mich ein wohlthätiger Schlaftrunk befangen, der die Bewegung jeder Sehne verhütete, wurde ich auch nicht eher, als bis ich vollkommen munter war, gewahr, daß eine ungeheure Schlange den untern Theil meiner Füße bis herauf zu den Knieen bedeckte.

„Mein Gott, ich bin verloren!“ rief es in meinem Innern, während jeder Blutstropfen in meinen Adern sich in Eis zu verwandeln schien. Ich bebte wie ein Espenlaub, bis die Besorgniß, daß meine plötzliche Erschütterung das Thier erwecken möchte, mein Gefühl dämpfte und mich wieder regungslos liegen ließ.

Die Schlange schlief oder blieb wenigstens ohne Bewegung – wie lange?, weiß ich nicht zu sagen. Für den von Angst Befangenen ist die Zeit wie der Ring der Ewigkeit. Auf einmal wurde der Himmel hell, der Mond trat hervor, die Sterne standen über mir – ich konnte also Alles sehen, während ich ausgestreckt auf der Seite lag, die eine Hand unter meinem Haupte, von wo ich sie nicht wegzunehmen wagte, und doch wagte ich es nicht, hinab nach meinem grauenvollen Schlafgenossen zu blicken. Plötzlich trat ein neuer Gegenstand des Schreckens hinzu.

Ein sonderbares Schnurren hinter mir, dem zwei scharfe Tritte auf dem Boden folgten, machten die Schlange munter. Sie bewegte sich, ich fühlte das und kroch aufwärts nach meiner Brust. Ich ward fast wahnsinnig vor überwältigender Angst, denn ich mußte meinem fast sichern Untergang entgegen sehen. In diesem Augenblicke höchster Seelenpein sprang etwas auf meine Schulter – auf die Schlange!

Der angreifende Theil erhob ein gellendes Geschrei, die Schlange ließ ein lautschallendes Zischen hören.

Einen Moment konnte ich fühlen, wie sie auf meinem Körper mit einander rangen; im nächsten lagen sie neben mir auf dem Rasen, dann sah ich sie einige Schritte entfernt, im heftigen, erbitterten Kampfe mit einander ringend, sich wechselseitig umdrehend. – Es war ein Munghus oder Ichneumon und eine Cobra de Capelo!

Ich sprang nun auf und sah dem eigenthümlichen Kampfe zu, denn es war jetzt hell wie am Tage. Ich sah sie einen Augenblick entfernt von einander stillstehen. Aber der giftige Zauber des Schlangenblicks erwies sich machtlos gegen die scharfen, beweglichen, durchdringenden Augen des Gegners. Noch einmal wurde dieser Zweikampf mit den Augen mit einem ernsteren Ringkampfe vertauscht. Ich sah, wie der Munghus gebissen ward und hinwegschoß, wahrscheinlich um die noch unbekannte Pflanze zu suchen, deren Saft das Gegengift gegen den Schlangenbiß gewährt; ich sah, wie er mit erneuter Kraft zurückkehrte und wie die Cobra de Capelo endlich, gelähmt vom Kopfe bis zu dem schuppigen Schwänze, aus ihrer bisherigen aufrechten Stellung mit einem dumpfen Zischen leblos niederfiel. Der wunderbare Sieger überließ sich den sonderbarsten Zeichen der Freude und tanzte unter den heftigsten Sprüngen auf dem Körper des erlegten Gegners herum, schnurrend und spuckend gleich einer wüthenden Katze.

[396] Sehr bald fand ich jetzt den Weg nach meinem Zelte, wo man wegen meines langen Ausbleibens sehr in Sorgen war. Brauche ich noch zu erwähnen, wie mir, so spät es war, meine Abendmahlzeit mundete? Oder daß ich den Befehl zum Aufbruch für den nächsten Morgen widerrief? Oder wie süß ich schlief nach diesen drei vor Mitternacht bestandenen Abenteuern?




Blätter und Blüthen.


Ein gutes Mittel zum Ausmachen von Rothwein-Flecken. Ein einfaches, haltbares, bequemes, billiges Mittel zum Ausmachen von Rothweinflecken darzustellen, ist ein schon vielfach gegen mich ausgesprochener Wunsch gewesen, den ich hier vollständig befriedigen zu können hoffe.

Es ist allbekannt, daß die schwefelige Säure, dieser erstickend riechende Dampf, welcher sich beim Verbrennen des Schwefels bildet, die Weinflecke bleicht und somit vertreibt. Man befeuchtet das zu reinigende Tuch mit Wasser, verbrennt unter den fleckigen Stellen einige Schwefelhölzer oder etwas Schwefelfaden, so daß die Dämpfe des verbrennenden Schwefels zu dem Tuche emporsteigen, wobei sie von demselben angezogen werden und die Flecken zerstören. Allein dieses Verfahren ist unbequem, des erstickenden Schwefelgeruches wegen unangenehm und außerdem kann man die Tücher leicht versengen. Die schwefelige Säure besitzt die Eigenschaft, in Wasser etwas auflöslich zu sein und auch in dieser Lösung bleichend auf manche Farbestoffe zu wirken. Man kann sich daher eine solche Lösung darstellen lassen und diese zu solchen Zwecken benutzen, wobei man nur die fleckigen Stellen damit zu befeuchten hat; doch stellt sich hierbei der Uebelstand ein, daß sich die schwefelige Säure in ihrer wässerigen Lösung leicht verändert und unwirksam wird. Man kann daher ihre Lösung nur kurze Zeit aufbewahren und muß sie immer wieder frisch darstellen lassen. Ganz frei von den oben erwähnten Mängeln ist nun das nachstehende Mittel:

Man nimmt zwei gleich große, verschließbare Gläschen, füllt das eine mit gepulvertem sogenanntem Antichlor (unterschwefligsaurem Natron) und bezeichnet es mit Nr. 1; das andere füllt man mit gepulverter Weinsäure oder Weinsteinsäure und bezeichnet dieses mit Nr. 2. Von beiden Substanzen geht dem Gewichte nach dieselbe Menge in die Gläser. Will man einen Fleck ausmachen, so befeuchtet man die fleckige Stelle erst mit Wasser, bestreut sie hierauf mit einer Messerspitze voll von dem Pulver aus dem Glase Nr. 1, läßt einige Minuten liegen, damit sich die Substanz in das Gewebe einziehen kann, befeuchtet von Neuem mit Wasser und streut nun ebenfalls eine Messerspitze voll von der Weinsäure aus dem Glase Nr. 2 auf dieselbe Stelle. War der Weinfleck frisch, so verschwindet er fast augenblicklich; war er schon alt, so läßt man die Stoffe mehrere Stunden, indem man von Zeit zu Zeit wieder befeuchtet, darauf liegen, und spült die Tücher zuletzt mit reinem Wasser aus. Bei Anwendung dieses Mittels wird durch die Weinsäure aus dem Antichlor eine ganz allmälige Entwickelung von schwefliger Säure und somit die Bleichung des Fleckes bedingt. Man hat hierbei durchaus nicht zu befürchten (selbst wenn man das Mittel 24 Stunden lang einwirken läßt, bevor man es wieder ausspült), daß das Gewebe der Tücher dadurch etwa zerfressen oder auch nur etwas morscher werde, da sowohl das Antichlor wie die Weinsäure ganz ohne ätzende Wirkungen sind. Mit einer kleinen Menge dieses Mittels kann man sehr viele Flecke wegbringen und sobald jede der beiden Substanzen in ein besonderes Glas gebracht worden ist, können sie viele Jahre lang unverändert aufbewahrt werden. Dasselbe Mittel nimmt übrigens außer den Weinflecken auch die Kirsch-, Heidelbeer-, Preißelbeer-, Himbeer- etc. Flecke vollständig und leicht weg. Selbst die zuweilen in alter Wäsche entstehenden Stockflecke, sowie auch die Rostflecke können mit Hülfe desselben leicht entfernt werden.




Der Schiffbruch des englischen Schiffs Blake. Am 8. Februar d. J. verließ der Blake, ein liverpooler Schiff, unter dem Befehl des Kapitain Eduard Rudolf, mit einer Ladung Dauben Ship-Island (Mississippi) und segelte nach Cork ab. Achtzehn Tage lang hatte das Schiff eine gute Fahrt, da trat am 4. März stürmisches Wetter ein, der Wind nahm bis zum 12. März mehr und mehr an Heftigkeit zu und bald sah man sich, da das Schiff Wasser einließ, genöthigt, beide Pumpen in fortwährender Bewegung zu halten.

Wie groß aber auch die Anstrengungen der Mannschaft waren, ihre Aufopferung war vergebens und am Abend des 12. März stand das Wasser im Kiel bereits 12 Fuß hoch. Um 6 Uhr riß ein furchtbarer Stoß den Mann vom Steuer, zerbrach die Boote, fügte dem Schiffe arge Beschädigungen zu und kehrte das Vorderdeck nach hinten. Die Segel, die man aufhißte wurden fast in demselben Augenblicke zu Fetzen zerrissen und neue Stöße der See, einer immer wüthender als der andere, machten das Werk der Zerstörung vollkommen. Den Mittelmast zu kappen, um das Schiff zu erleichtern, hatte Niemand den Muth, denn auf dem Vorderdeck richtete die See ihre größten Verheerungen an.

„Mittlerweile“ – so erzählt der Kapitain weiter, – „fuhr der Sturm fort, mit unerhörter Wuth zu rasen, und wahrhafte Wasserberge wälzten sich jeden Augenblick über unser armes Fahrzeug. Am 13. März gesellte sich zum Orkan ein Wirbel von Hagel und Schnee, der unsere Leiden noch erhöhte, und endlich ward das Schiff, um unser Elend voll zu machen, ganz auf die Seite geschleudert, wodurch sieben Mann in’s Meer gestürzt wurden, wo sie für immer verschwanden. Zwei Stunden blieben wir in dieser schrecklichen Lage, indem wir uns an den Trümmern der Masten und sonstigen Gegenständen mit aller Kraft, die uns Kälte und Beschwerden übrig gelassen, festklammerten. Als der Sturm sich beschwichtigte, hob sich das Fahrzeug zwar wieder ein wenig, aber es hatte nur noch die Stümpfe seiner Masten; sein Steuerruder war entzwei, es sah nur noch wie ein Floß aus. Bis zum 18. März blieben wir so allen Leiden der Kälte und des Hungers ausgesetzt. Das Meer ging noch immer hoch und warf das unglückliche Wrack umher, auf dem wir unser Leben den Elementen streitig zu machen suchten. An jenem Tage befanden wir uns 43° 15’ nördlicher Breite und 38° 30’ westlicher Länge, hatten seit 5 Tagen nichts gegessen, keinen Tropfen süßen Wassers auf der Zunge gehabt und kein Schlaf war in unsere Augen gekommen.

Der 20. März war der siebente Tag, an dem wir keine Nahrung zu uns genommen hatten. Das Wetter, obgleich besser, war doch noch sehr rauh. Im Laufe des Tages fing ich eine halbtodte Ratte, welche unter dem am wenigsten ausgesetzten Theile des Decks eine Zuflucht gesucht hatte. Ich theilte sie redlich mit meinen Unglücksgefährten. Am folgenden Tage fanden wir auch ein wenig süßes Wasser im Vordertheile des Schiffs, wodurch unsere Leiden einen Augenblick gelindert wurden. Während der Zeit, wo der Hunger uns gestattete, unsern Schmerz zu vergessen, schauten unsere Augen begierig nach dem Horizonte aus; aber kein Segel ließ sich blicken. Endlich am 23. März, unserem zehnten Leidenstage, rief der ausguckende Matrose: „Schiff in Süd-Süd-Ost!“ Unsere Hoffnung hob sich; denn in der That waren zwei Schiffe in Sicht. Jeder richtete sich auf, um seinen Hut oder einen Lappen Leinwand zu schwenken. Allein vergebliche Hoffnung! Die Fahrzeuge sahen unser armes Wrack nicht und beide schwanden uns bald aus dem Gesichte. Dieser neue Schlag hatte eine herzzerreißende Scene zur Folge. Die Einen streckten die Hände zum Himmel empor mit durchdringendem Geschrei, Andere wälzten sich in düsterer Verzweiflung am Boden, während noch Andere unter Flüchen und Lästerungen ihr Geschick verwünschten. Von Zeit zu Zeit schaarten sich diese Menschen, wie von einem plötzlichen Impuls getrieben, um mich und baten mich mit Thränen im Namen Dessen, was ihnen das Theuerste auf der Welt: ihre Weiber und Kinder, sie zu retten. Dann mußte ich meine eignen Leiden vergessen, um sie durch einige beruhigende Worte zu ermuthigen und in ihren Herzen eine Hoffnung wieder zu erwecken, die ich doch nicht theilen konnte. Was war aus diesen kräftigen Männern geworden, mit denen ich die Vereinigten Staaten verlassen hatte? Acht waren im Augenblicke des Schiffbruchs umgekommen, ein neunter war in unseren Armen vor Erschöpfung gestorben, und die sieben noch übrigen, von Hunger und Erschöpfung angegriffen, glichen eher Leichen als menschlichen Wesen. Bisweilen erhob sich Einer von ihnen, durch Nahrungsmangel wahnsinnig geworden, in scheinbarer Kraft und glaubte, er nähme an einer Familienmahlzeit Theil, deren Gerichte er einzeln aufzählte; bald aber verfiel er wieder in den Zustand völliger Schwäche zurück. Das war ein schauerlicher Anblick; denn diese Ideen des Ueberflusses bildeten einen gar zu schneidenden Gegensatz zu unserer wirklichen Noth.

Meine Feder ist nicht im Stande, alle Scenen zu beschreiben, deren Zeuge ich während dieses traurigen Tages und der beiden ihnen folgenden war. Am 26. nahmen wir abermals ein Segel wahr, aber auch diesmal verschwand es, ohne uns bemerkt zu haben. Diese zweite Täuschung wirkte indeß weniger lebhaft. Denn unsere Kräfte waren erschöpft und wir fingen an, keine rechte Idee von unserer Lage mehr zu haben. Am Abend erlag ein anderer von unseren Gefährten den Qualen des Hungers; diesmal aber warfen wir ihn nicht in’s Meer, weil die gebieterische Nothwendigkeit uns zwang – Kannibalen zu werden! Drei Tage lang hatten wir von der Leiche unseres unglücklichen Genossen gelebt, obgleich unser Herz Abscheu bei dem Gedanken empfand, daß wir das Fleisch unseres Nebenmenschen verzehrten, da kam am 29. Morgens von Neuem ein großes Fahrzeug in Sicht. Es war nur zwei Meilen unter dem Winde und wir glaubten einen Augenblick, es habe uns bemerkt. Eitle Hoffnung! Es setzte seine Fahrt wie die übrigen fort. Da verließ mich jede Hoffnung. Erschöpft von meinem fast siebzehntägigen Fasten empfahl ich meine Seele Gott und die Augen schließend legte ich mich neben meine Gefährten nieder mit dem Gedanken, daß es jetzt mit mir zu Ende sei. So verliefen einige Stunden, als ich plötzlich aus meiner Betäubung durch den Freudenruf: „Ein Segel! Man hat uns gesehen!“ erweckt wurde. Niemals werde ich die Bewegung vergessen, die sich meiner in diesem Augenblicke bemeisterte: ich war todt und wurde dem Leben zurückgegeben! Wir waren in der That von der Goelette Pigeon von St. John, Kapitain Knight, bemerkt worden. Wegen der hochgehenden See war es lange unmöglich, uns nahe zu kommen; endlich aber wurden wir unserm Elend entrissen und an Bord der Goelette gebracht, wo uns die liebevollste Pflege zu Theil ward. Die Kleider, die wir, als wir das Wrack verließen, am Leibe hatten, waren so mit Salzwasser gesättigt und klebten so an unsern Körpern, daß sie uns fetzenweise abgerissen werden mußten.“


Nicht zu übersehen!

Alle Einsendungen von Manuscripten, Büchern etc. etc. für die Redaktion der Gartenlaube sind stets an die unterzeichnete Verlagshandlung zu adressiren.

Leipzig. Ernst Keil.


  1. Wir machen hier vorläufig auf die ausführliche und lebendige Schilderung des Krystallpalastes von unserm londoner Mitarbeiter H. Beta: „Der Krystallpalast von Sydenham, seine Kunsthallen, sein Park und seine geologische Insel?“ Mit 30 Abbildungen. (Leipzig. J. J. Weber) aufmerksam, um später ausführlicher darauf zurückzukommen.
    Die Redaktion.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: geliebter
  2. Vorlage: 1855 Nr. 18.