Die Gartenlaube (1857)/Heft 48

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Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
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Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Entstehungsdatum: 1857
Erscheinungsdatum: 1857
Verlag: Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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No. 48. 1857.
Die Gartenlaube.
Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.


Felicitas.

Eine Erzählung vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“
(Schluß.)

Der junge Bauer eilte fort. Felicitas mußte ihm nachstürzen; nicht, um ihn aufzuhalten, aber um laut, laut aufzuweinen und drinnen in der Stube die Schlafenden nicht zu wecken. Aber sie hatte nicht einmal Zeit, sich auszuweinen; die Gefahr war nahe und drohend.

Der junge Bauer hatte Recht. Noch immer herrschte, besonders auf dem Lande, jener unbegreifliche tödtliche und tödtende Ingrimm gegen den „Erzfeind.“ Freilich waren nur wenige Wochen verflossen, und der Druck und die Mißhandlung hatten so viele Jahre gedauert.

Sie ging in eine Kammer nebenan. Es war die Kammer, in der ihr Bruder geschlafen hatte, der den Franzosen nach Rußland hatte folgen müssen, der von da nicht zurückgekommen war. In einem Schranke in der Kammer waren noch die Kleider des Bruders. Sie nahm sie heraus, denn sie sollten dem Geliebten zur Rettung dienen. Die Kleider des von dem Franzosen geopferten Deutschen dem Franzosen! Das deutsche Mädchen gab sie ihm! Die Völker können sich hassen, die Menschen lieben sich.

Sie stieg auf den Boden.

„Bist Du da, Felicitas?“

„Ich bin es.“

„Wie lange habe ich auf Dich gewartet! Wie langweilig vergehen mir die Stunden, wenn Du nicht bei mir bist! Aber wie wird dieser dunkle Dachboden mir zum Paradiese, wenn ich Dich in meinen Armen halte!“

Er umschloß sie mit seinen Armen.

„Aber Du sagst mir nichts, mein Mädchen? Du hast kein süßes Liebeswort für mich?“

Sie hatte kein süßes Liebeswort für ihn, nur das Wort der bittern Trennung. Ihr Herz mußte nach der Kraft suchen, es auszusprechen.

„Aber, Felicitas, meine Liebe, meine Blicke finden Thränen in Deinen Augen? Was hast Du? Was ist Dir?“

Das bittere Wort mußte ausgesprochen werden.

„Wir müssen uns trennen, Alphons! Du mußt schon in dieser Stunde, o, schon in dieser Minute fort!“

Trennen! Scheiden! Auch den jungen Mann erfüllte das Wort mit Schrecken.

„Was gibt es, Felicitas?“ fragte er.

„Der Blödsinnige, der Deine Spur schon längst errathen hatte, ist in einem Anfalle von Wuth in das Dorf geeilt, um Leute zu holen, die Dich fangen sollen. Der Haß des Volkes gegen Deine Landsleute dauert noch fort; sie können jeden Augenblick kommen.“

„Ja, ich muß fort, Felicitas.“

„Du mußt, Du mußt!“ rief nun das laut aufweinende Mädchen, indem sie fest den Geliebten umklammerte.

„Hätte ich nicht schon längst gemußt? Schon vor fünf Tagen waren meine Kräfte wieder hergestellt, und nur mein Herz war zu schwach, von Dir zu scheiden.“

„Nein, nein, ich hielt Dich; ich meinte ja, ich müßte sterben, wenn Du fort gingest.“

„Und auch ich! Ich dachte nicht an die Heimath, nicht an meine Eltern, nicht an die Geschwister; ich konnte nur an Dich denken?“

Der Schmerz gab ihnen die süßen Liebesworte wieder.

„Und,“ fuhr er fort, „je früher ich scheide, desto eher komme ich wieder und hole Dich.“

„Wirst Du wiederkommen, Alphons?“

„Felicitas, wie oft habe ich es Dir geschworen! Wie oft haben wir davon geträumt! Kennt mein Herz einen anderen Gedanken?“

„Ja, Du wirst; ich fühle es hier in meinem Herzen, und was in meinem Herzen steht, das steht auch in Deinem.“

„Sie gehören einander für immer; nur der Tod kann uns trennen.“

„Nur der Tod. Aber, laß uns eilen; hier, ich habe Dir Kleider mitgebracht, denn Deine französische Uniform würde Dich verrathen; kleide Dich um, ich komme gleich zurück.“

Sie verließ ihn, um ihr Tuch zu holen, mit dem sie sich des Nachts gegen das Unwetter schützte, wenn sie im Herbst oder Winter über den Strom setzen mußte. Dann kehrte sie zu ihm zurück; er hatte sich umgekleidet und war bereit, ihr zu folgen.

„Noch eins,“ sagte das Mädchen; „sie dürfen hier auch keine Spur von Dir finden, sonst würden sie Dich verfolgen.“

Sie packte die Bettstücke zusammen, die ihm zur Ruhestätte gedient hatten, und warf sie durch die offene Bodenluke hinunter.

Dann schüttelte sie das Heu durcheinander, daß man nicht ahnen konnte, es habe Jemandem zum Lager gedient.

„Und nun Deine Uniform, wo hast Du sie?“

Auch der junge Franzose war vorsichtig gewesen. Seine Uniform, das Kleid des großen Kaisers, der großen Armee, war sein Stolz; er hatte an sie, an seine Sicherheit hatte er aber nicht gedacht.

[654] „Sie liegt in der Ecke dort; Du wirst sie mir verwahren, ich hole sie wieder mit Dir.“

„Man würde sie dort finden; sie würde Dich verrathen und muß deshalb vernichtet werden.“

„Vernichtet?“ rief der Franzose schmerzlich.

Das Mädchen besann sich.

„Ich hebe sie Dir auf. Du holst sie wieder, mit mir.“

Sie ging in die Ecke und belud sich mit den zusammengelegten Uniformstücken. Beide stiegen die Leiter hinunter; sie ließen sie stehen, denn sie konnte nun nichts mehr verrathen, nichts mehr entdecken. Unten trug das Mädchen die Uniform des Franzosen in den Schrank, in welchem die Kleider ihres Bruders gewesen waren.

„Dort wird Niemand sie suchen.“

Dann trug sie das Bette, in welchem der Franzose geruhet hatte, wieder zu der Stelle, an welcher ihre Schwester darin gestorben war. Bruder und Schwester hatte sie verloren; sollte sie auch den Geliebten verlieren? Sollte sie es, so starb sie mit ihm, denn das hatte ihr Vater und auch der Blödsinnige ihr gesagt. Aber der Vater hatte ihr auch geflucht, wenn sie ihm den Franzosen nicht ausliefere! Wie kam ihr auf einmal der Gedanke! Jetzt? In diesem Augenblicke? Es war der Fluch des Wahnsinns! Aber wäre es auch der Fluch des klaren Gedankens gewesen, sie konnte nicht anders – sie liebte!

Sie kehrte zu dem Geliebten zurück, sie nahm seine Hand.

„Jetzt folge mir.“

Sie verließen still das Haus. Hand in Hand traten sie in das ungestüme Wetter und horchten ängstlich. Es war still; sie hörten nur den heulenden Novemberwind, das Rauschen des Wassers, das Schwirren der Weiden, das Aneinanderschlagen der Nachen; es war, wie vor vierzehn Tagen, als sie sich gefunden hatten.

Schon vierzehn Tage waren seitdem vergangen. Die Zeit des Glückes vergeht schnell.

„Nun noch eine Bitte, Felicitas, bevor wir in den Nachen steigen.“

„Welche?“

„Führe mich zu der Weide, in der Du mich fandest.“

Sie führte ihn dahin. Sie schlug die Zweige der Weide auseinander und trat mit ihm an die Stelle, an der er gelegen hatte, den Tod erwartend, das Leben, das Glück findend. Auch sie hatte das Glück gefunden.

Hatte sie?

Sie küßten sich still; dann gingen sie zu den Fährnachen. Sie öffnete das Schloß, mit dem der kleine Nachen angeschlossen war.

„Steige ein, mein Geliebter.“

Er stieg an ihrer Hand ein. Sie stieß darauf den Nachen vom Ufer ab und setzte sich auf die Ruderbank.

„Setze Dich neben mich, Alphons, hier an meine linke Seite, damit ich den rechten Arm frei habe, den Nachen zu regieren. Wir lassen so uns langsam hinuntergleiten, wir bleiben dann länger beisammen; im Hause schlafen sie, und Deine Verfolger können in der Finsterniß uns nicht sehen und in dem Unwetter uns nicht hören.“

Er setzte sich dicht an ihre Seite, mit seinem gesunden, rechten Arme ihren schlanken Leib umfassend. Sie lehnte sich an ihn. Mit ihrem rechten Arme führte sie das Ruder und den Kahn; mit ihrer linken Hand hatte sie den Stumpf seiner in der Leipziger Schlacht zerschossenen linken Hand umfaßt.

So saßen sie auf der Ruderbank, in dem schmalen Nachen, auf dem brausenden Strome, in der finstern, stürmenden Nacht. Der Nachen glitt langsam dahin; die rollenden Wellen hatten ihn wohl rasch fortgerissen, weit stromabwärts; aber die geübte und gewandte Schifferin regierte mit leichter Mühe ihn so geschickt, daß er halb die Wellen durchschnitt und sie ihn nur halb mit sich ziehen konnten.

Sie wechselten Worte der Liebe, der Hoffnung, des Wiedersehens, des Glückes. So suchten die liebenden Herzen sich selbst und eins dem andern den Schmerz der Trennung zu vertreiben.

„In drei Monaten bin ich wieder bei Dir, Felicitas.“

„Es ist eine lange Zeit, Alphons; aber in dem Gedanken an Dich wird sie mir nicht lang werden.“

„Dann komme ich an das Ufer dort, dem wir jetzt zurudern, und rufe: Hol’ über! Ich habe das Wort so oft auf dem einsamen Dachboden gehört.“

„Und ich komme in diesem Nachen, in diesem nämlichen Nachen, und hole Dich ab; wie werden meine Hände vor Freude zittern!“

„Und dann trennen wir uns nie mehr; so lange Dein Vater lebt, bleiben wir in Deutschland; ich richte mir in der Nähe eine Handlung ein. Ruft der Himmel ihn ab, so ziehen wir nach meiner schönen Heimath, an die reizenden Ufer der Garonne, an die warmen Gestade des atlantischen Meeres; wie glücklich werden wir dort sein!“

„Ganz, ganz glücklich, mein Alphons!“

Sie umfaßten sich inniger. Sie lenkte das Ruder langsamer und der Nachen glitt rascher mit den Wellen hinunter; er durchschnitt langsamer den Strom und so blieben sie länger beisammen. Es waren nur Minuten; aber Minuten des Glückes.

Die Liebenden vergaßen Alles um sich her, selbst die nahe Minute, die sie auseinander reißen sollte, selbst den Schmerz der Trennung. Sie waren längst an dem Dorfe vorbeigekommen, in welchem in diesem Augenblicke der Blödsinnige den Haß und die Rache gegen den Mann des allgemeinen Hasses, der allgemeinen Rache aufgestachelt hatte, den Mann, der so süß im Arme der Liebe ruhete, den der Arm der Liebe so fest umschlungen hielt; sie fühlten nur Liebe.

Sie kamen an dem Kirchhofe vorbei, auf dem die todte Schwester so allein schlief. „In der finstern Nacht, in dem häßlichen Wetter!“ hatte das Kind gesagt, und es hatte sich vor Frost geschüttelt.

Der Kirchhof lag dicht an dem Wasser. Der Wind, als sie vorbei kamen, heulte über die Gräber dahin; er sauste durch die schwarzen hölzernen Kreuze, die auf den Gräbern standen; er warf die Kränze von vertrockneten Herbstblumen durcheinander, die auf den Kreuzen hingen.

Da rieselte der Frost durch die Brust des Mädchens; er stieg bis an ihr Herz heran. Sie hatte die Todte nicht angesagt! Die Liebe ist stark; auch der Glaube, auch der Aberglaube ist es; sie sind stark eben in der Liebe. Sie drückte sich zitternd an den Geliebten.

„Kommst Du wirklich wieder?“ rief sie laut. „Verläßt Du mich nicht? Kommst Du wieder? Sprich. Es wäre mein Tod!“

„Felicitas, kann ich von meinem Leben lassen?“

„Du kommst? Du kommst? O, sage es mir! Sage es mir noch einmal! Schwöre es mir!“

„Felicitas, so wahr –“

„Nein, schwöre es nicht, ich war eine Wahnsinnige; mich faßte es auf einmal, wie ein Schwindel. Du kommst wieder! Nicht wahr, Du kommst wieder?“

„Ich komme wieder, so wahr ein Gott im Himmel lebt, so wahr Du mir das Leben gerettet hast.“

Sie hatte sich wieder beruhigt.

„Verzeihe mir, Alphons, ich war närrisch. Wie konnte ich zweifeln? – Sieh, sieh, dort ist ja auch das Wahrzeichen.“

Hinten am Horizonte, dort woher der Strom kam, erhob sich ein heller Schein; die Kuppel des fürstlichen Schlosses wurde wieder erleuchtet. Der Fürst war nach langer Abwesenheit in seine Besitzungen zurückgekehrt und hielt seinen Einzug in sein Schloß; es war fürstlich erleuchtet.

Der Schein des Feuers fiel auf die Liebenden. Sie hatten in dem tiefen Dunkel der Nacht einander nicht sehen können, nicht einmal die Sterne ihrer Augen, wie hellglänzend von Thränen und von Glück sie sich auch zulächelten. Sie sahen jetzt ihre lieben Züge; sie sahen trunken von Liebe, von Glück, von Schmerz hinein. Nur noch wenige Augenblicke, und sie sollten sich trennen; trennen auf so lange Zeit. Für immer?

Sie sahen noch einmal in die theuern Züge; sie wollten sie sich einprägen für immer. Da erlosch das Feuer auf der Kuppel des fürstlichen Schlosses, rasch, plötzlich, wie vor vierzehn Tagen. Der Frost schüttelte das Mädchen wieder und erstarrte ihr Herz. Der Kahn hatte das Ufer erreicht.

Schon? Und sie waren auf dem Wasser dahin geglitten, eine Minute in ihrem Glücke und Unglücke der Liebe, des Abschiedes. Sie sprangen aus dem Nachen. Beide.

„Nicht auf dem schwankenden, trügerischen Wasser wollen wir uns Lebewohl sagen; auf der festen treuen Erde.“

[655] Sie hielten sich lange und fest in den Armen und küßten sich so innig, so herzlich, so treu.

„In drei Monaten bin ich wieder bei Dir.“

„In drei Monaten!“

„Früher, früher! Ich werde es können!“

„Du würdest mich todt finden, wenn Du später kämst.“

„Lebe wohl!“

„Lebe wohl!“

Er ließ sie los; er eilte fort, auf der Landstraße, an der sie ausgestiegen waren, und die von dort sich in das Land hinein zog. Sie stand unbeweglich; sie sah ihm nach, sie lauschte. Er war in dem Dunkel der Nacht, in dem Regen und Schnee verschwunden; sein Schritt war verhallt in dem Rauschen des Sturmes und des Wassers.

„Ade – Felicitas!“ rief hinten im Wege seine Stimme noch zum letzten Abschiedsgruße.

„Alphons, Alphons!“ rief sie ihm grüßend nach.

Dann hörten sie Beide nichts mehr von einander.

Sie stand noch lange unbeweglich und sah hinein in die Finsterniß, und horchte hinaus in den Sturm; aber sie sah nichts als das undurchdringliche Dunkel; sie hörte nichts, als das Heulen des Windes und das Brausen des Wetters. Er war fort und sie war allein. Aber sie mußte noch immer blicken und lauschen. Sie ging in den Kahn zurück; sie stieß ihn von dem Ufer ab und blickte und horchte noch einmal in die Gegend, in der er verschwunden war; aber dann nicht mehr.

Sie fiel in dem Nachen auf der Ruderbank nieder; ihre Kraft war dahin; sie war getrennt von ihm; nicht einmal die Erde verband sie mehr mit ihm; er war drüben und sie allein auf dem Wasser.

Sie war allein, er war fort; die ganze Gewalt des Schmerzes der Trennung fiel auf sie. Laut mußte sie weinen, laut und bitter in die dunkle Nacht.

„Wird er wiederkommen? Es wäre mein Tod, wenn er nicht wiederkäme! Ich kann nicht von ihm lassen. Und der Vater und der Blödsinnige fluchten ihm! Er gehört zu den Feinden unseres Volkes, zu denen, die uns soviel Böses gethan haben! Ich muß ihn dennoch lieben, mein Herz kann nicht von ihm lassen. Was geht mich ihr Hader, was geht mich ihr Haß an? Aber der Vater fluchte auch mir!“

Sie sank nieder in den Kahn, auf ihre Kniee, die Hände gefaltet. Sie nahm in ihrer Herzensangst ihre Zuflucht zu dem Urquell alles Trostes für das fromme, reine, gläubige Gemüth; sie betete in jener edlen, großen und doch so einfachen, natürlichen Weise.

„O, Du Vater im Himmel, wenn es geschehen kann nach Deinem unerforschlichen Rathschlusse, dann laß ihn wiederkommen und uns glücklich werden!“

Das wahrhaft reine und fromme Gemüth wird durch das Gebet beruhigt; es sucht dann nach keiner Ahnung, nach keinem Zeichen des Versprechens, des Gewährens mehr; es hat sich seinem Gott nahen, es hat ihm seine Bitte sagen können, es vertraut, daß der Gott der Liebe und der Gnade nach seiner Weisheit Alles am besten ordnen und fügen werde, wie es nicht anders sein kann – es ist beruhigt.

Sie setzte sich auf die Ruderbank, nahm die Ruder und lenkte mit sicherem, kräftigem Arme das Fahrzeug durch die brausenden Wellen, durch den tobenden Sturm, durch Regen und die Dunkelheit der Nacht dem Fährhause zu.

Ihr Herz war so gottergeben!




IV.
Liebe, Glaube, Hoffnung.

Ihr Herz war so gottergeben! Alle ihre Gedanken waren nur auf den Geliebten gerichtet; aber mit dem ergebensten und dem ruhigsten Herzen. Sie liebte ihn so innig, so treu; sie hatte kein anderes Gefühl, als die Liebe zu ihm, keine andere Hoffnung, als seine Rückkehr; sie konnte nicht leben ohne ihn. Auch er konnte kein anderes Gefühl, keine andere Hoffnung, kein Leben ohne sie haben; so wartete sie seiner Rückkehr.

Träumend saß sie schon in der nämlichen Nacht, als sie ihn über den Strom gebracht hatte und nach Hause zurückgekehrt war, an dem Fenster der Stube, das auf den Fluß führte. Ihr Blick war nach dem jenseitigen Ufer gerichtet, ihr Ohr lauschte dorthin, nach der Stelle, wo die, welche herübergesetzt sein wollten, ihr „Hol’ über!“ riefen und warteten, bis der Fährnachen kam und sie hinüberholte. Sie träumte von der glücklichen Stunde, da sie auf einmal sein „Hol’ über“ hören, in den Nachen fliegen, wie mit Flügeln des Vogels die Wellen durchschneiden, in seinen Armen liegen, umfaßt von ihm ihn herüberholen werde. Kein Anderer holte ihn, nur sie, in dem nämlichen Nachen, in dem sie ihn hinübergebracht hatte; sie hatte es ihm versprochen.

Träumend saß sie so am andern Morgen, und alle Tage, alle Morgen, alle Abende, bis tief in die Nacht hinein. Wenn das Wetter hell war und sie stromabwärts das jenseitige Ufer sehen konnte, dann schweifte ihr Blick weiter, von der Landungsstelle bis dort hinunter, wo sie von ihm Abschied genommen, wo sie zum letzten Male seine Hand, seinen Kuß, das Schlagen seines Herzens gefühlt hatte; immer träumte sie glücklich, von ihm glücklich.

Mitte November war er fortgegangen und Mitte Februar waren die drei Monate um; wenn der Winter abging, mußte er wiederkommen.

Noch vor Neujahr starb die kleine Anna; noch vor dem Vater, wie jener Traum es dem Mädchen vorher gesagt hatte. Der Lebenskeim des in Unglück und Gram geborenen, von der Milch einer kranken Brust genährten Kindes war fast schon in seiner Geburt zerstört gewesen.

Der Tod des Kindes ergriff die Muhme, die das Kind so sehr geliebt, die an ihm die einzige Vertraute gehabt hatte. Aber so sehr war ihr Herz von der Liebe zu dem Geliebten erfüllt, daß sie mitten unter ihren Thränen nur an ihn und an seine Rückkehr denken konnte.

Sie sagte den Tod des Kindes gewissenhaft dem Nachbar an; ihr Vater lebte ja noch. Aber wie sie den Strom entlang ging und an der Stelle vorbei kam, wo sie den Geliebten so elend gefunden, mußte sie doch erst in die Weide treten, und als sie weiter ging, konnten ihre Augen nur wieder die Stelle am jenseitigen Ufer suchen, wo sie Abschied von ihm genommen hatte.

Gegen Ende Januar starb auch ihr Vater. Auch dieser Tod war ein Glück für den Sterbenden, eine milde Erlösung des alten, an Körper und Geist kranken Mannes von langen Leiden. Felicitas mit aller ihrer Liebe, mit aller ihrer Zärtlichkeit und ihren Sorgen, die sie so viele Jahre treu und unverdrossen dem Vater gewidmet hatte, konnte seine Leiche zum Grabe geleiten nur unter dem Gedanken an die Rückkehr des Geliebten.

Auch seinen Tod hatte sie gewissenhaft angesagt. Sie selbst zwar konnte nicht mehr in dem Hause bleiben. Andere, fremde Fährleute mußten hineinkommen; aber auch den fremden Leuten wollte sie den Tod fern halten.

Sie mußte das Haus verlassen. Wo einem „zwölf Jahre gedienten Unterofficier“ eine „Civilversorgung“ gegeben werden kann, da sind die Behörden und die Unterofficiere schnell bei der Hand. Der alte Fährmann Rose lag kaum in Ruhe auf dem Kirchhofe, als schon sein Nachfolger eintraf.

Felicitas mußte das Haus verlassen, in dem sie geboren war, in dem sie das Leben, das Glück und die Leiden des Lebens, in dem sie die Liebe kennen gelernt hatte. Sie wollte auch bei den fremden Leuten in dem Hause nicht bleiben. Sie konnte es ruhig; ohne Gram verlassen. Der junge Bauer Ferdinand bot ihr ein Unterkommen an, bei seiner Schwester, seiner Mutter, die sie liebten. Sie schlug es aus.

Konnte sie auch in dem Fährhause nicht bleiben, die Fähre hätte sie nicht verlassen können, ihr Geliebter kam dahin zurück. Sie mußte da sein, wenn er kam. Sie zuerst mußte sein „Hol’ über“ hören; sie zuerst mußte ihn sehen; sie selbst mußte ihn von drüben herüberholen.

Sie bat den neuen Fährmann, bleiben und mit dem Blödsinnigen tauschen zu dürfen. Er genehmigte es. Der Blödsinnige wurde in das Haus genommen; sie bezog seine Hütte am Wasser, und versah den Dienst des Uebersetzens nach wie vor.

Der Januar ging vorbei, der Februar kam. Jetzt konnte er bald kommen. Sie sah nur nach der Landungsstelle am jenseitigen Ufer hinüber. Sie horchte bis Mitternacht an dem schmalen, niedrigen Fenster der Fährhutte nach seinem „Hol’ über.“ Wenn eine Stimme rief, so zuckte sie bei dem ersten Laute, der [656] ihr Ohr traf, heftig zusammen. Der zweite Laut sagte ihr, daß es eine fremde Stimme war.

Die Kälte des Winters ließ nach; die Luft wurde milder.

Die Mitte des Februar rückte heran. Jetzt mußte er jeden Tag kommen.

Sie hatte keine Nachricht von ihm erhalten, nicht die geringste. Sie hatte auch keine erwartet, denn er hatte nicht gesagt, daß er schreiben werde; er hatte auch nicht verlangt, daß sie ihm schreiben solle. Er wollte wiederkommen, ehe das Vierteljahr um war, und sie wußte, daß er wiederkommen werde.

Sie kam bei Tage nicht von dem Ufer des Stromes; sie hatte bei Nacht keinen Schlaf.

Der fünfzehnte Februar war da. Es war der letzte Tag. Heute mußte er kommen. Der Tag brachte wieder rauheres Wetter. Sie saß schon, bevor er graute, am Ufer, Auge und Ohr nur nach jenseits gerichtet, nach der Stelle, an der er erscheinen, an der er dem Nachen zum Herüberholen rufen mußte. Sie saß unverwandt so. Sie fühlte keine Kälte, keinen Hunger, keinen Durst.

„Hol’ über!“ rief es wohl manches Mal von drüben. Aber eine andere Stimme hatte es gerufen, eine andere Gestalt zeigte sich, um übergesetzt zu werden.

Der Abend kam, kälter, dunkel. Sie saß noch immer. Sie saß unbeweglich, wie ein Bild von Stein.

Sie sei erfroren, meinten die Leute.

Der Fährmann wollte sie in’s Haus nehmen, damit sie aufthaue und Nahrung zu sich nehme.

„Laßt mich,“ sagte sie, „ich muß hier bleiben.“

Der Blödsinnige kam zu ihr. Er hatte nie wieder mit ihr über den Franzosen gesprochen; auch mit andern Leuten nicht. Außer ihm und Ferdinand, der gleichfalls verschwiegen gewesen war, wie das Grab, wußte daher Niemand von ihrer Liebe.

„Du wartest noch immer auf ihn?“ fragte der schwachsinnige Mensch.

„Ja.“

„Er wird nicht kommen.“

Es war die Rede eines Irrsinnigen. Aber die Worte durchfuhren sie doch, sie mußte zu ihm aufblicken.

„Er kommt nicht!“ wiederholte der Blödsinnige, und das irre Auge sah sie so geisterhaft, so prophetisch an.

Aber in ihrem Herzen sagte es: „Er wird kommen, er kommt.“

Sie blieb sitzen, den Blick und das Ohr wieder unverwandt nach drüben.

Er hatte es ja versprochen. Er konnte sie nicht betrügen. Hätte sie ihn betrügen können?

Sie saß bis Mitternacht. Der Wind führte ihr die Schläge der Glocke auf dem benachbarten Dorfthurme zu. Sie brauchte sie nicht zu zählen. Sie hatte, seit es dunkel geworden war, jede Stunde gezählt. Sie zählte dennoch. Mit dem letzten, zwölften Schlage blickte sie noch einmal nach dem jenseitigen Ufer, wo sie schon lange nichts mehr sehen konnte, horchte sie noch einmal nach der Landungsstelle, wo sie schon lange nichts mehr gehört hatte. Sie sah, sie hörte nichts.

Der Tag, das Vierteljahr war vorüber! Er war nicht gekommen.

„Er ist krank geworden! Es ist ihm ein Unfall begegnet, ein Hinderniß. Wie leicht ist das möglich in dieser Jahreszeit!“

Betrügen konnte er sie nicht!

Sie ging in ihre Hütte. Sie saß noch lange an dem schmalen Fenster und schaute vergebens in die Dunkelheit und horchte vergebens in die Nacht hinein.

Das glückliche Herz mit seinem Hoffen hatte sie früher nicht schlafen lassen. Das schwere Herz verscheuchte jetzt den Schlaf von ihr. Aber die Hoffnung blieb ihr. Die Hoffnung führte sie schon vor Anbruch des andern Tages wieder an das Ufer.

„Er kommt nicht,“ sagte der Blödsinnige. „Er ist ein Feind, und Dein Vater hat ihn verflucht und Dich mit ihm.“

„Er kommt!“ sagte es in ihrem Herzen.

Sie setzte sich in den Nachen, in denselben Nachen, in dem sie ihn auf das jenseitige Ufer gebracht, in dem ihn wieder abzuholen sie ihm versprochen hatte. Sie fuhr auf das Wasser hinaus zu der Landungsstelle, an der er erscheinen, an der er einsteigen mußte. Hier wartete sie, still träumend, den Blick unverwandt auf den Pfad gerichtet, in den er hinter den Weiden am Ufer her hineintreten mußte. Sie wartete, bis es Abend wurde. Er kam nicht. Sie fuhr zu der Fährstelle zurück. Dort wartete sie wieder, bis rings um sie her kein Leben mehr war, bis im Fährhause Alles schlief, bis kein Licht durch die Nacht mehr zu ihr herüber leuchtete. Dann ging sie in ihre Hütte. Aber auch hier saß sie noch am Fenster, bis die Uhr auf dem Thurme des Dorfes Mitternacht schlug.

Der zweite Tag war vorüber.

„Er ist verhindert worden; aber er kommt gewiß!“

Es kam der dritte Tag. Sie wartete am Wasser.

„Er kommt nicht! Dein Vater hat Dir und ihm geflucht!“ sagte der Blödsinnige.

„Er kommt!“ sagte ihr Herz.

Sie stieg wieder in den Nachen, sie fuhr wieder auf das Wasser hinaus. Sie wartete an der Landungsstelle. Sie wartete wieder an dem Fenster ihrer Hütte, bis die Glocke des Dorfes Mitternacht geschlagen hatte. Er kam nicht.

„Er kommt doch!“ sagte sie.

So verging der vierte, der fünfte Tag, so vergingen die folgenden Tage, bis der Märzmonat kam, bis der warme Frühling erschien. Sie fuhr jeden Tag hinaus auf das Wasser; sie wartete jeden Tag an dem Landungsplatze. Sie sagte täglich:

„Er kommt doch! Er kommt!“

Er kam nicht.

Sie sprach nur diese Worte. Sie sprach sie nur zu sich. Mit keinem anderen Menschen redete sie ein Wort. Ihr Gesicht blieb immer ruhig, freundlich, freundlich träumend. In ihrem Herzen wohnte ja nur Liebe und Glaube und Hoffnung.

Aber bleich, sehr bleich war das schöne Gesicht geworden, und ihr Körper sehr mager.

Der junge Bauer kam zu ihr.

„Felicitas, Du gehst hier zu Grunde. Willst Du nicht mit mir ziehen zu meiner Mutter?“

„Nein, Ferdinand, ich muß hier bleiben.“

„Erwartest Du ihn nicht vergebens? Wenn er Wort halten wollte, müßte er nicht schon längst da sein?“

„Er ist verhindert worden.“

„Hätte er dann nicht geschrieben, armes Mädchen?“

„Er kommt, Ferdinand, er kommt.“

„So schreibe Du einmal an ihn.“

„Würde ihm das nicht Mißtrauen zeigen? Und müßte ihn das nicht kränken, wie es mich kränken würde, wenn er mir schriebe, ob ich ihm treu geblieben sei?“

Der junge Bauer verließ sie fast weinend. Sie war so still, so verfallen und so – gläubig.

Er hatte sich von ihr den Namen und Wohnort des Franzosen sagen lassen. Er schrieb selbst nach Bordeaux, wie das Mädchen warte und zu Grunde gehe. Er erhielt keine Antwort.

Er schrieb zum zweiten Male. Wiederum vergebens.

Er ging zu dem Mädchen zurück.

„Felicitas, ich habe an ihn geschrieben, zweimal, ich habe keine Antwort bekommen. Er lebt nicht mehr, oder er hat Dich vergessen.“

Sie schüttelte den Kopf.

„Er kommt, Ferdinand!“

Er glaubte, ein still verborgener Wahnsinn habe sich ihrer bemächtigt; aber ihr Auge war klar und ihre Antworten waren vernünftig. Sie liebte und sie glaubte nur beides, unerschütterlich.

War das nicht Wahnsinn? Es war wenigstens eine tiefe, schwere, unheilbare Krankheit.

Eines Tages sah man sie wieder in ihrem Nachen auf das Wasser fahren.

Auch der Sommer war vorüber, und die letzte, rauhe Hälfte des Herbstes nahete.

Ihr Gesicht war so weiß geworden, wie frisch gefallener Schnee im Winter. Ihr Körper war abgemagert, daß man sie ohne Erbarmen nicht ansehen konnte.

Sie war zu der Landungsstelle am jenseitigen Ufer gefahren, wie gewöhnlich. Sie hatte dort lange gewartet, auf der Ruderbank, auf der sie mit ihm gesessen, still, das Auge nach der Stelle gewandt, an der er hinter den Weiden hervorkommen mußte.

Nach einer Stunde hatte sie den Kahn den Strom hinuntergleiten lassen, weit, weit fort, an dem Dorfe vorbei, an dem Kirchhofe vorüber. Wie sie an dem Kirchhofe vorüber fuhr, wandte

[657]

Miß Julia Pastrana.


sie ihr Auge nach dessen Seite, zu den schwarzen, mit vertrockneten Blumen behängten Kreuzen auf den Gräbern ihrer Mutter, ihrer Schwester, der kleinen Anna, ihres Vaters. Man sah sie lange dahin blicken, lange und still; daß sie die Augen trocknen mußte, sah man nicht. Sie ließ den Kahn weiter gleiten, bis dahin, wo am andern Ufer die Bergstraße vom Wasser abbog und sich in das Land hineinzog. Dort legte sie an.

Sie befestigte den Nachen an dem Stamme einer Weide. Dann stieg sie an’s Land, und ging wenige Schritte vorwärts auf die Landstraße. Sie schien etwas an der Erde zu suchen. Sie blieb stehen, und sah still sinnend zur Erde nieder, dicht vor sich.

Hatte sie dort den letzten Abschied von ihm genommen? Hatte sie dort zum letzten Male seine Hand, seine Lippen, das Schlagen seines Herzens gefühlt?

Sie ging weiter, in den Weg hinein. Nach einer Weile stand sie wieder. Dort mußte er zum letzten Male Felicitas gerufen haben.

„Felicitas! Glück, Segen!“ hatte er so oft scherzend zu ihr gesagt.

Sie ging noch weiter in den Weg hinein. Er führte eine Anhöhe hinauf. Dort oben sah man ein unabsehbares Thal jenseits. Sie erstieg die Höhe, und sah in das unabsehbare Thal hinab. Dort ganz hinten am Horizonte mußte der Rhein fließen. Und über ihm und weit, weit über ihn und den Horizont hinaus waren die Ufer der Garonne und das Gestade des atlantischen Meeres. Und dort ging die Sonne unter. Eben verschwanden ihre letzten Strahlen.

Sie kehrte zurück; zurück zum Ufer, wo der Nachen lag. Aber sie kam nicht bis zu dem Nachen.

An der Stelle, wo sie vorhin still sinnend zur Erde niedergeblickt hatte, sah man sie den langsamen Schritt anhalten. An derselben Stelle. Sie senkte wieder das Auge. So stand sie lange unbeweglich, bis man sie leise niedersinken sah. Sie stand nicht wieder auf.

Leute, die unterhalb des Dorfes arbeiten, hatten sie so gesehen. Sie gaben Nachricht zur Fähre hinauf.

[658] Noch ehe man vom Fährhause auf jener Seite des Flusses anlegte, hatte in einem andern Nachen der junge Bauer Ferdinand hinübergesetzt. Er fand sie todt.

Hatte sie auch noch im Tode gesagt: „Er kommt, er kommt doch!“? Hatte sie ausgelitten, oder hatte das arme, aber an Liebe und Glauben und Hoffnung so unendlich reiche Herz bis zum letzten Augenblicke glücklich geschlagen?

Geht die Entzweiung der Völker die Herzen der Menschen an? Und tödtet der Fluch des Wahnsinns die Liebe und die Unschuld? Und warum müssen Liebe, Reinheit und Unschuld zu Grunde gehen?

Wer will Antwort geben auf diese Fragen?

Aber die Geschichte der Engel, wenn sie auch immer eine einfache ist, sie ist nicht immer eine Geschichte des Glücks.




Julia Pastrana, ein Menschenungeheuer.
(Mit Abbildung.)

Mit Recht hat man hervorgehoben, daß die üppigste Phantasie des Dichters nicht im Stande sei, Combinationen von so spannender Gewalt zu ersinnen, als das Leben und die Geschichte selber sie häufig darbieten. Das Beispiel des hier abgebildeten und, wir können hinzufügen, mit frappanter Treue wiedergegebenen, menschlichen Wesens zeigt uns, daß die Natur in ihren wunderlichen Launen und Stimmungen mitunter Verbildungen und Zerrbilder hervorbringt, welche an Ungeheuerlichkeit Alles übertreffen, was Aberglaube, erhitzte Einbildung oder Gespensterfurcht jemals an Schrecknissen ersonnen haben.

Seit einer Reihe von Jahren haben uns die verschiedenen Welttheile Typen ihrer eigenthümlichen Racebildungen zugesendet, Neger und Mulatten, Kaffern und Hottentotten, und als Curiosum seltsamer Mißbildung haben die Azteken mit ihrer grotesken Häßlichkeit (vergleiche Gartenlaube Nr. 12 Jahrgang 1856) bei Naturforschern und Laien ein lebhaftes Interesse erregt. Die zunehmende Erleichterung des Verkehrs, welche jeden bisher verborgenen Winkel nach Merkwürdigkeiten aller Art durchstöbert, um die immer raffinirter werdende Neugier des Publicums anzuregen und auszubeuten, hat das Gute, daß sie unsere Anschauungen von dem lebendigen Organismus der Natur bereichert und der wissenschaftlichen Forschung ein sonst schwer zugängliches Material zuführt.

Unter diesem Gesichtspunkte verdient die Erscheinung des weiblichen Geschöpfes, welches Julia Pastrana genannt wird, vollkommen das Interesse, welches sie aller Orten erregt hat. Wenn freilich der speculative Industrialismus so weit geht, sich zur Vorführung einer abscheuerregenden Mißgeburt des ästhetischen Rahmens der Schaubühne zu bedienen, wenn sich Schriftsteller finden, welche um mäßigen Lohn ihre Feder dazu hergeben, die Monstrosität als solche in Scene zu setzen, so ist ein Protest gegen ein so cynisches Gebahren eben so gerechtfertigt als heilsam. Es wäre nur zu wünschen gewesen, daß die Polizeibehörde diejenigen Gründe früher erwogen hätte, durch welche sie veranlaßt wurde, das fernere Auftreten des Ungethüms in dem für sie verfaßten Stücke „der curirte Meyer“ nach der zweiten Aufführung desselben zu inhibiren. So zeigt sich die „Miß“, wie sie von ihrem amerikanischen Begleiter titulirt wird, jetzt nicht mehr auf der Bühne des Kroll’schen Etablissements, sondern in einem besonderen Saale desselben, ohne den Apparat des Theater-Nimbus und ohne die, wie es scheint, auch ihr behagende Würze des Beifallklatschens und Hervorrufens.

In Ermangelung der Gelegenheit zu einer persönlichen Bekanntschaft, möge es dem Leser gefallen, den Berichterstatter auf einem Besuche zu begleiten, welchen dieser gemeinschaftlich mit dem Zeichner der mexikanischen Miß abstattete. Die Erlaubniß wurde bereitwillig von dem Führer der Dame ertheilt, und bald standen wir in dem Zimmer, welches die „Miß“ und der „Guardian“ gemeinschaftlich bewohnen, der Sehenswürdigkeit gegenüber. Obgleich wir Beide uns seit den Kinderjahren keine Gelegenheit hatten entgehen lassen, alle derartigen Merkwürdigkeiten in Augenschein zu nehmen, so oft dergleichen zur Schau gestellt wurden, so mußten wir doch zugeben, daß das vor uns stehende Geschöpf an Seltsamkeit und Monstrosität alle bisher gesehenen Erscheinungen außergewöhnlicher organischer Bildung weit übertraf.

Man denke sich eine etwa 41/2 rheinische Fuß hohe Gestalt von wohlbeleibter Statur, breiten Schultern, üppiger Brust, starken Hüften, mit feinen Armen, Händen und Füßen, von sonst zierlicher Structur, und man hat den Umriß des Rumpfes und der Gliedmaßen. Auf diesem Rumpfe sitzt ein Kopf, wie ihn die Abbildung sowohl im Charakter des Ausdruckes, wie in den Einzelnheiten vollkommen naturgetreu darstellt. Der Schädel ist mit einer großen Fülle feiner, glänzend schwarzer Haare bedeckt, welche Miß Julia nach Art civilisirter Frauen kunstvoll zu strählen und zu flechten liebt; bei besonderen Anlässen werden die Zöpfe mit Perlenschnüren, Blumenguirlanden und sonstigem Schmuck durchflochten. Die Stirn ist außerordentlich schmal und stumpf, kaum zwei Finger breit und mit einer Art verschiebbaren Fettpolsters von ansehnlicher Stärke bedeckt. Das ganze Gesicht ist, wie der ganze Körper, mit schwarzen Haaren bedeckt, bald schwächer, bald stärker. Dieser seltsame Haarwuchs beginnt in feineren Härchen auf der Stirn und verdichtet sich in der Gegend der Augenbrauen zu zwei gewaltigen, borstigen Büscheln; von ebenso auffallender Stärke sind die Augenwimpern, welche das dunkelschwarze, leuchtende Auge noch ausdrucksvoller erscheinen lassen. Der Gesichtswinkel entspricht mehr der Norm der kaukasischen, als der einer anderen Race. Die Nase ist wulstig, stark, mit breitem Rücken und ausgedehnten Nüstern, dabei von großer Biegsamkeit und dem Anscheine nach ohne Nasenbein und Knorpel. Die Stelle, wo die Nasenwände und Nasenflügel an das Gesicht ansetzen, ist durch stärkere Haarbüschel markirt. Die Backenknochen treten mäßig hervor, fallen jedoch ziemlich stumpf gegen die unteren Partieen des Gesichts ab. Am auffallendsten ist die Bildung des Mundes, der von zwei wulstigen Lippen eingeschlossen wird, hinter welchen der blutrothe Gaumen in starker Wölbung sich hervordrängt, so daß er gewöhnlich frei bleibt. Die Lage der Zähne ist eben so unregelmäßig, als ihre Bildung; die Zähne des Unterkiefers sind vollständig, bei denen des Oberkiefers sind nur die Backenzähne vollständig entwickelt. Die Zunge ist eine klumpige Muskelmasse und von großem Umfange. Das Kinn ist ungewöhnlich kurz, die Ohren außerordentlich groß. Das Haar, mit welchem das bräunliche Gesicht bedeckt ist, verdichtet sich an den Wangen zu einem Backenbarte, am Kinn zu einem starken Kinnbarte. Schwächer ist der Schnurrbart; dafür sind aber die Ohren vollständig behaart, namentlich hängen von den Ohrläppchen lange Büschel Haare herab. Ebenso zeigen sich auch Nacken, Brust, Arme und zum Theil die Rückenflächen der Hände behaart. Der Ausdruck des Gesichts läßt auf keinen großen Grad von Intelligenz schließen. In den Augen liegt eine Art von Schwermuth, welche Mitleiden erregt.

„Miß Julia“ war bei unserem Eintritt mit den Vorbereitungen zu ihrer Toilette beschäftigt. Sie schien indeß von der Störung nicht unangenehm berührt zu sein, und bewillkommnete uns mit freundlichem Handschlag. Als sie davon hörte, daß mein Begleiter die Absicht habe, ihre lieblichen Züge durch seinen Griffel auf das Papier zu zaubern, schien sie sehr erfreut, und wandte diesem hauptsächlich ihre Aufmerksamkeit zu. Die Unterhaltung wurde englisch geführt, und es ist nicht zu leugnen, daß sie sich mit Sicherheit und Verständniß der zur Sprache kommenden Gegenstände benahm. Selbstredend wurden nicht gerade Capitel aus dem Kosmos zum Thema des Gespräches genommen. Mit Genugthuung erwähnte sie der Triumphe, welche sie auf ihren Rundreisen in Amerika und England eingeerntet, ja sie behauptete sogar, daß ihr mehr als zwanzig Heirathsanträge gemacht worden seien. Auf meine Frage, weshalb sie nicht einen der Bewerber mit ihrer Hand beglückt habe, erwiderte sie: „dieselben seien nicht reich genug gewesen.“ Ich habe ihren Begleiter stark in Verdacht, daß er dem armen Geschöpfe diesen Humbug eingeredet hat, wenngleich die Möglichkeit nicht ausgeschlossen ist, daß mancher industrielle Yankee zu einem Ehebündniß nicht abgeneigt sein mochte, [659] welches ihm in der Monstrosität seiner Ehegattin ein rentirendes Capital sicherte.

Außer dem Englischen soll Miß Julia auch der spanischen Sprache mächtig sein; sie singt ein wenig, tanzt mit großer Fertigkeit den „Highland fling“ und ist bewandert in häuslichen und weiblichen Arbeiten. Sollte sie indessen ihre Memoiren schreiben wollen, so würde sie vor der Hand dieselben noch dictiren müssen, indem sie sich in Betreff dieser Cultursegnungen noch in den Anfangsstadien befindet.

Ueber ihre Herkunft verbreitet sich eine von ihrem Führer herausgegebene englische Broschüre mit vieler Weitschweifigkeit. Der Führer der Mexicanerin berichtet, Julia Pastrana, welche jetzt 23 Jahre alt sein soll, sei als ganz kleines Kind in den Schluchten der Sierra Madre in Mexico gefunden worden, in einer Gegend, welche fern von allen menschlichen Wohnungen liege, dagegen mit allerhand Bestien, als Affen, Bären etc. reichlich gesegnet sei. Im Uebrigen gibt er keine nähern authentischen Aufschlüsse über ihre früheren Verhältnisse.

So außergewöhnlich eine Erscheinung, wie die geschilderte, auch ist, so erklärt sie sich doch hinlänglich aus ähnlichen Vorkommnissen organischer Degenerationen und Mißbildungen, und es bedarf keiner Hypothesen, welche, an und für sich ganz haltlos, eine neue Theorie zur besseren Ausbeutung der Neugier des Publicums aufbauen möchten. Insbesondere sind diejenigen Gegenden reich an solchen Monstrositäten, in welchen die starke Racenkreuzung ohnehin zu auffallenden organischen Bildungen aller Art führt.




Die Ernten aus dem Wasser.
II.  Stockfische, Kabeljaus, Schellfische, Sprotten, Pilchards, Shrimps, Aale, Lachse.

Wenn ein einziger Hering sich zwanzig Jahre ohne Abzug und Tod fortwährend mit seinen Nachkommen vermehren könnte, würden er, Kinder, Kindeskinder u. s. w. zusammen einen zehnfach unsere ganze Erdkugel übertreffenden Raum einnehmen. Dies gibt eine Vorstellung von der Lieferungsfähigkeit des Meeres, aber auch von der blinden Mordwuth des Menschen zu Wasser und zu Lande, da er es selbst gegen den Hering so weit gebracht hat, daß sie seltener und theurer werden, und an manchen Stellen schon ganz ausgerottet sind. Mit ein bischen Berechnung und Verstand würden die Heringsfischer alle reich, und kein Mensch um einen Hering verlegen sein. Am wenigsten würden die Irländer an die Stelle, wo früher der Familienhering über dem Tische hing, um die Kartoffeln daran zu reiben, diese jetzt in den leeren Raum des weggeriebenen und nicht ersetzten Herings zu halten brauchen, um die Phantasie mit dieser Operation zu täuschen.

Gegen kostbarere Fische haben es die Engländer schon weiter gebracht, und z. B. den Lachs in ihren Flüssen beinahe so arg behandelt, wie die Indier. Früher kaufte man ein Pfund Lachs für 18 Pfennige in Schottland, jetzt kostet es 3 und in London oft 6 Schillinge oder 2 Thaler. Ein Lachs hat jetzt oft den Werth eines fetten Hammels.

Um die verschiedenen anderweitigen Ernten aus dem Meere in einige Ordnung zu bringen, machen wir Abtheilungen und zur ersten die Stockfisch- und Kabeljaufischerei, die wir am großartigsten an den nordischen Küsten Amerika’s, um Newfoundland entwickelt finden. Die kostbaren Fische, von welchen Kinder und Kranke leider ofts nichts als deren „Leberthran“ kennen lernen, wohnen in unerschöpflicher Fülle in allen Meeren unserer Halbkugel, nur mit Ausnahme des mittelländischen; doch nur um die Orkney- und Shetlandsinseln herum wird deren Fischerei lebhaft und geschäftlich betrieben, um sie in Segelschiffen mit dazu eingerichtetem Boden nach dem Süden von England, besonders London, lebendig oder zurecht gemacht und in Eis gepackt zu versenden. Man schätzt die Ernte um England und Schottland herum auf jährlich 4 Millionen Stück. Sie werden mit Haken an Leinen gefangen, gelandet, vom Kopfe bis zum Schwanze aufgeschnitten, ausgenommen, wobei ein Theil des Rückgrats mit ausgeschnitten wird, sorgfältig gereinigt und reichlich mit reinem Salzwasser gewaschen, getrocknet, eingesalzen und gepreßt, wieder herausgenommen und gebürstet, an Sonne und Luft getrocknet, bis die „Blume“ (eine weiße, ausschwitzende Substanz) zum Vorschein kommt, und dann in den Handel gebracht.

Die häufigere und populärere Sorte, genannt „Haddocks“, wird um ganz England und Schottland gefangen und entweder frisch oder geräuchert („Finnans“) in die englischen Städte gebracht. Man fängt sie ebenfalls mit Haken oder in Ziehnetzen. Als Finnans sieht man sie in zwei Hälften geschnitten überall in englischen Städten ausliegen, doch kostet das Pfund nicht mehr 6 Pfennige, wie früher, sondern bis eben so viel Groschen.

Nächstdem spielen die „Flatfische“ die größte Rolle, unter welchem Namen eine große Menge der verschiedensten Arten: Hellbutten, Steinbutten, glatte Rochen, Engelsfische, Schollen, Flundern u. s. w. zusammengefaßt werden. Hellbutten werden oft ungemein groß. Man hat schon 600pfündige gefangen. Eine Art Steinbutte, jetzt sehr häufig, wurde unter dem Kaiser Domitian im mittelländischen Meere als wahres Wunderthier und von enormer Größe gefangen. Er ließ einen expressen Staatsrath halten, welcher die beste Methode, ihn für die Tafel zuzubereiten, ausfindig machen sollte. An den englischen Küsten beschäftigen sich einige Hundert Schiffe mit Einfangen von Flat- oder Plattfischen; doch kommen die meisten und besten von Holland. Von Schollen („soles“) wimmeln die Gewässer um England, darunter viele sechs- bis neunpfündige, aber man hat weder Kenntniß noch Capital genug, um sie mit dem besten Erfolge und in gehöriger Menge zu fangen, so daß ein ordentliches Fischgericht in England immer ziemlich so viel kostet, wie eine gute Fleischspeise. Die guten Seefische sind deshalb immer noch luxuriöse Zwischengänge auf reichen Tafeln.

Die Sprotten-Ernten, die Mackarelen und Pilchards (eine feinere Art Heringe) ersetzen zum Theil den Mangel an kostbareren Seefischen, und werden manches Jahr in fabelhaften Massen dem unerschöpflichen Meere abgenommen. Mackarelen, wie Heringe ziehend, werden auch ähnlich, nur in größer gemaschten Netzen gefangen. Im Durchschnitt verzehrt London jährlich 25 Millionen Mackarelen, à 3/4 bis 2 Pfund schwer, alle frisch. An einem Märzsonntage 1833 fingen 4 Boote 10,000 Mackarelen, ein andermal 16 Boote für 6000 Pfd. Sterl. oder etwa 40,000 Thaler in einer Nacht. Von solchen glücklichen Lotteriezügen hängt denn auch der Preis ab, der in keinem andern Consumtionsartikel so fluctuirt, so daß man einmal 60–80 Mackarelen für 10 Sgr. und dann wieder eine einzige für 2–3 Thlr. kauft. Nur die grünen Schoten in Covent-Garden um Weihnachten werden zuweilen noch höher bezahlt: 3 Thaler das Loth oder 10 Sgr. jede einzelne Beere.

Pilchards werden am häufigsten vom Juli bis October an den Küsten von Cornwall gefangen, in mancher einzelnen Nacht über 2000 Oxhofts à 3000 Stück, also 6 Millionen. Einmal brachte man eines Morgens in einen einzigen Hafen von Cornwall 30 Millionen Stück. Die Pilchards ziehen des Nachts von den Gestadeklippen in dichten Armeen nach dem offenen Meere hinaus und bilden so auf dem leuchtenden Meere dunkele Inseln, die, von umherkreisenden Wachtposten entdeckt, der am Gestade harrenden Flotte durch Signale bezeichnet werden. Dann schießen Hunderte von Booten mit vollen Segeln in Nacht und Sturm hinaus, um den Zug zu umzingeln, und in ihrem Netzkreise aufzusaugen. Gelingt dies vollständig, verzinst sich oft das auf 600,000 Pfund veranschlagte Capital, welches allein in der Cornwall Pilchard-Fischerei steckt, in einer einzigen Nacht. Die Pilchards werden ähnlich wie die Heringe behandelt, und größtentheils nach den Küstenstädten des mittelländischen Meeres verfahren.

Frische Sprotten, kleine, silberne Fischchen, höchstens 6 Zoll lang, und auf dem Drahtroste binnen einer Minute mit Salz in ihrem eigenen zarten Fette gebraten, sind in England schon für 5 Sgr. per Scheffel verkauft worden. Auch jetzt kann man sich noch für 1 Sgr. – fünf- bis sechsfachen Gewinn damit bezahlend, darin satt essen. Sie werden den armen Leuten für ihr [660] Kupfer in silbernen Strömen in die Körbe geschaufelt. Deren Fülle und Consumtion wird nur noch von den „Shrimps“ (kleinen Seekrebsen, aber einer gar nicht krebsartigen, sondern sehr lebhaften, heuschreckenähnlichen Creatur) übertroffen. Ein paar Millionen englische Familien essen sie täglich zum Thee, und der Hausvater schmollt, wenn sie einmal fehlen, und blos durch die ebenso populäre Wasserkresse ersetzt werden. Sie werden des Nachts von den Meeresgestaden in der Nähe von Flußmündungen förmlich aufgeschaufelt, in Salz gekocht, und täglich schiffsladungsweise in jeder Stadt verspeist. Man hat die Kanne oder das Nösel schon für einen Silbergroschen. Die großen, ausgesuchten bezahlt man dagegen thörichter Weise, da sie nicht so fein schmecken, mit einem halben Thaler per Kanne.

Aale werden aus sumpfigen Stellen in Häfen und aus Fluß-Buchten während der Ebbe mit Gabeln herausgestochen, wie in Deutschland im Winter aus gefrornen Seen, in deren Eis man zu diesem Behufe Löcher hackt. Aber die meisten und besten Aale (für die Pasteten) bekommt England von den Holländern, die sie zu fangen verstehen. Die Engländer scheinen nichts davon zu wissen. Die Männer der Naturwissenschaft haben beobachtet, daß Heere junger Aale jährlich die englischen Flüsse hinaufziehen, oft vier Tage lang in einer dichten Masse und zwar vor einem festen Punkte vorbei je 15–1600 in jeder Minute, so daß ein einziger Fluß in den vier Tagen nicht weniger als neun Millionen Aale aufnehmen würde.

Nach Mayhew’s Berechnungen (in seinem berühmten, vielbändigen Werke: London Labour and London Poor, „Londoner Arbeit und Armuth“) verzehrt London jährlich außerdem: 496,000,000 Austern, 1,300,000 Hummern, 600,000 pfundige Krabben, 500,000,000 Shrimps, 5,000,000 Herzmuscheln, 50,000,000 Kinkhörner (mussels, Schnecken) 76,000,000 Trompetenschnecken (cockles) und 340,000,000 Kammmuscheln (periminkles). Letztere läßt sich der zerlumpteste Junge und Irländer oft täglich mehrmals in die Tasche schütten und knaupelt sie auf der Straße mit einer Stecknadel aus den schmutzigen Gehäusen in die schmutzigere Consumtions-Einfahrt.

Austern hat man in Schottland für 6 bis 10 Sgr. per Hundert, in London durchschnittlich für einen halben Penny per Stück. Doch hat man künstliche Austerbänke mit associirtem Capital für die englische Hauptstadt angelegt und das Geschäft so profitabel gefunden, daß andere Compagnien sich für denselben Zweck gebildet haben und so hier Aussicht auf größere Wohlfeilheit vorhanden ist.

Hummern machen sich täglich frisch riesig in ihren rothrepublikanischcn Uniformen in Tausenden von Buden breit, ohne daß die Polizei nur eine Miene verzieht oder Palmerston das Vaterland in Gefahr erklärt. Man sieht sie täglich zu hohen Preisen verschwinden, weil man sich den Glauben angewöhnt hat, Hummern-Salat dürfe bei keiner respectabeln Mahlzeit fehlen. Man führt diese Riesenkrebse in unzähligen Tausenden von Norwegen und von den irländischen Küsten ein, aus deren Felsenlöchern sie mit kleinen hakigen Harpunen herausgepickt werden. Außerdem fängt man sie in Töpfen, die wie große Draht-Mausefallen geformt, von Holz geflochten sind. Stückchen Fische hineingehangen dienen als Köder.

Die Irländer, welche sich nicht mehr an kranken Kartoffeln, die sie salzen und schmalzen, indem sie sie an die Stelle halten, wo früher der Familienhering baumelte, satt essen können und thatsächlich durch Hunger um mehrere Millionen abgenommen haben, während sich (mit Ausnahme der neuesten, geretteten Franzosen) alle andern gebildeten Völker durch Ueberschuß der Geburten vermehren, diese Irländer sehen oft Meeresbuchten thatsächlich mit Fischen überfüllt, aber man fängt sie nicht, da die Fischer selbst genug haben, und für die Millionen, die sie eben nur herauszuziehen brauchten, kein Salz und kein Fuhrwerk vorhanden ist. An manchen irländischen Küsten kosten Tausend frische Heringe 6 bis 7 Silbergroschen. Einige Meilen weiter sind sie schon um keinen Preis mehr zu haben, weil kein Weg hinführt und keine Menschen dort wohnen, die tausend oder nur hundert Heringe kaufen können.

Die Engländer sind eben blos blind geldgierig und nehmen direct weg, ohne kaufmännisch oder praktisch zu verfahren. Der praktische Mensch mit einiger volkswirthschaftlicher Bildung schont sein lebendiges oder liegendes Eigenthum, ohne dazu der Moralität oder der Humanität zu bedürfen. Es ist sein Eigennutz, der ihn lehrt, seine Bezugsquellen kräftig zu erhalten, weil er das nächste Jahr auch ernten will. So weit sahen die Engländer nie, nicht blos nicht in Irland, nicht in Indien, sondern auch nicht einmal in ihrem heimischsten Eigenthume. Dies läßt sich an den meisten ihrer natürlichen Reichthumsquellen nachweisen. Wir beschränken uns hier auf ihre Weisheit und Gesetzgebung in der Lachsfischerei.

Die englische Lachsfischerei lieferte einst das Pfund delicaten frischen Lachs für 2 bis 5 Sgr. Jetzt bezahlt man dieselbe Quantität in London mit 2 bis 3 Thalern. Und doch legt jede Lachsmutter jedes Jahr die Eier zu 1500 bis 5000 Jungen. Dies ist zwar nicht die Fruchtbarkeit der Stockfische, von denen in einem Jahre eine einzige Mutter sich um 9,384,000 Junge vermehrt (so viel Eier hat man in einem einzigen Rogen gezählt) oder die Nachkommenseligkeit des Flunders, der von einem Gewichte von 48 Loth beinahe die Hälfte in anderthalb Millionen Eiern ablegen kann; aber doch immer eine Vermehrungskraft, gegen welche sich der Mensch mit allen Mitteln der Zerstörungswuth bewaffnen mußte, um das Pfund Lachs von 2 Silbergroschen auf 2 Thaler zu treiben.

Allerdings haben die delicaten, zierlichen kleinen Lachse auch besonders viel Feinde in ihrem Elemente. Forellen, Hechte, ja die eigenen Herren Eltern – scheußliche Kannibalen – verschlingen die neugebornen Lachse in Legionen ungesalzen, ungeräuchert, ungebraten. Den flußgebornen Jungen, welche entkommen und nach dem Meere hinunterziehen, lauern eine ganze Menge andere Raubfische (besonders die zahlreiche, niederträchtige Race der gadilae, auch Seeottern u. s. w.) in listig aufgesuchten Winkeln auf und stürzen sich unter die jungen Reisenden, welche sich die große oceanische Welt draußen besehen wollen, mit gierig schnappenden und verschlingenden Rachen, so daß nach der Beobachtung des Pisciologen Sir Humphry Davy von je 17,000 glücklich Neugebornen nur etwa je 800 das Meer erreichen. Und im Meere gibt’s dann auch keine Eigenthum und Personen schützenden Wasser-Polizei-Lieutenants. Aber dabei fühlen sie sich doch bald genug Vater und Mutter und ziehen wieder hoch in die Flüsse hinauf, um dort für ihre Nachkommenschaft Entbindungsanstalten und Wochenbetten aufzusuchen. Auf dieser Rückreise aber just eben, wo sie schwer und werthvoll sind und ihr größter, blindgierig übersehener Werth in deren Nachkommenschaft besteht, führt der Mensch, der Engländer, der „Erbadel der Menschheit“, wie sie Macaulay nennt, ohne einen einzigen andern Grund dafür anzugeben, auf jedem Schritte mörderischen Vertilgungskrieg gegen sie. Ganze Heerden von Flußwilddieben ziehen um die Laichzeit der Lachse Netze von einem Ufer zum andern und laufen damit dem stromaufwärts ziehenden Lachse entgegen, mit jedem oft Tausende der nächsten Zukunft tödtend. Privatpartieen brechen gegen Abend auf, in Lumpen gehüllt und mit geschwärzten Gesichtern, versammelt sich an vorher aufgespürten Laichbetten, zünden sich Kienspähne an und gehen nun mit langen Stechlanzen an ihr unheimlich beleuchtetes Mordwerk der Nacht, in deren blendende Helle und Hölle die Wasser-Constabler von dunkeln Bergen oben furchtsam hineinblicken, daß man sie nicht entdecke und als Wächter des Gesetzes mit den Stechlanzen kitzele.

Man hat schon solche Flußritter der Nacht entdeckt, welche durch eine einzige „Portion“ 10–15 Pfund Sterling bei spottwohlfeilem Verkauf einiger 30–40 pfündigen Lachse gewannen.

Zu diesen Feinden kommen Tausende von Maschinen, die sich an manchen Flüssen in chausseepappelbaumähnlichen Reihen entlang ziehen und den Abfluß und Abfall alles Tortes und Dampfes in die zu großen offenen Kloaken gewordenen Flüsse abführen, so daß darin kein Meerweib einem Goethe’schen Fischer mehr zurufen kann: „O wüßtest Du, wie’s wohlig ist dem Fischlein auf dem Grund!“ Der große, einst wunderschöne, von Lachsen wimmelnde Fluß Mersey ist ausgestorben, wenigstens von der Einmündung des Irwell-Flusses an, der allen Baumwollenmaschinen-Schmutz Manchesters hineinspült.

Dazu kommt, daß die jungen Lachse im Stadium der Kindheit unter dem Namen parrs in Schottland, in England samlets, unbehindert tausendweise von Kindern und erwachsenen Anglern weggefangen werden, und sie nur im zweiten Stadium ihres Wachsthums unter dem Namen „smolts“ den strengsten Schutz parlamentarischen Gesetzes genießen. – Die Flüsse Englands [661] gehören, wie aller Grund und Boden, den „obersten Zehntausend“, so daß die andern beinahe 30 Millionen Einwohner nie die eigentliche Wonne und gründliche, feste Sittlichkeit des Bodenbesitzes und Grundeigenthumbewußtseins kennen lernen. Der zum Theil fürstenthumgroße Grundbesitz der Aristokratie wird aber von ihr nicht selbst bewirthschaftet, sondern dem Meistbietenden zur Miethe ausgehökert, um so viel Tausende und Millionen von Pfunden als möglich auszupressen, und so suchte man auch aus den Flüssen durch Verschacherung möglichst vieler „Fischgerechtigkeiten“ möglichst viel Geld zu schlagen und vermehrte dadurch die Feinde der Lachse und entwerthete die Flüsse. Lord Gray, dem der splendide Fluß Tay gehört, schlug daraus jährlich bis 28,000 Pfund Sterling: jetzt muß er manche Station, die früher mit 4000 Pfund Pacht jährlich bezahlt ward, just für die Hälfte losschlagen. Die Pachte von der Tweed, früher 20,000 Pfund jährlich, sind durch Ueberpachten und Parcelliren, durch die Gier, möglichst viel herauszuschlagen, auf 5000 gefallen. Die Tweed lieferte früher in einzelnen Stationen, wo jetzt 500 gefangen wurden, 17 bis 20,000 Lachse.

Die Lachsfischerei, früher eine bedeutende Quelle des Reichthums und der Tafelfreuden, ist immerwährend gesunken und verfällt zusehends unter dem Einflusse blinder Industrie, Geldgier und Gesetzgebung.




Aus der guten alten Zeit.
Von den Gottesurtheilen der Vorzeit.

„Nulla casa senza tegola rotta,“ sagt ein italienisches Sprüchwort. Kein Dach ohne zerbrochenen Ziegel – kein Haus ohne Risse, keine Stadt ohne Bettler, kein Land ohne Wüsteneien, kein Staat ohne schlechte Gesetze, kein Zeitalter ohne schimpfliche Perioden. Man könnte viel Rühmliches von unsern Vorfahren, den alten Germanen, von ihrer Tapferkeit, Treue und Wahrheitsliebe, ihrer Gastfreiheit, Sittenstrenge und Einfachheit erzählen, man kann viel Löbliches in ihren Gebräuchen, Einrichtungen und Gesetzen finden, allein mancher zerbrochene Ziegel läuft mit unter und die schadhafteste Stelle ihres Volkslebens war ihre alte Gerichtsverfassung, wenn man von einer solchen überhaupt reden kann. Wenn irgendwo, so zeigten sich unsere Vorfahren hier als unmündige Kinder, deren aufdämmernder Verstand noch von den Banden des düstersten Aberglaubens umfangen war.

Will man den Criminalproceß der alten Deutschen in wenig Worten zusammenfassen, so muß man an die Spitze stellen, daß von einem Beweis im Sinne des heutigen Rechts und von einer Bemühung des Richters, die Wahrheit zu erforschen, keine Rede war. Klagte ein Germane den andern eines Verbrechens an, so war damit nicht nur die Klage beendigt, sondern dieselbe galt auch vorläufig als bewiesen. Es blieb dem Angeklagten nichts übrig, als sich der Strafe, welche die Schöffen aussprachen, zu unterwerfen, oder sich von der Anklage zu reinigen. Es mußte also nicht der Kläger seine Klage, sondern der Angeklagte seine Unschuld beweisen, und konnte er dies nicht, so unterlag er. Wie geschah aber diese Reinigung? Wenn zehn Zeugen mit eigenen Augen seine Nichtbetheiligung an der verbrecherischen That mit angesehen hatten, so konnte ihm das an sich ebenso wenig helfen, als es ihm schadete, wenn er auch am hellen Tage auf der That ertappt und festgehalten worden war. An eine Befragung solcher Zeugen wurde gar nicht gedacht. Vielmehr kam es lediglich darauf an, ob der Angeklagte unter seinen Freunden und Bekannten so viele, als das Gesetz in jedem einzelnen Falle verlangte, fand, welche bereit waren, für seine Unschuld einzustehen, ganz gleichgültig, ob sie irgend welche Wissenschaft von der Sache hatten oder nicht, und die oben erwähnten Zeugen konnten ihm höchstens insofern Vortheil oder Schaden bringen, als sie sich mit dazu erboten, für seine Unschuld zu bürgen, oder aber durch ihre Aussagen Andere von einer solchen Bürgschaft abhielten. Vermochte nun der Angeklagte die erforderliche Zahl solcher sogenannten Eideshelfer, die bereit waren, für ihn zu schwören, aufzubringen, so war seine Unschuld vollständig dargethan, entgegengesetzten Falls mußte er sich der Strafe unterwerfen. Zu einiger Rechtfertigung dieses dem Laien unerhörten Verfahrens sei jedoch gesagt, daß dieser Gerichtsbrauch in dem alten Fehderecht der Deutschen seinen Ursprung und seine Erklärung hat. Bei unsern in einem fast gesetzlosen Zustande lebenden Urahnen galt, wie bei allen auf der untersten Stufe der Entwicklung stehenden Völkern, das Recht des Stärkern. War Jemand durch einen Andern in seinem Rechte gekränkt worden, so verschaffte er sich selbst Genugthuung. War jedoch der Gegner ein Mann, der mit Hülfe seiner wehrhaften Blutsfreunde hinreichenden Widerstand zu leisten im Stande war, so mußte jener von der verlangten Genugthuung absehen, und damit war die Sache zu Ende. Als die Ausübung des Fehderechts in seinem vollen Umfange nicht mehr gestattet war, blieb es wie im Schachspiel bei einem unblutigen Kampfe. War die Zahl der Eideshelfer, d. h. der Blutsverwandten und Freunde, welche für den Fall, daß es zur Fehde gekommen wäre, bereit waren, Partei für den Angeklagten zu ergreifen, so groß, daß der Ankläger Respect bekam, so blieb ihm nichts übrig, als von der Verfolgung seines Anspruchs abzustehen, und es hatte dies, nur in anderer Weise, ganz dieselbe Wirkung, als wenn heutzutage im Laufe der Untersuchung sich die Unschuld des Angeklagten herausgestellt hat. Die Schöffen oder Richter spielten dabei freilich eine erbärmliche Rolle, und die Gerechtigkeit mußte Spießruthen laufen.

Zu diesem sehr einfachen Proceßverfahren gab es jedoch einige Abweichungen. Es konnte nämlich der Streit noch weit schneller dadurch beendigt werden, daß der Ankläger den Gegner zum gerichtlichen Zweikampf forderte, oder, und dies galt namentlich, wenn Unfreie, für die ihr Herr nicht schwören wollte, oder Rechtlose verklagt worden waren, es wurde die Entscheidung von den Richtern einem sogenannten Gottesurtheil anheimgestellt. Man legte also die Hände gänzlich in den Schooß, und holte sich die Entscheidung unmittelbar an dem Urquelle aller Gerechtigkeit.

Von diesen Gottesurtheilen, einer der außerordentlichsten und räthselhaftesten Erscheinungen in der Geschichte der Menschen, verstatten mir die Leser, Einiges zu erzählen.

Die Ordalien oder Gottesurtheile (ordale, urtellum. Urthel) gründeten sich auf die kindlich-gläubige Ueberzeugung unserer Altvordern, daß die Gottheit den Unschuldigen nicht untergehen lassen werde, und sollte es auch zu diesem Behufe eines Wunders bedürfen. Kein Mittel war sonach einfacher, die Schuldlosigkeit eines Verdächtigten zu erproben, als daß man ihm Dinge anthat, die ihn nach allen Lehren der Erfahrung an Leib oder Leben schädigen mußten. Trat dieser üble Erfolg gleichwohl nicht ein, so hatte sich die Gottheit selbst dazwischen gelegt, und seine Unschuld offenbart. Die bekanntesten und üblichsten dieser Proben waren nun die sog. Feuerurtheile, die Wasserurtheile, das Kreuzurtheil, die Probe mit dem geweihten Bissen und das Bahrgericht.

Die Feuerprobe wurde in verschiedener Weise executirt. Die einfachste Form bestand darin, daß der Angeklagte angehalten wurde, die bloße Hand in das Feuer zu halten. Feierlicher war es, wenn derselbe im Hemd durch einen brennenden Holzstoß gehen mußte, und um den Sieg der Unschuld um so glänzender zu machen, wurde ihm bisweilen sogar ein Wachshemd angezogen. Nach dem Zeugniß des Jacob von Königshöfen soll Richardis, die Gemahlin Carl’s des Dicken, welche des verbotenen Umgangs mit Luitward, Bischof von Vercelli, angeklagt war, ihre Unschuld durch glückliches Ueberstehen dieser Feuersgefahr dargethan haben, wogegen dem Leser aus der Geschichte der Kreuzzüge bekannt sein wird, daß Peter Bartholomäus, welcher vorgab, die heilige Lanze gefunden zu haben, im Jahre 1099 mit derselben im Hemd durch das Feuer ging, um sich von der Anschuldigung des Betrugs zu reinigen, aber nach Einigen tödtlich verbrannt herauskam.

Nach einer dritten Art, welche noch in der Mitte des 15. Jahrhunderts im Rheingau üblich gewesen sein soll, mußte ein glühendes Eisen eine Strecke weit in der Hand getragen werden, anderwärts mußte der Angeklagte dasselbe mit bloßen Füßen betreten, oder über neun Pflugscharen schreiten, eine Probe, aus welcher nach der Sage Heinrichs II. Gemahlin, Kunigunde, und [662] die Mutter Eduard des Bekenners unverletzt hervorgegangen. Zuweilen wurde die Zahl der Schritte, welche mit dem Eisen in der Hand zurückgelegt werden mußten, im Voraus bestimmt, und eben so kam es vor, daß, um dem Unglücklichen das Leben so sauer als möglich zu machen, er nachher noch das Eisen in einen zwölf Schritt entfernten Trog werfen und, wenn er diesen fehlte, die Probe unerbittlich von Neuem beginnen mußte. Auch hier fehlt es den alten Geschichtsschreibern nicht an Beispielen eines glücklichen Erfolges. Der Bischof Poppo, welcher in Dänemark als Verkündiger des Christenthums aufgetreten, bekräftigte die Wahrheit seiner Lehre vor König Harald durch die Feuerprobe, und erreichte damit die Bekehrung des Heidenkönigs. Am komischsten liest es sich, wenn die alten Germanen mit echter deutscher Gründlichkeit und Vorsicht die Hand des Angeklagten nach überstandener Probe in einen Sack steckten, diesen zusiegelten und erst nach drei Tagen in grenzenloser Spannung wieder öffneten, um nachzusehen, ob sich eine verdammende Brandwunde an derselben wahrnehmen ließ, oder die Macht Odins das glühende Eisen in der Hand des Gerechten in ein grünendes Reis verwandelt hatte.

Aelter noch als diese Feuerproben sind die sogenannten Wasserurtheile. Sie wurden bald mit kaltem, bald mit siedendem Wasser vorgenommen. Der sogenannte Kesselfang, nach welchem ein Stein oder Ring mit entblößtem Arme aus einem mit kochendem Wasser angefüllten Kessel geholt werden mußte, ist in dem salischen Volksgesetz ausdrücklich vorgeschrieben. An manchen Orten befanden sich zu diesem Zwecke eigene Kessel am Eingänge der Kirche eingemauert. Bei der kalten Wasserprobe wurde der Angeklagte einfach mit gebundenen Armen und Beinen in einen Teich geworfen. Allein hier waren unsere ehrlichen Vorfahren mit sich selbst im Zwiespalt, ob das Untersinken oder das Obenschwimmen ein Beweis der Unschuld sein solle. Diese Wassertauche war neben dem Wägen der Hexen, welche nach dem Aberglauben ein ungewöhnlich geringes Gewicht haben sollten, die bei weitem gebräuchlichste Hexenprobe und als solche noch im vorigen Jahrhundert in Geltung.

Wesentlich unterschied sich von den bisher genannten Gottesurtheilen das sogenannte Kreuzurtheil. Hier mußen sich nämlich beide Theile, der Kläger und Beklagte, der Probe unterziehen. Auch war sie bei weitem die menschlichste. Beide Gegner mußten mit ausgebreiteten Armen unbeweglich an einem Kreuze stehen. Wer zuerst zu Boden sank, oder auch nur den Arm sinken ließ, hatte verloren. Während sie dastanden, wurde gebetet und Messe gelesen. So wird uns erzählt, daß, als einst in einem Teiche des Klosters Bischofsheim ein neugebornes Kind gefunden wurde, und der Verdacht sich auf die Nonnen des Klosters lenkte, zur Ermittlung der Schuldigen alle Nonnen am Kreuze stehen mußten. Aber noch merkwürdigere Beispiele zeigen, in welchem Ansehen im Mittelalter dieses Gottesurtheil stand. Unter der Regierung Carl’s des Großen geriethen die Bürger von Verona mit ihrem Bischof in Streit wegen des Wiederbaues der Stadtmauern. Nach langen Debatten einigte man sich dahin, daß die Kreuzesprobe den Streit entscheiden sollte, und jede Partei wählte als ihren Kämpfer einen Geistlichen. Sie standen unter großen Feierlichkeiten so lange, bis der Vertreter der Bürgerschaft zu Boden fiel. Noch mehr, Carl der Große verordnete sogar auf dem Reichstage zu Thionville, daß, wenn unter seinen Söhnen bei der Theilung des Reichs nach seinem Tode Grenzstreitigkeiten entstehen sollten, das Kreuzgericht entscheiden sollte.

Ebenso unschuldiger Natur war die Probe des geweihten Bissens und des Abendmahls. Ein Stück Brod oder Käse, später die geweihte Hostie, wurde dem Angeschuldigten in den Mund gelegt und man meinte, daß, wenn er schuldig sei, er an dem Bissen ersticken müsse. Daher noch jetzt die Betheueruugen: „es soll mir der Bissen im Halse stecken bleiben“ und „ich will das Abendmahl darauf nehmen.“

Fragt man aber, welcher Aberglaube die weiteste Verbreitung fast bei allen Völkern gefunden und noch im vergangenen Jahrhundert seinen Spuk getrieben, so ist es der Glaube, daß der Leichnam des Ermordeten bei der Berührung durch den Mörder frisch zu bluten, sich zu bewegen, oder Schaum am Munde zu zeigen anfange.

Auch hierin hatte man sonach ein sehr bequemes Mittel, sich eine weitere Untersuchung zu ersparen. Man führte den Verdächtigen vor die Bahre und veranlaßte ihn, die Leiche zu berühren. Je nach den Wahrnehmungen, die man hierauf an derselben machte, war er schuldig oder unschuldig. So fordert Krimhilde im Nibelungenlied die Degen, welche mit Siegfried auf der Jagd gewesen, auf, an die Bahre des Ermordeten zu treten, und als sich der trotzige Hagen naht, klagt ihn das strömende Blut Siegfrieds als Mörder an. Auch Shakespeare läßt in Richard III. Lady Anna, als sich Richard der Leiche Heinrichs naht, ausrufen:

Ihr Herrn, seht, seht! des todten Heinrichs Wunden
Oeffnen den starren Mund und bluten frisch.

Auf dieser Basis tiefen Aberglaubens ruhten noch manche nicht zu den Ordalien gehörige Sitten des Mittelalters, die zu erwähnen zu weit führen würde. Nur eines höchst originellen österreichischen Volksglaubens sei noch gedacht, daß nämlich eine reine Jungfrau daran zu erkennen sei, daß sie eine Kerze mit dem ersten Hauche aus- und mit dem zweiten wieder anblasen könne.

Wie übrigens bei diesen Gottesurtheilen schon in den frühesten Zeiten Betrug und Hinterlist unterlief, davon sind uns mehrere sehr ergötzliche Beispiele aufbewahrt.

Einst stritten sich, wie Gregor von Tours berichtet, ein katholischer und ein arianischer (ketzerischer) Priester um die Wahrheit ihrer gegenseitigen Glaubenslehren. Lange hatten sie hin und her disputirt, da rief endlich der Katholik, von seinem Eifer hingerissen:

„Was wollen wir uns länger mit Worten streiten? Die That mag lehren, wer von uns Recht hat. Wir wollen einen Ring in einen Kessel voll kochendes Wasser werfen und wer von uns denselben unverletzt herauszieht, soll nicht nur Recht behalten, sondern auch den Gegner zu seiner Lehre bekehren.“ Der Arianer ist es zufrieden und sie gehen mit dem Versprechen auseinander, am nächsten Morgen die Kesselprobe vorzunehmen. Ueber Nacht fängt den katholischen Priester an, seine Hitze zu gereuen, mit Grauen denkt er an die gefährliche Probe und besieht sich mit Wehmuth seine wohlgenährten Arme, welche er dem siedenden Wasser preisgeben soll. Endlich fällt er darauf, sich dieselben mit Oel und Salben einzureiben und glücklich über seine List schöpft er wieder neue Hoffnung. Der Morgen kommt heran, das Volk versammelt sich auf dem Marktplatze, ein großes Feuer wird angezündet, der Kessel darüber gesetzt und ein Ring hineingeworfen. Bald fängt das Wasser an zu brudeln und zu wallen und dem Armen schwindet bei diesem Anblick von neuem der Muth. In kläglichem Tone fordert er den Arianer auf, den Anfang zu machen, aber Letzterer weigert sich dessen entschieden und beruft sich darauf, daß Jener zuerst den Vorschlag zum Kesselfang gemacht. Das Volk fängt an ungeduldig zu werden und da der Gequälte keinen Ausweg mehr sieht, entblößt er zitternd seine Arme.

„Was sehe ich!“ schreit der Gegner, „Verrath! Er hat sich den Arm gesalbt, er hat Künste gebraucht, seine Probe gilt nichts.“

Indem kommt zum Glück von ungefähr ein anderer katholischer Geistlicher aus Ravenna hinzu, fragt, was es gebe, und hat kaum die Ursache des Streites erfahren, als er seinen Aermel zurückschlägt und die Rechte in den Kessel taucht. Der Kessel war aber so groß und der Ring so klein, daß es eine Stunde dauerte, ehe er denselben fand. Als er ihn endlich erwischt hatte und den Arm herauszog, war derselbe gänzlich unversehrt und der Priester behauptete sogar, daß er im Kesiel nur Kälte gefühlt habe. Durch diese Worte kühn gemacht, streckte auch der Arianer seinen Arm hinein, zog ihn aber mit einem lauten Schrei wieder heraus und mußte zu seinem Schrecken wahrnehmen, daß er sich den ganzen Arm verbrannt hatte.

Besser als jenem Geistlichen, der sich den Arm mit Oel eingerieben hatte, gelang die List einem Ehemanne, von welchem uns ein Dichter der damaligen Zeit erzählt. Dieser Mann war, wie das zu allen Zeiten vorgekommen sein soll, mit einem eifersüchtigen Weibe geplagt, welches Ursache zu haben glaubte, in seine eheliche Treue Zweifel zu setzen. Da er stets seine Unschuld betheuerte, so verlangte sie eines Tages, daß er sich von dem auf ihm lastenden Verdachte durch die Feuerprobe reinigen solle. Es hält schwer, mit einer Frau fertig zu werden, auch unser Held vermochte die seinige nicht eher zu beruhigen, als bis er sich ihrem Ansinnen fügte. Für unsere Leser frei übersetzt lauten nun die Verse des Dichters:

Das Eisen ward nunmehr geglüht
Und auf zwei Steine hingelegt,

[663]

Daß alles ging’ nach seinem Recht.
„Geh,“ rief die Frau, „und daß man sieht,
Ob treu, ob untreu Dein Gemüth,
So nimm das Eisen in die Hand!“
Der Mann sich dazu willig fand.
Doch hat er vorher einen Spahn
In seinen Aermelschlitz gethan,
Den ließ er fallen in die Hand,
Ohn’ daß sein Weib den Trug erkannt.
Drauf nahm er keck das heiße Eisen
Und rief: „Jetzt will ich Dir beweisen,
Daß kein Gedanke, keine That
Je meine Treu erschüttert hat.“
Er trug das Eisen wohl sechs Schritte,
Als wär’ es Spaß, was er gethan,
Dann aber barg er seinen Spahn
Klug wieder in des Kleides Schnitte,
Und producirte seine Hand.
Sie sprach: „Jetzt hab’ ich es erkannt,
Daß Du mir Treue stets gezollt,
Die Hand ist reiner als wie Gold.“

Allein damit war die Geschichte noch nicht zu Ende. Der Ehemann war ebenso rachsüchtig als listig und verlangte nun zum Schrecken seiner Ehefrau, daß diese auch das Eisen tragen sollte. Umsonst war alles Sträuben. Sie mußte trotz ihres bösen Gewissens gehorchen, und nun singt der Dichter:

Das Eisen nahm sie in die Hand
Und hat sich mörderlich verbrannt,
Daß sie geschrien voll Schmerz und Wuth:
„Mir ist die ganze Hand caput!“

Auch kam es schon zur Blüthezeit der Gottesurtheile vor, daß Männer aufgeklärt genug waren, um den ganzen Unsinn derselben einzusehen. So wird aus dem dreizehnten Jahrhundert erzählt, daß ein zur Feuerprobe Verurtheilter sich weigerte und ausrief: „er wäre kein Narr!“ und, als der Erzbischof in ihn drang, sich nur unter der Bedingung dazu bereit erklärte, wenn der Erzbischof ihm selbst das Eisen reiche. Da Letzterer dazu keine Lust verspürte, so ließ man den Burschen laufen. Dagegen lehrt ein anderes Beispiel, bis zu welcher Höhe blinden Wunderglaubens unsere Vorfahren sich verstiegen haben. Die Lübecksche Chronik erzählt mit der größten Ernsthaftigkeit folgende seltsame Geschichte: „Zu Wittenberg im Land Mecklenburg war ein Mann beschuldiget, daß er solte etliche Häuser angesteckt haben. Er verneint solches und vermaß sich auf sein Unschuld, daß er ein glüend Eisen tragen wolt. Es ward ihme in die Hand gethan und druge es ohne schreyung. Da er zu dem Male kam an dem Kirchhof, warf er es aus der Hand und es verschwand, daß niemand wußte wo es hinkam. Ein Jahr darnach da einer brogede und rakede in dem Sand, fand er das Eisen und verbrant die Hand daran. Die dabei waren verwunderten sich des und sagtens dem Vogt, der ward eingedenk der vorigen Geschicht und ließ den Kerl antasten (arretiren). Der bekente daß er die häuser angesteckt und ward uf’s Rad gesetzt.“

Fragt man nun, wie es möglich war, daß solche Gebräuche bestehen, ja durch Gesetze sanctionirt werden, daß dieselben nicht Jahrzehnde, nein Jahrhunderte andauern und nur mit Mühe durch das Christenthum und die Fortschritte der Wissenschaft und Gesetzgebung aus dem deutschen Volke verbannt werden konnten, so fällt die Antwort schwer, so schwer, daß ein so geistreicher Schriftsteller wie Montesquieu in seinem esprit des lois sich zu der Erklärung verleiten lassen konnte, bei den alten Deutschen hätte jeder einigermaßen rechtliche Mann eine so dicke Haut auf den Händen gehabt, daß alle brennenden Proben daran zu schanden geworden seien und man daher durch das glühende Eisen oder kochende Wasser leicht erkennen können, wes Geistes Kind der Angeklagte sei, ob ein unverdorbener kräftiger Mann oder eine verweichlichte Memme. Ebenso ungenügend ist es, wie Mancher versucht, die Ordalien als eine Erfindung der Priester zu bezeichnen, denen sie Gelegenheit zu allerlei List und Trug geboten und die durch ihre Einführung nicht nur die Freisprechung oder Verurtheilung in ihre Hand gespielt, sondern auch das Volk in Verdummung erhalten hätten. Denn wenn auch nicht bestritten werden mag, daß manche Täuschung seiten der heidnischen wie der christlichen Priester vorgekommen, so läßt sich doch damit nimmermehr ein so allgemeiner und tiefeingewurzelter Rechtsbrauch erklären, den wir übrigens nicht blos bei den Deutschen, sondern auch, wiewohl in geringerer Ausbildung, bei den slavischen Völkern und noch heutzutage in Indien und Pegu wiederfinden. Die Existenz der Gottesurtheile endlich ganz aus der Geschichte wegzuleugnen, ist zwar die bequemste, aber auch die unkritischste Art und Weise, sich über die Schwierigkeit hinwegzusetzen. Denn wenn man auch in manches der von den alten Geschichtsschreibern erzählten Beispiele gerechtes Mißtrauen setzen muß, so ist doch die Gültigkeit und die wiederholte Anwendung der Ordalien über allen Zweifel erwiesen.

Dagegen ist durch andere Forscher wenigstens einiges Licht in dieses Nachtgemälde altdeutschen Irrthums gebracht worden. Die Ordalien hatten ihren Ursprung ebenso in ungewöhnlichen Tugenden als in ungewöhnlichen Fehlern unserer Altvordern. Vor allem muß festgehalten werden, daß die Wahrheitsliebe ein Grundzug der Germanen war. Es war deshalb etwas Unerhörtes, daß Jemand absichtlich oder leichtsinnig eine falsche Anklage erhoben hätte, und es war ebenso unerhört, daß ein Beschuldigter das Verbrechen, dessen er sich wirklich schuldig fühlte, wider die Wahrheit ableugnete. Daß dem so war, dafür liegen deutliche Beweise vor. Schon dadurch reducirte sich die Anwendung der Gottesurtheile auf wenige Fälle. Dazu kam, daß freie Deutsche nur selten zum Gottesurtheil gezogen wurden. Sie halfen sich durch den Eid und Zweikampf. Nur unfreie Knechte und andere mehr oder weniger rechtlose Personen mußten sich demselben unterwerfen und wenn diese durch den üblen Ausgang regelmäßig als Schuldige dargestellt wurden, so wunderte sich Niemand darüber, da man von ihnen ohnehin das Schlechteste zu denken gewohnt war; ja die Bestimmung, welche diejenigen, die bereits zum zweiten Male des Diebstahls angeklagt wurden, an das Gottesgericht verwies, läßt erkennen, daß nach der Ansicht der Deutschen in der Verurtheilung zum Gottesurtheil schon eine halbe Verurtheilung zur Strafe lag. Wir haben aber noch andere Veranlassung zu der Annahme, daß die Gottesurtheile zwar in der Rechtssitte existirten, aber mehr zu einem Schreckbild der Phantasie dienten und als solches gute Dienste leisteten. Es läßt sich voraussehen, daß der Schuldige lieber gestand und sich der gesetzlichen Strafe unterwarf, als sich dem Gottesurtheil aussetzte, dessen Ausgang ihm sein böses Gewissen im Voraus zeigte. Daß aber umgekehrt auch der Kläger es nicht leicht bis zum Aeußersten, dem Ordale, trieb, darauf lassen, abgesehen von den Fällen, wo sich beide Theile der Probe unterwerfen mußten, noch manche andere Bestimmungen schließen, von denen nur eine Vorschrift des salischen Gesetzes angeführt werden soll, wonach der Kläger gehalten war, vom Termin der Klage bis zum Termin des Ordals, d. h. 14 Tage und 14 Nächte ununterbrochen das Feuer unter dem Kessel zu unterhalten, eine eben nicht verlockende Arbeit. Berücksichtigt man dabei noch, daß der Aberglaube sich erfahrungsmäßig leichter in kräftigen als in stumpfen Gemüthern festsetzt, so wird das von uns geschilderte Verfahren viel an seiner Abscheulichkeit verlieren, und ehe wir den Stab über unsere Vorfahren brechen, vergegenwärtigen wir uns, wo die Treue, die Wahrheitsliebe, die Zucht, und Sittenreinheit der alten Deutschen geblieben, bei denen in Wahrheit ein Wort ein Mann, ein Mann ein Wort war. Grundsatzlosigkeit, Leichtsinn, Sittenverderbniß sind an ihre Stelle getreten. Die Fortschritte der Wissenschaft und Civilisation haben die Nebel des Aberglaubens verscheucht, aber sie haben es mitverschuldet, daß religiöse Gleichgültigkeit und Weisheitsdünkel vielfach dafür eingetauscht sind, und man könnte auf ihren Einfluß die Worte jenes römischen Eseltreibers anwenden, der nach vergeblichem Bemühen, sein Maulthier zu besteigen, endlich die Hülfe des heiligen Antonius anrief und, als er jetzt zwar glücklich hinaufkam, aber auf der andern Seite wieder hinunterfiel, in die Worte ausbrach: „Zu viel geholfen, heiliger Antonius!“



 

[664]
Blätter und Blüthen.

Eine romantische Elen-Jagd auf Ceylon. Die interessantesten Elenjagden fand ich in der Gebirgslandschaft, welche der M’Donald, einer der reißendsten Flüsse, durchströmt. Er fällt 300 Fuß hoch perpendiculär hinab und ergießt sich brausend zwischen ungeheuren Felsblöcken, welche von den steilen, aus Gneis bestehenden Ufern in sein Bett hinabgerollt sind. Dort liegen sie wild übereinander gethürmt und bilden zuweilen große feuchte Höhlen, über welche der Strom dahinschießt. Wer in dessen Wirbel geräth, Mensch oder Thier, ist dem sichern Untergange verfallen. –

Diese Gebirgsgegend ist voll von Elen’s und ich hatte für einige Zeit mein Zelt in derselben aufgeschlagen. –

Eines Morgens, es war ein schöner Maitag, ging ich mit meiner Meute aus, und es währte nicht lange, so spürte sie einen prächtigen, starken Bock auf. Dieser floh aber rasch aus der Ebene in’s Gebirge und ich verlor mit meinen Gefährten die Spur. Wir klommen indessen muthig durch die Berge weiter und nach einer Meile Weges hörte ich den Anschlag der Hunde und sah den Bock geradeswegs nach dem Ufer zueilen. Ich sammelte die anderen Hunde, sie griffen muthig aus und stellten in nicht langer Frist den Bock auf einer mit Gras bewachsenen Plattform, 300 Schritt von dem Ufer, wo er sich ihrer auf’s Muthigste zu erwehren suchte. Als ich näher kam, mußte ich ihm meine Bewunderung zollen. Er hatte das prächtigste Gehörn, das ich je bei einem Elen gesehen, war dreizehn Faust hoch, seine Mähne sträubte sich und seine Nüstern waren vor Kampflust weit aufgebläht. Als er meiner ansichtig wurde, maß er mich mit seinen Blicken, wandte sich um und stob, von den Hunden verfolgt, dem Ufer zu. Ich folgte ihm, so rasch ich konnte, und sah ihn alsbald über einem Wasserfalle von einigen 80 Fuß, ungefähr 150 Schritt von dem großen Wasserfalle von 300 Fuß, stillstehn.

Es war ein großartiger Anblick. Unten brauste der Strom, die Hunde klafften um den Bock, der nicht mehr zurückkonnte, dieser aber kannte das Terrain von Jugend auf, und begann von Fels zu Fels zu springen, um das gegenüberliegende Ufer zu gewinnen. Dort versah er sich jedoch in dem Landungsplatze, das Ufer war zu steil, er konnte nicht festen Fuß fassen und ward den Strom hinabgetrieben. Die Hunde hatten sich bis dahin gescheut, ihm zu folgen. Da stürzten sich zu meinem Schrecken „Bran“ und „Lucifer“ in den Strom und sprangen von Fels zu Fels dem Elen nach, verschwanden aber bald darauf in dem Strudel. Der starke Bock konnte sich dem Strome entgegenstemmen, die Hunde wurden dagegen fortgerissen. Nur noch fünfzehn Fuß waren sie von dem Rande des Falles entfernt, und ich fürchtete jeden Augenblick, sie hinabgerissen zu sehen. Es waren meine beiden Lieblingshunde, und ich konnte mich nicht enthalten, ihnen ermuthigende Worte zuzurufen, obwohl ich mir sagen mußte, daß es ihnen unmöglich sein würde, sie vor dem Brausen des Stromes zu hören. Sie kannten ihre Gefahr, und arbeiteten mit aller Kraft ihr zu entgehn, da verbarg sie dicht vor dem Fall ein Haufen Gras meinen Augen. Ich hielt sie für verloren und stieß einen Schrei des Entsetzens aus – da – hurrah! – kamen sie wieder zum Vorschein. Das Gras hatte sie gerettet, sie hatten Fuß gefaßt und arbeiteten sich nach dem Ufer hin.

Inzwischen war die ganze Meute wie toll in’s Wasser gesprungen und verfolgte den Bock, der klug die seichten Stellen wählend zu entkommen suchte. Ich dachte, meine sämmtlichen Hunde würden darauf gehen, wenn sie von den Stromwirbeln gepackt und auseinandergesprengt wurden, nachdem sie zuerst einem Schwarm Eulen geglichen hatten. Die arme „Phrenzy“ kam auch dem Abgrunde zu nahe, wurde hinabgerissen und ich sah sie nie wieder.

Es war eine furchtbar aufregende Jagd. Ich kletterte den Abhang hinunter und kam grade zurecht, um den Bock wie eine Katze auf einen hervorragenden Felsen des gegenüberliegenden Ufers springen zu sehn. Zwei Hunde waren ihm jedoch dicht auf den Fersen und ich hetzte die übrigen. Außer „Phrenzy“ waren noch alle vorhanden. Ich sprang nun auch von Fels zu Fels und kam glücklich über den Strom, mit Händen und Füßen klimmend, nach dem entgegengesetzten Ufer. Es war 60 Fuß hoch, schwer zu erklimmen, dicht bei dem Fall, und ich hörte und sah nichts mehr von dem Bock und den Hunden. So mächtig war das Brausen des Falles, den ich jetzt gerade unter mir erblickte! Nachdem ich vorwärts gedrungen, hörte ich endlich wieder den Anschlag der Hunde und sah den Bock auf einer hundert Fuß hohen Plattform stehn. Sie bildete den Gipfel einer Klippe, und Elen und Hunde konnten nicht weiter. Den engen Weg zum Hinabsteigen hielten die Hunde besetzt, und wollte er durch die Meute brechen, so stürzte ein halbes Dutzend mit ihm hinab. Ich stieg auf die Plattform hinab. Sie war nur zwanzig Fuß in’s Gevierte groß, und unter ihr gähnte ein 300 Fuß tiefer Abgrund. Der erste Absatz war zwar nur 70 Fuß hoch, auf diesen folgte aber Klippe auf Klippe bis zum Fluß.

Die Scenerie war prächtig. Da stand der noch jetzt gleich muthige Bock. sich weder vor Hunden noch vor Menschen fürchtend, trotzig mit dem Schicksal ringend. Ich mochte nicht auf ihn anlegen, weil er im Fallen die Hunde mit sich hinabgerissen haben würde. Diese sahen die ihnen drohende Gefahr, und kamen von Zeit zu Zeit zu mir, um dem Bock Zeit zu lassen, sich nach einem bessern Boden zu flüchten. Plötzlich entschied er jedoch die Frage nach seinem Willen. Ich rief die Hunde an, ihn so anzugreifen, daß er von der Klippe fortgetrieben wurde; er hielt sie jedoch mit seinem Gehörn und seinen Vorderfüßen von sich fern, trieb dann angreifend die Meute zurück, ging wieder nach dem Abgrunde vor, sah hinab und stürzte plötzlich zu meinem wie der Hunde Erstaunen hinunter. Ich hörte einen hellen Krach, dann brauste das Wasser wie zuvor. Die Hunde sahen über die Klippe und bellten furchterfüllt und verzweiflungsvoll. Das Wild war ihnen entgangen.

Auf einem Umweg von ungefähr einer halben Meile kamen wir an den Fuß der Klippe, von welcher der Bock hinabgesprungen war. Er war verendet, denn er hatte sämmtliche Knochen gebrochen. Ihn von da fortzuschaffen, war unmöglich. Ich schnitt daher nur seinen Kopf ab und bewahrte sein Gehörn, welches das schönste meiner Sammlung bildet.




Ein lohnendes Sujet für Historienmaler. Als Voltaire im Frühling des Jahres 1778 Paris zum letzten Male besuchte, wo er bekanntlich von der Freude über den ihm von allen Schichten der Gesellschaft bereiteten glänzenden Empfang getödtet wurde, suchte er, der vierundachtzigjährige Greis, den nur um zwölf Jahre jüngeren Benjamin Franklin auf, der als nordamerikanischer Gesandter am französischen Hofe in Passy wohnte, und überhäufte den biedern Amerikaner, den schlichten, ehrlichen Schöpfer der republikanischen Verfassung seines Vaterlandes, mit allen möglichen Schmeicheleien. Die beiden berühmten alten Herren, gewissermaßen die Träger des neuen Zeitgeistes nach seinen zwei verschiedenen Richtungen, nach der ehrlichen, einfachen, tugendhaften und nach der outrirten, raffinirten, höhnisch überreizten und carikirten, verkehrten miteinander, und als Voltaire von seiner alten Feindin, der Akademie, eine Einladung erhielt, beredete der alte eitle Mensch, der seiner ganzen echt französischen Richtung nach die Theatercoups, den Eclat liebte, den bescheidenen Naturforscher und ehemaligen Buchdrucker, welcher Mitglied der Akademie war, mit ihm zu gehen. So wenig der schlichte Amerikaner Lust zu einer solchen Schaustellung hatte, so wurde er doch von seinen zahlreichen Pariser gelehrten Freunden dazu gedrängt. So traten sie denn eines Tages Hand in Hand in die vollzählig versammelte Akademie. Die ganze Versammlung erhob sich beim Anblick der beiden großen Männer ehrfurchtsvoll von ihrem Sitze, und begrüßte sie mit allen Zeichen der höchsten Achtung. In diesem Augenblick rief plötzlich eine Stimme: „Sophokles und Solon!“ und diese Worte erzeugten einen wahren Begeisterungsrausch, der gar nicht enden wollte.

Dieser Moment ist ungemein schön und wichtig, aber der Maler muß ihn in seiner ganzen weltgeschichtlichen Bedeutung zu erfassen und zur Erscheinung zu bringen verstehen. Der eine dieser Greise ist der außerordentliche Mensch, der mit den ätzenden Säuren seines frivolen Spottes die morschen Grundsäulen der alten Welt vollends zerfressen hat: nur noch wenige Jahre und sie brechen, und die leichtsinnige Gesellschaft stürzt mit dem obsolet gewordenen Bau zusammen; der andere dieser Greise ist jener außerordentliche Mensch, der sich durch Arbeit und Entbehrung, durch redliches Forschen und unablässiges Streben, durch wahre Tugend und Menschenliebe die sittliche Reife erworben hat, die Grundsteine und Schwellen eines neuen Gesellschaftsbaues zu legen. Der Zerstörer der alten Welt und der Schöpfer der neuen, Epimetheus und Prometheus, da stehen sie Hand in Hand vor der geistigen Elite des französischen Volks und begrüßt von ihrem Jubel, der alte eitle Franzose geschmeichelt von diesem Triumph, der alte bescheidene Amerikaner beschämt davon. Gewiß, es kann kaum eine würdigere Aufgabe für einen geistreichen Maler geben. Was für ein paar herrliche Köpfe! Und nun unter den Akademisten, welche reiche Auswahl! Alles durch Wissenschaft ausgezeichnete Männer, die meist nachher in der Revolution eine politische Rolle spielten. In allen diesen Köpfen flammt der Geist der Neuzeit mehr oder minder stark, lebt die Ahnung von dem, was die nächste Zukunft bringen muß, mehr oder minder lebendig. Und gerade in diesem Momente treten Geist und Ahnung gleichsam greifbar in die Gesichtszüge.



Bei Ernst Keil in Leipzig ist in Zweiter Auflage erschienen und in allen Buchhandlungen zu haben:

Das Buch vom gesunden und kranken Menschen.
Von Dr. Carl Ernst Bock,
Professor der pathologischen Anatomie in Leipzig.
32 Bogen, geh. 12/3 Thlr., geb. in engl. Preßdecken 1 Thlr. 27 Ngr.
Mit 25 feinen Abbildungen.

Zum ersten Male wird dem größern Publikum in obengenanntem Buche ein Werk geboten, worin es in populärer, leichtfaßlicher und instructiver Form über den Bau des menschlichen Körpers, die Verrichtungen seiner einzelnen Organe, sowie über den Gesundheits- und Krankheitszustand derselben unterrichtet und eine vernünftige naturgemäße Pflege des Körpers im gesunden und kranken Zustande belehrt wird. Bei dem Namen des Verfassers, dessen wissenschaftliche Lehrbücher und populär-medicinische Aufsätze in der Gartenlaube eine so glänzende Aufnahme gefunden, bedarf es wohl nur dieser Anzeige, um das Publikum wiederholt auf ein Buch besonders aufmerksam zu machen, das nur im Interesse der guten Sache geschrieben. Das schnelle Erscheinen der Zweiten Auflage zeugt für die günstige Aufnahme, welche das Buch beim Publikum gefunden.


Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.