Die Gartenlaube (1858)/Heft 27

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Textdaten
<<< >>>
Autor: Verschiedene
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Die Gartenlaube
Untertitel: Illustrirtes Familienblatt
aus: Vorlage:none
Herausgeber: Ferdinand Stolle
Auflage: {{{AUFLAGE}}}
Entstehungsdatum: 1858
Erscheinungsdatum: 1858
Verlag: Ernst Keil
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Leipzig
Übersetzer: {{{ÜBERSETZER}}}
Originaltitel: {{{ORIGINALTITEL}}}
Originalsubtitel: {{{ORIGINALSUBTITEL}}}
Originalherkunft: {{{ORIGINALHERKUNFT}}}
Quelle: commons
Kurzbeschreibung: {{{KURZBESCHREIBUNG}}}
{{{SONSTIGES}}}
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite

[385]

No. 27. 1858.
Die Gartenlaube.

Illustrirtes Familienblatt. – Verantwortl. Redacteure F. Stolle u. A. Diezmann.

Wöchentlich 11/2 bis 2 Bogen. Durch alle Buchhandlungen und Postämter vierteljährlich für 15 Ngr. zu beziehen.



Der erste Fall im neuen Amte.

Vom Verfasser der „neuen deutschen Zeitbilder.“


Ich wurde – vor nahe an dreißig Jahren – nach N. in der preußischen Provinz N. als Director des dasigen Inquisitoriats versetzt.

Ich kannte weder die Stadt, noch die Provinz. Ich wußte nur aus der Geographie, daß die Stadt ein Landstädtchen mit 5000 Einwohnern war. In der Stadt und deren Umgegend war mir auch kein einziger Mensch bekannt; eben so waren mir die Verhältnisse von Stadt und Land, also auch das Besondere meiner neuen amtlichen Stellung völlig fremd. Was ein Inquisitoriat war und was der Director einer solchen Criminalbehörde zu thun habe, wußte ich freilich.

Indeß hatte ich auf der Reise von meinem bisherigen zu meinem neuen Aufenthaltsorte Berlin berühren und dort dem Justizminister mich vorstellen müssen, und dieser hatte wenigstens mit Einzelnem für meine künftige amtliche Stellung mich bekannt gemacht.

„Sie wird in der ersten Zeit eine schwierige und auch außerdem keine angenehme für Sie sein. Aber –“

Der Minister ging auf meine bisherige Amtsführung ein und fuhr dann fort:

„Aber Sie werden Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten zu überwinden wissen. Beide sind durch das bisherige und zum Theil noch vorhandene Richterpersonal des Inquisitoriats hervorgerufen. Der jetzt endlich pensionirte Dirigent war schon lange unfähig; die noch fungirenden Criminalräthe sind es auch, doch es ist zur Zeit unmöglich, sie gleichfalls zu pensioniren. In Folge von dem Allen sind die Geschäfte des Gerichts in große Unordnung gerathen, und eine Folge davon ist wieder gewesen, daß die Verbrechen in dem Bezirke des Gerichts auf eine schreckenerregende Weise zugenommen haben.

„Zu Ihnen vertraue ich nun,“ schloß der Minister, „daß Sie einerseits mit Strenge und Energie die Ordnung der Geschäfte wieder herstellen, andererseits aber auch jene beiden alten Criminalräthe, die zu ihrer Zeit tüchtige Beamte waren und nur durch den langen und angreifenden Dienst stumpf geworden sind, mit aller Milde und Rücksicht behandeln werden, welche langjährige treue Dienste fordern und verdienen.“

Ich war jung, rüstig, an Arbeiten gewöhnt. Ich hatte in dem Amte, aus dem ich unmittelbar herausgerufen war, vollständig ähnliche Schwierigkeiten und Unannehmlichkeiten zu überwinden gehabt und ohne Mühe überwunden. Ich ging getrost dem neuen Amte entgegen.

Mein neuer Gerichtsbezirk lag an der hannoverschen Grenze; ich hatte im Hannoverschen einen Universitätsfreund. Ich bat den Minister nur, diesen vor Antritt meines Amtes besuchen zu dürfen. Er gestattete es mir.

Ich reiste von Berlin nach Hannover mit der Schnellpost – Eisenbahnen gab es damals in Deutschland noch nicht – besuchte meinen Freund, der von der großen Straße entfernt wohnte, und kehrte dann nach Preußen zurück, und zwar aus dem Hannoverschen unmittelbar in meinen neuen Gerichtsbezirk. Ich hatte bis zu diesem anderthalb Tagereisen. Mein Weg führte mich, nach der Versicherung meines Freundes, fast ununterbrochen durch schöne Gegenden. Ich machte die kleine Reise zu Fuße.

Ich hatte dabei zugleich etwas Anderes im Auge. Von der Grenze bis zu der Stadt N. hatte ich eine ziemliche Strecke meines neuen Gerichtsbezirks zu passiren; eine Fußwanderung gab mir Gelegenheit, Manches kennen zu lernen und zu erfahren, was mir für meine künftige Wirksamkeit von Nutzen sein konnte.

Ich war, nach den Nachrichten, die ich eingezogen, nicht mehr weit von der Grenze entfernt. Ich befand mich in einem weiten Walde, wie man sie merkwürdiger Weise gerade an den Grenzen verschiedener Staaten hüben und drüben so häufig findet, als wenn die Regierungen den vielen und schweren Verbrechen, welche eben das Grenzverhältniß zu erzeugen pflegt, auch noch recht einen passenden Schauplatz und den Urhebern derselben einen sicheren, unzugänglichen Schlupfwinkel einräumen wollten.

Es war ein heller, warmer Frühlingsabend. Die Sonne stand schon tief am Horizont, gerade so tief, um von den belaubten Kronen der Bäume nicht mehr gehindert zu werden, ihre goldgelben Strahlen bis recht mitten, recht tief in den Wald hineinzuwerfen. Es bildeten sich wundervolle Licht- und Schattenpartieen unter den alten hohen Bäumen, zwischen dem jungen niedrigen Gebüsch. Das alte und das junge Volk freute sich auch hier in dem stillen, entlegenen hannoverisch-preußischen Grenzwalde der hellen, lustigen Sonnenstrahlen, und wenn ein dicker, alter, knorriger und knurriger Eichenstamm sie lange festgehalten, aber doch zuletzt ihnen nicht hatte wehren können, auf die Seite zu huschen und mit einer kleinen hübschen grünen Haselstaude oder mit den schneeweißen Blüthen eines jungen Kirschbäumchens zu spielen, dann meinte man ordentlich, die jungen Blätter und die frischen Blüthen vor Wonne in dem lauen, leisen Abendwinde sich schauern zu hören. Den armen kleinen jungen Dingern wurde es ja selten so wohl unter den hochmüthigen, dickbäuchigen Großen des Waldes.

[386] Ich hatte mich, seitab vom Wege, auf einen alten Baumstumpf gesetzt, um den schönen Frühlingswaldabend recht voll zu genießen. Ihr meint vielleicht, er sei wohl etwas zu poetisch gewesen für ein criminalistisches Gemüth? Ein Anderer erwidert Euch vielleicht darauf, ich sei ja damals noch jung gewesen.

Ach, was das Letztere betrifft, so gibt es kaum ein vertrockneteres Gemüth, als das eines jungen Criminalisten. Wo andere Menschen ein Herz haben, der junge Kaufmann selbst noch neben allen seinen Zahlen, Haupt- und Wechselbüchern, einfacher und doppelter Buchführung, da hat der junge Criminalist nur – eine Carrière, und erst im späteren Alter bekommt er, vielleicht, wieder ein etwas aufgethautes Herz.

Ich sah dem Spiele der immer goldener werdenden Sonnenstrahlen mit den alten und den jungen Bäumen zu. Rund umher war Alles tief still. Die Waldvögel schienen sich wohl schon zur Ruhe vorzubereiten. Andere Vögel, Raben und Krähen, die am Tage ihr Futter draußen in Feld und Wiese und bei den Menschen gesucht hatten, kehrten zurück, ihr Nachtlager in den dichten Zweigen der Bäume, fern von den Menschen, denen doch nicht zu trauen sei, zu suchen. Aber ihre sonst so geschwätzigen Stimmen waren verstummt und selbst ihr Flug war so leise, daß man ihn kaum über sich hören konnte; sie mußten sehr müde sein.

Ich wurde in meinen Betrachtungen der Natur unterbrochen. Etwas noch Poetischeres, etwas so recht tief und zugleich freundlich Poetisches unterbrach mich. Ein klarer, heller Gesang einer weiblichen[WS 1] Stimme schallte durch den Wald. Er nahete sich der Gegend, in der ich mich befand, und kam von der Seite der preußischen Grenze her. Die Sängerin mußte auf der Landstraße näher kommen, die durch den Wald führte, auf der auch ich gegangen war, und von der, etwa zwanzig bis dreißig Schritte seitab, ich mich auf den Baumstumpf gesetzt hatte.

Es war eine hübsche, frische, jugendliche Stimme. Sie sang so fröhlich und lustig, als wenn sie jedem Baume, jedem Stäudchen, jedem Blatte und jeder Blüthe im Walde ihre Freude und ihre Lust mittheilen wollte. Freilich mochte sie wohl nicht daran, sondern an etwas ganz Anderes denken.

Aber die Bäume, die vorhin neidisch die Sonnenstrahlen einander weggefangen hatten, schienen über den frischen Gesang aus der fröhlichen Mädchenbrust Neid und Eifersucht zu vergessen; es war, als wenn sie sich die Töne zuhauchten, immer weiter und weiter, damit Jedes sie vernehmen, sich daran erquicken solle. Der Gesang drang bis in die fernsten Tiefen des Waldes hinein.

„Zufriedenheit ist mein Vergnügen,
Das Andre laß ich Alles liegen
Und liebe die Zufriedenheit.
Und lieb’ und lieb' und lieb’ und lieb’
Und liebe die Zufriedenheit!“

Kennt Ihr die einfache, herzliche, lustige Melodie zu diesen Worten?

Ich lauschte mit den Bäumen und Zweigen und Blättern und Blüthen. Ich war neugierig wie sie, die Sängerin zu sehen. Endlich kam sie. Sie ging langsam und sah vor sich hin. Aber ihre Augen schweiften, wie suchend, überall im Walde umher. Mich hatte sie dennoch nicht gesehen. Auf meinem Baumstumpfe verbarg mich ein vor mir stehender breiter Baumstamm. Ich sah sie desto deutlicher.

Es war eine kleine, dralle, hübsche, außerordentlich behende Figur; eine von jenen Figuren, die ein junger Bursch, wenn er sie sieht, meint, in den Arm nehmen zu müssen, und die einem blasirten deutschen Jüngling das Blut in die Wangen und die Blasirtheit aus dem Herzen treiben könnte. Ihr Gesicht war wie Milch und Blut, ihre Augen wie ein neckisches Feuer. Aber besonders sprach eine kindliche, unschuldsvolle Gutmüthigkeit in dem hübschen, frischen Gesichte sich aus. Sie trug halb städtische, halb ländliche Kleidung, etwa wie ein Dienstmädchen von einem benachbarten Gute. Sie hatte trotz dem scharfen Umhersuchen ihrer feurigen Augen nicht blos mich, sondern auch etwas Anderes nicht gesehen. Ich hatte es bemerkt.

In gerade entgegengesetzter Richtung von ihr schritt ein Mensch nach der Gegend der Grenze zu. Er ging nicht auf der Landstraße, er hielt sich vielmehr jenseits derselben im Walde. Dort schlich er unter den Bäumen, leise und leicht. Er wollte offenbar gerade von dem Mädchen nicht gesehen sein, das seine Augen, wie ich, ungeachtet der Entfernung, deutlich glaubte wahrnehmen zu können, sorgsam wahrten. Er schien ein noch junger Mensch zu sein. Seine Kleidung war ebenfalls eine halb städtische, halb ländliche, als wenn er ein Knecht aus der Gegend wäre.

Als er in derselben Linie mit dem Mädchen war, ließ er dieses noch ein paar Schritte weiter gehen. Dann drehete er sich plötzlich um und schnell, wie ein Blitz, und eben so unhörbar schoß er aus dem Walde, unter den Bäumen hervor, auf die Landstraße, auf das Mädchen zu.

Sie sah und hörte ihn auch jetzt nicht und ging singend und suchend weiter.

„Und lieb’ und lieb’ und lieb’ und –“

Auf einmal verstummte ihr Gesang.

„Was ist denn das?“ rief sie.

Sie war von hinten umfaßt. Zwei Hände hatten sich auf ihre Augen gelegt; sie konnte nicht sehen, sie konnte nicht den Kopf, nicht die Arme, nicht den Körper rühren.

„Spitzbube, Du bist es!“ rief sie.

„Wer?“ fragte eine verstellte Stimme hinter ihr.

„Wirst Du mich auf der Stelle loslassen?“

„Eine solche Landläuferin!“

„Ich kratze Dir die Augen aus.“

Die verstellte Stimme lachte.

„Womit?“

„Nachher. Du wirst sehen.“

„Nun, das möchte ich sehen.“

Das sprach keine verstellte Stimme. Die umschlingenden Arme hatten sie losgelassen. Ein schmucker, hübscher Bursch stand lachend vor dem Mädchen.

„Angeführt, mein Mädchen!“

„Aber Deine Strafe bekommst Du, gottloser Bursche.“

„Nachher,“ sagte er jetzt.

Und er legte seinen Arm um sie und sie den ihrigen um ihn, und sie küßten sich herzhaft und herzlich. Als sie sich satt geküßt hatten, sagte der Bursch lachend:

„Nun meine Strafe; haben muß ich sie doch einmal, ich kenne Dich ja. Nachher können wir um so besser miteinander plaudern.“

Aber das Mädchen sah ihn ernst an und erwiderte:

„Diesmal soll sie Dir geschenkt sein. Ich habe Dir etwas Wichtiges und etwas recht Glückliches zu sagen.“

„Laß hören, mein Mädchen.“

„Mein Oheim war bei mir.“

„So? Und was wollte er?“

„Ich soll wieder zu ihm kommen.“

Das Gesicht des jungen Menschen nahm einen Ausdruck der Verstimmung an.

„Und das ist Dir ein Glück?“

„An dem Oheim ist mir auch nicht viel gelegen.“

„Ich kann ihn nicht ausstehen.“

„Aber meine Tante ist doch brav.“

„Gerade sie hat Dich damals fortgejagt.“

„Es reuet sie. Sie ist zuweilen heftig, aber sie hat ein gutes Herz. Ich soll wieder zu ihr kommen; sie hat den Oheim deshalb expreß zu mir geschickt.“

„So sagt er?“

„Wie könnte er es lügen?“

„Und Du gehst gern hin?“

„Es ist doch besser, als bei den fremden Leuten dienen. Sie sind so grob, so schlecht hier an der Grenze.“

„Du verläßt mich also auch gern?“

Der junge Mann fragte in bitterem Tone.

Das Mädchen wurde traurig. Aber doch zeigte sie durch ihre Trauer einen ruhigen, zuversichtlichen Muth.

„Fritz, so, wie jetzt, können wir auf die Dauer hier nicht beisammen bleiben. Du darfst nicht auf die andere Seite der Grenze kommen; die preußischen Beamten lauern auf Dich, wie auf ein wildes Thier, um Dich Jahre lang in das Zuchthaus zu schicken. Und ich kann mich nur verstohlen des Abends hier in den Wald schleichen, wenn ich Dich einmal sehen will.“

„Ja, es ist ein trauriges Leben,“ sagte der Bursch.

Und doch waren sie noch wenige Augenblicke vorher so lustig und fröhlich gewesen. Sie hatten gesungen; er hatte den Scherz mit ihr gemacht; sie hatten Beide gelacht, und umfaßt und geküßt hatten sie sich so herzlich und so glücklich, als wenn es für sie nimmer ein Leid in der Welt geben könne.

[387] War das das ruhige, edle Vertrauen der Unschuld? Oder war es ein, und dann schon tief eingewurzelter, Leichtsinn verbrecherischer Schuld?

Sie hatten vom Zuchthaus gesprochen! – Sie waren stehen geblieben und setzten ihr Gespräch fort. Das Mädchen hob wieder an.

„Und einmal muß es doch anders werden; und das kann es nur durch meine Tante. Nach Preußen darfst Du nicht zurück; Dein Leben hier in dem fremden Lande kannst Du so auch nicht fortsetzen. Meine Tante aber hat Vermögen und keine Kinder. Ihr Geld kann uns helfen; wir könnten damit überall Etwas anfangen.“

Ich sah auf einmal die Augen des jungen Mannes leuchten.

„Gretchen, ich habe da einen Gedanken.“

„Was ist es, Fritz?“

„Wann willst Du fort?“

„Mein Oheim wartet auf mich.“

„Also heute noch?“

„Heute Abend noch; wir werden die Nacht durch fahren. Aber was hattest Du?“

„Ich bringe Dich zur Grenze zurück. Unterwegs sage ich es Dir.“

Sie gingen Arm in Arm der Grenze zu. Von ihrem Gespräche hörte ich nichts mehr. Was ich gehört und gesehen, hatte mich interessirt: die hübschen, frischen Gestalten, das traurige und doch so glückliche Verhältniß Beider, ihr wahres Gefühl, besonders der klare, zuversichtliche Muth des Mädchens; dann aber auch wieder das Zuchthaus und daß der Bursch nicht nach Preußen zurückkommen dürfe, und daher der Zweifel, ob Schuld oder Unschuld. Und wenn Schuld, wenn verbrecherische Schuld da war, sollte sie, da der Bursch nicht nach Preußen zurückdurfte und die preußische Grenze hier zugleich die Grenze meines neuen Gerichtsbezirks bildete, sollte sie in dieser Beziehung nicht auch mich von nun an angehen?

Der Mensch ist ein Egoist und ein schlimmer Egoismus ist der bureaukratische.

Endlich, wenn Schuld da war, konnten dann nicht gar die letzten Worte, die ich gehört hatte, einen verbrecherischen Sinn haben, einen verbrecherischen Plan andeuten, den die Beiden jetzt im Weitergehen, während ich über die Worte nachdachte, weiter ausbildeten und verabredeten? Sie waren mir längst aus den Augen verschwunden, als ich noch diesen Gedanken nachhing.

Der Abend war hereingebrochen.

Wie der fröhliche Gesang des hübschen Mädchens verstummt war, so waren die Strahlen der Sonne verschwunden; im Walde herrschte nur das Dunkel und die Stille des Abends. Die alten und die jungen Bäume mit ihren Blättern und Blüthen hüllten sich in sie zum Schlafen. Ich verließ meinen Baumstumpf, schlug wieder die Landstraße ein und setzte meinen Weg fort. Ich mußte noch eine Zeitlang im Walde gehen. Es blieb still und einsam um mich her.

Auch von dem jungen Liebespaar sah und hörte ich nichts wieder. Der Bursch hätte zurückkommen müssen oder können. Er begegnete mir nicht. Dagegen hörte ich nach einiger Zeit im Galopp ein Pferd hinter mir herkommen. Ich war noch im Walde, gerade in einer Biegung der Landstraße. Ungefähr ein paar hundert Schritte vor mir war das Ende des Waldes. Ich hemmte meinen Schritt, um zu sehen, wer an mir vorübergaloppiren werde. Die Umrisse eines Reiters auf einem Pferde konnte ich hinter mir erkennen; mehr aber in der Dunkelheit der Bäume nicht. Allein auf einmal, als Pferd und Reiter neben mir waren, sah ich in dem Lichte, das aus der freien Ebene in die Landstraße hereindrang, auf einem großen, mageren, dunklen Pferde ein so häßliches, widerwärtiges Gesicht, daß ich, wäre es mir mitten im Walde begegnet, mich davor hätte erschrecken können. Es war breit; es schien mehr gelb, als blaß zu sein; es war von Blatternarben zerrissen; ein dichter, aufstehender, dunkler Schnurrbart theilte es; ein paar grünlich aussehende Augen fielen mit einem fast blendenden falschen Blitzen auf mich. So flog der Reiter an mir vorüber. Ich sah ihm noch überrascht nach.

Da kam um die Biegung des Weges mir ein Mensch entgegen. Als der den Reiter plötzlich vor sich sah, kam es mir vor, als wenn er erschrocken auf die Seite in den Wald hineinspringen wolle. Der Reiter, als er ihn gewahrte, wollte plötzlich sein Pferd anhalten; aber er besann sich anders und sprengte vorüber. Der Fußgänger sprang nicht in den Wald. Nach zehn Schritten begegnete er mir. Es war der Bursch Fritz, der mit dem hübschen Mädchen gesprochen hatte. Ich blieb bei ihm stehen.

„Wer war der Reiter?“ fragte ich ihn.

Ich glaubte, in seinem Gesichte noch Spuren von Erschrecken zu bemerken. Mich sah er mißtrauisch an.

„Ich kenne ihn nicht,“ antwortete er mir flüchtig und setzte, ohne sich bei mir aufzuhalten, seinen Weg fort.

Aus dem eigenthümlichen hastigen Tone seiner Stimme glaubte ich zu entnehmen, daß er den Menschen wohl kannte, aber irgend einen Grund hatte, dies nicht zu sagen.

Welcher war dieser Grund?

Wer war der Reiter mit dem häßlichen, Schrecken erregenden Gesichte?

An einer Landesgrenze haust allerlei Gesindel. – So nahete ich mich meinem neuen Gerichtsbezirke.

Als ich mit einer neuen Biegung der Landstraße aus dem Walde trat, sah ich etwa hundert Schritte weit vor mir links am Wege ein großes, einzeln stehendes Haus liegen. Ich ging darauf zu. In einer großen Stube sah ich durch die Fenster Licht. Vor der Thür stand ein Mensch, es schien ein Knecht zu sein.

„Ist dies ein Wirthshaus?“

„Ja“

„Noch auf hannoverschem oder schon auf preußischem Gebiete?“

„Noch im Hannoverschen. Die Grenze ist dort, dreißig Schritte weiter.“

„Kann man hier Nachtquartier finden?“

„Ich sollte denken. Gehen Sie in die Wirthsstube, Sie werden da die Frau Wirthin finden.“

Ich ging in das Haus. Die erleuchtete Stube war die Wirthsstube. Ich trat hinein. In der Stube fand ich die Wirthin und einen einzigen Fremden. Jene saß bei einer Lampe mit Nähen beschäftigt. Der Fremde saß an einem anderen langen Tische und hatte ein Glas Bier vor sich stehen.

Ich ließ mir von der Wirthin ebenfalls ein Glas Bier geben. Meine Absicht war, noch am Abend die preußische Grenze zu überschreiten, falls ich drüben in der Nähe ein convenables Wirthshaus finden werde. Hiernach wollte ich mich nun zunächst erkundigen.

„Die Grenze ist hier ganz in der Nähe?“ fragte ich die Wirthin.

„Ja, gleich hinter dem Garten des Hauses.“

„Wie weit ist das nächste preußische Dorf entfernt?“

„Eine starke halbe Stunde.“

„Trifft man vorher kein Wirthshaus?“

„Bis zu dem Dorfe ist nur Wald; er fängt gleich hinter der Grenze wieder an und in dem Walde ist kein Wirthshaus.“

„Dennoch führt die Landstraße hindurch?“

„Sie führt hindurch. Die preußische Regierung leidet keine Wirthshäuser in dem Walde und so dicht an der Grenze. Sie würden den Schleichhändlern zu sehr zum Schlupfwinkel dienen.“

„Ist hier viel Schleichhandel an der Grenze?“

„Wir bekümmern uns nicht darum.“

Die Frau sprach das mit Zurückhaltung. Sie schien weder mir noch dem andern Fremden zu trauen.

Ich setzte dennoch meinen Versuch fort, über die Verhältnisse der Gegend Auskunft zu erhalten.

„Es ist hier wohl oft unruhig an der Grenze?“ fragte ich die Frau weiter.

„Es fallen manchmal Streitigkeiten zwischen den preußischen Zollbeamten und den Schmugglern vor.“

„Sind die Schmuggler Preußen oder Hannoveraner?“

„Preußen. Es wird nur nach Preußen hereingeschmuggelt, wo Alles theurer ist. Sie haben da so viele Zölle und Steuern. Darum lebt das Volk da schlechter. Es ist auch schlechter drüben, als bei uns.“

„Und kein Hannoveraner nähme an dem Schleichhandel Theil?“

„Einige nichtswürdige Bursche abgerechnet, keiner. Gesindel findet sich überall.“

„Besonders an den Grenzen,“ bemerkte ich.

„Aber am meisten auf jener Seite,“ bemerkte dagegen fast eifrig die gute hannoversche Patriotin.

[388] Mir fiel der unheimliche Reiter ein, der an mir vorbeigeritten war. Der Fremde, den ich in der Wirthsstube traf, war es nicht. Dieser war ein Mann von mittler Statur, vielleicht einige dreißig Jahre alt, mit einem hübschen, feinen, blassen Gesichte. Das Gesicht hätte etwas Angenehmes gehabt, wenn nicht ein eigenthümlicher Zug um die ein wenig aufgeworfenen Lippen ihm einen zurückstoßenden Ausdruck verliehen hätte. Ich kann den Zug und den Ausdruck nicht näher beschreiben. Ich habe sie auch nicht oft in den menschlichen Gesichtern gesehen. Aber wo ich sie gesehen habe, sah ich ein schweres Verbrechen. Und nicht etwa blos der gefallene Mensch sprach sich darin aus, eine Natur vielmehr schien sich mir zu verrathen, die sich bewußt war, daß sie innerlich schon ausgestoßen sei aus der Gemeinschaft der Besseren, und nun Rache nehmen wollte, nehmen mußte für diese Ausstoßung, die fortan das Gute nicht mehr lieben konnte, die es dafür hassen, mit aller Kraft der Seele hassen wollte.

Das Nämliche schien im Hintergrunde der großen, dunkeln, melancholisch blickenden Augen des Mannes zu lauern.

Seinem Aeußern nach gehörte er übrigens dem mittlern Bürgerstande an. Er trug einen einfachen grauen Oberrock; eine blaue Tuchmütze und einen Stock, wie Bürgersleute ihn auf einer Reise über Land zu tragen pflegen, lagen neben ihm auf der Bank.

Ich hatte ihn anfangs nicht beachtet. Erst als die Frau von dem Gesindel an der Grenze sprach, hatte ich ihn plötzlich aufzucken sehen. Jetzt fiel er mir auf. Wie ich ihn genauer ansah, traf mich gleichzeitig ein scharfer Blick aus seinen melancholischen und doch so lauernden Augen. Sie stachen mißtrauisch nach mir hin, aber in dem Moment, in dem sie mir begegneten, senkten sie sich wie verwirrt, erschrocken zu Boden.

Ich hatte den Menschen nur prüfend angesehen, jenen plötzlich mir auffallenden Ausdruck studirend, wie sich der Criminalrichter den Inquisiten, den er zum ersten Male sieht, unwillkürlich prüfend und studirend betrachtet.

War er mit jenem erschreckenden Ausdrucke vor mir erschrocken? Und warum? Ich kannte ihn nicht; er konnte schwerlich mich kennen. Ich hatte ihn noch nie gesehen; er gewiß auch mich nicht. In irgend einer Beziehung zu mir konnte er gar nicht stehen. Hatte er eine Ahnung, daß er zu mir, dem ihm völlig Unbekannten, in so nahe und sein Schicksal so nahe berührende Beziehung treten werde?

Ich hatte ihn seitdem wiederholt in’s Auge fassen müssen. Jedesmal, wenn ich nach ihm hinschaute, bemerkte ich, wie sein Blick sich rasch vor dem meinigen niederschlug. Er hatte mich also angesehen, er hatte mich ansehen müssen, wenn ich nicht nach ihm sah. Er konnte mich nicht ansehen, wenn ich nach ihm sah.

Mir war in dem Gespräche mit der Wirthin der häßliche Reiter wieder eingefallen. Es lag nahe, daß ich mich nach ihm erkundigte.

„Ist hier nicht kurz vor mir Jemand zu Pferde eingetroffen?“ fragte ich die Frau.

Die Frau antwortete: „Nein.“

Aber der blasse Fremde hatte plötzlich, beinahe heftig, das Gesicht nach mir gewandt. Er sah mich so sonderbar an, als wenn der Reiter ihn angehe, und er von mir etwas zu erfahren hoffe.

„Es ist hier auch Niemand vorbeigeritten?“ fragte ich die Frau weiter.

„Ich habe keinen Menschen gesehen, auch kein Pferd gehört.“

Der Fremde horchte gespannt meinen Worten, wie denen der Wirthin; ich konnte es ihm ansehen, obwohl er sein Gesicht wieder halb von mir abgewandt hatte.

Ich setzte um so mehr meine Erkundigungen nach dem Reiter fort. Zwischen dem Fremden und dem Reiter mußte eine Beziehung bestehen. Der Fremde fürchtete eine Beziehung zwischen ihm und mir.

„Sonderbar,“ fuhr ich zu der Frau fort, „er ritt im Walde an mir vorüber, nicht gar weit von hier. Wenn er nicht hier vorbei kam, so muß er dicht vor dem Hause die Landstraße verlassen haben.“

Auch die Frau war aufmerksam geworden.

„Wie sah er aus?“ fragte sie.

„Er hatte ein breites Gesicht, Blatternarben, einen Schnurrbart.“

„Ich wüßte nicht, wer das sein könnte.“

„Er ritt ein großes, dunkles, mageres Pferd.“

Die Frau sann nach, aber sie schüttelte den Kopf, als wenn sie auf Pferd und Reiter sich nicht besinnen könne.

Der Knecht, den ich vor dem Hause getroffen, war während ihrer Fragen in die Stube getreten. Er hatte unser Gespräch angehört. Sie wandte sich an ihn.

„Hast Du den Menschen gesehen?“

„Es ist Keiner vorbeigekommen,“ antwortete der Knecht.

„Kannst Du Dich auch nicht besinnen, wer es sein könnte?“

„Nein. Aus der Gegend ist er nicht, sonst müßte ich ihn kennen.“

Der Knecht, der nur einen Schlüssel geholt hatte, ging wieder.

(Fortsetzung folgt.)




Erinnerungen an den Kaukasus.

Von einem russischen Officier.

Anapa, eine im Krimkriege oft genannte russische Festung in Kaukasien, wird den Lesern der Gartenlaube auch noch durch eine gelungene Abbildung, welche dieses Blatt in einem früheren Jahrgange brachte, in frischem Andenken sein. Die Stadt liegt vierzig Werste südlich von der Mündung des Kuban auf einem Kalksteinfelsen, welcher sich in das schwarze Meer halbkreisförmig hineindrängt, und fast senkrecht nach dem Meeresspiegel zu abfällt. Das Plateau, welches der Felsen bildet, senkt sich von Süden nach Norden hin, so zwar, daß sich seine höchste Stelle 19 Saschen[1] die niedrigste, von den Festungswerken gekrönt, nur noch 5 bis 6 Saschen über das Wasser erhebt. Hier sucht ein kleiner Fluß, der Bugùr, das Meer zu erreichen; aber es ist ihm nicht vergönnt, sein klares Wasser dem Pontus zuzuführen, denn neidische Sandbänke haben sich vor seiner Mündung gelagert, und hindern grausam die Vereinigung mit dem ersehnten Freunde. Trotzig sucht das Flüßchen, indem es sich in mehrere Arme theilt, den Feind zu umgehen, da es nicht die Kraft hat, seine Mitte zu durchbrechen, doch überall stellen sich neue Sandmassen entgegen. So unterliegt der Arme dem durch die Meeresfluthen täglich wechselnden Widersacher; nur ein kleiner Theil seiner Kräfte erreicht das Ziel, die größere Menge Wasser bleibt stehen und bildet einen Sumpf, der einen Umfang von mehr als zwei Wersten hat, während das Flüßchen hundert Schritt vor der Mündung seine Kräfte auf eine Breite von drei Saschen concentrirt. Früher war der Sumpf vielleicht ein Meerbusen, der nach und nach durch Sandbänke vom Meere abgeschnitten wurde. Die zuströmenden Wasser des Bugùr verhinderten das Austrocknen, und so erstreckt er sich jetzt an acht Werste weit landeinwärts, bewachsen mit Schilf und Rohr, und bevölkert von wilden Schweinen und allerhand Sumpfvögeln, besonders vielen Millionen wilder Enten. Am südlichen Ufer dieser morastigen Strecke haben Kleinrussen, aus verschiedenen Domänengütern abstammend, zwei Dörfer gebildet. Erdwälle und Gräben schützen nothdürftig gegen plötzliche Ueberfälle der benachbarten Tscherkessen. Einige Kanonen und in jedem Dorfe eine Compagnie Soldaten (350 Mann) sind jedoch nicht hinreichend zur Vertheidigung bei stärkeren Angriffen der kriegerischen Feinde, und deshalb ist jeder Bewohner, welcher die Waffen zu tragen im Stande ist, auch verpflichtet, solche zu besitzen, sie immer mit sich zu führen, und sogleich an der Vertheidigung Theil zu nehmen.

Das Anapa zunächst liegende Dorf heißt Alexejewka und liegt etwa vier Werste von ihm, das andere, Nikolajewka, bedeutend größer, ist am Ende des Sumpfes erbaut worden. Hier verwandelt sich der Morast in ein Dickicht von Eichen, Ahorn, Eschen, Weiden und vielen andern Bäumen, welche selten mehr als armsdick und höher als drei Saschen und dabei so von Hopfen, wildem Wein und andern Schlingpflanzen umschlungen

[389]

Aus dem russisch-tscherkessischen Kriege.

[390] und unter sich verbunden sind, daß es unmöglich ist, durch dasselbe anders, als auf den gebahnten Wegen, zu dringen. Bis zum Fort Rajewski zieht sich dieser Wald, dann wird die Gegend etwas heiterer. Geht man weiter, so trifft man auf die 1838 neu angelegte Stadt Noworossisk. Die Stadt ist anmuthig an einem vom Meer gebildeten Busen gebaut, ist der Sitz des Generals, aber auch nicht besser befestigt, als die Dörfer und das Fort Rajewski, ja letzteres kann sogar mehr Anspruch auf Sturmfreiheit machen. Die Festungswerke dieses Forts umfassen einen viereckigen Raum, dessen Seiten kaum einige hundert Schritt lang sind. Es hat 1 Compagnie Infanterie zur Besatzung, sowie 16 Kanonen zur Vertheidigung. Auf halbem Wege zwischen Anapa und Noworossisk gelegen, umgeben von Wald und Sumpf, ist die Garnison oft Monate lang von allem Verkehr mit der übrigen Welt abgeschlossen. Aus dem von den Wällen begrenzten engen Raum, den Kasernen, Lazareth und Proviantmagazine noch mehr verringern, darf keine Seele hinaus, und so ist es natürlich, daß das ungesunde Klima bei der unzureichenden Bewegung und dem langweiligen, keine Abwechselung erlaubenden Leben Fieber und Scorbut nicht ausbleiben läßt. Ein Freudentag für die Garnison ist es immer, wenn die Proviantcolonne von Anapa ankommt; aber nur kurze Zeit genießen sie das Vergnügen, die Freunde zu sehen, denn diese kommen Abends, geben ihren Proviant, Pulver, Briefe u. s. w. ab, schlafen die Nacht und ziehen am andern Morgen wieder von dannen.

Etwas besser ist das Leben für die Soldaten, welche in den Städten und Dörfern einquartiert sind. Ihre Aufgabe ist, den Bauer bei allen Feldarbeiten gegen etwaige Angriffe des grausamen Feindes zu schützen. So wie im Frühjahr die Erde aufthaut – und das geschieht recht früh – so beginnen die Feldarbeiten der Bauern. Mit diesen rückt denn frühmorgens der Soldat aus, kleine Trupps werden in gehöriger Entfernung von den Arbeitern aufgestellt, und bleiben so lange, als der Bauer das Feld bestellt oder sein Vieh weidet oder Heu macht u. dgl., stehen. Einer von jedem Trupp wacht, die Andern schlafen oder, da man doch nicht den ganzen Tag schlafen kann, spielen Karte und verwünschen den Bauer. So geht das Leben bis zum Winter fort, und wenn dieses Leben auch besser ist, als das im Fort Rajewski, da man doch wenigstens eine gesunde Bewegung hat, auch die benachbarten Orte und Städte besuchen kann, so ist es doch erklärlich, daß man den Winter mit Sehnsucht erwartet.

Der Winter im Kaukasus erscheint freilich in ganz anderer Gestalt, als in den nördlichen Provinzen. Erst in der Mitte des Decembers tritt der Frost ein, der wohl ziemlich heftig auftritt, aber kaum einen Monat anhält. Vor und nach der Frostzeit pflegen häufige Regengüsse den Winter an- und abzumelden. Natürlich können während dieser Zeit die transkubanischen Bauern nicht im Felde arbeiten, und deshalb benutzt man den Frostmonat, um durch kriegerische Operationen irgend einen Vortheil über die Bergvölker zu gewinnen. Jetzt beginnt erst die eigentliche Bestimmung des Soldaten am Kaukasus, der Krieg gegen die räuberischen Nachbarn.

Man wird es begreiflich finden, daß wir, die wir das oben beschriebene Leben während des Frühlings, Sommers und Herbstes im Jahre 1851 geführt hatten, uns Alle nach der Frostzeit und nach dem Befehl zum Ausmarsch sehnten, aber wir mußten dieses Mal ziemlich lange auf die erwünschte Ordre, „uns zum Marsch zu rüsten,“ warten. Endlich, am letzten Tage des alten Jahres, traf diese ein. Unbeschreiblich war die Veränderung, welche dieser Befehl in unserer Garnison hervorbrachte. Wie wenn man einem bis dahin in Ordnung und Ruhe arbeitenden Ameisenvolke den schützenden Hügel zerstört und die emsigen Thierchen dadurch zu unerhörter Thätigkeit anspornt, so lief jetzt Alles, was Uniform trug, durcheinander. Die schmutzigen Straßen Nikolajewka’s, sonst so menschenleer, waren plötzlich mit geschäftigen Leuten bedeckt.

Die Expedition für dieses Jahr sollte eine s. g. fliegende sein; man wollte möglichst weit in die vom Feinde bewohnten Gegenden eindringen, mußte aber deshalb sich auf so wenig Gepäck als irgend möglich einschränken. Man ließ deshalb alle Zelte zu Hause und nahm nicht einmal Proviantwagen mit, sondern gab jedem Soldaten seinen Mundvorrath auf 10 Tage – denn so lange sollte der Marsch dauern – zu tragen. Nur zwei leere mit Ochsen bespannte Wagen folgten jeder Compagnie, um etwaige Verwundete transportiren zu können. Wir wußten zwar sehr gut, daß uns Mühseligkeiten und Gefahren aller Art bevorständen, aber dennoch freute sich Alles auf den Tag des Ausmarsches, denn es brachte doch Abwechselung in unser einförmiges Leben. Läßt doch auch jeder Feldzug, und wenn er noch so kurz ist, dem Soldaten auf lange Zeit die schönsten Erinnerungen zurück, und gibt er doch oft dem strebsamen Officier Gelegenheit, sich auszuzeichnen und so seinem Glück den Weg zu weisen.

Am 3. Januar 1852 trafen ein Kosakenregiment, zwei Bataillone aus Anapa und die Compagnie aus Alexejewka bei uns in Nikolajewka ein, um vereint mit uns noch denselben Tag bis zum Fort Rajewski zu marschiren. Die Cameraden trafen uns bereits in Reih und Glied, der griechische Priester sprach ein kurzes Gebet, die zitternden Töne der Signalhörner schallten durch die Luft, und fort zogen wir scherzend und lachend, als ginge es zu einem lustigen Vergnügen. Und doch mag Manchem das Herz geschlagen haben, wenn er sich jetzt fragte: „Wirst Du wohl auch wiederkehren, und wie wirst Du zurückkehren?“ Aber solche Gedanken passen nicht für den Soldaten; er sucht sie zu verbergen, und so gelingt es auch bald, sie zu unterdrücken. Der Marsch ging ziemlich langsam von Statten, denn die Wege waren durch den Regen, der vor einigen Tagen eingetreten war, aufgeweicht; jetzt fror es, und so brach der Fuß bei jedem Schritt durch die dünne Frostdecke, wobei das schmutzige Wasser immer über den Füßen zusammenschlug. An den Rädern der Wagen und Kanonen fror der hängenbleibende Schmutz, und bildete aus dem Kreise unregelmäßige Polygone.

Trotz der nur 18 Werste betragenden Entfernung langten wir unter solchen Umständen erst Abends im Fort Rajewski an. Ein Landsmann, der deutsche Arzt Kühn, nahm mich mit noch vielen anderen Officieren gastfreundlich auf. Wir waren froh, uns in der lieben Muttersprache unterhalten zu können, und beachteten nicht den Aerger der Anderen, die weder deutsch noch lettisch verstanden. Am andern Tage wurde der Marsch nach dem 20 Werste entfernten Noworossisk auf gefrornem, aber sehr holperigem Wege fortgesetzt. Bei Nacht trafen wir ein und wurden, wie es gerade traf, einquartiert, doch kamen Alle unter Dach. Weshalb wir den nächsten Tag hier liegen blieben, weiß ich nicht, doch benutzte ich diese Gelegenheit, um mich mit gesalzenem und geräuchertem Fleische, mit Tabak u. dgl. zu versehen, da alle diese Gegenstände in Nikolajewka nur theuer und schlecht zu bekommen waren. Gern hätte ich auch etwas Hafer für mein Pferd mitgenommen, aber das arme Thier hatte an mir und meinem Mundvorrath genug zu tragen, ich konnte es nicht noch mehr überladen.

Früh in aller Stille brachen wir auf. Unsere Colonne hatte sich in Noworossisk um drei Bataillone Infanterie, zwei Compagnies vom griechisch-balaklavischen Bataillon und ein Regiment Kosaken verstärkt, so daß wir jetzt eine Macht von 6–7000 Mann mit 17 Kanonen bildeten. Anfänglich zogen wir längs des Meerbusens hin, bald jedoch stieg der Weg im Zickzack den Berg hinauf. Nach sieben solchen Windungen hatten wir den Gipfel erstiegen. Unter uns schwebten die Wolken, welche so dicht waren, daß man weder die Stadt, noch den Meerbusen sehen konnte. Auf der andern Seite stiegen wir wieder in das Thal eines Baches hinab, den die Einwohner Adagum nennen. War das Aufsteigen beschwerlich gewesen, so war es das Hinabsteigen noch mehr, obgleich der Weg durch unsere Noworossiskischen Cameraden so viel als möglich geebnet worden war. Wie ein solcher Weg aussieht, hat die Gartenlaube im vorigen Jahre ihren Lesern gezeigt, denn sie gab eine Abbildung von einem Gebirgspaß in Persien, der den Wegen im Kaukasus ganz ähnlich war.

In dem Thale wurde Halt gemacht. Alles lagerte sich und begann, von den mitgenommenen Lebensmitteln sich ein Frühstück zusammenzustellen. Es war der erste Tag und alle Vorräthe noch unberührt, auch war es die letzte Ruhe, welche wir, vom Feinde unbelästigt und ohne besondere Vorsichtsmaßregeln abhalten konnten. Mit jedem Schritt tiefer in das Land mußten wir dann jeden Augenblick einen Ueberfall des Feindes befürchten, und deshalb wurden auch jetzt die nöthigen taktischen Maßregeln getroffen, um wenigstens eine Ueberraschung dem Gegner unmöglich zu machen. Auf dem Wege marschirten etwa drei Viertheile der ganzen Macht dicht aufgeschlossen, das sogenannte Corps de bataille, in dessen Mitte sich auch sämmtliche Wagen befanden. Vor diesem Gros befand sich eine Abtheilung Kosaken und Infanterie, welche wieder einige Reiter auf Schußweite vorgeschoben hatten. In gleicher [391] Weise war der Rücken der Colonne gedeckt, während die Seiten durch Tirailleurketten, gleichfalls auf Schußweite vom Gros entfernt, geschützt wurden.

So bewegte sich der ganze Heereskörper weiter, vorsichtig die Fühlhörner nach allen Seiten hin ausstreckend und damit aufmerksam jede Terrainfalte prüfend, jedes Gebüsch durchsuchend. Freilich haben diese Seitentirailleurs einen beschwerlichen Marsch. Sie haben nicht, wie das Gros, einen gebahnten Weg, sie haben nicht einmal einen Fußpfad, und doch müssen sie mit diesem auf gleicher Höhe bleiben. Durch Wasser und Sumpf, durch Busch und Dickicht, über Felsblöcke und Abgründe, die steilsten Schluchten hinab und herauf geht der Marsch dieser Leute, und dabei heißt es noch, die Augen nach dem Feinde offen haben, der gewandt jedes Gebüsch, jede Felspartie, jeden Graben zu benutzen weiß, um den Unvorsichtigen die todtbringende Kugel in’s Herz zu treiben. Deshalb geht auch Alles vorsichtig vor und benutzt die sich darbietenden deckenden Gegenstände, um unter deren Schutz weiter zu kommen. Kommen sie Abends auch todtmüde im Lager an, was thut das? sie wissen, daß sie dann für die Nacht vom Sicherheitsdienste befreit sind und daß ihnen ein guter Schnaps, ihr Universalmittel gegen jedes Uebel, winkt. Deshalb bleiben die Tirailleurs munter, singen und tanzen sogar manchmal, wo es der Platz erlaubt, trotz des schweren Tornisters, und treiben allerhand Possen unter einander.

Noch hat sich kein Feind sehen lassen und auch in dem Walde, durch welchen eben der Marsch geht, scheint kein Tscherkesse versteckt zu sein. Da plötzlich entdecken die Tirailleurs hinter jener Baumgruppe eine Anzahl Feinde, von denen sie, wie es scheint, schon eine Zeitlang beobachtet worden sind. Noch fällt kein Schuß; es ist, als fürchte man sich, die Verantwortung zu übernehmen, da endlich schwirrt die erste Kugel durch die Luft, der Zauber ist gelöst und herüber und hinüber schlägt das Verderben bringende Blei. Es ist ein eigenes Ding um diesen ersten Schuß. Ich habe schon oft im stärksten Kugelfeuer gestanden und doch erweckt mir der erste Schuß stets ein unangenehmes Gefühl. Ein Frösteln durchläuft den ganzen Körper; man weiß, daß der erste Schritt gethan ist, sowohl um Verderben zu senden, als es zu empfangen. Hinter Bäumen und Felsen liegen die Schützen, aufmerksam den Feind im Auge behaltend, um ihn, wenn einer einen Theil seines Körpers neben dem deckenden Gegenstände sehen läßt, durch eine gut gezielte Kugel unschädlich zu machen.

Auch beim Gros hat der erste Schuß großen Eindruck gemacht. „Halt!“ tönt das Commando der Führer, das Signalhorn ruft es lautschallend nach; bald fliegen Adjutanten zu der Schützenlinie, um Nachricht über den Gang des Gefechtes zu bringen, und schon gehen Abtheilungen nach dem am meisten bedrohten Flügel zur Unterstützung der Kämpfenden ab. Alles lauscht auf das immer stärker werdende Tirailleurfeuer. Einzelne Commandoworte und Signale tönen zu der Colonne herüber, aber so undeutlich, daß man nur unklare Töne unterscheiden kann. Lebhaft rühren sich die Zungen, denen noch vor einer Viertelstunde alles laute Sprechen untersagt war, und hundert Verwünschungen, an dem Kampfe nicht selbst theilnehmen zu können, werden von den Ungeduldigen ausgestoßen. Das immer um so heftiger wiederkehrende Knattern der Schüsse nach minutenlangen Pausen, wie sie im Schützengefechte vorzukommen pflegen, wird stets mit freudigen Ausrufen begrüßt.

Doch jetzt bringt man die ersten Verwundeten getragen. Auf zwei Gewehren liegt ein Soldat, dem eine feindliche Kugel das Kinn zerschmettert hat; leise wimmert er, ihm scheinen nur noch wenige Minuten zum Leben übrig zu bleiben. Der traurige Anblick setzt die Soldaten nur noch mehr in Wuth und laute Verwünschungen ergießen sich gegen die verhaßten Feinde. Da schallt das Commando „Marsch!“ die Colonne bewegt sich wieder vorwärts, eingehüllt auf allen vier Seiten von einer rauch- und feuerspeienden Linie. Mit großer Gewandtheit springen die Tirailleurs von einem Baume zum andern, von Gräben zu Felsen, überall einen Augenblick verweilend, um gedeckt zu laden und dem Feinde eine Kugel zuzusenden. Trotz der Gefahr lassen sie oft auch jetzt ihre Possen nicht. Sie necken sich unter einander und necken den Feind, und wenn ja eine feindliche Kugel Einem oder dem Andern das Scherzen verbietet, so verstummt zwar plötzlich Alles, man bringt den Verwundeten zur Colonne, übergibt ihn dem Arzte, kehrt aber gleich darauf zur Schützenlinie zurück, um die alten Possen von Neuem anzufangen.

So wird der Marsch fortgesetzt unter dem unaufhörlichen Geknatter der Gewehre, dann und wann accompagnirt durch den tiefen Baß eines Geschützes, das dahin, wo der Feind am dichtesten steht, eine Sendung Kartätschen oder eine Granate schickt. Durchschreitet die Colonne ein feindliches Dorf, so sucht man das darin von den flüchtigen Einwohnern etwa zurückgelassene Vieh zum Gros zu treiben und zündet dann die Hütten an. Es scheint zwar eine unnütze Grausamkeit zu sein, die Dörfer wegzubrennen, die Felder zu verwüsten, die Vorräthe zu zerstören, aber bleibt uns dem barbarischen Feinde gegenüber ein anderes Mittel? Schon oft hat man den Krieg mit mehr Menschlichkeit zu führen gesucht, doch stets haben die Bergvölker die Milde für Schwäche gehalten und um so frecher, um so mordgieriger unsere Ansiedelungen überfallen und zerstört. Erhalten die Tscherkessen jedoch eine scharfe Lehre, wie wir sie in diesem Jahre vorhatten, so kann man darauf rechnen, daß sie eine Zeitlang ruhig bleiben. Hier hilft nur Gewalt, ebenso wie bei den Beduinen in Algier.

Unterdessen hat sich der Tag seinem Ende zugeneigt. Man sucht einen passenden Lagerplatz, womöglich in der Nähe eines Dorfes, um Wasser und Holz, Heu und Stroh für Menschen und Pferde vorzufinden. Die Wagen werden in der Mitte des Platzes zusammengefahren und die Truppen lagern im Viereck um diese herum. Das Ganze schließt in geeigneter Entfernung eine dichte Tirailleurlinie ein, welche aus Truppen des Gros besteht, während die den Tag über zur Deckung der Colonne verwendeten Leute endlich abgelöst sind. Wenige Minuten nach dem Einrücken lodern die Feuer in die Höhe, geschäftig laufen die Soldaten nach dem Wasser, füllen ihre Kochkessel und bald ist das frugale Abendbrod bereitet, um ebenso schnell von den Hungrigen verzehrt zu sein. Die Feuer werden dann sogleich wieder gelöscht, da man dem nie nachlassenden Feinde kein zu leichtes Ziel bieten will, die Soldaten werfen sich auf das wenige Stroh, das ihnen zu Theil geworden ist, und bald liegt Alles im tiefsten Schlafe, Gott und der Wachsamkeit der Tirailleurs überlassend, für ihre Sicherheit zu sorgen.

Todtmüde war auch ich in diesem improvisirten Lager angekommen. Ich war den ganzen Tag über bei den Tirailleurs gewesen und hatte während der ganzen Zeit keinen Augenblick an Erholung denken können. Ich suchte mein Pferd auf, tränkte es und war so glücklich, in dem tscherkessischen Dorfe genug Heu, ja sogar etwas Mais zu finden, welches ich natürlich sogleich als gute Beute erklärte und dem hungrigen Thiere vorwarf. Ein einfaches Abendessen war bald von mir verzehrt und wie todt sank ich jetzt zur Erde. Mein Schlaf muß recht fest gewesen sein, denn vergebens hatte man mir des Nachts zugerufen, mein Feuer zu löschen, bis man es selbst gethan hatte. Auch davon, daß die ganze Nacht hindurch das Feuern in der Schützenlinie nicht einen Augenblick geschwiegen, daß man sogar mit Kanonen geschossen hatte, wußte ich nichts.

Am andern Morgen wurde rasch ein Frühstück bereitet und die nächtliche Postenlinie durch frische Truppen abgelöst. Bevor wir jedoch aus dem Lager abmarschirten, flogen erst die zündenden Feuerbrände in das Dorf. Der Marsch wurde in derselben Ordnung, wie am vorigen Tage, fortgesetzt, doch war ich heute nicht in der Tirailleurlinie, sondern beim Gros, das nur wenig’ Belästigung von dem Feinde zu leiden hat und selten handelnd in das Gefecht eingreift. Schon am Abend vorher hatten wir das Gebirge verlassen und traten jetzt in die fruchtbare Ebene, welche sich zwischen der kaukasischen Gebirgskette und dem Kuban ausdehnt. Kleinere Eichenhaine und größere Waldungen wechselten mit Wiesen und Feldern, die Dörfer wurden zahlreicher und zeigten von der Wohlhabenheit ihrer Bewohner. Noch nie hatte ein russischer Fuß diesen Boden betreten und daher kam es auch, daß die noch nicht durch Razzias heimgesuchten Dörfer besser gebaut waren und reichlichere Vorräthe enthielten, als die in der Nähe russischer Festungen liegenden.

Wir lagerten uns bei einem Dorfe, das malerisch schön auf einem hohen Hügel lag. Ein klarer Bach umfloß denselben von drei Seiten und umfaßte ihn wie mit einem Silbergürtel. Weithin blickte das Auge in die flache Ebene und nur im Süden hinderte das Gebirge die Fernsicht. Felder und Wiesen, Dörfer und Waldungen [392] wechselten anmuthig mit einander ab und müssen im Sommer ein herrliches Landschaftsbild gegeben haben. So reizend auch dieser Anblick war, der Soldat sah doch wenig danach, denn die durch einen den ganzen Tag anhaltenden Marsch und das an die sechzig Pfund und oft noch schwerer wiegende Gepäck ermüdeten Leute finden einen dampfenden Thee, ein Stück Fleisch und die horizontale Lage des Körpers viel schöner, als die prächtigste Rundsicht. Wir Officiere waren durch unsern von uns Allen geliebten Oberst für die Dauer des ganzen Marsches zum Essen eingeladen. So hatten sich auch gestern mehrere Cameraden bei ihm eingefunden, aber viele, wie auch ich, waren der übergroßen Ermüdung wegen ausgeblieben. Heute jedoch versammelten sich Alle bei ihm und heiterer Sinn würzte das einfache Mahl. So vergingen mehrere Stunden, bis der Oberst erklärte, daß es Zeit sei, durch Ruhe den Körper zu neuen Anstrengungen für den morgenden Tag zu stärken.

(Schluß folgt.)




Aerztliche Strafpredigten.
Den hoffenden Frauen.

Noch ehe ein Kind das Licht der Welt erblickt, hat schon dessen Mutter heilige Pflichten gegen dasselbe zu beobachten und zu erfüllen. Denn schon vor seiner Geburt kann der Mensch für sein ganzes Leben durch eine unzweckmäßige Lebensweise seiner Ernährerin vollständig oder doch zum Theil untauglich zur Erreichung von solchen körperlichen und geistigen Fähigkeiten gemacht werden, die den Menschen so hoch über das Thier erheben. Daß so viele Kinder todt oder doch krank und lebensschwach zur Welt kommen, daß so viele bald nach ihrer Geburt erkranken und sterben, daß eine so große Menge von Menschen zeitlebens siechen und vorzeitig sterben, findet in sehr vielen Fällen seinen Grund nur in einem unzweckmäßigen Verhalten der Mutter vor der Geburt ihrer Kinder. Daß sich aber die meisten Frauen während dieser Zeit so arge Verstöße gegen ihr eigenes Fleisch und Blut zu Schulden kommen lassen, darüber braucht man sich nicht zu wundern, da nur sehr wenige Frauen über die Wichtigkeit ihres Berufes nachgedacht oder sich gar dazu vorgebildet haben.

Man beobachte nur das Thun und Treiben von vielen Frauen, denen der Segen zu Theil wurde, bald Mutter zu werden. Anstatt jetzt auf ihre eigene Gesundheit doppelte Aufmerksamkeit zu verwenden und für das Kind, dem sie das Leben geben sollen, ängstlich Sorge zu tragen, leben sie sorglos und ohne sich nur das Geringste von ihren gewohnten Vergnügungen und Gelüsten versagen zu können, in den Tag hinein. Da wird noch bis tief in die Nacht in viel zu leichter und zu enger Kleidung getanzt und geschmaußt; da müssen trotz Kälte und Nässe die Füßchen in dünnen Strümpfen und Schuhen frieren; da soll die Taille noch lange eine jungfräuliche Schmächtigkeit heucheln; da läßt man den verschiedensten Leidenschaften und der Leidenschaftlichkeit erst recht den Zügel schießen. Kurz es ist ein Jammer, wenn man unsere Nachkommen, die doch immer besser und vollkommner als wir Jetztmenschen werden sollten, schon im Keime verderben sehen muß; wenn man die einem tugendhaften Weibe süßesten Hoffnungen in einer Nacht leichtsinnig hinweggetanzt oder nach dem Ausbruche eines leidenschaftlichen Gemüths durch zu frühe Niederkunft alle Hoffnungen der Zukunft grausam vernichtet sieht. Man möchte es wirklich für ein Glück halten, daß viele Frauen, aber nur ihrer Schwächlichkeit wegen, das Unglück haben, einen großen Theil der Zeit ihrer Hoffnung von Beschwerden befallen zu werden, die sie an das Zimmer und eine vernünftige Lebensweise bindet. Denn das glaube man ja nicht etwa, daß die Schwangerschaft eine Krankheit sei und daß die damit verbundenen Erscheinungen von Unwohlsein bestimmten Arzneimitteln weichen könnten.

Da dem jungen, noch nicht gebornen Weltbürger vor Allem Raum zu seinem ziemlich schnellen Wachsthume nöthig ist, so muß es auch die erste Pflicht einer Mutter sein, diesem Wachsthume und der Entwickelung der kindlichen Organe nicht hindernd in den Weg zu treten. Deshalb darf die Kleidung der Mutter, zumal in der Gegend der Taille, nicht beengend, sondern sie muß stets der Körperform genau angepaßt und auch gehörig erwärmend sein. Festes Schnüren und der Druck des (besonders eisernen) Planchette’s, sowie straffes Binden der Kleidungsstücke in der Taillengegend hat nicht selten zur Bildung von Mißgeburten und schwächlichen, erbärmlichen Kindern Veranlassung gegeben. Außerdem wird ja aber durch eine enge, Brust und Bauch einpressende Kleidung nicht blos auf die Entwickelung des Kindes, sondern auch noch auf die Verrichtungen der Brust- und Unterleibsorgane der Mutter ein nachtheiliger Einfluß ausgeübt. Erschwertes Athemholen, Beängstigungen, Herzpochen, Verdauungsstörungen, Verkümmerung der zur Ernährung des Kindes bestimmten Brüste sind die gewöhnlichsten Folgen enger Bekleidung. Dagegen gewährt ein einfaches, weiches (für den Sommer aus doppelter Leinwand, für den Winter aus Barchent gefertigtes) Leibchen, welches über den ganzen Unterleib hinweggeht, oder auch eine passende Leibbinde große Erleichterung.

Es kann das Kind nun aber nur dann bis zu seiner Geburt ordentlich wachsen und sich vollständig ausbilden, wenn es die gehörige Menge einer zweckmäßigen Nahrung erhält. Diese wird ihm aber (und zwar direct in sein Blut hinein, nicht etwa in den Magen) durch das Blut der Mutter zugeführt und deshalb ist wieder die richtige Ernährung des mütterlichen Blutes zum Gedeihen des Kindes ganz unentbehrlich. Eine richtige Nahrung für die Mutter ist aber diejenige, welche nicht blos nahrhaft, sondern auch leicht verdaulich ist, die also nicht blos die nöthigen Materialien zum Aufbaue unseres Körpers in sich enthält, sondern die im Verdauungsapparate bald aufgelöst und von da in’s Blut geschafft wird. Vorerst sind deshalb hoffnungsvolle Mütter vor wiederholter Ueberladung des Magens und vor Unregelmäßigkeit im Essen und Trinken zu warnen, weil hierdurch leicht die Verdauung auf längere Zeit gestört werden kann. Mäßigkeit und Regelmäßigkeit in dieser Beziehung kommt Mutter und Kind zu Gute. Auch ist die Art zu essen nicht ohne Einfluß auf die Verdauung; alles Feste, zumal Fleisch, muß hübsch klein geschnitten und tüchtig zerkaut, nicht aber eilig, in großen Stücken unzerkaut verschluckt werden. Was die Speisen und Getränke selbst betrifft, so sind reizende und erhitzende, zumal solche, die stärkeres Herzklopfen veranlassen (wie starker Kaffee und Thee, Spirituosa, Gewürze etc.), sowie schwer verdauliche, blähende und urintreibende (Sellerie, Spargel, Petersilie, Kohlarten, ältere Gemüse, Geräuchertes, sehr Hartes und Fettes etc.) wo möglich zu vermeiden, dagegen Milch-, Eier-, Mehl- und Fleischspeisen mit jungem, verdaulichem Gemüse und Obst, als Getränk aber Wasser, Milch und leichtes Bier zu empfehlen. Sollte gegen gewisse Speisen und Getränke eine ungewöhnliche Abneigung vorhanden sein, dann vermeide man dieselben. Gelüste nach unpassender Nahrung sind bei gut erzogenen Frauen äußerst selten und leicht zu besiegen. – Der Stuhlgang ist stets, wenn nöthig durch Klystiere (nicht aber durch Abführmittel), in Ordnung zu halten, dem Drange zum Entleeren des Urins stets Folge zu leisten, nicht gewaltsam entgegen zu treten.

Der Zusammenhang des Kindes mit der Mutter ist zwar ein sehr inniger, trotzdem aber doch auch ein sehr leicht löslicher. Deshalb müssen sich Mütter vor Allem hüten, was dieses Band lockern und lösen könnte. Dahin gehören aber außer Stoß und Druck des Leibes: alle stärkeren und rascheren Bewegungen des Körpers, als Springen, Laufen, Tanzen, Reiten, schnelles Treppen-Auf- und Abrennen; sodann das Tragen und Aufheben schwerer Gegenstände, schnelles und anhaltendes tiefes Bücken und Niederkauern, sehr lautes Lachen und Rufen, hohes Aufheben der Arme, Fahren in stoßendem Wagen und auf holprigem Wege. Wie viele junge Frauen im hoffnungsvollsten Zustande haben nicht sich und ihrem Kinde durch eine Fahrlässigkeit in dieser Hinsicht geschadet! Am öftersten ist dies aber in den ersten vier Monaten ihrer Hoffnung geschehen, weil es da am leichtesten zu einer Fehlgeburt (Abortus, Fausse-couche) kommen kann.

Daß das körperliche und geistige Wohlsein und Unwohlsein [393] der Mutter auf das innig mit dem mütterlichen Körper verbundene Kind guten oder nachtheiligen Einfluß ausüben muß, läßt sich wohl denken, und es ist sonach Pflicht einer jeden Mutter, wenn sie einem gesunden Kinde das Leben schenken will, zunächst ihr eigenes Wohl gehörig im Auge zu haben. – Wenn wir von geistigem Wohl- und Unwohlsein sprechen, so meinen wir damit das naturgemäße und naturwidrige Anregen und Vorsichgehen der durch das Gehirn, die Sinne und die Nerven vermittelten Thätigkeiten, vorzugsweise der Gemüthsthätigkeit. Wie ein einziger Sturm nicht selten die Hoffnungen eines ganzen Sommers von den Bäumen wirft, so zerstört oft blitzesschnell ein einziger Ausbruch irgend einer heftigen Leidenschaft die lang gepflogenen Hoffnungen der jungen Gattin. Und wo gar im Gemüthe derselben ein Sturm von Leidenschaften den andern treibt, wo anstatt eines sanftmüthigen und ruhigen Betragens Leidenschaftlichkeit und Unart das Herz bewegt, da wird die Gesundheit des Kindes und der Mutter für immer oder doch für lange Zeit untergraben. Alle Leidenschaften (Zorn, Furcht, Traurigkeit, Haß, Neid, Eifersucht) haben einen unermeßlich schädlichen Einfluß auf den kindlichen und mütterlichen Körper, wie überhaupt Alles, was sogen. Wallungen (stärkeres Herzklopfen) verursacht. Der gesteigerten Erregbarkeit des Nervensystems wegen verlangt dieses mehr Schonung als sonst, und deshalb ist auch vor dem Anblicke abscheuerregender Gegenstände, vor Schreck, starken Sinneseindrücken und Reizmitteln, ebenso aber auch vor Empfindelei und Schwärmerei zu warnen. Ruhe des Geistes und Gemüthes, Heiterkeit und Zufriedenheit, das sind die jeder in Hoffnung lebenden Frau nicht dringend genug anzurathenden Schutzmittel vor späterem Gram.

Das körperliche Wohl der Mutter wird wesentlich unterstützt: durch tägliche, aber mäßige Leibesbewegung im Freien und im Hause, sowie durch passende Ruhe (Schlaf). Man glaube ja nicht etwa, daß fortwährende behagliche Ruhe und Nichtsthun dem Kinde gute Früchte bringe. Es ist weit besser, wenn eine Frau leichtere häusliche Geschäfte besorgt und öfters ausgeht, als wenn sie ruhig zu Hause auf dem Stuhle sitzt oder auf dem Sopha liegt. Auch das zu lange und häufige Schlafen taugt nichts. – Daß Bäder jedem Menschen zum Gesundbleiben nöthig sind, wird täglich mehr und mehr anerkannt; ganz vorzügliche Dienste leisten sie aber den in der Hoffnung lebenden Frauen. Alle 8 bis 14 Tage sollten diese ein mäßig warmes Bad (von + 24–28° R.) nehmen. Nur Frauen, die schon an kaltes Waschen und Baden gewöhnt sind, können dasselbe, aber stets mit großer Vorsicht und Vermeidung von Erkältung fortsetzen; keinenfalls jedoch darf damit in der Zeit der Schwangerschaft begonnen werden. Ueberhaupt haben sich Mütter vor Kälte und Erkältung in dieser Zeit sehr zu schützen, weshalb die Kleidung, zumal der Füße, stets gehörig erwärmend sein muß. Ebenso ist aber auch das Gegentheil, starke Hitze und Erhitzung zu vermeiden.

Was die Beschwerden betrifft, welche die Frauen gewöhnlich zur Zeit ihrer Hoffnungen heimsuchen, so müssen dieselben, wenn sie nicht ausarten, ruhig ertragen werden. Dagegen ist baldigst ein vernünftiger Arzt herbeizurufen, wenn sie einen sehr hohen Grad erreichten, oder wenn heftige und anhaltende Schmerzen im Leibe, Blutungen, Durchfälle, Urin- und Stuhlverhaltungen, Fieberanfälle u. dgl. eintreten. Niemals ist ein homöopathischer Arzt zu rufen, da ein solcher mit seinen Nichtsen durchaus nicht dahin paßt, wo es gilt, zu handeln. Man höre und staune! Gegen die Blutaderanschwellungen (sogen. Weh- oder Krampfadern) an den Beinen Schwangerer, welche auf ganz mechanische Weise, nämlich durch Druck des Kindes auf die Hauptblutader des Beines entstehen, und auch, wie wohl jeder Verständige einsehen muß, nur auf mechanische Weise (durch Binden, Schnürstrümpfe) behandelt werden können, empfiehlt die Homöopathie ganz im Ernste Lycopodium, Passatilla oder Sulphur innerlich zu nehmen und zwar dann, wenn die Wehadern eine übermäßige Ausdehnung erreichen, allgemeine Fußgeschwulst erregen und zu platzen drohen. Platina soll die verkehrten Geschmacksrichtungen, die eigenthümlichen Gelüste und Verlangen Schwangerer mindern und heben; es soll dieses Mittel aber auch, wie die Sepia, gegen die Anlage zum Abortus ausgezeichnete Dienste leisten. Ist das nicht ein sehr trauriges Zeichen für unsere Zeit, daß man solchen kolossalen Unsinn, wie diese homöopathischen Mittel-Anpreisungen, zu veröffentlichen wagen kann?

Bock.




Das Paradies der Wahnsinnigen.

Mitten auf den traurigen Moor-Ebenen, die ihre unfruchtbaren Wüsten über einen großen Theil der nördlichen Provinzen Belgiens und die Südgrenzen Hollands ausdehnen – bekannt unter dem Namen Campine – breitet sich eine freundliche Oase der eigenthümlichsten Industrie und Cultur aus. Deren Mittelpunkt ist das heitere, reich umgrünte und umblühte Stadtdorf Gheel, Hauptstadt der belgischen Campine. Der freundliche Ort ist breit umgürtet von Obst-, Küchen- und Blumengärten, im Winde rauschenden und wogenden Getreidefeldern und einfachen, aber behäbigen Gehöften, Hütten und Bauerhäusern. Diese künstliche Oase in einer weiten Oede nimmt uns auf den ersten Blick für die Bevölkerung ein, die solch’ blühendes Leben aus dem öden Boden zu zaubern verstand. Hört man nun auch die Geschichte dieses Ortes und seiner Bewohner und deren charakteristischsten Bestandtheile, gewinnt das Ganze ein reiches Interesse für allerhand humane, wissenschaftliche und heilsame Beziehungen.

Zunächst findet man als Fremder den auffallenden Gegensatz zwischen dem ruhigen, sanften, flämisch-phlegmatischen Charakter der meisten Bewohner und mehrerer sich in allerlei Seltsamkeiten und Excentricitäten gefallenden Individuen unerklärlich. Ist es Sonntag, wird man sich noch mehr wundern, daß diese lebhafteren, seltsameren Bewohner alle nach der zweiten Hauptkirche der Oase, der St. Dymphne, strömen, während die phlegmatischen, heiteren, dicken Flamänder mit pausbäckigen Kindern, breitschulterigen Frauen und großblauäugigen Töchtern sich in der St. Amandkirche versammeln. Haben diese excentrischen Leute, die nach St. Dymphne strömen, eine eigene, besondere Religion? Sind sie eine eigene Race? Alle diese Conjecturen erklären nichts. Man muß warten, bis der Gottesdienst vorüber ist, und dann die Inschriften, Gemälde, Bildnisse und allerhand andere Monumente von St. Dymphne studiren. Dann geht uns allmählich ein Licht auf. Wir lesen, daß die heilige Dymphne, Tochter eines Königs von Irland im siebenten Jahrhundert, der ein starrer Heide geblieben, während die Tochter für das Evangelium des Menschheits-Erlösers gewonnen war, vor ihrem grimmig verfolgenden Vater floh, hier in der belgischen Campine ein stilles Asyl fand, eine Capelle baute und den Grund zu dem jetzigen Gheel legte, daß sie aber von ihrem grausamer Vater hier aufgefunden und von dessen eigener Hand enthauptet ward. Einige Geisteskranke, die zufällig diese unerhörte Gräuelthat sahen, bekamen durch diese moralische und nervöse Erschütterung ihren gesunden Verstand wieder. In ihrer Dankbarkeit schrieben sie die Herstellung ihrer geistigen Gesundheit dem mysteriösen Einflusse dieser heiligen Märtyrerin zu und erhoben sie zur Schutzheiligen aller Wahnsinnigen. Angehörige anderer Wahnsinnigen erwarteten weitere Wunder und ließen ihre im Geiste gestörten Unglücklichen vor dem errichteten Grabkreuze der heiligen Dymphne knieen. Selbst wenn’s nichts half, der Glaube blieb und dehnte sich aus und befestigte sich und hielt an und fest bis in diese Tage der blühendsten belgischen Maschinen-Industrie. Die Pilgerfahrten der Wahnsinnigen wurden wiederholt und durch neue Zuströmungen gesteigert, bis diese Kreuzzüge der Geisteskranken zu dem Grabe der heiligen Dymphne Sitte und Gebrauch und eine feste Institution, ein Cultus wurden. Viele dieser Unglücklichen wurden in der Obhut der Bewohner zurückgelassen, die so allmählich Routine und Praxis in der Behandlung dieser Kranken bekamen und zwar eine Praxis, welche die stolze Wissenschaft in Irrenhäusern erst nach Durchprobirung aller Arten von Zwangsjacken, Ketten, Fesseln und Grausamkeiten allmählich annehmen lernte.

Der Zudrang von Geisteskranken, die Wohnung, Pflege und Wartung brauchten und dafür bezahlten, machte aus der Wüste eine Oase und dehnte die Hütten um Dymphne’s Grab zu einer weiten, blühenden Garten- und Ackerstadt aus. Die Ruhe und Heiterkeit hier, die phlegmatische Gutherzigkeit der Gesunden, die Beschäftigung in Garten und Feld – dies Alles wirkte wohlthäthig [394] auf die Geisteskranken. Alle besserten sich hier, Viele wurden gesund. Der Glaube an die Wundercuren der heiligen Dymphne stand felsenfest. Papst Eugenius IV. sanctionirte im vierzehnten Jahrhundert die Dymphne-Kirche und ganz Gheel als einen Ort des Heils für Geisteskranke. Der feste Glaube war nun auch officiell geheiligt. Der Glaube kann nicht nur Berge versetzen, sondern auch verrückte Geistesbauten wieder einrenken. Der Glaube ist selbst in dem rationellsten physiologischen Sinne eine Macht und Medicin (respective ein tödtliches Gift). Mancher Hund, der zu civilisirt ist, um trockenes Brod zu fressen, verzehrt es mit dem größten Appetite und leckt noch mit der Zunge nach beiden Seiten, wenn man das von ihm verschmähte Stück trocknes Brod vor seinen Augen auf einem ganz absolut reinen Teller wischt. Er glaubt: Aha, nun ist Fett dran! und so schmeckt’s ihm. Wie oft werden Menschen von imaginären Krankheiten gequält! Wie oft stärkt man die Recreationskraft der Natur dadurch, daß man einen festen Glauben an einen bestimmten Arzt oder an eine Medicin in einem Kranken auferbaut!

Der Glaube that hier auch viel. Er lieferte eine günstige Disposition unter den Geisteskranken. Das Meiste that freilich die ruhige, heitere Luft und gesunde Beschäftigung hier, das Allermeiste und Beste aber die traditionelle Behandlung, welche hier Praxis, Regel und Gesetz ward und vor Jahrhunderten schon gelöst hatte und leistete, was in wissenschaftlichen Irrenhäusern erst neuerdings eingefühlt wird. Die Grundgesetze in Behandlung der Wahnsinnigen in Gheel sind seit Jahrhunderten: Freiheit der Handlung und Bewegung, Beschäftigung in freier Luft, Fernhaltung von den grinsenden Leidenschaften, Sorgen und Gebrechen der Gesunden und Civilisirten, gütige Behandlung und thätige, aufrichtige Sympathie!

Die Geisteskranken leben mit den einfachen, arbeitsamen Einwohnern von Gheel wie Pensionäre, als Familienmitglieder und arbeiten, essen und trinken und sprechen auch bald wie alle andern, gesunden Leute. Die Väter der einzelnen Familien üben ein patriarchalisches Amt: sie herrschen, weil ihnen Jeder aus Liebe, in dem Glauben an ihre natürliche Autorität, freiwillig gehorcht. Die Obrigkeit des Staates hat sie auch officiell zu „pères nourriciers“ (Pflege-Vätern) der Geisteskranken ernannt. Das Verhältniß zwischen ihnen beruht durchweg auf Zuneigung und bildet einen schneidenden Contrast zu dem sonst zwischen Geisteskranken und ihren Wärtern herrschenden Widerwillen.

Die Bewohner von Gheel haben außerdem bis auf den heutigen Tag den durch viele Jahrhunderte hindurch fortgeerbten Glauben, daß ihr Ort und sie selbst eine besondere Gabe und Kunst in Behandlung der Geisteskranken besitzen. Das ist auch Thatsache und Folge einer Jahrhunderte lang fortgesetzten Praxis und Uebung. Dieser auf Thatsachen fußende Glaube hat denn auch Hand und Fuß und gibt ihnen die furchtlose Zuversicht, die sich auch den Geisteskranken mittheilt und oft schon die halbe Cur ausmacht. Die einzelnen Pflegeväter sind stolz auf das blühende, gesunde Aussehen ihrer Pfleglinge und wetteifern miteinander in Gewinnung und Pflege derselben. Familien, die zufällig einmal keinen solchen Pflegling haben, halten sich für unglücklich und thun alles Mögliche, sich einen solchen Schatz zu verschaffen. Geldinteresse spielt dabei keine Hauptrolle. Manche werden für sehr wenig Kostgeld, viele ganz umsonst aufgenommen.

Mancher Pflegevater behielt seinen Kranken, nachdem er gesund geworden, nachdem er Angehörige verloren, die für ihn bezahlten oder wenn er die größte Abneigung zeigte, wieder in die Städte der Civilisation und des modernen Lebens zurückzukehren. Ein in Brüssel verlaufenes, wahnsinniges Mädchen ward nach Gheel gebracht, wo sie durch ihre Feinheit und Bildung zu dem Glauben führte, daß sie von hoher Abkunft sein müsse. Ihr Pflegevater ließ sie zwanzig Jahre lang an einem besondern feinen Tische essen und behandelte sie wie eine Ehre und ein Glück seines Hauses, ohne je einen Pfennig dafür zu erhalten. Ein Arzt trat einmal in das Zimmer einer Pflege-Familie, wo der Wahnsinnige den Ehrenplatz am Kamine einnahm. Die Kinder, erschreckt durch das fremde Gesicht, klemmten sich zwischen die Kniee des Wahnsinnigen, um sich von ihm schützen und zureden zu lassen, daß der Doctor nicht beiße etc.

Vor einigen Jahren beschlossen einige Städte Belgiens, ihre Wahnsinnigen von Gheel wegzunehmen und in einem vermeintlich besseren Institute unterzubringen. Die darauf erfolgten Scheidescenen in Gheel waren zum Theil herzzerreißend. Die Wahnsinnigen klammerten sich weinend an ihre weinenden Pflege-Familien an, sich mit Schrecken von ihren natürlichen Angehörigen abwendend, Andere hatten sich versteckt und mußten mit Gewalt aus ihren Winkeln hervorgeholt und entfernt werden. Die Folge davon war, daß viele dieser Geisteskranken in Tobwahnsinn verfielen, fast alle sich verschlimmerten und die Meisten nach Gheel zurückgebracht wurden, wo sie wieder Feld und Garten bestellen helfen, Blumen und Bäume Pflegen, Vieh hüten, Kinder warten, Wüsten urbar machen und die lachenden Meere goldner Halme um die Stadt herum ausdehnen. Andere tischlern, schneidern, schustern, häkeln, klöppeln Spitzen – Jeder und Jede nach Gewerbe, Talent und Neigung. Sie thun dies umsonst contractmäßig, aber die Pflegeväter finden es viel vortheilhafter, ihnen stets einen Gewinnantheil oder den ganzen Gewinn zukommen zu lassen und sie sonst durch die Früchte ihrer Arbeit angenehm zu überraschen. Der Eine bekommt Sonnabends Extra-Tabak, der Andere Extra-Bier etc., die Eine ein Tuch, Band oder sonstigen Schmuck, auch Geld, das sie nach ihrer eigenen Disposition verwenden. Viele arbeiten ganz auf eigene Rechnung. In diesen Arbeiten werden sie Alle blos von gutem Beispiel (Alles in Gheel ist sehr fleißig), Nacheiferung und gutherziger Ermahnung, wie von der Gewißheit des Erfolges und Lohnes getrieben. Und so sind diese Unglücklichen, die sonst überall als der Gesellschaft gefährlich eingekerkert und in strenger Haft gehalten werden, hier als frei in Familien, Garten, Feld, Haus und Hof Umherwandelnde glückliche Mitglieder einer blühenden Menschengemeinde. Nur in einzelnen, entschieden gefährlichen Fällen wird Dieser oder Jener in einer ihm kaum merklichen Aufsicht und in Schranken gehalten, dies aber auch nur für die Perioden besonderer Anfälle. Im Uebrigen gelten sie stets als freie Mitbürger, die sich zum Theil unter sich, zum Theil mit Andern amüsiren. Nur daß Gastwirthen u. s. w. verboten ist, ihnen spirituöse Getränke zu verkaufen. Die Geisteskranken von Gheel geben zuweilen hübsche Concerte unter Direktion eines wahnsinnigen Violinisten.

Freiheit und Arbeit – das ist’s – das ist Alles, womit die Geisteskranken von Gheel behandelt, geheilt oder wenigstens in den Schranken der Gefahrlosigkeit gehalten werden. Dies ist so seit vielen Jahrhunderten und so ein Ruhm und ein Verdienst, welcher den meisten Anstalten und Gesetzen für Geisteskranke in der ganzen Welt zur Schmach, zum ewigen Vorwurfe wird, da sie erst alle Arten von Barbareien und Torturen durchprobirten, ehe sie gezwungen zu dieser Einfachheit und Menschlichkeit schritten.

Die seit Jahrhunderten praktisch geübte Behandlung der Geisteskranken in Gheel ist um so bemerkenswerther, als sich bis in die neue Zeit niemals Wissenschaft und Obrigkeit darum bekümmerten. Erst mit dem Jahre 1795, als Belgien mit dem Alles regieren wollenden Frankreich verbunden ward, nahmen die „Behörden“ Notiz von diesem alten Paradiese der Wahnsinnigen. M. de Pontecoulin, Präfect des Departements, wozu Gheel gehörte, verglich das entsetzliche Elend und die Barbarei in den obrigkeitlichen Irrenhäusern von Brüssel u. s. w. mit dem Institute in Gheel, und ließ aus ersterem so viel Wahnsinnige, als unterzubringen waren, in letzteres übersiedeln. Diesem Beispiele folgten bald andere Städte Belgiens und Hollands, so daß Gheel nach Jahrhunderte langem stillen Wirken weit und breit als Paradies der Geisteskranken berühmt ward. Doctor Guislain, einer der ersten Reformatoren der Irrenhäuser, studirte Gheel und die Praxis daselbst sehr genau, gab aber im Ganzen ein ungünstiges Urtheil, so daß die Behörden Alles genau untersuchen ließen, worauf sie natürlich „Verordnungen“ des Besserwerdens erließen, ohne aber damit die bewährte, alte, wohlthätige Praxis zu andern.

Gheel hat jetzt etwa 10,000 Einwohner, wozu 800 bis 1000 Geisteskranke kommen. Vier von den „Behörden“ angestellte Aerzte führen eine Art Aufsicht über die Kranken, und geben vierteljährlich Berichte. Medicinisch greifen sie aber nicht ein, und überlassen Alles der Natur und alten Praxis der Pflegeväter.

Außer den geisteskranken Bewohnern Wallfahrten stets noch eine Menge anderer Unglücklicher zu dem Grabkreuz der heilige Dymphne, um sich einen gesunden Geist zu erflehen, obgleich die dabei angewandten Mittel selbst eine Steigerung intellektueller Verirrungen sind. Die Steinstufen vor dem Grabkreuze sind rief ausgehöhlt von den rutschenden Knieen geistesirrer Gläubigen, welche seit Jahrhunderten ihre „neuvaines“ durchmachten, d. h. neun Tage hinter [395] einander jeden Tag neun Mal auf den Knieen um das Grabmal herumrutschten. – Früher trieben die Geistlichen der Dymphne-Kirche auch officiell die Teufel des Wahnsinns aus, aber in neuerer Zeit ist dieses Geschäft ganz in Mißcredit gekommen. Die „Behörden“ haben neuerdings bestimmte Löhne für Wohnung und Kost der Geisteskranken in Gheel „vorgeschrieben.“ Diese officielle Vergütigung beträgt jährlich zwischen 70 und 100 Thaler. Die höhere Summe wird für Kranke bezahlt, die wegen besonderer Paroxysmen u. s. w. besondere Aufsicht und Sorgfalt verlangen. Für diese 70 bis 100 Thaler jährlich erhält der Kranke Alles, was zu seiner Existenz und Pflege gehört, mit Ausnahme der Kleidung.

Dies sind die nöthigsten Angaben über ein Institut, das die größte Beachtung und im Wesentlichen Nachahmung verdient, um so mehr, als man, trotz wohlthätiger Reformen in Irrenhäusern, noch nicht auf den Standpunkt gekommen ist, auf welchem Gheel schon seit Jahrhunderten stand, welcher diesen Unglücklichen ihre Lage so erträglich macht, wie sie überhaupt möglich zu sein scheint. Sie wohnen nicht in Gefängnissen, sie sind frei und können lichte Momente ohne Schrecken und Kummer ertragen, und ohne alle weitere Zuthat sehr oft als heil und gesund entlassen werden. Freiheit und Arbeit wirken sehr oft als radikale Heilmittel auch in diesen Krankheiten.




Die Frau des Dichters.

Es war ein milder, warmer Juniabend. Die Rosen blühten und dufteten, die Nachtigall sang ihr schmelzendes Liebeslied. In einer Laube des Reichelschen Gartens in Leipzig saß eine glückliche Familie, die herzensgute Mutter und zwei Töchter, von denen die jüngere einer ahnungsvollen Knospe glich. Charlotte Willhöft war eine reizende Erscheinung; mit ihrer schlanken ätherischen Gestalt, ihrem seelenvollen Auge, den edlen und feinen Zügen des lieblichen Gesichts bildete sie durch ihren sinnigen Ernst den Gegensatz zu ihrer heiteren, lebenslustigen Schwester Julie, welche an den Kaufmann Sickmann verheirathet war. Von Jugend auf zeigte das seltsame Kind eine wunderbare geistige Begabung, ein ungewöhnliches Streben nach dem Höhnen. So oft sie konnte, zog sie sich in die Einsamkeit zurück mit einem Buche in der Hand; dort überließ sie sich den schwärmerischen Gedanken ihrer jugendlichen Phantasie, der Sehnsucht nach dem Jenseits, den mystischen Träumen ihres von Frömmigkeit und unbegriffener Liebe überströmenden Herzens. Sie befand sich in dem schönen Alter, wo die Psyche, noch frei von jeder irdischen Last, ihre Schwingen entfaltet und im begeisterten Fluge sich zu ihrer himmlischen Heimath erhebt, der sie noch näher steht, als dann, wenn die Alltäglichkeit des gemeinen Lebens ihr die Flügel lähmt. Diesen angebornen Hang religiöser Schwärmerei hatte besonders ein verehrter Lehrer der Bürgerschule, welcher daselbst den Religionsunterricht ertheilte, in ihr genährt; als derselbe wegen seiner phantastischen Richtung angeklagt, zur Niederlegung seiner bisherigen Stellung sich genöthigt sah, faßte Charlotte als dreizehnjähriges Mädchen mit einer gleichgesinnten Freundin den Entschluß, an die Spitze ihrer Mitschülerinnen zu treten, und im Namen derselben ein Schreiben an die Direction der Anstalt zu verfassen, worin um Beibehaltung des geliebten Lehrers gebeten werden sollte.

Sie selbst war um diese Zeit fast anzusehen, wie eine kleine Nonne, und ihr ganzes Wesen erhielt einen klösterlich strengen Anstrich; sie hielt sich von den Zerstreuungen und Vergnügungen fern, welche ihre Jugendgespielinnen erfreuten; nur mit Mühe war sie zum Besuch des Theaters zu bewegen und in übertriebener, fast kindischer Askese entsagte sie dem Genüsse der Fleischspeisen, sich wie der fromme Hindu mit Pflanzenkost begnügend. Zum Glücke wirkte der heitere Familienkreis ihrer Schwester, in deren Hause sie fortan lebte, beruhigend und sänftigend auf ihre bedenkliche Richtung ein, so daß sie allmählich selbst von ihrer Strenge zurückkam, und der Erde und der Wirklichkeit wiedergegeben wurde; nur der fromme Ernst war ihr als eine Erinnerung an ihre religiösen Kämpfe geblieben, und bildete gleichsam den Grundton ihres Wesens. Als Vermittler zwischen dem Jenseits und Diesseits war in ihrer Brust die heilige Kunst erwacht, welche vollends die zurückgebliebene Beklemmung löste, und sie mit dem Leben versöhnte. Schon frühzeitig entwickelte Charlotte eine überraschend schöne Stimme und ein bedeutendes musikalisches Talent, das von den Ihrigen mit Sorgfalt gepflegt und ausgebildet wurde. Die Macht der Töne bewährte sich an ihr; die Schwermuth schwand und ein heiterer Friede zog in ihre Brust. Die verwandte Poesie wurde von der Musik geweckt, und unwillkürlich dichtete sie zu ihren Lieblingsmelodien die passenden Worte, von dem unwiderstehlichen Drange erfaßt, ihren Gefühlen einen bestimmten Ausdruck zu verleihen.

So wuchs das seltsame Kind zur wunderbaren Jungfrau heran, eine herrliche ahnungsvolle Blüthe, welche der Sonnenschein der Liebe erst vollkommen schließen sollte.

Eines Tages führte Charlottens Bruder einen jungen Mann in die Familie ein; derselbe war von Göttingen, das er wegen politischer Verbindungen verlassen mußte, nach Leipzig gekommen, um Philologie zu studiren. Heinrich Stieglitz war eine poetische Natur und selbst Dichter; er fühlte sich sogleich zu der ihm nur zu sehr verwandten Charlotte hingezogen. Beide hatten dasselbe Streben nach dem Ideal, dieselbe Verachtung der gemeinen Alltäglichkeit, den gleichen Hang und Drang zu einem künstlerischen Leben; nur daß in ihm ein vulcanisches, dämonisches Feuer brannte, welches ihn und Alles, was sich ihm näherte, zu verzehren drohte, während die Flamme der Begeisterung stiller und klarer in Charlottens Seele wieder brannte. Seine kecke Physiognomie, von den dunklen, schwärmerischen Augen durchleuchtet, sein ganzes auf das Höchste gerichtete Wesen, selbst ein gewisser Stolz, der zur Selbstüberschätzung seiner Kräfte führen konnte, sprachen sie an und ließen sie, sonst den Männern gegenüber scheu und verschlossen, an seinem Umgange Gefallen finden. Aufgefordert, seine Besuche zu wiederholen, sahen sie sich öfter und tauschten ihre Gedanken gegenseitig aus. Hauptsächlich bewegte sich der Inhalt ihrer Gespräche um religiöse Gegenstände, welche der aufkeimenden Liebe zum Anhalt dienten. –

So saßen sie auch heute in der blühenden Laube und während die Blumen dufteten, die Nachtigall sang, Mond und Sterne freundlich niederschauten, theilten sie ihre Gefühle über die göttliche „Bergpredigt“ des Erlösers mit, in der sich ihre sonst verschiedene Andacht begegnete. Die wackere, treffliche Mutter hörte zu, und sprach von ihrem Standpunkte mit, während die sorgsame Schwester ab und zu ging, um das Abendbrod zu bereiten. Charlotte hing mit Bewunderung an den Lippen des jungen Freundes, der mit dichterischer Begeisterung den inneren Kern des Christenthums vor ihr entwickelte, und von jener geistigen Kirche sprach, welche, abgesehen von allen äußeren Formen, die Auserwählten zu einem Bund der Liebe vereint. Ihre früheren streng gläubigen Ansichten erhielten durch seine Auffassung eine wesentliche Umwandlung; sie fühlte, wie sich während dieser Unterredung ihr Gesichtskreis nach und nach erweiterte, eine freiere Auffassung der Religion sich ihr aufdrängte und die dunkeln, asketischen Wolken von ihr wichen, ohne daß sie darum aufhörte, zu glauben und fromm zu sein.

Es war ihr, als würde sie von einer drückenden Last befreit, als gehörte sie erst jetzt wieder ganz der schönen Erde an, ohne darum den Himmel zu verlieren. Eine nie gekannte Heiterkeit bemächtigte sich ihrer Seele; sie hätte laut aufjauchzen mögen vor innerer Lust. So schön war ihr die Welt noch nie vorgekommen, so wonnevoll die Natur ihr noch nie erschienen. Sie liebte und dies Gefühl erfüllte sie mit nie gekannter Seligkeit.

Aber mitten in ihrem Glücke überschlich sie ein leiser Schauer, ihr ahnungsvolles Herz wurde plötzlich von einem unerklärlichen Bangen ergriffen, wie von einem Vorgefühl künftiger Schmerzen. Als Heinrich gegangen war, lagerten sich die dunkeln Schatten des kaum besiegten Ernstes über ihre Seele; sie empfand eine nie gekannte Unruhe, und Thränen entstürzten unwillkürlich ihren Augen.

So weint die junge Rosenknospe, wenn sie über Nacht die keusche Hülle sprengt; ein funkelnder Thautropfen glänzt in ihrem Kelch, der sich zum ersten Male den schmeichelnden Sonnenstrahlen erschließt.

So bald Charlotte allein war, griff sie zu ihrem Tagebuche, dem sie ihre geheimsten Gedanken anvertraute. Sie schrieb: „Nichts [396] wollen, nichts wünschen, als lieben; sich selbst vergessen im Glück des geliebten Wesens, ohne Erwiederung zu hoffen oder zu wünschen, stellt uns den Engeln gleich, ist Vorgefühl himmlischen Glückes! So lehrtest Du mich, meine Mutter! Warum bin ich denn nicht glücklich? Warum treibt unwillkürliche Unruhe mich machtlos umher? Warum beklemmt meine Brust ein Wünschen, ein etwas Erwarten von der nächsten Minute, für das ich sogar nicht einen Namen habe? Könnte ich nur einmal recht Großes, recht Schweres für ihn vollbringen, ohne daß er ahnete, von wo es ausginge! Könnte ich ungesehen ein trübes Geschick, ein großes Unheil von seinem geliebten Haupte auf das meinige lenken, und dann in mich geschmiegt und still aus meinem Dunkel hinauf zu ihm blicken, und mich in seinem freudigen Lächeln sonnen! Dann, dünkt mich, wäre ich ruhig und glücklich für mein ganzes übriges Leben. – Der Abend war einer der schönsten meines Lebens. Sein Andenken wird mir wie ein strahlender Stern durch meine Seele gehen. - - Es wird still in mir.“ –

Diese Worte, welche Charlotte im überströmenden Gefühl als sechzehnjähriges Mädchen niederschrieb, waren keine bloßen Tagebuch-Phrasen, sie offenbarten ihr inneres Sein, sie waren nur der Ausdruck eines echt weiblichen Gemüthes, das für den Geliebten sich selber hinopfern will; in ihnen lag der Keim und Schlüssel ihrer späteren Handlungsweise.

Ihre Liebe blieb nicht unerwidert, Heinrich’s Geständniß seiner tiefen und innigen Neigung ließ nicht warten, und die Mutter segnete den Bund der beiden jungen Herzen.

Charlotte war Braut und die Braut eines Dichters, in dem sie die Verkörperung ihrer eigenen Ideale sah; mit schwärmerischer Begeisterung blickte sie zu dem Geliebten auf, in dem sie nicht nur den Mann, sondern das Talent, die göttliche Poesie selbst verehrte; war stolz auf ihn, auf seinen Ruf und bestrebte sich, seiner würdig zu werden, ihm das Leben nach allen Seiten hin angenehm zu gestalten, für alle seine Bedürfnisse zu sorgen, jede Unannehmlichkeit von ihm abzuwehren. Für ihn war ihr nichts zu schwer; sie begann sogar von nun an ein lebhaftes Interesse an den wirtschaftlichen Angelegenheiten zu nehmen, um einst als tüchtige Hausfrau allen ihren Pflichten zu genügen und ihren Platz vollkommen auszufüllen.

Die Nothwendigkeit, sich eine dauernde Stellung zu verschaffen, und die unabweisbare Sorge um das tägliche Brod führten seinerseits Stieglitz nach Berlin, wo sich ihm mannichfache Aussichten für die Zukunft eröffneten, da es ihm nicht an einflußreichen Freunden und Gönnern fehlte, die er zum Theil seinem täglich wachsenden literarischen Rufe zu verdanken hatte. Sein Talent wurde anerkannt, sein Name vielfach genannt; er wurde in manche geistreiche und interessante Kreise der Hauptstadt eingeführt, wo ihm ehrender Beifall, Anerkennung und Aufmunterung im reichsten Maße zu Theil wurden. Sein Vertrauen wuchs, sein Selbstbewußtsein hob sich und er hielt sich immer mehr berufen, als Dichter einen hervorragenden Platz einzunehmen.

An diesen Erfolgen nahm Charlotte den lebhaftesten Antheil, indem sie mit dem Geliebten seit ihrer Trennung in fortwährendem Briefwechsel stand, worin sie die ganze Fülle ihrer Liebe und ihre fortschreitende geistige Entwicklung offenbarte; sie zeigte sich ihm in jeder Beziehung ebenbürtig, indem sie rastlos bemüht war, ihre Kenntnisse zu erweitern, ihre Bildung der seinigen anzupassen. Durch dieses Streben und durch die Entfernung gewann ihre Liebe eine mehr geistige und übersinnliche Gestalt, die kleinen Schwächen und Mängel, die beim näheren Umgänge unausbleiblich bemerkt werden, verschwanden oder wurden nicht gesehen. Beide befanden sich in einer verzeihlichen Selbsttäuschung, welche vor dem Zusammenleben in der Ehe verschwinden mußte. Die Wirklichkeit mit ihrer rauhen Hand sollte früher oder später den Schleier zerreißen, den schönen, selbst gepflegten Wahn zerstören.

Ein unvorhergesehener Schlag beschleunigte die Verbindung Charlottens mit dem Mann ihrer Wahl; die heitere Schwester Julie, in deren Haus sie bisher gelebt, starb im Wochenbette, treu von ihr gepflegt. Stieglitz fühlte jetzt doppelt die Verpflichtung, der schutzlosen Braut ein Stütze zu werden, und ihr eine neue Heimath zu geben; deshalb bewarb er sich ernstlich um die Stelle eines Gymnasiallehrers und Custos an der königlichen Bibliothek zu Berlin, die er auch erhielt. Der Dichter hatte ein Amt und eilte jetzt nach Leipzig, um die Braut als Gattin heimzuführen. Unmittelbar nach der Trauung traten sie eine Reise durch den schönsten Theil von Deutschland an, um im poetischen Genusse der Natur ihr höchstes Glück zu feiern. Heinrich wünschte sich aus übertriebener Vorsicht mit einer Reisewaffe zu versehen, Charlotten spottete zwar über seine Furcht, aber sie ging selbst in ein Gewölbe und kaufte für ihn einen – Dolch.

Im Wagen saßen die Neuvermählten und rollten, begleitet von den Segenswünschen der Ihrigen, dahin. Die anfängliche Beklommenheit löste sich in süße, bräutliche Wonne auf, Charlotten’s noch hervorquellende Thränen, die dem Abschied galten, trockneten bald, und sie lächelte verschämt, wenn sie den geliebten Mann in ihrer Nähe sah, dem sie nun für immer angehörte. Das war eine schöne Fahrt durch das südliche Deutschland; in Frankfurt wurde Börne besucht, der damals eben erst durch seine liebenswürdigen Journalaufsätze bekannt geworden war, in Heidelberg die epheuumrankte Ruine bestiegen, der herrliche Rhein befahren und an seinen rebenbekränzten Hügeln geschwärmt.

Stieglitz genoß noch einmal, bevor er in das Joch des bürgerlichen Lebens trat, das ganze Glück der ungebundenen Freiheit an der Seite eines holden Weibes in vollen Zügen. Mit keckem Jugendmuthe überließ er sich der romantischen Neigung, über Berg und Thal in der Wildniß herumzuschweifen; er wurde noch einmal der kräftige, übermüthige, enthusiastische, schwarzlockige Student, wie ihn seine Charlotte gern hatte. Sie vergaß dabei die eigene Anstrengung und Uebermüdung, der ihr schwächerer Körper nicht gewachsen war, und begleitete ihn auf seinen oft beschwerlichen Fußwanderungen, welche er ohne Rücksicht auf ihre Gesundheit unternahm. In seiner ungemessenen Lust trieb er es mit seinen romantischen Kreuz- und Querzügen so bunt, daß selbst der Kutscher, den er für die ganze Reise gemiethet hatte, ihm den Contract aufkündigte und davon lief.

Ungeachtet dieser kleinen Beschwerden und Abenteuer waren es die glücklichsten Zeiten, die sie verlebten, und wenn die Reisenden eine waldbewachsene Höhe erklommen, auf moosigem Steine ausruhten und zu ihren Füßen der blaue Strom, die gesegneten Thäler im Abendglanze schwammen, über ihrem Haupte die rosigen und goldenen Wolken zogen, da glaubten sie wohl, dem Himmel näher zu sein, und Charlotte stimmte eines ihrer schönsten Lieder mit herrlicher Stimme an, dem die vorüberziehenden Wanderer wie dem Gesange eines seligen Geistes lauschten.

Von diesem poetischen Ausfluge waren sie nach Berlin zu ihren gewöhnlichen Beschäftigungen zurückgekehrt. Der Dichter mußte die unleserlichen Hefte der Tertianer corrigiren, Unterricht ertheilen oder auf der Bibliothek bei seinen Büchern sitzen und Kataloge anfertigen, während Charlotte das kleine Hauswesen in Ordnung hielt. Sie war viel allein, da ihn seine tägliche Arbeit vom Hause fern hielt. In der Einsamkeit beschlich sie wohl noch zuweilen die alte Schwermuth, aber meist kämpfte sie siegreich dagegen an. Nur wenn Stieglitz verstimmt aus der Classe oder von der Bibliothek kam, wo die einförmige und anstrengende Thätigkeit ihn leicht anwiderte, theilte sich seine Verdrießlichkeit auch ihr mit. Hier und da fehlte es noch an dem Behagen in der neuen, etwas übereilten Einrichtung, das mäßige Einkommen legte ihnen manche Beschränkung auf. Als aber zum ersten Male durch ihre gemeinschaftlichen Anstrengungen das Feuer auf dem eigenen Heerde brannte und die junge Hausfrau in der weißen Küchenschürze davor stand, rosig von den angefachten Flammen angeglüht, da lachten Beide wie zwei glückliche Kinder.

Bald bildete sich auch um das ausgezeichnete Paar ein Kreis von hervorragenden Männern und liebenswürdigen Frauen, die sich ihnen enger anschlossen. Das geistige Leben der großen Stadt, der Verkehr mit verschiedenen literarischen Persönlichkeiten wirkte fördernd und belebend ein, wenn auch anderseitig der kritisch zersetzende Verstand, ein gewisses absolutes Absprechen und eine Ueberschwänglichkeit der ganzen sie umgebenden Atmosphäre nicht ohne allen Einfluß auf Beide blieb. Charlottens Hang zum Nachdenken, zu einer fast ausschließlich metaphysischen Richtung fand unter diesen Verhältnissen nur allzureiche Nahrung; sie sog wie eine Pflanze den Sauerstoff der Poesie begierig ein, ohne den zum Leben eben so notwendigen schwereren Stickstoff der Prosa als den unentbehrlichen Ballast des Daseins zuzulassen. Das aufreibende Element ließ die geistige Flamme heller glänzen, um sie desto schneller zu verzehren. Es war eine künstliche Gluth, die keine gesunde Entwickelung gestattete.

Stieglitz benutzte die ihm freie Zeit zu neuen Dichtungen, von

[397]

Charlotte Willhöft.

denen er sich zum Theil einen ungemessenen Erfolg versprach. Sein Talent war ein ausschließlich lyrisches, von der Stimmung des Augenblickes beherrscht; er täuschte sich meist selbst über die Tragweite seiner Kraft und wurde mißmuthig, wenn der Erfolg seinen Erwartungen, das Geleistete seinem hochfliegenden Wollen nicht entsprach. Charlotte suchte ihn dann wohl zu beruhigen und den schon damals aufsteigenden finstern Dämon in seiner Brust durch liebevollen Zuspruch zu beschwichtigen. Sie selbst stand ihm rathend und fördernd zur Seite. Als er die „Bilder des Orients“ schrieb und mit sich selber wegen einzelner Gedichte unzufrieden war, unablässig besserte und wieder das Niedergeschriebene verwarf, erwachte in ihr der Wunsch, ihm helfend beizustehen und die quälende Arbeit ihm abzunehmen. Sie machte den Versuch und während Stieglitz auf der Bibliothek zu thun hatte, setzte sie sich an seinen Schreibtisch und dichtete eine der schönsten Scenen in seinem Trauerspiele „Selim III.“, die Unterredung zwischen dem Arzte und der Sultana Walide, an welcher Stieglitz nach mehreren vergeblichen Versuchen gescheitert war. Als er nach Hause kam, trat ihm Charlotte ganz erschöpft und blaß entgegen und deutete lächelnd auf das Pult, wo er die ihm mißglückte Aufgabe von ihrer Hand in vollendeter Form und mit poetischer Kraft gelöst fand. Ueberrascht und gerührt umarmte er die holde Frau, welche die Liebe zur Dichterin gemacht hat.

Hier und da aufsteigende Schatten fehlten nicht, aber Charlotte wußte sie durch Nachgiebigkeit und anschmiegendes Eingehen auf die Eigenthümlichkeiten des geliebten Mannes noch immer zu bannen. Je mehr sie seine Schwächen kennen lernte, desto opferfreudiger wurde sie, und mit Sanftmuth ertrug sie die kleinen Störungen, welche das Leben und die Ehe mit sich bringen. Allerdings hatte diese zarte Schonung oft gerade den umgekehrten Erfolg und bestärkte Stieglitz in seinen launenhaften Ansprüchen und hypochondrischen Quälereien, die zu ihrer Heilung der Strenge und des Widerspruches bedürften. Die geringfügigsten Umstände reichten zuweilen hin, Verstimmung und selbst Schwermuth in ihm hervorzurufen, wozu seine Natur um so mehr neigte, da er durch angestrengte geistige Arbeiten seine Nerven überreizte. Wie einst David die Wuth Saul’s, so bannte sie seinen Trübsinn durch ihren seelenvollen Gesang und, wenn dieser nicht mehr ausreichte, durch ernstere Mahnungen, die sie auf ein Blättchen niederschrieb und ihm so hinlegte, daß er sie lesen mußte. Einer dieser Gedenkzettel, der sich noch erhalten hat, lautete folgendermaßen:

„Recept für Uns. – So lange wir aber leben, also uns lieben, laß uns gegenseitig so viel wie irgend möglich heitere Blumen (lebensfrische heißt das) warten für einander, das geringe Unkräutchen (ein bloßer Schnupfen, eine zerbrochene Lampe), das sich einschleicht, mit thätiger Hand vertilgen, aber es um Gotteswillen für keine Trauerweide ansehen, sonst bleibt uns am Ende kein heiliger Baum für das Grab der geliebtesten Todten – und dies wird sicher ein furchtbarer Verlust. – Laß uns gegenseitig erfreuen, stärken, halten, erheben, handeln und somit froh sein – hörst Du?! – Laß uns denken, wenn wir säen allerlei Samen, daß die Früchte zu rechter Zeit schon reifen werden; der Boden, der lange liegen kann, bringt es doppelt ein.

Liebe ist der Athem, der ihn nährt,
Vertrauen ist die Sonne, die’s bewährt,
Und wo sich dies vereint gefunden,
Muß auch die rechte Frucht gefunden.“

Selten verfehlten derartige Erinnerungen bei Stieglitz ihren Zweck. Ueberhaupt glaubte Charlotte, nach einem längeren Zusammenleben die Bemerkung über seinen Charakter gemacht zu haben, daß jedes wahre Unglück ihn weit stärker und widerstandsfähiger fand, als die kleinen Unannehmlichkeiten des alltäglichen Daseins. Als sie einmal ernstlich erkrankte und zu ihrer Wiederherstellung das Seebad Dobberan besuchen mußte, vergaß er seine eigenen unbedeutenderen Leiden und erwies sich eben so besorgt und aufopfernd, wie sie selbst bei ihn betreffenden Krankheitsfällen.

[398] Zu ihrer beiderseitigen Zerstreuung und Erholung wurden kleinere und größere Reisen unternommen, von denen ein Ausflug nach Petersburg und Moskau zu den dort lebenden Verwandten ihnen die mannichfachsten und bedeutendsten Anregungen und Bereicherungen ihrer Anschauungen brachte. In dem Hause und in der Familie des reichen Barons von Stieglitz wurde ihnen die freundlichste Aufnahme zu Theil; dort lernten sie eine kaufmännische, ihrem eigenen Leben gänzlich fremde, großartige Thätigkeit kennen, der sie ihre Anerkennung und Achtung nicht versagen konnten. Besonders fühlte sich Charlotte zu dem Chef des Hauses hingezogen, der mit der klaren und scharfen Auffassung des erfahrenen Geschäftsmannes die humanste Bildung und den feinsten Takt verband. Ihm vertraute sie auch ohne Rückhalt ihre Bedenken über die aufreibende Thätigkeit ihres Mannes, dem sie vor allen Dingen eine unabhängige Stellung wünschte, weil sie in den Beschwerden seines Doppelamtes einzig und allein den Grund seiner inneren Unzufriedenheit sah; sie wollte ihn der gemeinen Sorge für das tägliche Brod und einer unerfreulichen Beschäftigung enthoben sehen, damit er sich von nun an um so freier und ungehinderter dem Dienste des Genius und der Poesie widmen könnte. Der großmüthige Onkel nahm diese schüchtern angedeuteten Wünsche der zutrauungsvollen jungen Frau mit zarter Berücksichtigung auf und versprach ihr vor der Abreise, für Heinrichs Zukunft Sorge zu tragen, falls derselbe seine bisherige Stellung aufgeben wollte. Charlotte dankte dem würdigen Manne mit kindlicher Zärtlichkeit und überließ sich der verzeihlichen Täuschung, durch eine derartige äußere Veränderung dem Geliebten für immer den inneren Frieden gesichert zu haben.

Der Anschein sprach für ihre Ansicht, da die Zeit, welche auf diese Reise folgte, durch keinen Unfall getrübt, in der heitersten Weise für sie verfloß. Der Petersburger Aufenthalt hatte auf Heinrichs Gemüthsstimmung überaus vortheilhaft eingewirkt; das reiche und anregende Leben in dem Hause des Onkels, die fortwährende Abwechselung, die ihm in dieser fremden Welt geboten wurde, die großartigen Verhältnisse seiner neuen Umgebung, die Erweiterung seines Gesichtskreises konnten ihren erfrischenden und stärkenden Eindruck auf ihn nicht verfehlen. Selbst das anspruchslose Stillleben in seiner Studirstube zu Berlin bildete jetzt einen angenehmen Contrast zu dem geräuschvollen Treiben und dem prachtvollen Aufwände in dem Hause des großen Bankiers. Er bedurfte und fand erst in den gewohnten Verhältnissen die nöthige Sammlung, um die empfangenen Eindrücke zu verarbeiten und sich ihrer in der Rückerinnerung zu erfreuen. Seine früheren Beschäftigungen waren ihm wieder lieb geworden und mit doppeltem Eifer kehrte er zu seinen alten Büchern und Arbeiten zurück. Nie war Stieglitz zum Schaffen und Dichten so aufgelegt gewesen, wie nach diesem Besuche, seine Gesundheit blieb bis auf ein kleines Unwohlsein ungetrübt, seine Stimmung heiter und selbst zum Scherze aufgelegt. Charlotte freute sich an seiner guten Laune und ließ, wenn er von der Arbeit ausruhte, ihren herrlichen Gesang zur Belohnung erschallen.

So leuchtet die Sonne am schönsten, bevor sie untergeht; so duften die Blumen am süßesten, wenn sie für immer verwelken wollen. –

Im Frühjahr 1834 entwickelte sich von Neuem bei Stieglitz jenes räthselhafte Nervenleiden, welches die Medicin mit dem allgemeinen Namen der „Hypochondrie“ zu belegen pflegt. Gerade die am meisten geistig begabten Menschen sind ihm verfallen, eine Beute dieser wunderbaren Krankheit, die sich in den verschiedensten Formen und in stets wechselnden Stimmungen kund gibt; bald in übermüthige Hoffnungen, bald in kleinmüthige Verzweiflung ausbricht, mit selbstquälerischer Phantasie vor eingebildeten Schreckbildern zittert und die Willenskraft nach und nach vollkommen lähmt. Stieglitz hatte die körperliche Disposition durch seine Lebensweise, geistige Ueberanstrengung und Mangel an Selbstbeherrschung zu einem bedenklichen Grade der Entwicklung gesteigert. Statt den Dämon, der mehr oder minder in jeder Menschenbrust schlummert, zu bekämpfen, den lauernden Feind niederzuhalten, überließ er sich wie Tasso den dunklen Mächten, welche allein der feste Wille zu besiegen im Stande ist. In einzelnen Aeußerungen und Ausbrüchen gab sich seine damalige Reizbarkeit zu erkennen, er haderte mit seinem Schicksal, statt, es mit Geduld zu ertragen.

„Ich will nicht länger mehr,“ rief er einst in eigensinniger Verblendung, „die verstimmte Leyer, ich will der stimmführende Spielmann sein, der Ernst und Spiel zu mächtigen Accorden eines Weltchors vereint!“

Charlotte suchte ihn durch milden Zuspruch zu beruhigen; sie litt unaussprechlich, da sein Zustand sie oft den Uebergang zum Wahnsinn fürchten ließ. Seine Launen ertrug sie mit rührender Geduld, sie theilte seine selbstgewählte Einsamkeit, sie war seine einzige Gesellschaft, die treueste Krankenpflegerin; all ihr Sinnen und Trachten war nur darauf gerichtet, ihm die Gesundheit wieder zu verschaffen, das gestörte Gleichgewicht seines Geistes wieder herzustellen. Man muß derartige hypochondrische Patienten häufig und in der Nähe beobachtet haben, um die ganze Größe ihres Opfers zu begreifen; sie peinigen nicht nur sich, sondern noch weit mehr ihre Umgebung, sie entwickeln eine wahrhafte Höllenkunst der Quälerei für sich und Andere; sie reiben den stärksten Willen, wie die zarteste Hingebung endlich auf, und theilen in nicht seltenen Fällen ihre eigene geistige Zerstörung den Nächsten mit, wie ein ansteckendes Contagium, das auch den gesunden Körper nicht verschont. In jener Zeit mag Charlotte wohl den Grund zu ihrem eigenen spätern psychischen Leiden gelegt haben, woran sie zu Grunde ging. –

(Schluß folgt.)


Aus Amerika.
Ein Hinterwäldler von den Boulevards.

Unter den Linden in Berlin – die Hausnummer wird nicht verrathen – lebt schon seit vielen Jahren ein königlich preußischer Generalmajor nebst Familie im Ruhestände. Eine ansehnliche Pension und ein hübsches Privatvermögen setzen ihn in den Stand, ein recht angenehmes Haus zu machen, und die jungen Lieutenants von Kaiser Franz und Alexander amüsiren sich „famos“ auf seinen Bällen. Aber so flott sie auch dort tanzen, vor vier Jahren noch – tanzte dort Keiner flotter, als des Generals eigener Sohn. Keiner ritt auch flotter durch den Thiergarten, den Jockei natürlich hinterher, Keiner trank flotter und Keiner – spielte flotter.

In Jefferson County im Territorium Minnesota, einige hundert englische Meilen südwestlich von St. Paul wohnt jetzt unter Indianern und Bären ein Mann, der sich seit vier Jahren nicht mehr rasirt hat und dessen sonstige Erscheinung jedwedem königlichen Constabler zu Aggressiv-Maßregeln Veranlassung geben würde. – Es ist derselbe flotte Vogel, nur die Flügel sind ihm eklig verschnitten. – Armer Vogel!

Als ich das erste Mal zu ihm kam, buk er gerade Plinsen. Ich setzte mich auf einen Baumstumpf an’s Feuer und schaute ihm dabei zu. Bevor er das in Wasser eingerührte Welschkornmehl[WS 2] in die eiserne Pfanne löffelte, bestrich er diese jedes Mal mit einer alten Speckschwarte, um, wie er meinte, das Anbrennen der Plinse dadurch zu verhindern. Ich bemerkte überdies, daß ich nicht der einzige Zuschauer war. Zwei magere Wolfshunde und eine große schwarze Katze beobachteten jede seiner Bewegungen mit nie ermüdender Aufmerksamkeit. Die Hunde verschlangen jede einzelne Plinse mit den Augen lange ehe sie noch fertig war und die Katze, das Hintertheil eingebogen und die Ohren zurückgelegt, stand wie ein bengalischer Tiger zum Sprunge bereit nach der Speckschwarte. Aber der ci-devant kannte seine Pappenheimer. War ich nicht anwesend, so hätten sie sicherlich nichts erlangt. So aber wollte es das Unglück, daß er sich im Gespräch zu mir wandte, während er sich gerade die Pfeife anzündete, und dabei unbedachtsamer Weise die Hand mit der Speckschwarte etwas zu tief sinken ließ. Im Nu hatte die Katze dieselbe im Rachen und im nächsten Moment rannte sie mit ihrer Beute – mein Landsmann ihr nach – dem nächsten Hickory-Baume zu.

„Die Hunde, um Gottes willen, die Hunde!“ rief er mir noch zu, als er in weiten Sprüngen, zwischen den Baumstümpfen hindurchvoltigirend, den Baum noch vor der Katze zu erreichen strebte.

[399] Die Warnung war keine überflüssige. Eine Secunde später und der Inhalt der Plinsenschüssel war ebenfalls unterwegs nach dem Walde. Ich hielt sie hoch über meinen Kopf hinaus und begann mich nach meinem Landsmanns umzuschauen. Aber so wohlfeilen Kaufes kam ich doch nicht davon. Die heißhungrigen Hunde mochten mir den Neuling angewittert haben, die momentane Abwesenheit ihres Gebieters flößte ihnen auch noch mehr Muth ein und sie begannen daher, andere Saiten aufzuziehen. Ich kann nicht leugnen, daß mir etwas ungemüthlich zu Muthe ward, als mir die Bestien ihre langen, spitzen Zähne wiesen und mir mit heiserem Knurren auf den Leib rückten. Als ehemaliger Militair wußte ich glücklicherweise, daß man immer das Ganze im Auge haben muß und daß man, um dieses zu retten, unter gewissen Umständen weise handelt, einen Theil zu opfern. Ich warf ihnen also die oberste Plinse freiwillig an die Köpfe, und – heiß, wie sie war – die Canaillen hätten sie in einem Momente verschlungen, wenn es ihnen nicht zweckmäßiger erschienen wäre, sich erst eine Weile um den ungetheilten Besitz derselben herumzubeißen. Meine Taktik wurde selbst von meinem unterdessen zurückgekehrten Landsmanne gebilligt, so sehr er auch diesen abermaligen Verlust beklagte. Er wies mit zorniger Gebehrde nach dem Aste hin, auf dem die Katze ihr Mittagsmahl hielt, warf den Hunden, die jetzt wieder herangewedelt kamen, ein brennendes Scheit Holz zwischen die Beine und setzte sich niedergeschlagen neben mich auf den Boden.

„Sie haben gut lachen,“ meinte er, als er sah, wie mir die Thränen über die Backen liefen. „Aber wie soll ich jetzt Plinsen backen! Die Speckschwarte war keine vier Wochen alt und hätte noch ein ganzes Vierteljahr gelangt, – jetzt kann ich alle Tage Mehl und Wasser fressen!“

Tempora mutantur! –

Mir verging das Lachen überdies auch hinterher, denn da ich einige Zeit bei ihm blieb, um mich zuvörderst etwas in der Gegend zu orientiren, so traf mich der Schlag selbst mit und gar manches Mal noch gedachte ich mit Bedauern der jungen Speckschwarte.

Den folgenden Tag regnete es in Strömen und wir waren gezwungen, uns im Shanty aufzuhalten. Glücklicherweise besaß mein Landsmann, als ehemaliges Mitglied des Jockei-Clubs, aus besseren Zeiten her noch eine französische Spielkarte, mit der wir uns die Zeit vertreiben konnten. Er gewann in wenig Stunden 10,000 Thaler von mir, da es aber seine besonderen Schwierigkeiten hatte, auf seiner Karte das Pique vom Coeur etc. zu unterscheiden, so behielt ich mir die Regelung der Angelegenheit noch bis auf Weiteres vor.

Nach dem Spiele hatte er einen andern Zeitvertreib in Vorschlag. Er verstand nicht viel Englisch und ich sollte deshalb in dieser Sprache einen Brief für ihn aufsetzen, zu dem er mir nur die allgemeine Idee angab, die Ausführung aber mir ganz anheimstellte. Der Brief wäre höchst wichtig, wie er meinte, und ich mußte ihm darin Recht geben, denn es handelte sich um nichts Geringeres, als um den wichtigsten Schritt, den wir Menschenkinder hienieden zu thun vermögen – um eine Heirath nämlich. Ich sollte für ihn anhalten. Das Mädchen war die Tochter eines wohlhabenden Farmers in Indiana, bei dem er eine Zeitlang gearbeitet hatte. Er war zwar schon damals seiner Sache völlig sicher, er hatte aber doch erst eine Verbesserung der eigenen Umstände abwarten wollen, ehe er mit der Sprache herausrückte. Meine Aufgabe bestand nun darin, diese „Verbesserung“ in möglichst schlagender Weise einleuchtend zu machen, und da er mir in Bezug hierauf den unbestrittenen Besitz von 160 Ackern Waldlandes als bestimmtes Factum angab, so hatte ich vor Allem diesen Umstand gehörig hervorzuheben, das Areal dabei im Allgemeinen zu schildern und nur in Bezug auf dessen specielle Beschaffenheit die nöthige Rückhaltung zu beobachten. Eine ähnliche Discretion rieth er mir auch in Hinsicht auf die weiteren Angaben seines beweglichen Vermögens, namentlich der Wäsche an. Diese letztere bestand nämlich noch aus einem Hemde, welches mein Landsmann schon seit zwei Jahren auf dem Leibe trug. Indessen dasselbe stammte noch von der Mohrenstraße in Berlin her und hieraus ließ sich schon allenfalls etwas machen. In Bezug auf die Garderobe gewährte mir nur ein Stück einen festen Anhaltspunkt; es war dies ein noch immer eleganter, wenn auch vom langen Liegen etwas zerknitterter – Ballfrack. – Der Brief verursachte mir einiges Kopfzerbrechen, indeß erklärte sich mein Landsmann beim Vorlesen mit dessen Fassung völlig einverstanden. Wir loosten noch darum, wer von uns Beiden den Brief die 25 Meilen weit nach Lexington, der nächsten Ortschaft, tragen und dabei gleichzeitig eine frische Speckschwarte einhandeln sollte, und er gewann richtig wieder.

Es regnete die ganze Nacht durch und am andern Tage brauchten wir nicht für Beschäftigung zu sorgen, wir hatten mehr wie genug. Die Hunde weckten uns noch vor Tagesanbruch durch ein ununterbrochenes Klagegeheul und wir gewahrten, daß sie bereits bis an den Bauch im Wasser standen. Es regnete nämlich nicht mehr blos durch das Dach hindurch, sondern das ablaufende Wasser hatte auch den Keller gefüllt, stand jetzt bereits 3/4 Elle hoch in unserem Shanty und verrieth noch immer steigende Tendenzen. Wir mußten bis zum Abend ununterbrochen mittelst Wassereimer und Plinsenschüssel mit dem feindseligen Elemente kämpfen, das fast eben so schnell wieder zulief, als wir es auszuschöpfen vermochten. Es war gut, daß der Regen gegen Abend nachließ, sonst ist es mehr als zweifelhaft, ob ich meinen Lesern jemals die ganze Geschichte hätte erzählen können.

Am andern Morgen kam die liebe Sonne endlich wieder zum Vorschein und mein Landsmann schlug eine Promenade nach dem See vor, wo wir Aussicht hätten, ein paar Schildkröten zu finden, die uns doch einigen Ersatz für die verlorene Schwarte gewähren könnten. Ich war wirklich so glücklich, nach einigem Suchen zwei große Thiere, jedes über eine Elle lang, anzutreffen und wir gingen sogleich daran, sie zu schlachten. Die Fabrikation der Suppe behielt ich mir jedoch allein vor, da mein Landsmann in der neuen Welt ein Anhänger der Verdünnungstheorie geworden war und ich befürchtete, er möchte aus purer Sparsamkeit die Suppe nicht schmackhaft und kräftig genug herstellen. Um namentlich in letzterer Beziehung meiner Sache völlig gewiß zu sein, schüttete ich in seiner Abwesenheit den ganzen Inhalt eines alten Pfeffersackes mit einem Male in den Topf und setzte diesen sodann seelenvergnügt an’s Feuer. Mein Landsmann kam bald nachher mit einigen großen Salatstauden zum Vorschein, deren Wachsthum der Regen wunderbar beschleunigt hatte, und während er nach dem Walde ging, um einige wilde Zwiebeln zu suchen, machte ich einen entschlossenen Angriff auf eine große Oelflasche, die ich herzhaft über den Salat ausgoß.

Wir warteten noch auf das Garwerden unserer beiden Amphibien, von deren Genuß wir uns nicht wenig versprachen, als plötzlich die beiden Wolfshunde anschlugen und ihren Posten am Feuerheerd verließen. Kurz darauf sahen wir drei Männer über die Fenz steigen und auf unser Shanty zukommen. Dieselben waren auf dem Wege nach Lessueur zur Land-Office und hatten während der letzten Sündfluth im Walde bivouakiren müssen, da sie weit und breit keine Spur einer menschlichen Wohnung vorfanden. Man kann sich denken, wie diese armen Teufel aussahen; mein Landsmann mit seinem zweijährigen Hemde machte förmlich Staat neben ihnen. Die Männer waren Irländer und erklärten uns in ihrem Kauderwelsch, daß sie etwas zu essen haben müßten, gleichviel, was sie auch dafür zu bezahlen hätten.

In Betracht unseres diesmal ausnehmend luxuriösen Diners schien es uns vollkommen gerechtfertigt, den doppelten Satz des in Lessueur-County in solchen Fällen üblichen Preises für eine Mahlzeit anzusetzen, da wir ohnehin den erlittenen Verlust der Speckschwarte etc. wieder zu ersetzen suchen mußten, und wir erklärten ihnen deshalb, daß sie jeder für einen halben Dollar einen Teller Schildkrötensuppe nebst etwas Salat haben könnten, womit sie sich nicht nur einverstanden erklärten, sondern auch in die verlangte Vorausbezahlung willigten, die mein Landsmann noch überdies vorschlug. Er verschloß das Geld sogleich in die nämliche Kiste, worin auch sein Frack lag, und setzte die Plinsenschüssel darauf, in welcher sich noch Ueberbleibsel unseres letzten Gerichtes befanden und welche die beiden Hunde fortan nie mehr aus den Augen ließen.

Die Suppe war endlich fertig geworden und da ich mich hartnäckig sträubte, auf den Vorschlag meines Landsmannes einzugehen, der durchaus ihre Quantität auf Kosten ihrer Qualität durch Hinzuthat eines halben Eimers Regenwasser zu erhöhen wünschte, so wurde sie ganz und ungetheilt aufgetragen. – Die Irländer fielen wie Wölfe darüber her, aber sie hatten kaum den ersten Löffel im Munde, als sie denselben fast à tempo wieder ausspuckten und mit solcher Energie zu husten begannen, daß ich glaubte, sie mußten sich die Luftröhren zersprengen. Mein Landsmann war ahnungsschwer sogleich aufgesprungen und nach dem Pfeffersacke gelaufen, [400] aus dem er jetzt mit niedergeschlagener Miene nur noch einen feinen Staubregen herausschüttelte. Er meinte, der Vorrath wäre noch auf ein halbes Jahr berechnet gewesen! Es mußte nun dennoch zum Verdünnungs-Processe geschritten werden, aber obgleich mein Landsmann diesen in einem Umfange vornahm, der ihn ermöglicht hätte, die gesammte Einwohnerschaft von zwei oder drei Counties mit Schildkrötensuppe zu tractiren, so schnitten die Irländer doch noch barbarische Gesichter, als sie jetzt das abgeschwächte Gericht löffelweise zu sich nahmen. Ein Glück, daß sie seit zwei Tagen nichts gegessen hatten! – Weder ich noch mein Freund waren im Stande, mehr wie einen einzigen Löffel davon hinterzuschlucken und selbst dieser brannte mir noch am andern Tage im Leibe. Wir beschlossen deshalb, uns an den Salat zu halten, in den mein Landsmann auch alsbald mit Energie einhieb. Aber diesmal erschrak ich in vollem Ernste über das verzweifelte Gesicht, mit dem er die erste Handvoll augenblicklich wieder ausspuckte und das am Morgen genossene Frühstück gleich hinterdrein folgen ließ.

„Aus der großen Flasche?“ fragte er mich nur mit matter Stimme, und auf die erfolgte Bestätigung meinerseits sank er wie gebrochen auf die Kiste nieder, die sein mobiles Vermögen einschloß.

Den Irländern schien zu meiner Verwunderung trotzdem der Salat recht gut zu munden – wahrscheinlich wirkte das Oel mildernd auf den Pfeffer – und die stille Hoffnung meines Landsmanns, daß sie denselben stehen lassen und ihn dadurch ermöglichen würden, der Lampe wiederzugeben, was der Lampe gehörte, wurde zu nichte. Nachdem sie gegessen hatten, sonnten sie sich – noch immer heftig hustend – vor unserem Shanty im Grase, und als ich kurz darauf Wasser herbeiholen wollte, sah ich, wie die drei Kerls sich ihre Beine in unserm Brunnen rein wuschen, was mir heute auch noch den Appetit zum Kaffee verdarb. Es erschien ihnen beim Weggehen noch dazu sehr ungastfreundschaftlich, als ich ihnen für das nächste Mal den Rath gab, eine andere Localität für ihr Fußbad zu wählen.

Am andern Tage machte ich mich nach Lexington auf, und als ich am dritten Tage darauf außer einer neuen Speckschwarte auch noch eine Flasche Whisky und einige Citronen mitbrachte, da strahlten die Augen meines Landsmanns in ihrem früheren Glanze. Er war wieder in seinem Elemente; er konnte Punsch machen.

Wir saßen, diesen trinkend und unsere Pfeifen dazu rauchend, vor unserem Shanty, als mein Landsmann plötzlich mit der Hand auf das jenseitige Ufer des vor uns liegenden Landsee’s wies. – Bei meiner Seele! Ein großer feister Hirsch ging soeben ganz gemächlich in’s Wasser und schickte sich an, ein kühlendes Bad zu nehmen. Das war ein Bissen! Wir verschlangen ihn schon mit den Augen.

„Vier Wochen können wir Beide davon leben und das Fett reicht zu, ein halbes Jahr davon Plinsen zu backen,“ meinte mein Landsmann, das Fell des Waldbewohners schon im Voraus zu ein paar Hosen für sich und die Eingeweide desselben zu Sonntagsfutter für die Hunde bestimmend.

Da die Sonne bereits im Untergehen war, so durften wir keine Zeit verlieren, und mein Freund entwickelte auch eine wahrhaft fabelhafte Thätigkeit. Zuerst sperrte er geräuschlos die Hunde ein, von denen er meinte, sie wären viel zu gierig bei der Jagd, und wenn der Hirsch etwa blos angeschossen wurde und dann noch weit abgehen sollte, so fräßen sie ihn allein auf, noch ehe wir dazu kommen könnten. Dann umwickelte er die Ruder zweier Indianerkanoes mit alten Lumpen, wovon er einen beträchtlichen Vorrath besaß, und nachdem wir unsere Büchsen nachgesehen hatten, banden wir die beiden Kanoes zusammen, und ruderten auf einem großen Umwege geräuschlos dem gegenüberliegenden Ufer zu. Die Musquitos zerstachen uns jämmerlich auf dem Wasser; indessen dies war Nebensache, Hauptsache war der Hirsch. Als wir drüben ankamen, war die Sonne unter, und es wurde schnell immer finsterer. Da wir uns noch eine große Strecke im Walde anzuschleichen hatten, dabei aber unsern Weg nicht mehr deutlich sehen konnten, so fielen wir alle Augenblicke über die umherliegenden Stämme, und rissen uns dabei Gesicht und Hände an den fingerlangen Dornen des Unterholzes blutig. – Die ganze Geschichte war „um in die Luft zu springen,“ wie mein Begleiter meinte. Mit einem Male hörte ich einen heftigen Plautz und wurde über und über vollgespritzt. Als ich mich umsah, war mein Freund vollständig verschwunden, und als ich ihn endlich wieder entdeckte, hatte ich die größte Noth, ihn aus dem Sumpfloche herauszuziehen, in welchem er bis an den Hals feststak. Mittlerweile war es aber stockpechfinster geworden und wir waren froh, als wir erst wieder ganzbeinig in unserem Shanty eintrafen – auch ohne Hirsch.

Etwa vier Wochen nach unserem Jagdabenteuer traf ich meinen Landsmann in Lexington wieder, hatte aber Mühe, ihn wiederzuerkennen. Er trug eine grüne Brille, die seinem Gesicht ein völlig verändertes Ansehen verlieh. Seinem gewöhnlichen Hinterwäldlercostüm hatte er heute noch den schwarzen Ballfrack beigefügt, der dazu den seltsamsten Contrast bildete. Man müsse sich ein Bischen herausputzen, wenn man auf die Post-Office ginge, die Leute wären dann gleich höflicher. Er schlug mir vor, ihn zu begleiten, da er die Antwort auf den Werbebrief aus Indiana erwarte. „Wenn sie eingetroffen ist, sind Sie mein Gast hier,“ sagte er, „und dann sollen Sie man sehen!“

Die Antwort war da und stand bald auf seinem Gesichte geschrieben.

„Nun?“ fragte ich ihn.

„’s ist um in die Luft zu springen,“ meinte er, „wieder ein Korb!“

Gtz.





Blätter und Blüthen.


Julius Mosen. Eine ihm nahestehende Hand schildert die Leiden dieses trefflichen Mannes und liebenswürdigen Dichters auf folgende ergreifende Weise:

„Der qualvolle Zustand seiner körperlichen Leiden ist seit dreizehn Jahren in langsam, aber unaufhaltsam steigender Verschlimmerung und schließt seinen trotz aller unsagbaren Schmerzen und Martern unverändert regen, klaren und strebsamen Geist in die peinlichsten Fesseln, indem er ihn von der so heiß ersehnten geistesschöpferischen Thätigkeit fern hält und ihn, den lebhaften Mann, an seinen Stuhl festschmiedet. Das ist mehr als Tantalusqual; der arme, unaussprechlich unglückliche Mann! Die Krankheit begann – o, es ist schon eine kleine menschliche Ewigkeit her! - indem sie ihm erst ganz leise den linken Fuß und Arm lähmte und sich mit der Zeit langsam und allmählich, gleich einer bösen Schlange, um seinen ganzen Körper ringelte und ihn einschnürte, so daß er seit acht Jahren nun nicht mehr gehen kann, Arme und Hände gelähmt und dabei in fortwährend schmerzhaftem Zittern und Schütteln begriffen sind. Ja sogar am Sprechen wird er behindert und so steht zu befürchten, daß sein hartgeprüftes und entbehrungsreiches Leben bis zum allerschwersten Loose getrübt wird. Die Ergebung des Dulders in dieses herbe Schicksal ist wahrhaft bewundernswürdig. Mit ungemindertem Interesse erfaßt sein Geist alle Regungen und Bewegungen der Gegenwart, wie er die Erinnerung an die Erlebnisse der Vergangenheit bewahrt, ja zuweilen schmückt noch ein heiterer Strahl von Humor diese dunkel überschattete schöne Dichterseele. Aber freilich folgen Tage der bittersten Leiden und Kämpfe einem solchen Lichtblicke. Das stille, grüne Oldenburg liebt der Kranke mit großer Dankbarkeit für die viele und innige Theilnahme der Edlen, die nicht eine glücklichere Vergangenheit, nicht ein langgepflegtes Verständniß mit ihm verbunden und die ihm nun als wahre und warme Freunde zur Seite stehen und ihn Pflegen, unterhalten, erheitern.“

Mosen tritt diesen Sommer in das sechsundfunfzigste Lebensjahr.




Eine Anekdote aus dem heutigen Paris. Ein eben von da kommender Freund erzählt uns folgende verbürgte Anekdote aus der dortigen „guten Gesellschaft.“ Eine vornehme Dame, die eben im Begriff stand, ihre Tochter mit dem Fürsten von P. zu vermählen, sah sich kurz vor der Heirath zu folgenden Enthüllungen veranlaßt: „Ma chère enfant, bevor Du den wichtigsten Schritt Deines Lebens thust, habe ich Dir eine Mittheilung zu machen, deren längere Zurückhaltung meine Seele allzusehr beschweren würde. Meine Tochter – Du bist nicht das Kind Deines angeblichen Vaters, Du bist – die Tochter des Grafen M.!“ Die Tochter des Grafen M. verhüllt sich das Gesicht und ein tiefer Schmerz scheint ihre heiligsten Ueberzeugungen betroffen zu haben. Endlich bricht sie in die klagenden Worte aus: „O Mama, welch süße Täuschung, welch’ schöne Illusion zerstören Sie da in mir! … Ich – ich habe immer geglaubt, ich sei die Tochter (der Leser errathe einmal, was nun kommt!!) – – des Duc d’Orleans!“ … Wie bezeichnend, wie sehr bezeichnend ist diese Anekdote für eine Stadt, wo Alles – Alles „Crédit mobilier“ ist: auch die Liebe und die Ehe! –




Verlag von Ernst Keil in Leipzig. – Druck von Alexander Wiede in Leipzig.

  1. 7 Werste = 1 deutsche Meile; 1 Werst = 500 Saschen oder 3500 engl. Fuß, also 1 Sasche = 7 Fuß engl. = 6¾ Fuß rheinisch.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: weibliche
  2. Vorlage: Welschkohlmehl